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Wenn das Glück erwacht

hier erhältlich:

Emmas Leben liegt in Scherben: Bevor ihr Ehemann in Haft kommt, begeht er Selbstmord. Obwohl Emma nichts mit seinen kriminellen Geschäften zu tun hatte, wird sie von allen gemieden. Einen sicheren Hafen hofft sie in ihrer alten Heimat zu finden. Aber der Neuanfang gestaltet sich schwieriger als gedacht. Denn auch hier warten nicht nur schöne Erinnerungen auf sie. Insbesondere vor einer Begegnung mit ihrer ehemals besten Freundin Riley fürchtet sie sich. Umso überraschter ist Emma, dass ausgerechnet Rileys Bruder Adam sie mit offenen Armen empfängt - und immer genau dann zur Stelle ist, wenn sie eine starke Schulter zum Anlehnen braucht …

»Ein unterhaltsames Lesevergnügen für alle, die Romane mit starken Frauenfiguren mögen, und für alle, die gern Liebesgeschichten lesen.« Library Journal


  • Erscheinungstag: 04.01.2019
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769000
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Therese Plummer,
heiß geliebte Erzählerin, begabte Schauspielerin und die Stimme meines Herzens

Prolog

Als die Wahrheit ans Licht kam, fragte sie sich, wieso ihr so lange nichts aufgefallen war.

Emma Shay Compton wusste, dass ihre Ehe mit Richard auf viele wie ein echtes Märchen wirkte. Und obwohl sie Richard geliebt hatte, war da immer das Gefühl gewesen, dass irgendetwas fehlte. Sie konnte es nicht benennen, so vage war dieses Gefühl. Richard war gut zu ihr, großzügig, aber er war ein viel beschäftigter Mann. Und schon kurz nach ihrer Hochzeit hatte er sich von ihr zurückgezogen, war auf Distanz gegangen. Damals hatte sie sich eingeredet, dass megareiche Börsenmakler eben nicht zu Hause rumsaßen, um ihre jungen Ehefrauen zu bespaßen. Dass sie Sechzehn-Stunden-Tage hatten. Dass sie ständig am Telefon hingen. Dass sie Herrscher über Millionen waren. Und wenn jemand – sogar seine Frau – Richard sehen wollte, musste das geplant sein. Deswegen hatte sie sich stets selbst die Schuld daran gegeben, wenn sie gedacht hatte, dass mit ihrer Ehe irgendwas nicht stimmte.

Es war ihr kaum aufgefallen, dass seine Anwälte plötzlich mit ihm über Probleme mit der US-Börsenaufsicht SEC sprachen. Als sie aus den Medien erfuhr, dass Richards Firma wegen des Verdachts auf Wertpapierbetrug überprüft wurde, und ihn danach fragte, sagte er beiläufig: »Sommerloch.«

Und dann begann er zu dozieren. »Lies mal die Wirtschaftsseiten der Zeitungen, dann siehst du so was jeden Tag. Momentan werden mehrere millionenschwere Banken und Investmentgesellschaften unter die Lupe genommen. Die Börsenaufsichtsbehörde muss eben irgendwie ihre Existenz rechtfertigen. Das kostet uns Zeit, was mir ganz und gar nicht gefällt, aber es geht schnell vorbei.«

Also war Emma unbesorgt, warf jedoch hin und wieder tatsächlich einen Blick auf die Wirtschaftsnachrichten. Natürlich hatte er recht. Da war von vielen Untersuchungen die Rede, von hohen Geldbußen, Neuorganisationen, Buy-outs und Firmenschließungen. Die Welt der Banken und Investments stand unter genauer Beobachtung.

Schließlich eröffnete Richard ihr, dass er vor Gericht erscheinen müsse. Er und seine Anwälte. Er wollte Emma gern an seiner Seite haben und erkundigte sich, ob sie es einrichten könne.

Sie lachte. »Ich bin nicht diejenige mit dem vollen Terminkalender, Richard.«

Er schenkte ihr sein perfektes zuversichtliches, entspanntes Lächeln und streichelte ihre Wange. »Du musst nur da sein, sonst nichts.«

Am Morgen des Gerichtstermins betrachtete er den Anzug, den sie ihm rausgelegt hatte, und meinte: »Perfekt.« Er ging ins Bad. Sie saß an ihrem Schminktisch und cremte sich die Beine ein. Hörte, wie Wasser ins Waschbecken lief. Und kurz darauf: »Verdammte Scheiße!«

Richard hatte sich beim Rasieren geschnitten und fluchte – das war nichts Ungewöhnliches. Aber dann sah sie im Spiegel ihre eigenen Augen, und da wusste sie es. Sie hatte eine Lüge gelebt, und alles, was sie über ihn gehört hatte, war die Wahrheit.

Ihr Ehemann war ein kalter, berechnender Lügner und Dieb. Und sie musste damit aufhören, sich etwas vorzumachen.

1. Kapitel

Es sind die kleinen Dinge, an denen du zerbrichst. Das hatte Emma Shay in letzter Zeit häufig gedacht. Sie ertrug es, dass ihr alles genommen wurde, während sie in einem kleinen Motel an der Küste von New Jersey quasi unter Hausarrest stand. Während ihr Mann beerdigt wurde. Während die Reporter ihr unterstellten, dass sie von den Betrügereien ihres Mannes gewusst hatte und vielleicht sogar seine Komplizin war. Das alles hielt sie aus. Doch als der Absatz ihrer besten Slingback-Pumps abbrach und sie die Treppe vor dem Gerichtsgebäude herunterfiel, brach sie in Tränen aufgelöst zusammen. Das Foto ging durch sämtliche Medien, selbst im »People«-Magazin wurde es abgedruckt. Als man sie kurz darauf in ihrem Yogastudio bat, in Zukunft nicht mehr zu kommen, wäre sie vor Scham am liebsten gestorben. An diesem Abend weinte sie sich in den Schlaf. Niemand hatte ihr je erklärt, dass so ein letzter Strohhalm schwer zu fassen war.

Das gesamte Inventar aus ihrem Apartment in Manhattan und ihrem Ferienhaus war versteigert worden. Sie hatte nur einige praktische Dinge zusammengepackt, ihre Alltagskleidung hatte sie zu einem Teil an Frauenhäuser gespendet. Natürlich waren alle Wertgegenstände – die Kunstwerke, das Glas, das Porzellan, das Tafelsilber und der Schmuck – als Erstes gepfändet worden. Sogar Gegenstände, bei denen sie beweisen konnte, dass sie nichts mit Richards krummen Geschäften zu tun gehabt hatten, wie die Hochzeitsgeschenke von Freunden. Ihre Designerroben waren weg. Ihr Hochzeitskleid von Vera Wang. Einen gewissen Teil ihrer teuren Bettwäsche und Handtücher und der Küchenausstattung samt Gläsern, Tischsets, Servietten und so weiter durfte sie behalten. Außerdem nahm sie die Kiste mit Fotos mit, von denen die meisten aus der Zeit vor Richard stammten. Sie lud alles in ihren Toyota Prius. Selbstverständlich war der Jaguar auch Geschichte.

Man hatte ihr einen finanziellen Vergleich angeboten, nachdem man ihr nicht nachweisen konnte, dass sie etwas mit Richards Schneeballsystem zu tun gehabt hatte. Natürlich konnte man es nicht nachweisen, denn sie war ja unschuldig. Aber sie hatte auch nicht gegen Richard ausgesagt – allerdings nicht etwa aus Gründen der Loyalität oder weil es ihr von Rechts wegen zustand, sondern schlicht, weil sie nichts zu erzählen hatte, das in irgendeiner Weise dem Verfahren geholfen hätte. Sie war nicht etwa jeden Tag im Gerichtssaal gewesen, um Richard zu unterstützen, sondern bloß, weil sie wissen wollte, welcher Verbrechen er genau beschuldigt wurde. Sie hatte damals Ersparnisse in Höhe von neuntausend Dollar mit in die Ehe gebracht. Jetzt war sie Witwe, und die neuntausend Dollar hatte man ihr gelassen. Sie befanden sich auf ihrem Girokonto und würden ihr als Reserve dienen. Emma verließ New York und fuhr einmal quer durchs Land – bis nach Sonoma County, wo sie aufgewachsen war.

Sie hatte alles gründlich durchdacht. Schon Monate vor Richards Tod. Sie hätte die Vergleichssumme akzeptieren und sich in die Karibik absetzen können. Oder vielleicht nach Europa. Die Schweiz hatte ihr immer gefallen. Sie hätte einen anderen Namen annehmen, sich die Haare färben und über ihre Vergangenheit lügen können. Aber was, wenn man ihr auf die Schliche kam? Wollte sie wirklich ein Leben auf der Flucht führen?

Stattdessen lehnte sie das Vergleichsangebot ab und trennte sich von allem, was sie hätte behalten können. Denn sie wollte Richards zu Unrecht erworbene Güter nicht. Obwohl sie selbst niemanden betrogen hatte, konnte sie guten Gewissens nicht unter solchen Umständen leben.

In Santa Rosa kannte sie noch ein paar Leute von früher. Mit einigen war sie in Kontakt geblieben. Es war ihre alte Heimat. Von ihrer Familie lebte jedoch kaum noch jemand hier. Ihre Stiefmutter Rosemary war mit ihrem dritten Ehemann nach Palm Springs gezogen. Soweit Emma wusste, wohnten ihre Stiefschwester Anna und ihre Halbschwester Lauren noch gemeinsam in dem Haus, in dem sie alle zusammen groß geworden waren. Aber sie hatten sich von Emma abgewandt, nachdem Richard verurteilt worden war. Mit ihrer Stiefmutter hatte sie zum letzten Mal kurz vor Richards Tod gesprochen, als alles um sie herum zusammengebrochen war. Vor einigen von Richards wütenden Betrugsopfern hatte Emma sich regelrecht verstecken müssen, denn sie waren überzeugt gewesen, Emma hätte sich einen Teil des verschwundenen Geldes unter den Nagel gerissen. Rosemary hatte zu ihr gesagt: »Diesmal hat sich deine Gier wohl nicht ausgezahlt.«

»Rosemary, ich hatte doch nichts damit zu tun!«, hatte Emma ihr versichert.

