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Weißglut

Als Buch hier erhältlich:

Du bist nicht so allein, wie du denkst ...

Sarah Fuchs hat die Münchner Schickeria gehörig satt. Als sich die Boulevardpresse ihren Eheproblemen widmet, taucht sie für einen Sommer im hohen Norden unter und zieht sich in die Einsamkeit Finnlands zurück. Ein luxuriöses Sommerhaus, ein malerischer See und lichte Birkenwälder sollen die Zutaten ihrer Selbstfindung werden.
Doch die finnische Ruhe währt nur kurz: Beim heiseren Ruf des Haubentauchers stolpert Sarah am Seeufer über eine männliche Leiche. Unglücklicherweise scheint Kommissar Toivo Aalto sofort den Verdacht zu hegen, Sarah hätte etwas mit dem Tod des Mannes zu tun, war sie doch die einzige Person in unmittelbarer Nähe. Um aus der Schusslinie der Ermittlung zu gelangen, weiß sie sich nur einen Rat: Sie selbst muss den Mörder finden! Doch der schlägt abermals zu ...


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005606

Leseprobe

ERSTES KAPITEL

Der Haubentaucher pflügt durchs Wasser, den Hals emporgereckt, mit unbewegtem Kopf. Sein Weg ist eine immergleiche Schleife. Sie beginnt unweit des Schilfes am nördlichen Ufer und führt den Vogel in die Mitte der Bucht hinaus. Von Zeit zu Zeit reißt er seinen Schnabel auf, als wollte er nach Luft schnappen, und gibt ein kehliges Geräusch von sich. Wie eine Lawine walzt der Schrei über das spiegelglatte Wasser und schlägt mit Wucht an Land auf.

»Mistvieh!« Er blinzelt, kneift ein Auge zusammen, um besser sehen zu können. Dann stößt er ein Schnauben aus. Ihm wird schwindelig, wenn er den Runden des Wasservogels zu lange folgt. Für einen Moment sieht es dann so aus, als kreuzten dort draußen auf dem Päijänne-See gleich zwei dieser Viecher.

Am meisten nervt ihn der heisere Ruf. Das Krakeelen tut ihm in den Ohren weh. Er weiß, dass er selbst daran schuld ist. Wenn er trinkt, wird sein Gehör empfindlich. Wie auch seine Laune. Was ihn beides noch nie vom Trinken abgehalten hat. Normalerweise sitzt er aber auch nicht vor einem quäkenden Vogel, der wie ein kaputtes Aufziehspielzeug durch den See schwimmt.

Plötzlich fällt ihm ein, wie seine Großmutter früher erzählte, die Wasservögel brächten dem Menschen bei seiner Geburt seine Seele. Und beim Tod sammelten die Vögel die Seele wieder ein. Stirnrunzelnd nimmt er einen tiefen Schluck aus der Bierdose. Finnisches Sagengeschwätz! Wenn sein Jagdgewehr griffbereit läge, dann hätte jetzt das letzte Stündlein des Mistviehs geschlagen. »Dämlicher Nichtsnutz!« Er kann die Wut auf seinen Lippen schmecken.

»Was ist?« Matti dreht den Kopf.

Mit seinen blutunterlaufenen Augen und hängenden Wangen erinnert Matti ihn an einen Beagle. Die dünnen langen Haare kleben ihm seitlich an den Schläfen, wie eben die Schlappohren dieser Köter. Auch wenn die Leute Matti oft »das Walross« nennen, weil er ganz schön viel Fett auf den Hüften hat, findet er, dass »der Hund« ein deutlich passenderer Spitzname wäre. Matti verhält sich nämlich wie einer. Wie ein dreckiger Straßenköter. »Dämlicher Nichtsnutz«, wiederholt er und deutet auf den Vogel. Doch er weiß, dass er damit weniger den Haubentaucher als vielmehr den Mann meint, der neben ihm auf der Bank hockt.

»Ja, Nichtsnutz«, pflichtet Matti bei. In seiner Stimme liegt der Anflug eines Lallens. Ungelenk holt »das Walross« mit dem Arm aus und wirft seine Bierdose in Richtung des Vogels. Keine fünf Meter vom Ufer entfernt platscht die Dose in den See. Der Haubentaucher reagiert nicht einmal. Dafür presst Matti ein glucksendes Lachen hervor, das seine Fettschichten in Schwingung versetzt. Als er sich wieder beruhigt hat, erhebt er sich schwankend von der Bank. »Lass uns noch einen Saunagang machen. Ich will etwas mit dir bequatschen«, nuschelt er.

Er kann spüren, wie unter ihm die Holzbank vor Erleichterung aufseufzt, da sie nun von Mattis Gewicht befreit ist. Langsam steht auch er auf, reckt und streckt sich, bis die Gelenke knacken. In seinem Magen pocht eine unangenehme Vorahnung. Er vermutet, dass ihm das, was Matti besprechen will, nicht gefallen wird. Gereizt folgt er »dem Walross« in die Hütte, gräbt seinen hasserfüllten Blick in den wulstigen Rücken des Mannes. Seine Geduld mit dem Kerl geht zur Neige. Es war falsch, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er würde es vorziehen, nicht länger auf Mattis Dienste angewiesen zu sein, doch zuerst müssen sie noch eine Sache abwickeln. Und die Zeit drängt. Mit knirschenden Zähnen setzt er sich auf die Saunabank.

»Es geht um unser kleines Geschäft«, erklärt Matti und gießt mit einer Schöpfkelle Wasser auf die glühend heißen Saunasteine, die auf dem Ofen liegen. Zischend steigt eine Dampfwolke auf und trägt feuchte Hitze in den Raum.

Natürlich will Matti über Geschäftliches reden. Ansonsten gäbe es auch keinen Grund für ein Treffen. Wahrscheinlich hätte der Kerl niemanden zum Reden, wenn er ihn nicht wegen gemeinsamer Geschäfte hierherbestellen könnte. Wahrscheinlich hätte er keinen einzigen Saufkumpan und müsste den lieben langen Tag allein vor seinen Flaschen hocken. »Wird Zeit, dass unser Geschäft zu einem Abschluss kommt, Matti«, sagt er. »Ich warte schon zu lange darauf, dass du lieferst! Es hängen noch andere Leute an der Sache dran, die sind auch schon ungeduldig.« Wie eine schwere Decke legt sich die Wärme auf seine Haut und kitzelt dicke Schweißperlen aus den Poren. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich habe das Ding jetzt da«, erklärt Matti selbstgefällig.

Überrascht richtet er seinen Oberkörper auf. »Na endlich! Das ist mal eine gute Nachricht.« Erleichterung breitet sich in ihm aus, übertüncht beinahe die Wut. Er beugt sich zu dem kleineren der beiden Wasserbottiche hinüber und fischt eine Wodkaflasche heraus. »Darauf stoßen wir an.« Er dreht den Verschluss von der Flasche und nimmt einen langen Schluck, reicht den Wodka an Matti weiter.

»Prost«, näselt Matti und lässt den Alkohol in seinen Rachen laufen. Dann stellt er die Flasche neben sich auf die feuchte Bank. Auf seinem Gesicht liegt ein breites Grinsen.

Das irritiert ihn. »Wo ist das Ding, Matti?«

»Das Walross« zuckt mit den Schultern. »An einem sicheren Ort. Ganz in der Nähe.«

»Hol es her, Mann! Ich will’s sehen.«

»Erst müssen wir über das Geld sprechen«, erklärt Matti.

Das ungute Gefühl ist schlagartig zurück. Stärker noch als zuvor. Er muss sich verhört haben. »Ich habe dir das Geld bereits gegeben, Matti!«

»Es war nicht genug.«

»Es war genau so viel, wie wir verabredet haben!« Nur mühsam hält er sich davon ab loszubrüllen. Die Trunkenheit fällt von ihm ab wie ein Kleidungsstück, das er abstreift.

»Der Preis ist gestiegen.« Matti begleitet seine Worte mit einem Nicken.

»Der … Preis ist gestiegen

Mattis Grinsen hat sein Gesicht für keine Sekunde verlassen. »Ich habe mir die Lieferung genau angeschaut. Die Ware ist wertvoller, als du es mir gesagt hast, mein Freund. Also musst du auch mehr zahlen.« Er legt eine Pause ein. »Das Dreifache.«

In ihm schnappt etwas, wie ein Gummiband, das überspannt wurde und nun reißt. Es kostet ihn seine ganze Willenskraft, nicht aufzuspringen und »dem Walross« die Wodkaflasche in die grinsende Visage zu schlagen. Mit beiden Händen umklammert er die Kante der Saunabank. Seine Finger schmerzen. »Das Dreifache?«, wiederholt er ungläubig. Verarscht Matti ihn? Macht der Spinner einen schlechten Witz? Dass dem nicht so ist, erkennt er an Mattis zufriedenem Nicken.

»Das ist der neue Preis. Das Dreifache von dem, was du schon gezahlt hast. Kein Verhandlungsspielraum. Du weißt genau, dass das immer noch ein Freundschaftspreis ist. Nach dem Teil lecken sich so einige Leute die Finger.« Matti tastet nach der Wodkaflasche und führt sie ungelenk zum Mund.

Sein Hals ist trotz der feuchten Wärme staubtrocken. »Ich kann dir nicht das Dreifache zahlen.«

»Dann gibt es kein Geschäft zwischen uns.« Matti zuckt mit den Schultern, als handele sich alles nur um eine Lappalie. Er gießt einen weiteren Schwall Wasser auf die Steine, und Hitze wallt durch die Sauna. »Jetzt, wo ich weiß, was für ein Kleinod ich da für dich beschafft habe, finde ich sofort einen anderen Käufer. Kein Problem.«

Die Wut kocht heißer in ihm, als die Saunasteine auf dem Ofen glühen. »Das Walross« ist ein dreckiger Hund, ruft ihm eine innere Stimme zu. Ein ehrloses Schwein.

»Also?« Immer noch liegt das selbstgefällige betrunkene Grinsen auf Mattis Gesicht.

»Du bekommst das Geld.« Seine Stimme ist so heiser, er erkennt sie selbst nicht wieder. »Wo ist die Ware?«

»Erst die Kohle«, sagt Matti und drückt sich von der Bank hoch. Er wankt aus der Sauna, lässt die Tür hinter sich offen stehen. Kühle Luft drängt in den kleinen Raum.

Tief holt er Atem, dann folgt er Matti, der mittlerweile den Steg entlangschlurft und irgendetwas vor sich hin summt. »Das Walross« wirkt sehr zufrieden mit sich. Für einen Moment überlegt er, sich vor der Saunahütte auf die Bank zu setzen und ein weiteres Bier aufzumachen, um die Wut niederzuringen. Doch er betritt den Holzsteg.

Mit einem lauten Platschen durchbricht Matti die Wasseroberfläche. Prustend taucht er wieder auf, reckt den Kopf aus dem See und streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht.

Drei lange Schritte macht er auf den Steg hinaus. Sein Kopf ist seltsam leer.

»Junge, als Erstes baue ich mir von deiner Kohle eine neue Sauna«, japst Matti. Er paddelt auf der Stelle.

Er tritt an den Rand des Stegs und schaut auf Matti hinab. Er sieht nur ihn, als blicke er durch ein Fernrohr. Das feiste Gesicht seines Geschäftspartners grinst ihm aus dem Wasser entgegen. Nichts anderes existiert in diesem Moment auf der Welt. Nur dieses selbstgefällige Feixen.

»Ich glaube, ich mache noch eine Saunarunde«, lallt Matti. »Schließlich gibt es was zu feiern. Und der Wodka will leer gemacht werden.« Er schiebt sich im Wasser voran, in Richtung der Holzleiter, die auf den Steg führt.

Er springt aus dem Stand nach vorne. Genau neben »dem Walross« landet er im See.

Matti zuckt zusammen. »He, Mann. Pass doch –«

Er zieht, während er hinabtaucht, den Dicken mit sich unter Wasser.

Matti strampelt, versucht, ihn abzuschütteln, rudert mit den Armen, um zurück an die Wasseroberfläche zu gelangen.

Er taucht auf und stemmt sich mit seinem ganzen Gewicht auf Mattis teigige Schultern. Mit aller Kraft drückt er den strampelnden Mann unter Wasser, erlaubt ihm nicht, noch einmal Luft zu holen. Die paar Hiebe, die er abbekommt, bemerkt er kaum.

Es geht alles viel schneller, als er vermutet hat. Nicht lange, dann enden unter ihm Mattis Bewegungen. Von einem Moment auf den anderen hört das Zappeln auf. Die Wasseroberfläche beruhigt sich. Ein Mückenschwarm wirbelt in einer kleinen Wolke heran.

»Das Walross«, denkt er, war wirklich alles andere als ein guter Schwimmer.

ZWEITES KAPITEL

Sarah wirft einen Blick in den Rückspiegel. »Was soll das, Freundchen?«, stößt sie aus und runzelt die Stirn. Dann tippt sie aufs Gaspedal, und der BMW macht einen Satz nach vorne. Sofort beschleunigt auch der Peugeot. Der grüne Kleinwagen ist Sarah erstmals in der Nähe des Viktualienmarkts aufgefallen. Seitdem folgt er ihr durch die Stadt.

Mit zusammengekniffenen Augen versucht Sarah zu erkennen, wer am Steuer des Autos sitzt, doch sie kann lediglich die Silhouette einer groß gewachsenen Person ausmachen. Die sich in der Windschutzscheibe spiegelnde Morgensonne verwehrt ihr eine klare Sicht, und wenn Sarah an einer Ampel oder in verstopften Straßen anhält, vergrößert der Verfolger plötzlich den Abstand. Im fließenden Verkehr schließt er dann immer wieder zu ihr auf, als wollte er es keinem anderen Verkehrsteilnehmer gestatten, sich hinter dem weißen BMW einzufädeln. Es ist offensichtlich, dass Sarah verfolgt wird. Und ihr Verfolger weiß, dass sie es weiß.

»Was willst du? Mach dich vom Acker!« Entnervt schüttelt Sarah den Kopf, streicht eine Strähne ihres blondierten gewellten Haares hinters Ohr. Mit der rechten Hand fischt sie ihre Sonnenbrille aus der Handtasche und schiebt sie auf die Nase. Der penetrante Verfolger nervt sie mehr, als dass er sie ängstigt. Man weiß zwar nie, was für ein verrückter Mist im Kopf anderer Leute vor sich geht, doch bisher ist sie noch mit allen Durchgeknallten, die ihr begegnet sind, klargekommen. Inklusive des größten aller Idioten: ihrem Ex-Gatten Rüdiger.

Der grüne Kleinwagen beschleunigt, damit er Sarah noch über eine umschaltende Ampel folgen kann. Dann lässt er sich wieder ein Stück weit zurückfallen.

Schnaubend drückt Sarah auf das Display in der Mittelkonsole, wählt aus der aufgerufenen Liste einen Namen aus. Sie wartet auf den Klingelton, doch nach einem Moment knackt es in der Leitung, dann meldet sich die Computerstimme der Mailbox. Verwundert beendet Sarah den Anruf und wählt statt der Privatnummer nun Udos Firmenhandy an. Wieder wird der Anruf auf die Mailbox umgeleitet. Sarah schließt das Telefonmenü. »Was ist los, Udo?« Dass ihr Ehemann beide Telefone ausgeschaltet hat, beunruhigt sie aus irgendeinem Grund mehr als dieser bekloppte Verfolger. Für einen Moment erwägt sie, Udos Assistentin anzurufen, doch sie entscheidet sich dagegen. Sie wird es nachher noch mal auf seinem Handy probieren. Als könnte er etwas für ihren erfolglosen Versuch, Udo zu erreichen, wirft Sarah dem Peugeot im Rückspiegel einen giftigen Blick zu.

Nach der nächsten Ampel gibt sie Gas, der Peugeot tut es ihr gleich. Genervt stöhnt Sarah auf. Sie ist den Verfolgertypen leid, ihre Geduld mit dem Kerl ist aufgebraucht. Natürlich weiß sie genau, dass es nur ein Mann sein kann, der da plump hinter dem Lenkrad klemmt. Eine Frau wäre viel subtiler vorgegangen und hätte sich nicht so offensichtlich an ihre Stoßstange geheftet. Kurz entschlossen biegt Sarah ab, von der Plinganserstraße in eine seitliche Einbahnstraße. Der Peugeot folgt ihr auf dem Fuß. »Dann wollen wir mal«, raunt sie.

Nach einer engen Kurve tritt Sarah auf das Gaspedal, und ihr BMW schießt nach vorne. Als der Peugeot wieder im Rückspiegel auftaucht, ist sie bereits an der nächsten Kreuzung angelangt und biegt mit quietschenden Reifen nach links ab. Mit unverminderter Geschwindigkeit prescht sie durch das Wohngebiet, um schließlich weiter südlich wieder auf der Plinganserstraße herauszukommen. Doch auch der grüne Kleinwagen hält sich, wenn nun auch mit deutlichem Abstand zum BMW, hartnäckig in ihrem Rückspiegel. »Na warte!«, ruft Sarah aus, beschleunigt abermals und brettert über eine Ampel – genau in dem Moment, als diese auf Rot umspringt. Mit Genugtuung sieht sie, dass der Peugeot anhalten muss, da bereits andere Fahrzeuge vor ihm an der Ampel haltgemacht haben.

Fast schon beschwingt schaltet Sarah die Musik ein. Während sie sicherheitshalber ein paar Schleifen durch den Süden Münchens fährt, um den Verfolger auf jeden Fall abzuschütteln, trommeln ihre Finger im Takt eines flotten Tangos auf das Lenkrad. Sie liebt diese Musik. Jedes Mal, wenn sie sie hört, bekommt sie gute Laune, selbst von den melancholischen Stücken. »Es ist wirklich Zeit, wieder tanzen zu gehen«, murmelt sie. Udo sträubt sich zwar meist, doch sie wird ihn schon zu einem gemeinsamen Tangoabend überreden. Erfüllt von Vorfreude dreht sie die Musik lauter.

Unterstützt von kurzen Blicken in den Rückspiegel zieht Sarah ihre Lippen nach. Gleichzeitig überlegt sie, jetzt noch einmal bei Udo anzurufen, doch die Uhr verdeutlicht ihr, dass sie bereits zu spät zu ihrem Termin kommt. Also wirft sie den Lippenstift zurück in die Handtasche und wechselt abermals die Fahrtrichtung. Den letzten Kilometer bis zu ihrem Ziel legt sie ohne weitere Verzögerungen zurück.