Und dann hatte ihre Stiefmutter ausgesprochen, was alle glaubten. »Sagst du

Tja. Diese Frau hatte nie etwas von ihr gehalten. Jetzt baute Emma darauf, dass nicht alle in Sonoma County so dachten wie sie. Emma war hier aufgewachsen, hatte die katholische Grundschule und die Highschool besucht. Und sie hielt es für extrem unwahrscheinlich, dass Mandanten – beziehungsweise Opfer – von Richards in New York ansässiger Investmentfirma in den kleinen Ortschaften von Sonoma County zu finden waren.

Ihr bester Freund Lyle Dressler, mittlerweile vermutlich ihr einziger Freund, hatte für sie einen kleinen möblierten Bungalow in Sebastopol gefunden. In dieser Stadt lebte Lyle mit seinem Partner. Also hatte sie dort zumindest etwas moralische Unterstützung.

Emma war jetzt vierunddreißig. Sie hatte Richard Compton vor neun Jahren geheiratet. Damals war er fünfundvierzig gewesen, klug, gut aussehend, erfolgreich. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war sie absolut von ihm verzaubert gewesen, obwohl er zwanzig Jahre älter war als sie. Aber fünfundvierzig war doch kein Alter! Er war fit, genial, reich und mächtig gewesen. Er hatte sogar zu den begehrtesten Junggesellen von New York City gehört.

Damals hatten Rosemary und Emmas Schwestern ihn auch noch gemocht. Sie waren ganz begierig darauf gewesen, zu irgendwelchen Veranstaltungen nach New York zu reisen, zu denen Richard sie – wenn auch nur widerwillig – eingeladen hatte. Doch kaum war es hart auf hart gekommen, hatten sie Emma nicht das kleinste bisschen Unterstützung angeboten.

Die Jahre, in denen die Vorwürfe und die Anklage gegen Richard noch nicht ihre Ehe überschattet hatten, waren zwar nicht gerade der Himmel auf Erden, aber auch nicht schlecht gewesen. Alles, worüber sie sich beschwert hatte, war ihr von anderen Frauen in ähnlicher Lage bekannt gewesen: Ihr Mann hatte zu viel zu tun, war dauernd abwesend, und selbst auf gemeinsamen Reisen verbrachten sie kaum Zeit miteinander. Die Freunde, die sie in New York durch ihre Arbeit kennengelernt hatte, waren immer mehr aus ihrem Leben verschwunden, nachdem sie den superreichen Investmentbanker geheiratet hatte.

Und da sie sich in den elitären Kreisen, in denen sie seitdem verkehrte, nie wirklich wohlgefühlt hatte, kam sie sich immer etwas einsam vor. Dabei war sie permanent unter Leuten, engagierte sich in Komitees, trieb Sport, empfing Gäste und bildete sich ein, dass sie für Richard unverzichtbar war. Tatsächlich war er alles, was sie noch hatte. Es war ein äußerst dunkler Tag gewesen, als sie schließlich entdeckt hatte, dass sie den Mann an ihrer Seite in Wahrheit überhaupt nicht gekannt hatte.

Die Untersuchung der Börsenaufsicht hatte kurz vor ihrem fünften Hochzeitstag begonnen. Vor dem siebten waren die Anklageschrift erstellt und alle Konten eingefroren worden. Den achten hatte sie im Gerichtssaal verbracht. Richards Verteidiger hatten zwar eine Aufschiebung erreichen können, doch schließlich war der Tag der Verhandlung da. Es war ein wahres Spektakel von einer Verhandlung, und Emma spielte die vertrauensvolle, gute Ehefrau, die erhobenen Hauptes dabeisaß. Richards Mutter und Schwester waren dem Prozess ferngeblieben und weigerten sich auch, Interviews zu geben. Emma hatte stets geglaubt, die beiden hätten sie nie für gut genug für Richard gehalten, aber nach der Verhandlung änderte sie ihre Meinung. Die beiden mussten über Richard Bescheid gewusst haben. Sie hatten seine innere Leere, seine dunkle Seite gekannt.

Er selbst hatte in der ganzen Zeit nicht mit ihr über die Angelegenheit gesprochen, erst kurz vor dem bitteren Ende. Auf ihre Frage nach der Untersuchung hatte er bloß erwidert, sie seien hinter ihm her. Es sei eben ein hartes Geschäft, doch er sei härter, und man werde ihm niemals etwas nachweisen können. Am Ende war es zwischen ihnen zu einigen kurzen, hässlichen, allerdings aufschlussreichen Wortwechseln gekommen. Wie konntest du nur? – Wieso denn nicht? – Womit kannst du deine Gier rechtfertigen? – Meine Gier? Was ist mit deren Gier? – Müssen sie sich rechtfertigen? – Sie alle wollten, dass ich für sie das meiste raushole! Ich sollte für sie Stroh zu Gold spinnen, selbst wenn ich dafür lügen, stehlen und betrügen musste! Jeder Einzelne von ihnen wollte abkassieren, bevor das System aufflog!

Die Ermittler konnten alles genauestens nachweisen. Richards Angestellte machten Deals mit der Staatsanwaltschaft und sagten im Gegenzug gegen Richard aus. Tonnen von Papieren dokumentierten Wertpapierbetrug, Diebstahl, Post- und Überweisungsbetrug, Geldwäsche … Die Liste war lang. Kurz vor dem Ende, als Richard zu fliehen versucht hatte und ohne viel Federlesens von den US-Marshals zurückgebracht worden war, als man seine Offshore-Konten entdeckt und ihm zugeordnet hatte, als ihm eine lange Haftstrafe gedroht hatte und nichts mehr zu retten gewesen war, da erschoss Richard sich.

Natürlich glaubte niemand, dass Emma nichts von seinen Machenschaften gewusst hatte. Vermutlich meinten die Leute, er wäre jeden Abend von der Arbeit nach Hause gekommen und hätte bei einem Drink mit ihr über alles geplaudert. Aber das hatte er nicht.

Der Richard, den sie gekannt hatte, war offensichtlich ein Betrüger, ein Chamäleon gewesen. Er hatte so charmant, so entzückend sein können. Doch er hatte nichts ohne Hintergedanken gemacht und immer noch mehr gewollt. Wieso hätte ich dich nicht heiraten sollen? Du warst eine außergewöhnliche Investition! Perfekt für diese Rolle! Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Menschen eher einem verheirateten als einem unverheirateten Mann vertrauen. Richard war ein Narzisst, ein Manipulant, ein Lügner und Betrüger. Und er war verdammt gut in dem, was er tat. Die Leute fühlten sich geradezu geehrt, ihm auf den Leim gegangen zu sein. Er hatte das Aussehen eines Richard Gere, die Genialität eines Steve Jobs und die Moral eines Bernard L. Madoff. Glücklicherweise war er nicht ganz so erfolgreich wie dieser gewesen. Richard hatte nur hundert Millionen gestohlen.

Aber was hatte sie wirklich gewusst? Sie hatte gewusst, dass er diskret war. Er sprach nie über seine Arbeit, was sie für einen Mann mit seiner Macht und in seiner Position für ganz normal gehalten hatte. Er war zwar ungeheuer kommunikativ, sowohl als Privatmensch als auch im Geschäftsleben, doch kaum waren sie verheiratet gewesen, hatte er ihr nichts mehr von seiner Familie, seiner Kindheit, seinem Studium oder seinen ersten Jahren an der Wall Street erzählt. Sie wusste, dass er nicht viele Freunde von früher hatte, sondern überwiegend geschäftliche Kontakte. Er stellte sie nie Ex-Kommilitonen oder Kollegen aus seiner beruflichen Anfangszeit vor. Dafür fragte er sie routinemäßig immer, wie ihr Tag gewesen war. Er erkundigte sich, was sie tagsüber gemacht hatte, welche Projekte bei ihr anstanden, wen sie getroffen hatte und was sich in ihrer Welt ereignete. Das war natürlich nur der Fall, wenn er mal zu Hause war – denn oft arbeitete er bis spät in die Nacht oder war auf Reisen. Was Richard jedoch von den üblichen mittelmäßigen Betrügern abhob, war die Tatsache, dass er zuhören konnte. Die Leute – inklusive Emma selbst – dachten immer, sie würden ihn kennen, obwohl er nicht ein einziges Wort über sich selbst erzählte. Aber er hörte eben zu. Und zwar gebannt. Und die Menschen mochten seine Aufmerksamkeit.

Neun Jahre Ehe. Vier Jahre, die ganz in Ordnung gewesen waren, und fünf, die sich als absoluter Albtraum entpuppt hatten. Emma fragte sich, wann dieser Albtraum endlich vorüber sein würde.

Sie fuhr direkt zu Lyles Blumenladen, der »Hello, Gorgeous« hieß – benannt nach den berühmten Zeilen aus dem Film »Funny Girl« mit Barbra Streisand. Lyle hatte ihr in dieser ganzen schrecklichen Zeit zur Seite gestanden. Leider hatte er nicht oft in New York sein können, was zum Teil der Entfernung und der teuren Anreise geschuldet war. Aber zum Teil lag es auch daran, dass sein Partner Ethan Emma nie richtig gemocht hatte, obwohl er sie eigentlich gar nicht kannte. In der schlimmsten Phase allerdings hatte Lyle täglich mit ihr telefoniert. Emma verstand Ethans Haltung sogar. Lyle und sie waren jedoch schon Freunde gewesen, lange bevor Ethan in sein Leben getreten war. Deswegen vermutete sie, dass einfach Eifersucht dahintersteckte – als ob Emma Lyles heterosexuelle Seite zum Vorschein bringen könnte oder so was. Emma und Ethan hatten also immer ein recht distanziertes Verhältnis zueinander gehabt. Und nach Richards Fehlverhalten hatte es sich auf Ethans Seite zu eisigem Schweigen ausgewachsen.

Aber – und das war wichtig zu wissen – wenn Ethan sich weiterhin allzu negativ über Emma ausließ, würde er Lyle verlieren.

Jetzt stand Emma vor dem Laden und holte noch einmal tief Luft, bevor sie hineinging. Natürlich stand Ethan hinter dem Tresen.

»Emma. Du hast es also hierher geschafft«, begrüßte er sie in dem Versuch, höflich zu sein.

»Ja, vielen Dank«, erwiderte sie.

»Wie war die Fahrt?« Mit dieser Frage überraschte er sie.

»Anstrengend. In jeder Hinsicht.«

»Da bist du ja!«, rief Lyle, während er aus dem hinteren Teil des Ladens kam. Er umarmte sie. »Möchtest du einen Kaffee oder lieber was anderes, bevor wir rüber zu Penny fahren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich parke einen Block weiter auf dem einzigen freien Platz, aber ich würde gern so schnell wie möglich weiter. Ich hab viel auf dem Zettel.«

»Alles klar«, erwiderte er und wandte sich an Ethan. »Ich fahre kurz mit Em zu Penny und helfe ihr. Vermutlich werde ich mit den beiden noch was essen. Aber ich komm nicht allzu spät zurück.«

Ethan hob den Kopf und schnaufte, doch seine Antwort war vollkommen angemessen. »Okay. Dann geh ich bei Nora und Ed vorbei. Klingt nach dem perfekten Abend, um mal wieder Onkel zu spielen.«

»Sehr gut. Grüß sie von mir.« Damit führte Lyle sie am Ellbogen aus dem Laden. »Ich stehe gleich hier«, sagte er. »Komm, ich fahr dich zu deinem Wagen.«

»Bitte nicht«, meinte sie lachend. »Mein Hintern tut so weh, dass ich ans Sitzen gar nicht mehr denken will. Ich laufe, es ist ja nur ein Block. Übrigens habe ich eine Kühlbox mit Getränken für uns dabei. Aber ich will nicht, dass …« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Laden. »Ich möchte nicht, dass es meinetwegen Spannungen zwischen euch gibt. Bring mich doch einfach zu dem Haus und stell mich deiner Freundin vor. Ich komm dann allein klar.«

»Keine Sorge, Emma. Ich hab Ethan schon vor Tagen angekündigt, dass ich dir beim Umzug helfen werde.« Er lachte. »Er hat sehr erwachsen reagiert. Außerdem ist es wirklich mal wieder Zeit, dass er seine Schwester besucht. Sie wohnen nicht mal zwei Kilometer von hier, aber Ethan besucht sie nicht halb so oft, wie er könnte. Ich glaube sogar, ich bin öfter bei seiner Familie als er – wir haben nämlich eine sehr süße Nichte. Heute Abend kann er sich ja dann mal richtig über mich ausheulen. Und abgesehen davon will ich sichergehen, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

Voller Dankbarkeit lächelte Emma ihn an. »Vielleicht wird nie mehr alles in Ordnung sein«, sagte sie. »Aber ich freue mich auf ein bisschen Ruhe und Anonymität.«

»Hast du was von Rosemary gehört?«, erkundigte er sich.

»Ich habe ihr den Gefallen getan und ihr per E-Mail mitgeteilt, dass ich in einen kleinen Bungalow in Sebastopol ziehe und dass sie mich über dich erreichen kann. Ich vertraue ihr nicht so sehr, dass ich ihr meine neue Handynummer geben möchte. Sie würde sie bestimmt sofort an die Pressegeier verkaufen. Bei dir hat sie sich vermutlich auch nicht gemeldet?«

Lyle schüttelte den Kopf.

Kein Wunder. Rosemary war nur mit ihr in Kontakt geblieben, solange sie geglaubt hatte, Richard wäre wohlhabend und einflussreich. Nach seinem Absturz tat sie so, als hätte sie ihn nie gekannt. »Wir haben uns noch nicht wieder vertragen. Sie war nicht gerade eine große Unterstützung«, fügte Emma hinzu.

»Aber deine Schwestern werden dir doch sicher zur Seite stehen«, erwiderte er.

Die beiden hatten bisher überhaupt nichts getan, um sie zu unterstützen. »So eine Familie waren wir nie«, erklärte Emma. Sie waren eigentlich überhaupt nie eine Familie gewesen.

»Kann ich nachvollziehen«, sagte Lyle.

Emma war bekannt, dass Lyle es früher mit seinem Vater nicht leicht gehabt hatte. Doch wenigstens vergötterte seine Mutter ihn. Sie drückte seinen Arm. »Du rettest mir gerade das Leben. Ohne dieses Haus, das du für mich gefunden hast, wäre ich verloren.«

»Das Haus hat übrigens mich gefunden, nicht umgekehrt. Penny ist eine ältere Dame, aber benutz dieses Wort bloß nicht in ihrer Gegenwart! Sie ist sehr rüstig. Mit ihren fast achtzig geht sie jeden Tag noch fünf Kilometer am Tag spazieren, kümmert sich um ihren Garten und spielt hin und wieder sogar Tennis. Leider gibt es jedoch ein Problem, wenn man ewig lebt: Das Geld wird irgendwann knapp.«

»Weiß sie Bescheid über alles?«, erkundigte Emma sich.

Er nickte. »Wie du es mir aufgetragen hast. Sie hat gesagt: ›Wir haben uns alle irgendwann mal für den falschen Partner entschieden. Das arme Ding.‹ Der Bungalow ist übrigens eher eine Art Gästehaus, eine Casita, aber das Haupthaus ist nicht viel größer. Also damit du vorbereitet bist: Alles ist etwas beengt. Aber Penny benötigt keine Pflege oder so was. Es geht ihr allein um ein bisschen Miete. Damit ist euch ja beiden geholfen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob du jemals so einfach gelebt hast, Em. Es ist alles ziemlich in die Jahre gekommen, klein und geschmacklos.«

»Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich darauf freue!«

Das sogenannte Gästehaus war eigentlich eine umgebaute frei stehende Garage mit einer Wand und einem bodentiefen Fenster an der Stelle der Garagentore. Durch das Fenster sah man auf die hübsche, von Bäumen gesäumte Straße.

Es war ein winziges Haus mit nur zwei Zimmern, einem kleinen Bad und einer Küchenzeile. Ein Garten trennte das Gästehaus von Penelope Penningtons Wohnhaus. »Natürlich dürfen Sie den Garten uneingeschränkt nutzen«, versicherte Penny ihr. »Und wenn Sie sich mal was Anständiges kochen möchten, benutzen Sie ruhig meine Küche.«

Das war eine sehr gute Abmachung. Penny hatte die Einfahrt vor einigen Jahren entfernen lassen und durch einen Carport und einen Geräteschuppen ersetzen lassen. Vor beiden Häusern und seitlich neben dem Weg zum Carport gab es Rasenflächen mit ein paar Büschen, Bäumen und Blumen. Vom Garten ging es rechts zu Emmas kleinem Häuschen und links zu Penny. Ein hoher weißer Zaun mit Gartentor umgab das Grundstück.

Es dauerte bloß eine halbe Stunde, um Emmas Habseligkeiten auszuladen. Viele Möbel standen nicht in dem Bungalow, nur ein Bett und ein Schreibtisch, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, ein paar Lampen, ein kleines Sofa und zwei Sessel. Bettwäsche und Küchenutensilien hatte Emma selbst mitgebracht. Sie fand ihre neue Bleibe schlicht, aber gemütlich. Eigentlich hätte sie die Umzugskisten und Koffer auspacken sollen, doch das war ihr erst mal egal. Lyle fuhr zu einem Lebensmittelladen, um etwas zum Abendessen zu besorgen, und kam mit einem riesigen griechischen Bauernsalat, Hummus, Fladenbrot und einer Flasche Wein für sie alle zurück. Sie setzten sich bei Penny an den Esstisch und aßen. Emma mochte die alte Dame sofort.

Und dann waren es nur noch Emma und Lyle, die sich mit einem letzten Glas Wein in ihr neues, gemütliches kleines Wohnzimmer zurückzogen. Sie saß in einem etwas muffigen alten Sessel mit Blumenmuster-Bezug und hatte die Füße auf ein Bänkchen gestellt, das nicht wirklich dazu passte. Lyle lag auf dem Sofa, hatte die Füße auf dem Couchtisch.

»Wir müssen die Bude eindeutig ein bisschen aufmöbeln«, schlug Lyle vor.

»Mir gefällt es, wie es ist«, widersprach Emma. »Das hier wird mein Lesesessel.«

»Wie willst du dich denn aufs Lesen konzentrieren, wenn all diese grässlichen Blumen dich zu verschlingen drohen?«

Sie lachte.

»Weißt du schon, was für einen Job du dir suchen willst?«, fragte er.

»Tja.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Wein. »Ich wollte es vielleicht als Coach versuchen. Was meinst du?«

»Du bringst jedenfalls ziemlich viel Erfahrung darin mit, was man nicht tun sollte«, erwiderte er.

»So entspannt wie gerade war ich seit Jahren nicht mehr«, sagte sie.

Lyle schwieg einen Moment. »Emmie, ich weiß nicht, wie du hier zurechtkommen wirst. Es ist eine kleine, ruhige Stadt, aber hier wird viel getratscht und die Leute können gemein sein. Verstehst du?«

»Hallo?! Ich bin hier aufgewachsen, schon vergessen? Ganz egal, wohin ich gehe: Diese Sache wird mich verfolgen. Obwohl ich nicht einmal eines Verbrechens angeklagt wurde! Aber glaub mir, sie haben tief gegraben und nichts unversucht gelassen, um mir etwas anzuhängen.«

»Ich möchte nur, dass du vorbereitet bist. Für den Fall der Fälle.«

»Für den Fall, dass die Leute anfangen zu tuscheln, wenn ich an ihnen vorbeilaufe? Oder mir Beleidigungen an den Kopf werfen? Aus genau diesem Grund bin ich hierher zurückgekommen, statt an einem fremden Ort neu anzufangen und mir eine neue Identität zuzulegen. Irgendwann würde es ohnehin herauskommen. Lügen bringen einen nicht weit – Richard war der beste Beweis dafür. Ich will die Sache endlich hinter mir lassen. Ich war mit dem verstorbenen Richard Compton verheiratet, dem berüchtigten Broker und Millionendieb. Daran gibt es nichts zu rütteln. Und ich musste nicht lange nachdenken: Meine Identität geheim zu halten wäre mir zu stressig gewesen. Das bin ich einfach nicht. Ich hätte mir ein komplettes Umstyling gönnen müssen – neuer Name, neue Haarfarbe, neue Nase –, und dennoch würde man mich irgendwann enttarnen. Es ist hoffnungslos, Lyle. Gib meinen Namen in eine Suchmaschine ein und überzeug dich selbst.«

»Als Emma Shay?«

»Und Emma Shay Compton, Emma Compton, Emma Catherine Shay …«

»Mein Gott«, stöhnte er. »Hoffentlich ist das wirklich alles schnell vorbei.«

»Was einmal im Netz ist … Und jeder, der es wissen will, kann es nachlesen. Es gibt sogar schon Bücher über Richards Fall, auch wenn sie nicht sonderlich akkurat sind.«

»Wie hat er es gemacht, Em?«

Ihr war klar, was Lyle meinte. Richards Selbstmord. Sie holte tief Luft. Erstaunlich, dass Lyle das nicht mitbekommen hatte, denn dieses Detail war wirklich überall zu finden. In jeder Zeitung und auf sämtlichen Internetseiten.