Sie hat Glück. Direkt vor dem schmalen Reihenhaus ist ein Parkplatz frei. Während der Parkassistent den BMW in die Lücke manövriert, greift Sarah ihr Handy aus der Handtasche. Gerade als sie es ausschalten will, beginnt es zu klingeln. Nach einem Displaycheck nimmt Sarah den eingehenden Anruf hastig an. »Franzi, Schatz! Ich freue mich, dass du dich meldest. Leider muss ich jetzt zu einem Termin. Können wir …?«

»Mama, warte mal. Ist nur kurz. Später bin ich beschäftigt.«

Sarah schaltet den Motor ab. »Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Jaja, alles supi. Ich brauche nur ein wenig deine Hilfe, Mami.« Franzis Stimme hat einen kindlichen Unterton angenommen.

Mit einem Seufzen zieht Sarah die Schultern hoch. »Du möchtest Geld.« Es ist keine Frage, die sie stellt.

»Du weiß doch, wie teuer London ist, Mami. Neben der Uni muss ich auch noch ein bisschen leben. Es stehen echt dringend ein paar neue Klamotten an. Und … und Bücher für die Uni, natürlich.«

Geld für Bücher? Eher schlägt ihre Tochter sich dank einer Finanzspritze Champagner schlürfend die Nächte in den angesagtesten Clubs um die Ohren. Doch wer wäre sie, Sarah, ihr dies vorzuhalten? »Ich – also ich überweise dir was, Schatz.« Sie steigt aus dem Wagen und schaut auf das gänzlich unauffällige Reihenhaus.

»Mama, du bist die Beste. Danke!« Franziskas Stimme wird leiser, als bewege sie sich vom Telefon weg. »Ich muss los. Wir hören uns.« Damit legt sie auf.

Kopfschüttelnd schaltet Sarah das Handy aus. Sie weiß, dass gleich absolute Ruhe gefragt ist. Das hat Anke ihr eingeschärft. Vor der Haustür zieht sie die Sonnenbrille ab, holt noch einmal tief Luft. Dann betätigt sie die Klingel, unter der auf einem Messingschild der Name Moser steht. Im Haus erklingt ein melodischer Dreiklang. Beinahe gleichzeitig wird die Tür geöffnet.

»Seien Sie gegrüßt, Frau Fuchs«, sagt die alte Dame, die im Türrahmen erscheint. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Ihre weißen Haare sind zu kleinen Löckchen aufgedreht, um ihren Hals baumelt an einer Goldkette eine Brille. Am Leib trägt Frau Moser etwas Taubengraues, das an einen altmodischen Hausmantel erinnert.

»Ich freue mich ebenfalls, Frau Moser. Herzlichen Dank, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben.«

Wie Anke es ihr vorhergesagt hat, wird Sarah ins Wohnzimmer geführt. Dort herrscht eine eigentümliche Finsternis, was zum einen an den heruntergelassenen Rollläden liegt, zum anderen an der dunklen Einrichtung. Selbst die grauen Tapeten scheinen allein dem Zweck zu dienen, alle Helligkeit einzusaugen. Die einzige Lichtquelle im Raum, eine brennende Kerze, steht auf einem großen runden Tisch in einer Ecke. Sie wirft ihren flackernden Schein auf das schwarz glänzende Holz der Tischplatte und der beiden Stühle. Ein staubiger Geruch nach Mottenkugeln liegt in der Luft und kribbelt Sarah in der Nase.

»Setzen Sie sich, bitte«, sagt Frau Moser und deutet auf einen der beiden einander gegenüberstehenden Stühle, um selbst auf dem anderen Platz zu nehmen. »Ich habe bereits alles vorbereitet.«

»Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung«, beeilt sich Sarah zu erklären, während sie sich setzt. Sie räuspert sich verhalten. Plötzlich ist ihr Hals wie zugeschnürt. »Ich … äh … hatte Probleme mit dem Verkehr.«

Frau Moser lächelt leicht und nickt, als hätte sie dies bereits gewusst. Dann legt sie beide Hände vor sich auf die Tischplatte. »Sind Sie mit einer speziellen Frage zu mir gekommen?«

Sarah schüttelt den Kopf. Sie fröstelt. Die Luft scheint hier, wo sie sitzt, kühler zu sein. »Nein, ich habe keine Frage, die mich besonders interessiert. Ich – also, mich interessiert eher alles. Wie es so in meinem Leben weitergeht, wenn Sie verstehen.«

»Gut.« Abermals huscht der Anflug eines Lächelns über Frau Mosers Gesicht. »Dann sind wir also offen für die breite Energie des Universums.« Sie löst eine Hand von der Tischplatte, führt sie in die Manteltasche und holt einen Stapel Karten hervor, den sie verdeckt vor Sarah ablegt. »Wenn Sie so gut sein wollen, die Karten zu mischen.«

»Okay. Mischen.« Unbeholfen schiebt Sarah die Karten in ihren Händen hin und her. »Reicht das?«, fragt sie nach wenigen Sekunden.

Frau Moser nickt und nimmt ihr den Stapel wieder ab. Dann fächert sie die Karten auf. »Bitte ziehen Sie drei Karten. Mit der linken Hand.« Ihre Stimme klingt jetzt feierlich.

Sarah kann die Feuchtigkeit an ihren Fingerspitzen spüren, während sie nacheinander drei Karten auswählt und auf der Tischplatte ablegt. Sie ermahnt sich, ruhig zu bleiben, schließlich ist ihr Besuch bei dieser Frau lediglich ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Es war eine Kurzschlussreaktion, bei der alten Dame anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Wahrscheinlich der Langeweile entsprungen. Schließlich hat Anke sie in der Vergangenheit schon mehrfach zu einem Besuch bei Frau Moser gedrängt, doch sie hat sich nie darauf eingelassen. Bis heute. Eigentlich glaubt Sarah nicht an solchen Hokuspokus. Nicht ans Kartenlegen, nicht an Wahrsagereien. Wobei sie eben schon gerne wissen würde, wie es in ihrem Leben weitergeht. Vor allem seitdem Franziska das Haus verlassen hat, verspürt sie eine anschwellende Leere in sich, die sie beunruhigt. Und nach siebzehn Jahren Ehe ist das Zusammensein mit Udo auch eher von Gewohnheit als von Aufregung geprägt. Mit Anfang vierzig fragt Sarah sich in der letzten Zeit immer öfter, ob es das nun im Leben für sie gewesen ist. Der Besuch bei Frau Moser kann also zumindest nicht schaden. Sie möchte einmal ein wenig unkonventioneller über die Zukunft nachdenken.

»Entspannen Sie sich«, sagt Frau Moser leise, als hätte sie Sarahs Gedanken gelesen. Behutsam positioniert sie weitere Karten um jene drei, die Sarah ausgewählt hat. »Dann wollen wir mal sehen.« Nacheinander dreht sie die zuerst gelegten Karten um, wobei sie bei der dritten stockt und Sarah einen schnellen Blick zuwirft.

»Was …?«, setzt Sarah an zu fragen, doch ein Kopfschütteln von Frau Moser lässt sie verstummen.

Mit langen Pausen wendet Frau Moser die übrigen Karten, bis sie schließlich allesamt nach oben zeigen. Dann stößt sie ein tiefes Seufzen aus. »Ungewöhnlich!«, raunt sie. »Wirklich sehr erstaunlich.«

»Was sehen Sie?«, presst Sarah hervor. Ihre Stimme klingt wie ein heiseres Krächzen. »Was ist denn ungewöhnlich?« Erstaunt schaut sie auf lauter Figuren und Symbole, die ihr allesamt nichts sagen.

Frau Moser hebt ihre Schulter, als friere sie plötzlich, dann tippt sie vehement mit einem Fingernagel auf eine der Karten. »Ich sehe eine Reise. Einen Aufbruch in neue Gebiete. Hier, der Wagen. Er kann auch für so etwas wie eine spirituelle Entwicklung stehen. Also für eine Veränderung in einem selbst.«

Als sie die sich anschließende Stille nicht länger ertragen kann, schnappt Sarah nach Luft. »Das ist doch nicht alles!« Sie deutet auf den Kartenhaufen. »Eine Reise ist doch etwas Gutes. Oder etwa nicht? Was ist da sonst noch, Frau Moser? Was ist denn erstaunlich?« Sarah spürt nun Ungeduld in sich aufwallen. Versucht die Frau lediglich, die Spannung zu steigern?

Frau Moser senkt den Kopf abermals. »Diese Karte hier«, sagt sie schließlich mit einem Zögern. »Dort liegt das Problem.«

Sarah zuckt zusammen. Nun sprechen sie schon von einem Problem? »Was bedeutet die Karte denn?« Blinzelnd versucht sie im flackernden Kerzenschein, das Motiv genauer zu erkennen. Zeigt es einen dürren Mann auf einem Esel? Der Eseltreiber?