»Nachdem er erfolglos versucht hatte, mit dem Privatjet eines Kollegen und einem falschen Pass zu fliehen, brachte man ihn zurück ins Gefängnis. Seinen Rechtsanwälten gelang es dann jedoch, dass er unter Hausarrest gestellt und mit einer elektronischen Fußfessel ausgestattet wurde. Nach dem Schuldspruch bemühten sie sich, das Strafmaß zu mildern, indem sie die Nummern seiner Offshore-Konten offenlegten. Doch auf ihn wartete in jedem Fall eine sehr lange Haftstrafe. Also öffnete Richard den geheimen Safe hinter dem Bücherregal in seinem Arbeitszimmer zu Hause, nahm seine geladene Glock-Pistole heraus und schoss sich in den Kopf.«

Lyle schüttelte den Kopf. »Er wollte nicht ins Gefängnis.«

»Ich bin sicher, es war nicht nur das«, sagte sie. »Natürlich wäre das Gefängnis schrecklich gewesen, aber deswegen hat er es nicht getan. Es ging vielmehr darum, dass er nichts mehr besaß. Nicht mal seine Offshore-Konten und die Bankkonten in der Schweiz. Es war vorbei. Er würde für fünfzig Jahre in den Bau gehen, und selbst wenn er irgendwann eine Begnadigung erreichen oder fliehen könnte, hätte er nichts mehr gehabt, um sich einen ruhigen Lebensabend auf Aruba oder einer anderen Insel leisten zu können. Mit seinen gestohlenen Millionen.« Sie seufzte. »Das war ihm immer das Wichtigste: sein Reichtum.«

»Erstaunlich, dass die Ermittler nichts von diesem Safe und der Waffe gewusst haben«, stellte Lyle fest. »Haben sie denn die Wohnung nicht durchsucht?«

Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, ob sie davon wussten. Danach gesucht haben sie jedenfalls nicht. Sie haben seine Computer beschlagnahmt und jede Menge Aktenordner von zu Hause und aus dem Büro mitgenommen, seine gesamten elektronischen Geräte, aber von Waffen oder Drogen war in dem Hausdurchsuchungsbeschluss nicht die Rede. Ich selbst hatte auch keine Ahnung, dass er eine Waffe besaß.«

»Hat er denn wenigstens irgendwas unternommen, um dich zu schützen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und was war nach seiner Beerdigung?«

»Es dauerte mehrere Wochen, bis alle Sachen verkauft waren, der Papierkram von der Auktion erledigt und die Wohnung endgültig verkauft war. Ich machte die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu und schlief in der Zeit auf einem Klappbett in der Küche. Das war der sicherste Ort. Marshals bewachten das Apartment, und einen Pförtner gab es auch.« Sie verzog das Gesicht. »Das war alles so schrecklich.«

»Ich sag es nur noch dieses letzte Mal, Emmie, okay? Das tut mir so fürchterlich leid.«

»Danke«, entgegnete sie sanft. »Und jetzt fahr lieber nach Hause. Sag Ethan bitte, dass ich ihm dankbar für sein anständiges Verhalten bin, und versprich ihm von mir, dass ich euch nicht auf den Geist gehen werde. Ich weiß jetzt, dass ich sehr gut allein klarkomme. Es ist zwar schön, mit dir zusammen zu sein, aber du musst dir keine Sorgen machen, dass ich von nun an jeden Tag bei dir vor der Tür stehe und dich für mich beanspruche. Ich werde nicht das fünfte Rad am Wagen spielen.«

»Wir haben sehr nette Freunde, viele Schwule, und es gibt so einige fünfte Räder darunter. Mach dir also keine Gedanken. Du kannst anrufen, wann immer dir danach ist.«

»Du bist wunderbar. Ich glaube, du warst mir immer ein besserer Freund als ich dir«, fügte sie hinzu.

»Unsinn. Du hast ab und zu durchaus ein paarmal …«

»Ich warne dich!« Vor all dem Ärger hatte sie so viel Haushaltsgeld zur Verfügung gehabt, dass für sie selbst ein ganzer Batzen übrig geblieben war. Das war ihr Geld, und sie hatte es zum Teil darauf verwendet, den Aufbau von Lyles »Hello, Gorgeous« zu finanzieren. Am besten war es, wenn niemand davon erfuhr. Lyle war von der Polizei nach seinem Verhältnis zu ihr befragt, vielleicht sogar überprüft worden, aber er hatte nie als Verdächtiger gegolten. Sie sprachen nicht darüber. Emma war sich ziemlich sicher, dass Ethan die Details gar nicht kannte.

»Überflüssig zu erwähnen, dass ich mich freue, dass du hier bist«, sagte Lyle. »Ich hab dich vermisst. Ein paar Dinge solltest du noch wissen. Natürlich haben sich die Leute nach dir erkundigt. Das ist ihr gutes Recht. Ein paar gute Freunde haben mehrfach gefragt, was du jetzt wohl machst. Sogar Riley kam letztens in den Laden und hat wissen wollen, ob es dir gut geht. Sie weiß, dass wir nie den Kontakt verloren haben, so wie ich auch mit ihr den Kontakt halte. Aber was euch beide betrifft, habe ich mir eine ganz klare Politik verordnet: keine Geschichten über die andere. Trotzdem hat sie gefragt, ob du vielleicht etwas brauchst.«

»Das ist wohl ihr schlechtes Gewissen«, mutmaßte Emma.

»Kein vorschnelles Urteil, bitte. Sie könnte eine von den wenigen sein, die nachempfinden können, was du gerade durchmachst«, widersprach er. »Ich weiß, du magst sie nicht, aber nachdem du weggegangen bist, musste sie sich ebenfalls ein neues Leben aufbauen. Und Jock hat angerufen. Er ist geschieden und lebt nun in Santa Rosa. Er wollte von mir wissen, ob du nach dem ganzen Zirkus eventuell hierher zurückkommen würdest. Auch er hat mich gebeten, dir auszurichten, falls du etwas brauchst …«

»Im Ernst?«, unterbrach sie ihn.

»Ja. Ich bin nicht sein größter Fan, doch er hat seine Unterstützung angeboten.«

Emma schwieg. Selbstverständlich war ihr klar gewesen, dass sie beide hier sein würden – Riley und Jock. Damals war Riley ihre beste Freundin und Jock ihr Freund gewesen. Seit sie weggegangen war, hatte sie immer nur kurze Besuche in der Stadt verbracht und dabei nicht mit ihnen gesprochen. Aber sie hatte gewusst, dass sie noch hier lebten. Als sie sich dazu entschieden hatte, in ihre alte Heimat zurückzukehren, hatte sie bereits geahnt, dass sie sich irgendwann über den Weg laufen würden.

»Vermutlich ist es an der Zeit, sich von den Schrecken der Vergangenheit zu befreien, Emma«, meinte Lyle.

»Das habe ich schon getan«, antwortete sie. »Ich habe vieles hinter mir gelassen. Und ich werde keinen Schritt zurück machen.«

2. Kapitel

Als Emma Catherine Shay neun Jahre alt war und in die vierte Klasse der St.-Pascal-Grundschule in Santa Rosa ging, kamen zwei neue Kinder an die Schule: Riley und Adam Kerrigan. Riley kam in Emmas Klasse, und die Lehrerin bat sie, Riley in der Anfangszeit zur Seite zu stehen.

Emma war ein freundliches Kind, das gern anderen half, aber sie ärgerte sich. Erstens hatte sie schon zwei beste Freundinnen – Susanna und Paula –, und dass Riley jetzt an ihr klebte, störte sie. Und zweitens war Riley offensichtlich nicht in der Lage, zu sprechen. Sie folgte ihr schweigend und saß stumm und nervös beim Mittagessen. Wenn sie mal den Mund aufmachte, sprach sie so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Und drittens fand Emma, dass Riley wie eine Flickenpuppe aussah, auch wenn das gemein war. Sie trug alte, abgetragene Klamotten, die ihr nicht richtig passten.

Rileys älterer Bruder Adam war traurig und still und wartete nach der Schule immer auf seine Schwester, um gemeinsam mit ihr nach Hause zu gehen. Wenigstens das blieb also nicht an Emma hängen. Vor allem aber war es stinklangweilig mit Riley. Doch damit Schwester Judith stolz auf sie war, bemühte sich Emma so gut wie möglich um ihre unglückliche neue Mitschülerin.

Am Ende des zweiten Schultags überraschte Riley Emma damit, dass sie zu ihr sagte: »Ich kenne mich jetzt genug aus. Du kannst wieder zu deinen Freundinnen gehen.«

Emma kam sich mies vor. »Wir können doch alle zusammen abhängen«, schlug sie halbherzig vor und hasste sich dafür.

In den kommenden Tagen erfuhr Emma, dass Riley, Adam und ihre Mutter nach Santa Rosa gekommen waren, weil Rileys Vater sehr krank geworden und gestorben war. Jetzt lebten sie bei Rileys Großeltern. Riley war also nicht nur schüchtern und arm, sondern trauerte außerdem. Emma blieb bei ihr.

Aber sie konnte nicht leugnen, dass sie es aus Mitleid tat. Immerhin hatte sie selbst keine Mutter mehr. Sie war damals jedoch noch so klein gewesen, dass sie sich nicht mehr an sie erinnerte. Ihr Vater hatte dann wieder geheiratet, als sie ein Krabbelkind gewesen war – vermutlich, weil er sich eine Mutter für seine Tochter gewünscht hatte. Seine neue Frau Rosemary war selbst Witwe, war fleißig und effizient, und hatte ihre dreijährige Tochter Anna in die Ehe mitgebracht. Drei Jahre später hatten ihr Dad und Rosemary ein gemeinsames Kind bekommen, Lauren. Die einzige Mutter, die Emma je gekannt hatte, war ihre Stiefmutter, und von allen drei Kindern hatte Rosemary sie am wenigsten gemocht. Emma verstand erst im Alter von zehn Jahren, dass es eine reine Zweckehe war.