»Diese Karte … sie steht für den Tod. Der Reiter der Apokalypse bringt einschneidende Veränderungen.« Frau Moser schüttelt traurig den Kopf. »In der Regel nichts Angenehmes.«

»Oh«, haucht Sarah. Jetzt erkennt sie auch das Skelett, das auf einem gepanzerten schwarzen Pferd sitzt. Der Tod. Ja, das Ding sieht nicht nach einer Glückskarte aus.

»Es ist die Kartenposition, die mich etwas ratlos macht.« Frau Moser hebt eine Hand. Die Geste hat etwas Resigniertes. »Ich habe die Karten bisher noch nie in dieser Kombination liegen sehen. Ich denke … es könnte …« Atemlos bricht sie den Satz ab.

»Was? Was denken Sie?« Sarahs Blick klebt an dem Gerippe auf dem Klepper. »Rücken Sie raus mit der Sprache! Bitte!« Verblüffung, Schrecken und Ungeduld ringen in ihr miteinander.

»Ich … weiß es nicht.« Abrupt steht Frau Moser auf und geht eilig zur Tür. »Es tut mir leid. Wir müssen diese Sitzung beenden.«

»Soll ich die Karten vielleicht noch mal neu mischen?«, schlägt Sarah hastig vor. »Ich war da noch nie gut drin.«

Frau Moser betätigt einen Schalter, und an der Zimmerdecke flammt ein kaltes Licht auf. Stumm schüttelt sie den Kopf.

Die jähe Helligkeit schmerzt Sarah in den Augen. Es dauert einige Sekunden, bis sie sich an das Licht gewöhnt hat. Plötzlich wirkt der Raum um sie herum altbacken und eng.

»Sie schulden mir natürlich nichts, Frau Fuchs.«

»Ich … okay.« Verdutzt erhebt sich Sarah vom Stuhl. Die Frau wirft sie raus, versteht sie. Was für eine Zeitverschwendung, hierhergekommen zu sein. Der Tod. Wirklich? Hätte sie nur nicht auf Ankes Rat gehört, sich die Karten legen zu lassen! Hätte sie Anke nur nicht erzählt, wie unzufrieden sie mit ihrem Leben ist. Der verdammte Rotwein! Beim Gedanken an den Wein meldet sich ihre Blase. »Darf ich Ihre Toilette benutzen?«

»Selbstverständlich.« Frau Moser deutet auf eine Tür, die vom Flur abgeht.

Während sie auf der Toilette sitzt, schaltet Sarah ihr Handy wieder ein. Sie hat das dringende Bedürfnis, Anke diesen unfassbaren Flop sogleich um die Ohren zu hauen. Doch als sich das Gerät mit dem Funknetz verbunden hat, hört es gar nicht mehr auf zu vibrieren. Acht Anrufe und dreizehn Textnachrichten in Abwesenheit! Darunter ist auch eine Nachricht von Anke. Verwundert öffnet Sarah diese Mitteilung als erste. Und reißt beim Lesen die Augen auf. Mit einem zitternden Finger drückt sie auf den Link, den Anke mitgesandt hat. »Ich fasse es nicht«, flüstert Sarah. Ihre Augen kleben auf dem Display. Dann liest sie den aufgerufenen Blogbeitrag erneut. Und ein weiteres Mal.

»Frau Fuchs, ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Frau Mosers dumpfe Stimme klingt besorgt.

Wie in Trance steht Sarah vom Toilettensitz auf und betätigt die Spülung. Gar nichts ist in Ordnung, doch das wird sie Frau Moser garantiert nicht auf die Nase binden. Während sie sich wieder ankleidet, taucht die Tarotkarte vor Sarahs innerem Auge auf.

Das klapprige Skelett auf dem Pferd. Der Tod.

Plötzlich ergibt die Karte einen Sinn. Nein, mehr noch: Plötzlich ist sie Sarah ein Fingerzeig!

»Frau Fuchs? Hören Sie mich?«

»Ich bringe das verdammte Schwein um«, flüstert Sarah heiser.

DRITTES KAPITEL

Onni Järvinens Herz macht einen Sprung, als er um die Häuserecke tritt. Seine Lieblingsbank ist nicht besetzt. Er geht einen Schritt schneller, damit ihm niemand zuvorkommt. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, denn im Augenblick ist er der einzige Passant auf diesem Abschnitt des Uferwegs. Lediglich eine Frau führt ihren Hund spazieren, doch sie befindet sich fünfzig Meter von der Bank entfernt, bewegt sich zudem von der Sitzgelegenheit weg. Nichtsdestotrotz fühlt Onni sich wohler, wenn er einen Zahn zulegt. Mit einem zufriedenen Lächeln lässt er sich auf der Holzbank nieder und stellt seinen Rucksack neben sich ab.

Ein kühler Wind weht vom Wasser her. Onni zieht die Kapuzenjacke, die er mitgenommen hat, über und schließt den Reißverschluss. Dann lehnt er sich zurück und atmet tief die frische Seeluft ein. Die morgendliche Sonne gibt dem Meer einen orangen Anstrich und taucht die Schäreninseln in ein weiches Licht.

Ein Motorboot ist unterwegs nach Pohjoinen Uunisaari. Wahrscheinlich hat es Mitarbeiter an Bord, die in dem Restaurant auf der Insel arbeiten. Gegen Mittag werden bereits die nächsten Gäste zum Restaurant übersetzen. Also in gut vier Stunden. Oder aber das Boot transportiert Warenlieferungen. Frische Kochzutaten vom Markt. Zu dieser frühen Stunde könnten auch die Putztrupps unterwegs sein, überlegt Onni, während er verfolgt, wie das Boot in einer kleinen Inselbucht verschwindet.

Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass es nun noch etwa fünf Minuten sind. Er ist also rechtzeitig hierhergekommen. Zufrieden nickt er und fixiert einen Punkt zwischen den weiter draußen liegenden Inseln. Ist das dort ein Möwenschwarm, der am Himmel kreist? Er kann es wegen der ihn blendenden Sonne nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Nachdenklich reibt er die kühlen Hände aneinander, dann versenkt er sie in seinem Schoß.

Nur mühsam unterdrückt er ein Gähnen. In der vergangenen Nacht hat er schlecht geschlafen. Wie schon die Nächte zuvor. Auch deshalb ist er heute so früh hierhergekommen. An seinem Lieblingsplatz hat er immer das beruhigende Gefühl, Kraft zu tanken. Das Meer gibt ihm Ruhe. Seit ein paar Tagen herrscht wieder ein aufbrandendes und abebbendes Durcheinander in seinem Kopf. Doch hier draußen, am Ufer der Ostsee, verblasst das Chaos.

»Du kannst zufrieden sein«, sagt er leise. »Jedes Leben ist anders. Denk jetzt nicht an die Uni. Da wird sich eine Lösung finden. Warte das Gespräch mit Max ab, danach weißt du, wie es weitergeht. Und dann kannst du auch wieder gut schlafen. Onni, Onni. Du bist super.« Er nickt sich selbst zu.

Er schaut erneut auf den Punkt zwischen den fernen Schäreninseln, dann mit einem Stirnrunzeln zurück zur Armbanduhr. Jeden Moment müsste es so weit sein. Ganz sicher ist es jeden Moment so weit.

Ein alter Mann joggt schnaufend an der Bank vorüber. Onni schaut auf seine Schuhspitzen. Er hebt den Kopf erst wieder, als der Mann bereits einige Meter weit entfernt ist. Wenn er morgens auf dieser Bank sitzt, dann muss er für sich sein. Dann muss er so tun, als gäbe es nichts und niemanden, außer dieser Bank und dem Meer. Manchmal wünscht er sich, er könne den ganzen Tag unsichtbar an dieser Stelle verbringen. Was für eine innere Ruhe er wohl erfahren würde?

Nun ist es aber wirklich an der Zeit. Doch immer noch zeigt sich nicht das, was er sucht. Ein drückendes Gefühl, das ihm nicht behagt, baut sich in seinem Magen auf. Um sich abzulenken, zieht er ein dickes Notizbuch aus dem Rucksack. Wahllos schlägt er eine Seite auf und liest, was er mit seiner engen Schrift unter einem Datum – es ist der achtzehnte April – festgehalten hat.

Heute habe ich nur rote Paprika gegessen. Die grünen und gelben konnte ich nicht anfassen. Mama rief am Mittag an und fragte, wie es mir geht. Es war, als hätte sie aus fast zweihundert Kilometern Entfernung riechen können, dass heute kein guter Tag ist. Ob so etwas möglich ist? Schließlich riechen Haie Blut angeblich auch über weite Strecken. Ich habe sie jedenfalls angelogen und ihr gesagt, dass alles gut sei. »Alles in Butter«, habe ich gesagt. Dies ist eine interessante Redewendung, wie ich finde. Mama hat sich damit zufriedengegeben. Wieder einmal wollte sie wissen, ob ich Leute kennengelernt habe. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Es ist ja nicht so, als wollte ich keine Freunde. Doch es ist so schwierig, welche zu finden. Es ist schwierig und tut weh. Aber ich wollte darüber nicht sprechen. Also habe ich so getan, als hätte ich Mamas Frage nicht gehört. Stattdessen habe ich von dem Job im Museum erzählt. Ich weiß, dass sie stolz auf mich ist, da ich die Sache durchziehe. Trotz der vielen Leute, die an manchen Tagen kommen. Aber es geht erstaunlich gut, denn meistens denke ich mir die Besucher einfach weg. Das funktioniert. Der Job bereitet mir keine schlaflosen Nächte, nein. Sorgen macht mir im Moment mehr, dass ich eine Schreibblockade oder so was habe. Heute konnte ich keine einzige Zeile zu Papier bringen. Dabei habe ich die gesamte Forschungsliteratur zum anstehenden Kapitel bereits gelesen. Und auch sehr viele Stellen angestrichen. Trotzdem komme ich nicht weiter. Wahrscheinlich sollte ich mit Max – –

Hastig schlägt Onni die Seite um. Sein Lieblingsplatz ist gerade heute kein Ort, um sich mit den Problemen seiner Doktorarbeit zu beschäftigen. Er wird Max am Nachmittag sehen, direkt nach dem Job. Der Termin steht schon seit Längerem. Das muss im Augenblick zu dem Thema reichen.