Emma plante schon, sich endgültig von Riley loszueisen, als diese anfing, sich immer besser in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Da fiel ihr auf, wie Riley wirklich war. Erstens war sie sehr lustig. Wenn sie einmal angefangen hatten zu lachen, konnten sie kaum wieder aufhören. Und wenn Riley nicht gerade niedergeschlagen war, sprach sie voller Selbstvertrauen. Sie war sehr gut in der Schule und avancierte schnell zur Klassenbesten. Nun war sie es, die Emma half – und nicht umgekehrt. Und Rileys Mutter June war vermutlich die wunderbarste, liebevollste, lustigste und am positivsten eingestellte Frau auf der ganzen Welt. Sie nahm Emma mit offenen Armen auf, und Emma fühlte sich von ihr wertgeschätzt. Rileys Großeltern taten so, als wäre es der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, als die Kerrigans zu ihnen in ihr ohnehin sehr kleines Haus gezogen waren. Es war eng bei ihnen, und sie hatten wenig Geld, aber bei ihnen wurde mehr gelacht als bei Emma zu Hause. Riley und Adam trugen gebrauchte Kleidung, ihre Großeltern waren schon alt, und June Kerrigan ging putzen und jobbte als Kellnerin, um Geld zu verdienen. Trotzdem war Emma jederzeit willkommen und wurde wie ein Familienmitglied behandelt.

Zu Hause war sie nicht halb so glücklich. Rosemary misshandelte sie nicht oder so, doch sie interessierte sich einfach nicht für Emma.

Vielmehr beschwerte Rosemary sich dauernd darüber, wie viel sie bei der Zulassungsstelle arbeiten müsste, wie gestresst sie war, wie faul und unordentlich Emmas Vater war. Sie beschwerte sich über ihr Gewicht, ihre Freundinnen und alle möglichen anderen Sachen. Abgesehen von Anna und Lauren gab es wenig, an dem sie Freude hatte. Rosemary bezeichnete Emma und Lauren zwar auch als ihre Töchter, aber Anna war eindeutig ihr Liebling. Es dauerte nicht lange, und Emma verbrachte ihre Zeit lieber bei Riley als zu Hause. Es überraschte sie wenig, dass Rosemary sich daran nicht störte.

Wir werden gegenseitig unsere Trauzeuginnen sein. Wir werden gleichzeitig unsere Kinder bekommen, damit sie auch beste Freunde sein können.

Von dem Tag an, an dem Schwester Judith sie zusammengebracht hatte, bis zu ihrem Schulabschluss waren Emma und Riley unzertrennlich. Rileys Großvater sprach von ihnen nur als die »siamesischen Zwillinge«. Sie gingen miteinander durch dick und dünn, hielten beim plötzlichen Tod von Emmas Vater zusammen, der starb, als sie sechzehn war, ertrugen Rosemarys dritte Ehe mit Vince Kingston und alle Leiden der Teenagerzeit. Ihre Freundschaft war in Erz gegossen, Meinungsverschiedenheiten gab es so gut wie nie. Doch dann verliebten sie sich beide in denselben Jungen: Jock Curry. Das war tatsächlich sein Name. Er war nach einem seiner Großväter benannt worden.

Sie gingen auf die Highschool, als sie sich in ihn verliebten. Sie fanden ihn sexy, klug, supersportlich und lustig. Alle Mädchen waren hinter ihm her, aber in der Oberstufe kam er schließlich mit Emma zusammen – und da wurde er brav. Er sagte, seine wilde Zeit wäre jetzt vorbei. Natürlich war er damals gerade mal siebzehn. Er versuchte, Emma dazu zu überreden, auf dasselbe College zu gehen wie er. Es war nicht allzu weit weg von zu Hause. Aber sie hatte ein Stipendium erhalten und würde auf die Seattle Pacific University gehen, die für einen sehr guten Studiengang im Bereich Innenarchitektur bekannt war. Es war sehr unwahrscheinlich gewesen, dass ausgerechnet sie diejenige von ihnen sein würde, die ein Stipendium bekam, aber Rileys Familie konnte es sich trotz eines Stipendiums nicht leisten, Riley auf ein College in einem anderen Bundesstaat zu schicken. Emma würde es mit Studentenjobs und Krediten hinkriegen, und Rosemary steckte ihr auch immer wieder mal ein bisschen Geld zu. Außerdem hatte sie große Pläne: Eines Tages würde sie die Inneneinrichtung von großen Fünfsternehotels und Luxusvillen planen!

Riley schrieb sich auf demselben Community-College ein wie Jock, wohnte weiterhin zu Hause und verdiente sich ein bisschen Geld als Putzfrau dazu, so wie ihre Mom.

Jock hegte keine großen Zukunftspläne. Er wollte einfach ohne großen Aufwand seinen Abschluss machen, ein bisschen jobben, Baseball spielen und Spaß haben.

Emma ahnte nicht, dass in ihrer Abwesenheit zwischen den beiden etwas laufen würde. Doch dann standen die Weihnachtsferien an, und Riley benahm sich seltsam. Sie und Jock hatten viel Zeit miteinander verbracht, aber das war ja wohl zu erwarten gewesen. Emma vertraute den beiden. Auf einmal beschlich sie jedoch ein seltsames Gefühl. Lief da womöglich doch etwas zwischen den beiden? Riley verhielt sich ihr gegenüber anders als sonst. Und Jock wirkte ein bisschen zu fröhlich, selbstsicher und entspannt. Sie hatte alles erlebt mit ihm: Zuerst hatte er sich darüber beschwert, dass sie sich mehr Zeit für ihre gemeinsamen Telefonate nehmen sollte, und inzwischen erwähnte er gar nicht mehr, wie lange es her war, dass sie eines dieser langen nächtlichen Gespräche geführt hatten.

Emma hegte den Verdacht, dass ihre beste Freundin ihrem Freund etwas zu nahe gekommen war. Als sie Riley damit konfrontierte, brach diese in Tränen aus und gab alles zu. Sie schwor allerdings, dass es nicht allein ihre Schuld sei und dass auch Jock die Gelegenheit ausgenutzt habe. Er habe ja gewusst, dass sie ihn immer schon mochte. Und ohne ihre beste Freundin wäre sie eben einsam gewesen.

Jock sagte bloß zu ihr: »Werd endlich erwachsen. Das hat doch alles nichts zu bedeuten. Außerdem – was hast du denn erwartet? Du hattest ja für keinen von uns beiden mehr Zeit.«

Emma hatte nie verstehen können, wie so etwas einfach so passieren konnte, vor allem, weil Jock und Riley beide darauf beharrten, sie hätten das nicht vorgehabt und es sei ein schrecklicher Fehler gewesen. Und dann wandten sich beide von ihr ab, als ob es ihre Schuld wäre, dass sie in einer anderen Stadt studierte. Emma war am Boden zerstört, denn sie hatte die beiden Menschen verloren, die in ihrem Leben die wichtigsten gewesen waren. Nun konnte sie ihnen beiden nicht mehr vertrauen, und diese Erkenntnis warf sie völlig aus der Bahn. Nach den Weihnachtsferien kehrte sie nach Seattle zurück und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie verabredete sich mit Männern, aber das lief nicht sonderlich gut. Riley schrieb ihr mehrere Briefe und hinterließ ihr ein paar Nachrichten, doch Emma war zu verletzt, um darauf zu reagieren. Bis zu den Sommerferien ließ sie sich in Santa Rosa nicht blicken. Und selbst dann wollte sie eigentlich nicht hinfahren. Was wartete dort schließlich noch auf sie? Ihr Vater war tot, ihre Stiefmutter war ein kalter Fisch und hasste sie, ihr neuer Ehemann war ein widerlicher Lüstling, und ihre Schwestern scherten sich keinen Deut um sie.

Emma blieb nicht lange in Santa Rosa. Denn sie erfuhr, was niemand ihr hatte sagen wollen – außer ihrer Stiefschwester Anna, die es gar nicht erwarten konnte. Riley war nämlich schwanger. Während Emma fleißig studierte, hatten Riley und Jock nichts Besseres zu tun gehabt, als es permanent miteinander zu treiben, und jetzt bekamen sie ein Kind. Emma verabschiedete sich tränenreich von Lyle, nahm all ihre Sachen aus dem Haus ihres Vaters mit – das Haus, in dem sie aufgewachsen war – und fuhr auf dem schnellsten Weg zurück nach Seattle. Dort suchte sie sich einen Job, schloss sich einer Schwesternschaft an und kam nur noch äußerst selten und sehr kurz zu Besuch nach Santa Rosa. Und wenn sie länger blieb, wohnte sie bei Lyle.

Doch selbst Seattle war nicht weit genug entfernt. Nach dem Hochschulabschluss ergatterte Emma einen Job in New York und zog an die Ostküste. Innerhalb von drei Jahren avancierte sie zur Chef-Einkäuferin einer der größten unabhängigen Kaufhausketten des Landes und reiste in Sachen Haushaltsgüter um die ganze Welt. Sie war Einrichtungsspezialistin und träumte davon, eines Tages ihre eigene Designfirma zu eröffnen.

Aber dann lernte sie Richard kennen …

Wenn Emma eins gelernt hatte, dann das: Sie war äußerst nachtragend. Die Tatsache, dass Rileys Beziehung mit Jock scheiterte und er sich als eben doch nicht so toller Fang entpuppte, schmälerte nicht ihr Empfinden, übel betrogen worden zu sein. Die nicht zu verleugnende Wahrheit – nämlich, dass sie froh sein konnte, dass aus ihr und Jock nichts geworden war – tröstete sie nicht. Auch die Tatsache, dass sie einen gut aussehenden, wohlhabenden und erfolgreichen Mann geheiratet hatte, sorgte nicht dafür, dass sie vergeben und vergessen konnte.

Dann passierte der ganze Ärger mit Richard. Alles, was sie mit ihm durchmachte – seine mutwillige Täuschung, seine betrügerischen Handlungen, sein Absturz –, zeigte ihr jedoch etwas sehr deutlich: nämlich, dass es wichtigere Dinge gab, als über eine Fehde mit einer Freundin aus der Jugendzeit zu grübeln, die nun über fünfzehn Jahre her war.

Es gab kein Zurück, das wusste Emma. Für sie ging es nur noch nach vorn.

Emma hatte zwar seit neun Jahren nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet, beherrschte ihn aber trotzdem. Deswegen bewarb sie sich bei verschiedenen Arbeitsvermittlungsstellen, legte ihren Lebenslauf sowie ihr Abschlusszeugnis von der Hochschule vor und brachte auch Belege über ihre ehrenamtliche Tätigkeit beim Metropolitan Museum of Art bei. Dort hatte sie bei wichtigen Fundraising-Projekten mitgewirkt, bei großen Ausstellungsevents – doch das reichte offensichtlich nicht. Sie hatte beschlossen, offensiv ehrlich zu sein. Dann zweifelte sie allerdings daran, ob das so klug gewesen war. Denn vielleicht wollte man sie nicht einstellen, weil man ihr nicht vertraute und Angst vor negativer Presse hatte. Ihre Vergangenheit – beziehungsweise die ihres Mannes – war ja bekannt, und Kunden eines Unternehmens würden unter Umständen ihretwegen abspringen. Natürlich wurde ihr das nicht offen mitgeteilt. Stattdessen kamen die üblichen Absagen: »Zurzeit ist leider keine passende Position verfügbar, aber wir nehmen Sie gerne in die Kartei auf.« Bla, bla.

Also musste sie das Netz weiter auswerfen. Sie hatte eine Liste von Unternehmen zusammengestellt, bei denen sie sich direkt bewerben wollte: Kunstgalerien, bestimmte Geschäfte, Tagungszentren, Winzerbetriebe und sogar politische Parteien. Sie beschloss, nicht mehr zu erwähnen, dass ihr verstorbener Mann der Richard Compton gewesen war. Sie erklärte einfach nur, dass sie nach einer gescheiterten Ehe wieder ins Berufsleben einsteigen wolle. Nach zwei Wochen ohne erfolgreiche Rückmeldungen wandte sie sich an die kleineren Arbeitsagenturen. An diejenigen, die nicht auf die Sparte festgelegt waren, in der sie gerne gearbeitet hätte. Immerhin konnte sie auch Maschine schreiben, Büroarbeiten ausführen und war fit am Computer. Jedes Mal wirkte alles zunächst sehr positiv, doch vermutlich nahm man sie per Internetsuche genauer unter die Lupe. Und das Ende vom Lied war immer, dass man ihr eine Absage erteilte. Eine zu ihrem Profil passende Stelle stände gerade nicht zur Verfügung.

Nach vier Wochen war sie verzweifelt.

»Das ist eigentlich Diskriminierung, oder nicht?«, beschwerte sie sich bei Lyle.

»Auf jeden Fall«, pflichtete er ihr bei. »Ich weiß nur nicht, welcher Art.«

Als sie glaubte, es könne nicht schlimmer werden, nahm sie schließlich einen Job in einem Fast-Food-Restaurant an. Sie betrachtete dies als Zwischenlösung, bis sie eine richtige Stelle finden würde. Ihr Chef war gerade mal neunzehn. Sie machte alles, was man ihr sagte, und bemühte sich sehr. Man hatte sie für die Abendschicht eingeteilt, wenn die Jugendlichen aus der Schule und vom College in den Laden einfielen. Aber es fiel ihr schwer, mit ihrem Gehalt auszukommen. Sie arbeitete fünf Tage die Woche für fünf Stunden, das machte insgesamt 91,75 Dollar – abzüglich der Steuern, Sozialabgaben und Kosten für ihre Arbeitskleidung. Pro Stunde verdiente sie netto 3,67 Dollar. Und wenn sie nach Hause kam, schmerzten ihr Rücken und ihre Füße.

Sie fragte sich ernsthaft, ob sie nicht doch eine neue Identität annehmen sollte.

Emmas Handy klingelte. Sie wusste, dass es Lyle war, obwohl sie insgeheim hoffte, es würde sich um ein spannendes Jobangebot handeln. Aber natürlich war es Lyle.

»Kennst du einen Mann namens Aaron Justice?«, fragte er.

Sie lachte. »Unvergesslich. Ein Freund meines Vaters. Ein Rechtsanwalt. Der ist inzwischen bestimmt hundert!«

»Ich tippe auf fünfundsiebzig. Anscheinend hat ihm eine deiner Schwestern gesagt, dass man dich über mich erreichen kann. Er will Kontakt mit dir aufnehmen und schlägt vor, dass ihr euch mal auf einen Kaffee trefft. Offenbar macht er sich Sorgen um dich. Und deswegen möchte er dich sehen – wohl um sich zu vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Das ist ja süß«, erwiderte sie. »Das ist doch wohl hoffentlich keine Falle, oder? Er vertritt nicht zufällig jemanden, den Richard abgezogen hat?«

»Kommt so was denn vor?«, fragte Lyle.

»Bisher noch nicht, aber ich rechne mit allem.«

»Er hat seine Nummer hinterlassen«, meinte Lyle. »Du kannst ihn ja anrufen und dich erkundigen, was er will, bevor du dich mit ihm triffst. Ich glaube allerdings, er ist einfach nur ein lieber alter Mann.«

»Oh, du kennst ihn nicht.« Emma lachte. »Er wirkt heute vielleicht wie ein alter Mann. Damals war er jedoch ein herausragender Anwalt.«

Es dauerte eine Weile, bis sie den Mut aufbrachte, die Nummer zu wählen. Es wäre eine zu große Enttäuschung für sie, wenn Aaron Justice sich als Feind herausstellen würde. Ihr Vater, der als Rechnungsprüfer seine eigene kleine, aber gut laufende Kanzlei geführt hatte, war gut mit Aaron befreundet gewesen. Emma kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang. Die Familien hatten sich nicht nur privat getroffen; Aaron hatte außerdem John Shays Testament verwaltet und sich um andere juristische Dinge für ihn gekümmert.

»Ich möchte dich sehen, meine Liebe«, sagte Aaron. »Ich habe dein Schicksal in den Medien verfolgt und mir Sorgen um dich gemacht. Komm doch her und trink einen Kaffee mit mir.«

An ihrem nächsten freien Nachmittag trafen sie sich in einem Café in Santa Rosa. Als Emma den alten Rechtsanwalt sah, kamen ihr die Tränen. Er schien geschrumpft zu sein, aber seine Umarmung war noch kräftig. Vielleicht drückte sie ihn ein bisschen zu fest an sich. Er war ein eleganter älterer Gentleman. Natürlich fiel ihr bei seinem Anblick sofort ihr Vater ein. Seit seinem Tod waren mittlerweile achtzehn Jahre vergangen, und sie dachte kurz daran, wie sehr sie ihn vermisste.

Sie setzten sich an einen Tisch, bestellten Kaffee und hielten sich an den Händen, während sie ihre Neuigkeiten austauschten. Aarons Frau war einige Jahre zuvor verstorben, seine Enkelsöhne waren inzwischen im Teenageralter, und er hatte ein paar aufregende Reisen mit ihnen unternommen. Er war erleichtert, dass es Emma so gut ging, und sagte, sie wäre schön wie eh und je und er freue sich über ihre Rückkehr. Nach etwa zwanzig Minuten fragte er sie schließlich, ob sie über die Sache reden wolle.

Sie wollte sich auf das Wichtigste beschränken. Wie schockiert sie gewesen war, als sie von Richards Betrug erfahren hatte. Dass sie das Gefühl gehabt hatte, mit einem völlig Fremden verheiratet gewesen zu sein, als alles über ihnen zusammengebrochen war und Richard sich dem Ganzen entzogen hatte. »Nachdem man festgestellt hatte, dass ich mit dem Betrug nichts zu tun hatte, wurde mir eine Vergleichszahlung angeboten. Aber mein Gewissen hat mir verboten, das Geld anzunehmen.«

»Dein Vater wäre stolz auf dich gewesen«, lobte Aaron sie.

»Aber er wäre entsetzt gewesen, wenn er diesen Niedergang miterlebt hätte.«

»Er war ein unerschütterlicher Konservativer«, erwiderte Aaron. »Ich denke, er hätte es gut gefunden, wie du damit umgegangen bist. Ich hoffe, das Treuhandvermögen deines Vaters hat dir ein bisschen geholfen.«

Sie lachte. »Welches Treuhandvermögen? Rosemary hat mir gesagt, da wäre so gut wie nichts.«

»Ich meine mich erinnern zu können, dass es sich um eine recht stattliche Summe handelte.«

»Vor achtzehn Jahren vielleicht«, gab Emma zu bedenken.

Aaron runzelte die Stirn. »Du warst ja damals noch so jung, und John wollte die Kontostände niemandem verraten. Damit ihr drei Mädchen euch keine fantasievollen Hoffnungen macht und euch zum Kauf eines Autos oder zu wilden Shoppingtouren hinreißen lasst. Aber das Geld war an einen Zweck gebunden: Dein Anteil und der deiner Schwestern sollten nur für Gesundheitskosten und soziales Wohlergehen zur Verfügung stehen. Rosemary wird ihren Anteil gebraucht haben, um die Familie durchzubringen. Und natürlich waren da noch die Studiengebühren …«

Emma schüttelte den Kopf. »Ich habe fürs Studium einen Kredit aufgenommen und ein Teilstipendium gehabt. Vielleicht hat Rosemary das Geld ja für Laurens und Annas Ausbildung verwendet.«

»Rosemary hat dir kein Geld fürs College gegeben?«

»Manchmal hat sie mir eine Art Taschengeld geschickt. Vielleicht hatte sie Angst, an das Geld zu gehen, und wollte es lieber fürs Alter sparen. Sie hat dann einen echten Volltrottel geheiratet und ist mit ihm nach Palm Springs gezogen.«

»Sie hat sich gleich nach Johns Tod einen anderen Rechtsanwalt genommen«, erklärte Aaron. »Ich weiß nicht, was in den letzten achtzehn Jahren passiert ist. Aber dir stand etwas aus dem Vermögen deines Vaters zu – und zwar die Hälfte deines Anteils im Alter von dreißig Jahren, die andere Hälfte mit fünfunddreißig. Es war John wichtig, dass du lernst, deinen eigenen Weg zu gehen und dich selbst um dein Auskommen zu kümmern, bevor du Geld erbst, das du sonst für unnützen Krempel ausgegeben hättest.«

Sie lächelte. »Das klingt sehr nach Dad. Er war immer sehr vorsichtig.«

»Es war ein unabänderlicher Treuhandfonds, Emma. Als Treuhänderin konnte Rosemary das Geld aus deinem Anteil nur dir für deine Belange aushändigen, nicht Anna oder Lauren. Hast du dir die Beträge nie genauer angesehen?«, erkundigte Aaron sich.