Gedankenverloren blättert er weiter durch das Notizbuch, in dem er jeden Tag mindestens ein paar Sätze dazu festhält, was geschehen ist, was ihn beschäftigt hat. Das Tagebuch hilft ihm dabei, ein Gefühl von Ordnung und Struktur zu erzeugen. Wenn es ihm nicht gut geht, liest er darin und versteht, dass es immer irgendwie weitergeht.

Manchmal hat er den Eindruck, dass die Vergangenheit für sein Leben wichtiger ist als die Gegenwart. Wahrscheinlich hat er sich in der Uni für ein historisches Fach entschieden, da es ihm hilft, mit dem Gestern das Heute einzuordnen. Er weiß, dass andere Menschen ihn auch deshalb für einen Spinner halten. »Jedes Leben ist anders. Du bist super«, flüstert er.

Nachdenklich fährt Onnis Zeigefinger am Papierschnitt entlang, bleibt an einer Stelle hängen. Er schlägt die Seite auf. Unter einem Datum von vor rund zwei Wochen befindet sich lediglich ein großes Fragezeichen, sonst nichts. Es sieht schön aus, das Fragezeichen, findet Onni. Er hat es in einen Vogel verwandelt. Der obere Bogen ist der Schnabel samt Kopf, gefolgt von einem langen Hals, der in einen gefiederten Körper übergeht. Mit einem schwarzen Lackstift hat er gearbeitet. Es ist die Arbeit eines ganzen Nachmittags, als er in seiner Wohnung saß und, anstatt Fachbücher zu wälzen, nachgedacht hat. Das Malen hat unbewusst stattgefunden, er kann sich an den Vorgang selbst nicht mehr erinnern. Nachdem er wieder aus seiner Gedankenwelt aufgetaucht war, schmückte der Vogel jedenfalls die Doppelseite. So einfach war das. Also muss er ihn gemalt haben. Nur den Punkt des Fragezeichens hat er so gelassen, wie er war. Er schwebt nun verloren unter einem schwarzen, schönen Schwan.

»Verloren«, flüstert Onni und schlägt das Notizbuch zu. Während er es in den Rucksack schiebt, überkommt ihn ein Frösteln. Ohne nachschauen zu müssen, weiß er, dass es nun eindeutig zu spät ist. Er muss los und wird es deshalb nicht mehr sehen. Dieses Wissen versetzt ihm einen Stich, der sich schmerzhaft in die Eingeweide bohrt. Er möchte unbedingt das Schiff sehen. Immer wenn er morgens um diese Zeit hierherkommt, grüßt es ihn mit einem tiefen Tuten. Es ist erstaunlich, doch stets erscheint das riesige Fährschiff innerhalb eines Zeitfensters von acht Minuten zwischen den Inseln und kündigt seine Einfahrt in den Hafen mit diesem beruhigenden Ton an. Über tausend Kilometer auf der Ostsee hat es hinter sich, dennoch ist es pünktlicher als mancher Regionalzug. Nur heute nicht. Heute bleibt es auf dem Meer still.

Das Ausbleiben der Fähre will Onni als ein verstörendes Zeichen erscheinen. Auf dem Weg zurück in die Stadt wirft er einen letzten hoffnungsvollen Blick über die Schulter. Kein Schiff. Der heutige Tag wird anders werden, weiß er und unterdrückt ein Zittern. Anders gefällt ihm nicht.

VIERTES KAPITEL

Mit spitzen Fingern legt sie das beschmierte Fleischermesser in die Spülmaschine und drückt den Startknopf. Gurgelnd setzt sich die Maschine in Gang. In wenigen Minuten werden alle Spuren beseitigt sein, frohlockt Sarah, während sie ihre Hände ausgiebig unter dem Wasserhahn wäscht. Wenn Martha, ihre Hauswirtschafterin, die Spülmaschine am Nachmittag ausräumt, wird ihr nichts auffallen. Bis dahin ist Sarah bereits über alle Berge.

Auf dem Weg zur Haustür geht sie im Kopf die Liste jener Dinge durch, die zu erledigen waren. Das Flugticket, nur ein Hinflug, befindet sich auf ihrem Handy, ebenso wie die Buchungsbestätigung für das Haus. Martha hat sie neben einer Banknote ein paar Zeilen auf dem Küchentisch hinterlassen und Armin, ihrem Anwalt, die unterschriebene Vollmacht per E-Mail zugesandt. Das Geld für Franzi ist überwiesen. Die Koffer sind gepackt. Und um Udo hat Sarah sich gerade gebührend gekümmert. Zufrieden lauscht sie auf das Geräusch der Spülmaschine.

Franziska und zwei, drei enge Freundinnen hat sie in einer Textnachricht darüber informiert, dass sie in der nächsten Zeit nur schwer zu erreichen sein wird. Insgeheim hatte sie gehofft, ihre Tochter würde sich – durch die Mitteilung aufgeschreckt – umgehend bei ihr melden, doch da kam nichts. Natürlich nicht. Wahrscheinlich befindet Franzi sich schon im Shopping-Nirvana.

An der Haustür bleibt Sarah neben den beiden Koffern stehen. Sie zückt ihr Handy und sperrt alle eingehenden Anrufe, außer die von Franzi und Armin. Dann öffnet sie die Taxi-App und bestellt einen Wagen. Langsam dreht sie sich um die eigene Achse und nimmt das Haus ein letztes Mal in sich auf. Sie hat nicht vor, hierher zurückzukehren.

Es vergehen keine fünf Minuten, dann ertönt die Haustürklingel. Über ihr Handy öffnet Sarah das Tor zur Straße und lässt das Taxi herein. Schwungvoll setzt sie die Sonnenbrille auf und schnappt sich die Koffer. Mit einem lauten Knall fällt die Haustür hinter ihr ins Schloss. »Zum Flughafen«, bittet sie den Fahrer, der geschäftig aus dem Wagen springt, um Sarah die Koffer abzunehmen. »Und wenn es Ihnen möglich ist, dann schütteln Sie unterwegs den grünen Peugeot ab, der unten an der Straße parkt und uns gleich folgen wird.«

Der Mann guckt verdutzt, doch dann nickt er. »Wird gemacht.« Während das Taxi auf die Straße rollt und sich das schmiedeeiserne Einfahrtstor hinter ihnen schließt, wirft der Fahrer Sarah im Rückspiegel einen fragenden Blick zu. »Brennt es bei Ihnen? Ich glaube, ich habe beim Rausfahren eine Rauchsäule im Seitenspiegel gesehen. Und da lag auch irgendetwas Verkohltes in der Luft.«

Sarah schüttelt den Kopf und unterdrückt ein Lächeln, das sich auf ihr Gesicht schieben will. »Ein paar Gartenabfälle, die verbrannt wurden«, erklärt sie knapp. »Nichts weiter.« Argwöhnisch verfolgt sie, wie sich der Peugeot vom Straßenrand löst, um hinter dem Taxi herzufahren. »Diesen Wagen meinte ich«, sagt sie.

Der Fahrer nickt und kneift die Augen leicht zusammen. »Kein Problem.«

Sie erreichen den Flughafen ohne den Verfolger. Im dichten Stadtverkehr musste der Peugeot schnell klein beigeben, da ihm das Taxi einfach über die Omnibusspuren davonfuhr.

»Vielen Dank.« Sarah belohnt den Fahrer mit einem großzügigen Trinkgeld. Noch im Wagen wickelt sie einen Schal um Kopf und Gesicht, rückt die Sonnenbrille zurecht und betritt mit gesenktem Kopf das Terminal. Doch sie kommt nicht weit. Gleich am ersten Zeitungsstand bleibt sie wie angewurzelt stehen und kämpft gegen einen Würgereiz. Von einer Illustrierten blickt ihr Udo entgegen. In seinem Arm liegt eine junge Blondine und schmachtet ihn an. Neues Liebesglück für Ramona, prangt die Überschrift.