»Wovon?«

»Das Vermögen deines Vaters. Die Bedingungen in seinem Testament.«

»Aaron, ich war mit einem der reichsten Männer New Yorks verheiratet. Wieso hätte ich mich um das Geld aus dem letzten Willen meines Vaters kümmern sollen? Er betrieb eine kleine Kanzlei in einer kleinen Stadt und hielt mir ständig Vorträge darüber, dass man nicht verschwenderisch sein solle. Ich würde ihn nicht direkt als Geizkragen bezeichnen, aber er hat doch wirklich jeden Cent zehnmal umgedreht.«

Aaron lachte. »Das stimmt. Und dann hat er eine Frau geheiratet, die die schönen Dinge des Lebens mochte …«

»Für mich hat Rosemary jedenfalls nie was springen lassen. Nach meinem ersten Jahr am College gab ich mich geschlagen und fuhr nur selten nach Hause. Und du weißt ja, was danach passiert ist. Ich habe mich in einen Dieb verliebt und ihn geheiratet.«

»Darf ich einen Vorschlag machen? Erbitte eine Vermögensaufstellung des Fonds. Und das Haus gibt es ja auch noch. Es ist ein großes Haus.«

»Zu mir hat sie gesagt, allein die Ratenzahlungen für die Hypothek würden sie umbringen«, bemerkte Emma.

»Emma, das Haus war versichert für den Fall, dass dein Vater stirbt. Es gibt keine Hypothek. Weißt du, ich habe immer noch meine Kanzlei, mache aber nur noch Sachen für alte Freunde und langjährige Mandanten. Wenn ich dein Anwalt wäre, könnte ich mir die Sache mal genauer ansehen.«

Sie fing an zu lachen. »O Aaron, das ist wirklich lieb von dir! Aber ich kann mir keinen Anwalt leisten. Ich arbeite in einem Fast-Food-Restaurant. Außerdem … Wenn nach all den Jahren noch etwas von diesem Vermögen übrig wäre, soll ich es dann etwa einklagen? Ich kann mich vor Gericht doch gar nicht mehr blicken lassen!«

»Ich erkläre dir, wie ich vorgehen würde. Ich würde mich mit ihrem Rechtsanwalt oder Steuerberater treffen und als dein anwaltlicher Vertreter um Akteneinsicht in Bezug auf die aktuellen Vermögensstände bitten. Und wenn da noch etwas ist, das dir zusteht, würde ich im Notfall Klage einreichen. In der Regel kommt es aber selten dazu, wenn nicht gerade Millionen im Spiel sind. Bei kleineren Summen stimmen die Treuhänder in der Regel einer Einigung zu, um Kosten zu sparen. Und wenn da noch Geld sein sollte, werde ich dir so lange nichts berechnen, bis du es dir leisten kannst, mich zu bezahlen. Ich würde auf einen prozentualen Anteil verzichten und bloß meine reguläre Gebühr erheben. Und das«, fügte er hinzu, »ist ein echtes Schnäppchenangebot.«

»Ich werde garantiert niemanden verklagen, das steht schon mal fest. Ich will auch kein Geld von Rosemary verlangen. Sie hasst mich, und mittlerweile geht es mir mit ihr genauso. Ich fange gerade von vorne an. Aber ich danke dir für dein großzügiges Angebot.«

»Lass es uns wenigstens herausfinden, Emma. Es war damals nicht wenig Geld, das weiß ich. Und das Haus deines Vaters, das ist doch keine einfache Hütte. Alle waren neidisch auf euer Haus.«

»Dad hat es zusammen mit meiner Mutter gebaut. Er hat es zwar nie gesagt, aber ich glaube, sie wollten gern mehr Kinder haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Selbst die bloße Vorstellung von Geld macht mich krank. Ich wohne in einer Zweizimmerwohnung. Ich halte alles zusammen, sodass sogar John Shay stolz auf mich wäre. Und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dir etwas zu schulden, nur weil du mir einen Gefallen tun willst.«

»Wenn kein Geld da ist oder du dich entscheidest, dass du es nicht haben willst, musst du mich gar nicht bezahlen.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Na ja … Du hättest offenbar Spaß daran, Rosemary auf frischer Tat mit den Fingern in der Keksdose zu ertappen …«

»Du hast mich überführt!«, erwiderte er. »John war ein so sanfter Mann. Ich finde, sie hat das Leben aus ihm herausgesaugt.«

»Ich glaube, er hat sie bloß geheiratet, um mich nicht allein großziehen zu müssen«, meinte sie. »Es muss schwer für ihn gewesen sein. Jeder, der meine Mutter kannte, mochte sie. Aber Rosemary mochte niemand. Sie ist eine sehr harte Frau.«

Aaron schwieg für einen Moment. »John war ein guter Freund. Er hat seinen letzten Willen sehr sorgsam abgefasst. Es kann jedoch ein paar Monate dauern, bis wir Antwort erhalten, Emma. Monate, bevor du dich entscheiden musst, wie du vorgehen willst. Für deinen Seelenfrieden schlage ich vor, dass ich mich einfach um die Sache kümmere.«

Sie zuckte die Achseln. »Wieso nicht? Ich werde mir deswegen jedenfalls keine Hoffnungen machen. Wenn Rosemary ein falsches Spiel treibt, hat sie sicher viel Spaß dabei gehabt, die Kohle auf den Kopf zu hauen. Sie hat ja noch in der Woche, in der mein Vater starb, aufgehört zu arbeiten.«

»Dann habe ich jetzt etwas Wichtiges zu erledigen. Es freut mich, das hier für dich herausfinden zu dürfen.« Er drückte ihre Hand. »Schön, dass du wieder hier bist, Emma.«

Lyle war schon dabei, den Laden zuzumachen. Er stand an der Theke und überprüfte die Bestellungen für den Samstag. Im August lief das Geschäft immer erst langsam wieder an. Im Sommer gab es keine Feiertage, an denen man Blumen verschenkte, und die meisten Leute hatten im Garten eigene Blumen. Der Sommer im Sonoma County war himmlisch.

Auf einmal öffnete sich die Tür. Lyle lächelte, als er Riley Kerrigan erblickte. Hat ja lange genug gedauert, dachte er bei sich. Er hatte sie seit ein paar Monaten nicht mehr getroffen. Sie sah fantastisch aus, wie üblich. Bei ihrer Erscheinung vermutete niemand, dass sie ein Gebäudereinigungsunternehmen führte. Sie wirkte eher wie eine Bankerin aus den oberen Etagen oder wie eine erfolgreiche Rechtsanwältin. Nach der langen Zeit in Secondhandklamotten und den kargen Jahren, in denen sie ihr Geschäft aufgebaut hatte, schien sie zumindest in Sachen Kleidung Verlorenes nachzuholen.

»Hi«, begrüßte sie ihn. »Ich dachte, ich schau schnell noch mal rein, bevor du abschließt. Wie läuft’s?«

»Bestens. Und bei Happy Housekeeping?«, erwiderte er, wohl wissend, dass das nicht der Name ihres Unternehmens war.

»Happy, happy, happy. Und? Ist sie wieder hier?«

Er nickte. »Schon seit über einem Monat«, erklärte er. »Sag mir nur eins: War es reine Willenskraft, die dich dazu gebracht hat, so lange mit dieser Frage zu warten?«

»Ich habe nicht erwartet, dass sie mich anruft, wenn du das meinst. Wie geht es ihr?«, erkundigte Riley sich.

»Sie hält sich gut, unter den gegebenen Umständen.«

Rileys Lächeln fiel dürftig aus. »Emma war schon immer ein Stehaufmännchen.«

»Wenn sie es diesmal wieder schafft, geht sie als Superheldin durch. Sie hat alleine in dieser Riesenwohnung auf einem Feldbett geschlafen, obwohl noch das Blut ihres Mannes in seinem Arbeitszimmer klebte. Niemand hat ihr Hilfe angeboten oder einen Schlafplatz, nicht mal ihre gut bezahlten Anwälte. Und in einem Hotel wäre sie nicht sicher gewesen: Zu viele von Richards Opfern haben sie bedroht. Ich wollte damals zu ihr fahren, aber sie hat abgelehnt. Sie wollte mich nicht in Gefahr bringen. Dann ist sie allein hierher nach Kalifornien gekommen. Sie meinte, sie bräuchte ein bisschen Zeit für sich. Ihr Mann ist jetzt seit ein paar Monaten tot. Nach knapp vier Wochen hat sie einen Job gefunden, der aber mehr schlecht als recht ist. Sie sagt, sie kommt zurecht. Ich bin erstaunt, dass sie überhaupt steht.«

»Was sie da durchmachen muss, tut mir echt leid. Von mir würde sie jedoch ohnehin keine Hilfe annehmen, und mein Mitleid braucht sie ebenso wenig. Aber wenn dir was einfällt, das ich für sie tun kann, ohne dass sie erfährt, wo es herkommt, sag mir Bescheid. Okay?«

»Klar«, antwortete er. »Sie meinte übrigens zu mir, sie wäre darüber hinweg. Also, über eure Fehde.«

»Bin ich auch«, meinte Riley. »Aber trotzdem …«

»Genau das hat sie auch gesagt.«

Riley musste lächeln. Auf der Schule waren sie die drei Musketiere gewesen: Emma, Lyle und Riley.

Sie lachte stumm und schüttelte den Kopf. »Darf ich den Mann in der Mitte zu einem Drink einladen?«

»Aber auf alle Fälle«, erwiderte Lyle. »Ich denke, sie hat dir inzwischen verziehen.«

»Gut zu wissen. Ich hasse sie zwar immer noch, aber ich bin zumindest nicht mehr wütend auf sie.«

»Wunderbar.« Er schaltete die Lichter aus. »Komm, gehen wir einen trinken.«

Nach dem gemeinsamen Glas Wein mit Lyle hielt Riley noch beim Supermarkt. Sie waren schon so lange befreundet. Normalerweise klappten Freundschaften zu dritt selten, aber weil Lyle ein Mann war, hatte es bei ihnen hingehauen. Zumindest so lange, bis es zum großen Zerwürfnis zwischen Emma und Riley gekommen war. Dadurch war Lyle zwischen die Fronten geraten, doch er bemühte sich, neutral zu bleiben. In den vergangenen sechzehn Jahren hatte er auf diese Weise seinen beiden Freundinnen die Treue gehalten.

Riley streichelte gedankenverloren eine Honigmelone.

»Wollen Sie damit bowlen oder sie in den Einkaufswagen legen?«, fragte da eine männliche Stimme.