Grimmig schiebt Sarah ihre Koffer an den Rand, greift sich eine der Illustrierten. Mit zitternden Fingern schlägt sie sie auf. »Das kann doch nicht wahr sein«, haucht sie. Ein Bild von ihr und Udo, vor Jahren bei irgendeiner Festivität aufgenommen, ist mit dem Satz Eine Aufnahme aus besseren Zeiten versehen. »So eine Unverschämtheit!«

Kurzerhand greift Sarah sich alle Ausgaben der Illustrierten und bezahlt sie mit verkniffenem Gesicht an der Kasse. Sie hat das Gefühl, die Leute würden sie mitleidig anstarren. Sie, die sitzengelassene Ehefrau, die nach ihrem Ruhm nun auch noch den Gatten verloren hat. Schwungvoll wirft sie das halbe Dutzend eng umschlungener Udos und Ramonas in den Papiermüllbehälter, unweit des Zeitschriftenhändlers. »Nimm das, Ramona«, murmelt sie heiser und eilt zurück zu ihren Koffern. In ihrem Inneren wütet ein Sturm, und ihre Zähne sind derart fest zusammengepresst, dass der Kiefer schmerzt. Noch nie zuvor in ihrem Leben hat sie sich derart gedemütigt gefühlt. Nicht einmal damals, während der Trennung von Rüdiger.

Mit einem Stöhnen erkennt Sarah, dass die Lücke im Zeitschriftenständer bereits wieder aufgefüllt worden ist. Ramonas Liebesglück erstrahlt auf ein Neues. Sie überlegt noch, ob sie abermals alle ausliegenden Exemplare aufkaufen soll, da fällt ihr ein groß gewachsener Mann in Jeansjacke und ausgebeulten Cordhosen auf, der gerade das Terminal betritt. Der Typ löst ein Alarmgefühl in ihr aus. Und das rührt nicht daher, dass Cordhosen wohl das Unpassendste sind, was man im Sommer tragen kann. Es ist der große Fotoapparat, den der Kerl in den Händen hält, der Sarah ein Schaudern die Wirbelsäule hinablaufen lässt. Ein Reporter. Der grüne Peugeot.

Abrupt wendet sie sich ab und zieht, ohne sich noch einmal umzusehen, die Koffer zum Check-in-Bereich. Glücklicherweise ist der separate Schalter für Reisende in der Business Class frei, und es dauert keine fünf Minuten, bis Sarah eingecheckt hat.

»Sie können gleich zum Gate gehen, Frau Fuchs«, erklärt die Mitarbeiterin mit einem Lächeln. »Das Boarding beginnt in einer Viertelstunde. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug nach Helsinki.«

Auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle meint Sarah, aus dem Augenwinkel den Reporter wahrzunehmen. Es ist völlig klar, was er von ihr möchte, sollte er sie aufspüren: einen Kommentar zum neuen Liebesglück ihres Gatten. Und womöglich noch ein paar Fotos, wie sie in Tränen aufgelöst am Münchner Flughafen steht. Die verzweifelte Noch-Ehefrau, nach langen Ehejahren am Boden zerstört, weil ihr Mann sie für ein Schlagersternchen eingetauscht hat. Diesen Gefallen wird sie dem Presseheini selbstverständlich nicht tun. Unauffällig lässt Sarah sich in Richtung der Sicherheitsschleusen treiben, schließt sich auf dem Weg dorthin einer größeren Reisegruppe an und steuert dann im letzten Moment die kurze Wartereihe für priorisierte Kontrollen an. Ein paar Minuten später hat sie es geschafft. Die Sicherheitsschleuse und damit auch der Reporter liegen hinter ihr. Ein Anflug von Erleichterung macht sich in Sarah breit. Auf direktem Weg begibt sie sich zum Gate. Sie möchte nur noch weg aus München. Hier hat sie das Gefühl zu ersticken.

Als der Flieger abhebt, ist es wirklich ein Gefühl der Befreiung. Dennoch verharrt Sarah noch einige Zeit in sich zusammengesunken im Sitz. Schließlich linst sie verstohlen über den Rand ihrer verspiegelten Sonnenbrille, lugt den Gang auf und ab. Für einen Moment zögert sie, dann wickelt sie den Schal von ihrem Kopf, nimmt die Brille ab und schiebt sie in die Handtasche. Dort fischt sie sogleich nach dem Lippenstift und dem Spiegel. Ein Automatismus. Wenn sie aufgeregt ist, zieht sie immer ihre Lippen nach. Mit Cherry Topaz, ihrer Lieblingsfarbe. Andere Leute zünden sich eine Zigarette an, sie dreht am Lippenstift. Diesmal hält sie jedoch noch rechtzeitig inne. Eine weitere Farbschicht, und sie sähe aus wie ein grotesker Clown.

Sarah rutscht vom mittleren Sitz hinüber auf den Fensterplatz. Prüfend wirft sie der Frau, die auf der anderen Seite von Gang 3 ebenfalls allein in der Reihe sitzt und ihr vage bekannt vorkommt, einen Blick zu. Doch die aufgebrezelte, ondulierte Mitsechzigerin schenkt Sarah keine Beachtung. Konzentriert tippt sie auf ihrem Handy herum, dabei blitzt immer wieder ein wuchtiger Ring an ihrer Hand auf. Ein Panthère de Cartier, erkennt Sarah, nicht ohne eine Spur von Anerkennung. Der Klunker hat den Wert eines Kleinwagens.

Bestimmt heißt sie Petra, schießt es Sarah in den Kopf. Sie wirkt wie eine Petra, direkt der Münchner Schickeria entsprungen. Geld wie Heu, ständig irgendwo eingeladen, aber im Grunde von Einsamkeit zerfressen. Frauen wie sie hat Sarah über die Jahre zur Genüge kennengelernt. So viele, dass sie Angst hat, selbst eine von ihnen zu werden. Schnell dreht sie den Kopf zur anderen Seite.

Bei der Aussicht aus dem schmalen Flugzeugfenster stiehlt sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ohne die dunklen Gläser vor den Augen leuchten der Himmel und die Ostsee um die Wette. Sarah beugt sich ein Stück vor, taucht ein in das unendliche Blau. Der Anblick beruhigt sie. Von hier oben wirken ihre Probleme so wunderbar nichtig. Wie es wohl wäre, für immer am Himmel zu kreisen? Vielleicht wäre alles leichter, wenn sie als Vogel geboren worden wäre. Als Möwe. Sie hätte sich einfach in die Lüfte geschwungen, die Flügel ausgebreitet und wäre dorthin geflogen, wo es ihr gefällt. Und hätte Udo zum Abschied auf den Kopf geschissen.

Aus den Augenwinkeln nimmt sie eine Bewegung wahr, die sie aufschauen lässt. Die Stewardess ist aus der Bordküche hervorgetreten, eine Sektflasche in der einen, ein Tablett mit halb gefüllten Gläsern in der anderen Hand. Entgegen ihrem ersten Impuls nickt Sarah, als die Frau ihr eines der Gläser anbietet. »Vielen Dank.«

Die Stewardess beendet ihre Runde durch die kaum besetzte Business Class schnell. Mit einem nahezu vollen Tablett zieht sie sich abermals in die Bordküche zurück. Sarah stellt sich mit einem Schmunzeln vor, wie die Frau dort den restlichen Sekt genüsslich allein austrinkt. Zurück in die Flasche füllen wird sie ihn wohl kaum.

Sarah nippt am Glas und stößt ein wohliges Seufzen aus, als das feine Perlen auf ihren Lippen kitzelt. Mit jeder Meile, die sie sich von München entfernt, gewöhnt sie sich mehr an den Gedanken, dass ihr Leben gerade dabei ist, sich grundlegend zu verändern. Die Würfel sind gefallen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich selbst aus dem Schlamassel ziehen muss. Gerade überlegt sie, ob sie nach der Stewardess klingeln soll, um sich das Glas auffüllen zu lassen, da dringt ein lautes Schmatzen an ihr Ohr. Verwundert dreht sie den Kopf. Für einen Schlag setzt ihr Herz aus.

Auf Sitz 3A hat Petra jene Illustrierte hervorgezogen, die Neues Liebesglück für Ramona verspricht. Mit einem schmatzenden Geräusch leckt Petra ihren Zeigefinger an, bevor sie die nächste Seite umschlägt und sich in die Klatschspalten vertieft.

Hastig kramt Sarah in ihrer Handtasche. Mit zitternden Fingern klappt sie ihre Sonnenbrille auseinander und schiebt sie auf die Nase. Nervös schielt sie zu ihrer Nachbarin hinüber, deren Zunge abermals hervorschnellt, um schwungvoll den Zeigefinger anzulecken.

Lecken. Blättern. Lecken. Blättern.

Petra beugt den Kopf nach vorne, in die Illustrierte hinein. Ihr Blick springt von den Fotos, die auf der Doppelseite abgebildet sind, zu den Bildunterschriften, von dort zum Textblock und dann wieder zurück auf die Fotos. Dann stockt sie. Ruckartig fährt ihr Kopf herum, und sie blinzelt Sarah an. »Das sind ja Sie!«, ruft sie überrascht aus und hält Sarah die Fotostrecke entgegen. Der Panther-Ring funkelt angriffslustig. »Sie sind Sarah Fuchs! Ihr Mann hat Sie für diese Sängerin sitzenlassen!«

Wie paralysiert starrt Sarah in Petras weit aufgerissene Augen, in denen eine Mischung aus Sensationsgier und Häme blitzt, und ignoriert die ihr entgegengestreckte Zeitschrift.

»Das sind doch Sie?«, fragt Petra mit Aufregung in der Stimme. Ihre Augen sind nun zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, aus denen sie Sarah wie ein Raubvogel taxiert. »Nehmen Sie doch mal die Sonnenbrille ab!«

Ruckartig erwacht Sarah aus ihrer Starre und räuspert sich. »Minä en ymmärrä teitä«, quetscht sie hervor. Ich verstehe Sie nicht.

»Wie bitte?« Petra blinzelt, schaut auf die Fotos, dann wieder zu Sarah. Sie öffnet den Mund, schließt ihn jedoch stumm wieder.

Erleichtert, dass sie der Frau fürs Erste den Wind aus den Segeln genommen hat, durchkämmt Sarah ihr Gedächtnis nach einem weiteren Satz, den sie Petra entgegenschleudern kann. Irgendetwas Belangloses, damit die Frau sie für eine Finnin und eben nicht für Sarah Fuchs, die in einem Linienflug aus München flüchtet, hält. Warum fällt ihr gerade jetzt nichts Passendes ein? Was kann sie …? Verdammt! »Kissa on teeveen ääressä«, stößt sie schließlich aus.

Petra presst ihre Lippen aufeinander, sichtlich unschlüssig, wie sie reagieren soll. Hilfe suchend sieht sie sich um, doch niemand der übrigen Passagiere verfolgt das Gespräch der Frauen in Reihe 3.

Die Katze ist vor dem Fernseher. Am liebsten würde Sarah sich selbst ohrfeigen. Ihr ist einzig dieser dämliche Satz in den Sinn gekommen. Glücklicherweise versteht Petra augenscheinlich kein Wort von dem, was Sarah da von sich gibt. Sie wird die Frau einfach totreden, bis sie von ihr ablässt. Oder bis sie in Helsinki landen. »Kissa menee pöydän alle.« Die Katze geht unter den Tisch. Über Wochen hat Sprachlehrer Torben Sarah mit endlosen Katzenbildern, die sie beschreiben musste, gequält. Es ist unvorstellbar, wo Katzen überall hingelangen können.

Petra runzelt die Stirn. In ihren Augen blitzt Verunsicherung auf. Die Illustrierte baumelt schlaff in ihrer Hand.

»Kissa on kukkien keskellä.« Die Katze ist zwischen den Blumen. Sarah wirft Petra ein entschuldigendes Lächeln zu. So, als verstehe sie nicht, was die Mitreisende überhaupt von ihr will. Nun, da sie die Frau erfolgreich auf den Holzweg führt, gewinnt Sarah fast schon Gefallen an der Situation.

Ein weiteres Mal gleicht Petra die Fotos der Zeitschrift mit Sarahs Erscheinung ab, dann verzieht sie beleidigt die Mundwinkel. Zwinkernd versucht sie, durch Sarahs verspiegelte Brillengläser zu stieren.

Sarah holt zum Todesstoß aus. »Kissa hyppää pois television päältä.« Sie schickt ein nachdrückliches Nicken hinterher. Die Katze springt vom Fernseher. »Kissalla on nälkä ja se menee keittiöön.« Die Katze hat Hunger und geht in die Küche.

»Ich … äh …« Petra schüttelt den Kopf, dann hebt sie die Zeitschrift ruckartig vor ihr Gesicht.

Lecken. Kopfschütteln. Lecken. Blättern.

Als der kaum besetzte Airbus A320 keine Stunde später in Helsinki-Vantaa am Terminal ankommt und sich die Flugzeugtür geöffnet hat, stürmt Petra aus dem Flieger, ohne sich noch einmal nach Sarah umzudrehen. Die Illustrierte lässt sie achtlos auf ihrem Sitzplatz zurück.

Das Schmutzblatt wird im Abfall landen, wo es hingehört, denkt Sarah mit einer leisen Genugtuung, während sie in ihren leichten Mantel schlüpft. An der Tür nickt sie der Stewardess zum Abschied zu.

»Sie haben aber eine sehr umtriebige Katze«, sagt die Stewardess auf Englisch und zwinkert Sarah vergnügt zu. »Willkommen in Helsinki.«

Mit rotem Kopf stöckelt Sarah aus dem Flugzeug. Sie ist sich sicher, Alkohol im Atem der Stewardess gerochen zu haben.

FÜNFTES KAPITEL

Onni faltet das dunkle Hemd zusammen und steckt es in seinen Rucksack. Er hält inne, zieht das Hemd wieder hervor und schüttelt es sorgsam aus. Dann faltet er es abermals, besieht sich das Ergebnis von allen Seiten und schiebt das rechteckige Stoffbündel auf seinen Handflächen in den Rucksack, nicht unähnlich einem Pizzabäcker, der seine Pizza in den glühend heißen Ofen hebt. Eilig zurrt er den Verschluss des Rucksacks zu. Bliebe er zu lange offen, bestünde die Gefahr, dass Onni das Hemd ein drittes Mal zusammenlegen müsste.

»Schon fertig für heute?« Ritwa öffnet einen Spind und hängt ihre Jacke hinein. »Ich beneide dich, Onni. Hättest du nicht eigentlich bis zum Nachmittag Dienst gehabt?«

»Es ist nicht viel los. Ich habe Frau Wirtanen gefragt, ob ich deshalb früher gehen darf. Sie meinte, das ginge okay, da du noch kommen würdest.«

»Ihr hättet mich auch anrufen können, dann wäre ich zu Hause geblieben.« Ritwa gibt der Tür einen Stoß, sodass der Spind mit einem lauten Geräusch zuschlägt. »Aber an mich denkt ja niemand.«

Onni kann nicht sagen, ob Ritwa einen Scherz macht oder ob sie es ernst mit ihrer Anklage meint. Er ist nicht gut in diesen Dingen. Kaisa, seine Mutter, sagte schon früher, das soziale Miteinander sei für ihn wie eine Fremdsprache, die er nur mäßig beherrsche. Vielleicht gefällt ihm sein Job im Museum deshalb so gut. Er hat lediglich sicherzustellen, dass keiner der Besucher den Bildern und Skulpturen zu nahe kommt. Meist kreisen seine Gedanken sowieso um die Doktorarbeit, an der er schreibt. An den Schreibtisch zieht es ihn auch jetzt, deshalb hat er Frau Wirtanen gefragt, ob er früher gehen könne.

»Genieß deinen freien Nachmittag«, sagt Ritwa. Sie zwinkert ihm im Vorbeigehen zu.

Er schultert den Rucksack und verlässt das Museum. Ritwa hat zum Abschied doch recht freundlich gewirkt, findet er. Dann wird sie nicht wirklich enttäuscht darüber gewesen sein, dass er den Nachmittag frei hat, wohingegen sie arbeiten muss. Das erleichtert ihn, er möchte nämlich keinen Streit mit ihr. Vor einem Jahr, als er den Job im Museum anfing, war Ritwa für ein paar Wochen nicht gut auf ihn zu sprechen. Mehrmals wollte sie sich mit ihm verabreden, lud ihn sogar zu sich nach Hause ein. Dass er die Treffen allesamt ausschlug, nahm sie ihm richtig übel. Er sei ein komischer Kauz, ein richtiger Nerd, hat sie ihn damals angefahren. Doch das ist längst wieder vergessen. Hofft er zumindest.

Gedankenverloren rückt er an seiner Nickelbrille, während er die Aleksanterinkatu überquert. Auf der anderen Straßenseite bleibt er stehen und schiebt den Rucksack, den er nur über einer Schulter trägt, zurecht. In einer nahen Schaufensterscheibe erblickt er sein Spiegelbild und tritt einen Schritt darauf zu. Missmutig mustert er seine große, schlaksige Statur. Die langen Gliedmaßen versucht er vergeblich unter einem viel zu weiten Pullover zu verstecken. Es ist endlich an der Zeit, dass er in ein Fitnessstudio geht, um Muskeln aufzubauen, sagt er sich. Doch er weiß genau, dass es bei dem Vorsatz bleiben wird. Wie schon so oft.

Im Kiosk an der Ecke zur Vuorimiehenkatu greift Onni einen abgepackten Hirsesalat aus dem Kühlregal. Während er an der Kasse ansteht, studiert er das Titelblatt des heutigen Helsingin Sanomat. Der Aufmacher ist ein Artikel über den Einbruch bei einem der reichsten Finnen, Taavi Romu. Der Zweiundachtzigjährige soll in seiner Villa nahe Helsinki überfallen worden sein, ohne dass jedoch etwas geraubt wurde. Ungläubig schüttelt Onni den Kopf. Er hat Romu einmal von Weitem bei einer Veranstaltung im Museum gesehen. Der Multimillionär gehört zu den wichtigsten Förderern der staatlichen Sammlung. Zum Glück ist dem Mann anscheinend nichts geschehen.

Vom Kiosk bis zu seiner Wohnung sind es nur ein paar Gehminuten. Würden seine Eltern, die in Turku leben, ihn nicht finanziell unterstützen, könnte Onni sich eine Unterkunft in dieser Gegend nicht leisten. Der Teilzeitjob im Museum wirft gerade so viel ab, dass es für die täglichen Ausgaben reicht. Doch seine Eltern, beide Akademiker in gut bezahlten Positionen, bestehen darauf, dass ihr Sohn ein angenehmes Leben führt, während er an einer wissenschaftlichen Arbeit über den Stellenwert von vorchristlichen Religionen in der altfinnischen Geschichte schreibt. Sein Vater überweist ihm sogar jeden Monat mehr als die Mietkosten. Die unbestreitbaren Vorzüge eines Daseins als Einzelkind.

Den Salat stellt er in den Kühlschrank, prüft dreimal, ob die Kühlschranktür auch wirklich geschlossen ist, dann füllt er ein Glas mit Leitungswasser und setzt sich auf das Sofa. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein gutes Dutzend Bücher neben seinem Laptop. Er starrt auf den Bücherstapel, weiß, dass er dringend weiterarbeiten muss. Am Nachmittag hat er den Termin bei Max Bengtsson, seinem Doktorvater. Er mag den Professor sehr, doch er wird ihm beichten müssen, dass er mit seiner Arbeit schon seit einiger Zeit nicht weiterkommt. Davor graut es ihm.

Halbherzig blättert Onni in einem der Bücher, dann klappt er den Laptop auf, nur um ihn sogleich wieder zu schließen. Wem soll er etwas vormachen?, fragt er sich. Auch jetzt wird er die Blockade nicht lösen können. Vielleicht hilft ihm das Gespräch mit Max weiter, doch im Moment vertrödelt er nur seine Zeit.

Plötzlich wirkt die Wohnung erdrückend. Onni springt vom Sofa auf, schnappt sich seine Geldbörse aus dem Rucksack und hechtet durchs Treppenhaus nach draußen. Er braucht dringend frische Luft und Bewegung. Ohne ein konkretes Ziel vor Augen wandert er durch das Viertel, wobei ihm jetzt, am frühen Nachmittag, nur wenige Passanten begegnen.

Sein Kopf schmerzt. Wie ein Schmetterlingsschwarm flattern die Gedanken wild durcheinander. Immer wieder ermahnt Onni sich, nicht an das bevorstehende Treffen mit Max zu denken. Er darf sich nicht verrückt machen, sonst kommt er gar nicht mehr weiter. Er wusste sogleich, dass dies kein guter Tag werden würde, als das Schiff ausblieb.

Als es ihm endlich gelingt, die schweren Gedanken abzuschütteln, und er erleichtert den Blick hebt, schaut er auf den Eingang des Black Swan. »Wirklich?«, stößt er überrascht aus. Ausgerechnet hierhin hat es ihn verschlagen? Schnell will er weitergehen, aber dann schaut er doch kurz in der Bar vorbei. Der Laden ist fast leer. Lediglich eine Handvoll Leute sitzen drinnen an den Tischen. Es wird sich wahrscheinlich erst später füllen, wenn die Büros und Geschäfte schließen. Mit gesenktem Kopf steuert er die Theke an und setzt sich auf einen Hocker.

»Hi«, grüßt der Barkeeper, ein braun gebrannter Mittdreißiger mit blonden Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hat. »Was darf’s sein?«

»Ein Bier, irgendeins«, antwortet Onni. Nervös schiebt er die Ärmel seines Pullovers hoch und wieder herunter. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Als der Barkeeper eine Flasche vor ihm abstellt, ergreift Onni sie eilig und nimmt einen tiefen Schluck. Dabei sieht er sich in dem kleinen Raum um. Ein paar Jungs in seinem Alter unterhalten sich lachend an einem Tisch, ansonsten sitzen noch zwei ältere Männer in entgegengesetzten Ecken des Raums und starren in ihre Gläser. Nein, er erinnert sich nicht.

Am Abend, vermutet er, wird man sich im Black Swan nicht mehr um die eigene Achse drehen können, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Gerappelt voll wird der Laden sein, ohrenbetäubend laut. Auch in den unteren Räumen, die erst am späten Abend geöffnet werden. Das hat er irgendwo gehört. Irgendwoher weiß er es. Mit dem Handrücken wischt sich Onni eine Schweißperle von der Stirn. Warum nur kann er sich nicht erinnern?

»Hallo, Onni«, ertönt eine Stimme. »Das ist eine Überraschung.«

Er fährt auf dem Hocker herum, wobei er beinahe seine Bierflasche vom Tresen fegt. »Swen«, stößt er aus. Er hat ihn nicht hereinkommen sehen.

Swen nestelt am Bund seiner Baggy-Jeans, dann tippt er an den Schirm seiner Baseballkappe. »Okay, wenn ich mich setze?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht Swen einen Hocker zu sich heran. »Das Gleiche.« Er nickt in Richtung des Barkeepers und deutet auf Onnis Bierflasche.

Der Mann hinter der Theke zieht in einer einzigen flüssigen Bewegung eine Flasche aus einer Schublade hervor, entfernt den Kronkorken und stellt das Bier vor Swen ab. Das Ganze hat keine fünf Sekunden gedauert.

»Was macht die Kunst?« Swen untermalt die Frage mit einem breiten Grinsen.

Onni nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Was macht die Kunst? Ein flaches Wortspiel, schließlich haben Swen und er sich im Kunstmuseum kennengelernt. Dort waren sie Kollegen, wenngleich nur für eine kurze Zeit. Denn Swen hat bereits nach zwei Wochen wieder gehen müssen, da Frau Wirtanen ihn beim Klauen erwischte. Toilettenpapier aus den Besucherklos, im großen Stil. »Gut geht’s.«

»Cool, Junge. Das ist dope. Ich habe gestern noch an dich denken müssen.« Er zwinkert Onni zu.

»Ach?«

»Wegen dem Zeugs, mit dem du dich für deine Doktorarbeit beschäftigst. Diesem alten Krempel. Musste ich gestern dran denken, wie gesagt.« Er führt die Bierflasche an die Lippen und nimmt einen tiefen Zug, ohne Onni aus den Augen zu lassen.

»Du hast wegen meiner Doktorarbeit an mich gedacht?«

Swen nickt. »Ich mache im Moment guten Zaster mit Botengängen, weißt du. Und manchmal bin ich neugierig, was mich meine Auftraggeber so durchs Land fahren lassen. Eigentlich ist es immer das gleiche Zeug.« Demonstrativ zieht er die Nase hoch. »Aber gestern war es was ganz anderes. So etwas Altes. Wie du es mir mal im Museum gezeigt hast, als du von deiner Doktorarbeit gelabert hast. Was Uraltes halt. In etwa so hoch wie eine Weinflasche.«

»Okay.« Onni hat keinen blassen Schimmer, worauf Swen hinauswill. Er erinnert sich nicht, überhaupt mit ihm über seine Forschungsarbeit gesprochen zu haben. Wenn es während ihrer gemeinsamen Zeit im Museum war, dann ist es jedenfalls bereits Monate her.

»Stell dir vor, das Ding gestern war in Klopapier eingewickelt. Witzig, oder? Klopapier!«

»Klopapier?«, wiederholt Onni. Das birgt eine gewisse Ironie.

»Ja, genau. Ich habe die Lieferung vorsichtig ausgewickelt und mir genau angeguckt. War so ein altes, hässliches Ding. Echt krass. Du weißt, was ich meine, Junge.«

Er weiß nicht, was Swen meint, und eigentlich interessiert es ihn auch nicht. Plötzlich muss er wieder an seinen wichtigen Gesprächstermin mit dem Professor denken. Es war ein Fehler, hierher in die Bar zu kommen, schießt es ihm in den Kopf. Er hätte zumindest versuchen müssen, weiterzuschreiben.

»Gestern musste ich an dich denken, heute bist du hier«, erklärt Swen und legt eine Hand auf Onnis rechten Oberschenkel.

Er zuckt zusammen und schiebt Swens Hand zur Seite.

Swen lacht auf. »Junge, du brauchst jetzt keinen auf Klosterschüler zu machen. Echt nicht. Beim letzten Mal warst du weit davon entfernt.«

»Wie meinst du das?« Onnis Stimme ist ein Krächzen.

Grinsend zieht Swen einen Stift aus seiner Jeans und setzt ihn an ein Nasenloch. Er tut so, als zöge er auf dem Tresen eine Line.

»I-ich … also …«, stottert Onni.

Swen kneift die Augen zusammen und starrt Onni für einen langen Moment an, dann seufzt er, dreht den Stift auf und beginnt, auf einem Bierdeckel herumzukritzeln. »Echt jetzt, Onni? Du weißt es nicht mehr?« Er unterbricht das Malen und blickt auf. In seinen Augen liegt etwas Abwägendes.

Onni schüttelt den Kopf. Ein Fragment klopft an sein Gedächtnis, doch er bekommt es nicht zu fassen.

»Alter, du warst zugedröhnt wie eine Haubitze. Alkohol. Koks. Wer weiß, was noch.« Swen setzt das Kritzeln konzentriert fort, als wäre es ihm nun unangenehm, Onni direkt in die Augen zu schauen. »Du bist voll abgegangen, hast da unten mit ein paar Typen rumgemacht.« Er deutet auf die Treppe, die zu den unteren Räumen führt. »Du warst wie ausgewechselt, hätte ich dir nie zugetraut.«

Ihm wird schwindelig. Was behauptet Swen da? Das ist nicht wahr! Warum kann er sich nicht erinnern? Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass er vor zwei Wochen eines Morgens wie gerädert in seiner Wohnung aufgewacht ist, nachdem er abends erstmals in den Black Swan gegangen war. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darüber gerollt. Er erinnert si...

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