Sie hob den Blick und lächelte. Irgendwo hatte sie diesen Mann schon mal gesehen. Vielleicht bei Starbucks? »Entschuldigung«, sagte sie und legte die Melone in ihren Einkaufswagen, obwohl sie sie eigentlich gar nicht kaufen wollte.

»Die sehen gut aus, finde ich«, meinte er. »Wissen Sie zufällig, wo die gerösteten Paprikaschoten stehen?« Er warf einen Blick auf seinen Einkaufszettel.

Sie schüttelte sich kurz, um sich wieder ins echte Leben zu katapultieren und die Gedanken an Lyle und ihre Vergangenheit als Dreiergespann loszuwerden. »Da drüben, wo die Oliven stehen, glaub ich. Im Glas.«

»Und Artischockenherzen?«

»Selbe Stelle. Oder vielleicht in der Tiefkühlabteilung.«

»Parmesan?«

Sie lächelte. Der Mann sah echt gut aus. »Sie wollen einen Artischockendip machen, richtig? Zeigen Sie mal her«, forderte sie ihn auf und betrachtete den Zettel, der sich als Rezept entpuppte. »Da sind doch gar keine gerösteten Paprika drin.«

»Ich weiß. Die brauche ich für was anderes. Ich soll sie … einer Nachbarin mitbringen.«

»Natürlich. Okay. Also, die Artischocken sollten Sie in Wasser einlegen, eine halbe Tasse Mozzarella dazugeben, einen Hauch Chilipulver und eine Tasse gehackten frischen Spinat. Dann wird Ihnen die Glückliche sicher einen Heiratsantrag machen.«

»Bomben-Tipp. Ich danke Ihnen.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann jedoch noch einmal um und fragte: »Das Chilipulver?«

»Bei den Gewürzen. Aber nicht zu viel nehmen!« Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln und fuhr mit ihrem Gemüseeinkauf fort. Hmm, dachte sie. Ein nicht schwuler Mann im Lebensmittelladen … Denn wenn er schwul wäre, wüsste er, wie man einen Artischockendip zubereitet.

Sofort musste sie wieder an Emma und Lyle denken. Nun, sie würden sich Lyle eben teilen müssen. Er war schließlich ihr bester Freund.

3. Kapitel

Emma sah sich mit ganz neuen Prioritäten konfrontiert. Sie konnte ein paar zusätzliche Stunden in dieser Burger-Hölle arbeiten, und in ihrer Freizeit suchte sie weiterhin nach einem besseren Job. Natürlich durfte sie nur eine bestimmte Stundenzahl arbeiten, damit nicht zu hohe Sozialabgaben für sie fällig wurden, aber Emma musste sich ohnehin krankenversichern, wie es das Gesetz jetzt vorschrieb. Um ihren Notgroschen nicht anzubrechen, versuchte sie, sehr gut mit ihrem Geld zu haushalten. Die Miete war der größte und wichtigste Posten ihrer Ausgaben, und sie war sich sicher, dass die alte Dame das Geld gut gebrauchen konnte. Außerdem musste sie ja irgendwo wohnen, wenn sie schon hungerte. Sie bemühte sich allerdings, die Nebenkosten so gering wie möglich zu halten. Zum Beispiel duschte sie nicht mehr so lange mit heißem Wasser – was ein ziemliches Opfer war, denn sie roch nun hartnäckig nach Frittenfett. Autoversicherung und Benzinkosten standen an nächster Stelle, und erst dann kam das Essen. Manchmal schaffte sie es, im Burgerladen zu essen, obwohl das etwas problematisch war: Es war ihr schließlich nicht vertraglich zugesichert. Allerdings fiel ihr auf, dass keiner der Angestellten sich daran hielt. Anscheinend gab es da ein ungeschriebenes Gesetz: Es wird schon keinem auffallen, wenn ein paar Pommes fehlen, aber lasst es uns nicht an die große Glocke hängen. Und vor allem: nie vor den Kunden essen! Außerdem war das Essen alles andere als gesund; es war kalorienreich, fettig und salzig. Bereits nach wenigen Wochen spannten ihre Hosen, und sie hatte den Eindruck, ihre Fußknöchel wären permanent geschwollen.

Im September fing die Schule wieder an, und die Ferienjobber verschwanden aus der Tagschicht. Jetzt konnte sie wenigstens wieder zu normalen Zeiten arbeiten. Sie war überzeugt davon, dass es irgendwo da draußen eine bessere Stelle für sie gab, wusste jedoch zugleich, dass diese nicht leicht zu finden sein würde. Schon als Jugendliche hatte Emma gedacht, dass sie es nicht leicht hatte. Während ihrer Schulzeit und natürlich auch während der Jahre an der Universität hatte sie stets gejobbt, sich ihr Studium mit Krediten und Stipendien finanziert. Aber wenigstens hatte sie ein altes Auto gehabt, um hin und her zu fahren. Und damit hatte sie es immer noch leichter gehabt als Riley.

Ihre ersten paar Jahre in New York hatten ihr dann die Augen geöffnet. Wie unglaublich teuer war das Leben in dieser Stadt! Sie war eine junge, hübsche Frau, Single noch dazu; allerdings war sie nicht die einzige, auf die das zutraf. Also hatte sie im Nullkommanichts ein paar Mitbewohnerinnen gefunden. Von nun an fuhr sie U-Bahn, fand heraus, wo man für wenig Geld essen und Spaß haben konnte, und traf sich mit Jungs. Mit ziemlich vielen sogar. Das war das Coole an New York gewesen: Sie hatte sich nie einsam gefühlt.

Und hier in Sebastopol erlebte sie in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung eine echte Transformation: Das Mädchen, das einst teure Villen und Fünfsternehotels ausstatten wollte, entdeckte Freude am einfachen Lebensstil. In Emmas Leben gab es nichts Überflüssiges mehr, keinen unnötigen Ballast.

Sie traf sich mit Lyle und Ethan zum Abendessen, und Ethan war für seine Verhältnisse wirklich freundlich. Sie plauderte mit Penny, wenn diese draußen im Garten war. Aber der Herbst kam, und es wurde kühler, sodass sich die alte Dame nicht mehr so oft draußen aufhielt. Häufig war sie gar nicht da, denn sie hatte viele Freundinnen und war eine äußerst aktive Seniorin.

An ihren freien Tagen spazierte Emma durch Sebastopol, ohne allerdings nach einer Arbeit zu suchen – aus Angst, man könnte sie als die berüchtigte Witwe erkennen. Doch sie meldete sich auf jedes Jobangebot in Sonoma County, bei dem mehr als der Mindestlohn gezahlt wurde.

Sebastopol selbst war ein hübsches Städtchen. Die alten Gebäude und Ladenzeilen waren in bunten Farben angestrichen, bei schönem Wetter waren Obst- und Gemüsestände und andere Waren draußen aufgebaut. Ethan stellte große Kübel mit Blühpflanzen vor die Tür, und Emma blieb oft vor dem Blumenladen stehen und beglückwünschte ihn zu seinen Arrangements. Sie wollte ihn endlich für sich gewinnen. Sie kaufte immer zwei Äpfel, zwei Tomaten und eine Banane, und ab und zu gönnte sie sich auch einen Blumenstrauß. Ethan gab ihr dann Rabatt, und Lyle grinste verräterisch dazu.

Seit acht Wochen war sie nun zurück. Die Blätter verfärbten sich schon, und als sie eines Abends nach einem weiteren Tag im Burgerladen mit geschwollenen Knöcheln und hungrig nach Hause kam und den Fettgestank an sich wahrnahm, warf sie sich aufs Bett und heulte. Wenn das von nun an ihr Leben sein sollte, würde sie nicht lange durchhalten. Und sie hatte solche Angst davor, doch an ihre neuntausend Dollar Notgroschen gehen zu müssen – und dann auf der Straße zu landen.

Du bist eben verwöhnt, sagte der kleine Teufel, der auf ihrer Schulter hockte. Hast du nicht selbst gesagt, es würde dir nicht schwerfallen, auf die Kohle zu verzichten? Hast du das wirklich ernst gemeint? Denn jetzt musst du auf einmal für dein Auskommen arbeiten wie jeder andere Mensch auf der Welt, und damit kommst du nicht klar!

Emma schämte sich. Sie ging unter die Dusche und heulte dort weiter, als ob ihr Gewissen es so nicht mitbekommen würde. Aber als sie ihre Haare föhnte, hörte sie wieder die Stimme. Wenn du es hart findest, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen, warte erst mal ab, bis du erfährst, wofür deine Ersparnisse draufgegangen sind: für einen Zweitwohnsitz auf Aruba und einen Privatjet.

»Ich kann nicht mehr«, sagte sie plötzlich laut. »Es war doch alles nicht meine Schuld. Bitte!«

Am nächsten Nachmittag wischte sie gerade die Tische in dem Fast-Food-Restaurant ab, als sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. Das heißt, sie erblickte einen Hinterkopf, der ihr bekannt vorkam. Sie wusste sofort, dass er es war: Sein dichtes braunes Haar würde sie überall erkennen. Adam Kerrigan, Rileys Bruder. Er hatte ein Mädchen im Teenageralter dabei. Das musste Maddie sein, Rileys Tochter. Emma lächelte, ging ein paar Schritte auf die beiden zu – und blieb dann stehen. Was, wenn Adam sie hasste? Nach Emmas und Rileys großem Streit hatte er noch eine Weile den Kontakt zu ihr gehalten, aber seit ihrer Hochzeit mit Richard hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Andererseits: Wieso sollte er sie hassen? Wegen der Dinge, die Richard getan hatte? Vielleicht nahm er wie so viele andere an, dass sie in der Sache mit drinsteckte? Und dass sie irgendwo einen Batzen Geld gebunkert hatte, den sie sich krallen würde, sobald sich die Aufregung gelegt hätte? Mal sehen, dachte sie. Das lässt sich ja sofort herausfinden.

»Adam?«, fragte sie.

Er sah sie mit vollem Mund an. Sein Blick spiegelte absolute Überraschung. Er kaute und schluckte schnell den Bissen vom Burger herunter, während das Mädchen die Hand hob, um ein Lachen dahinter zu verbergen. Mit einer Serviette wischte er sich die Lippen ab. »Emmie Cat?«, fragte er ungläubig und benutzte den alten Spitznamen, den er ihr als Kind gegeben hatte. Es war die Kurzform von Emma Catherine.

Das ermunterte sie, und sie lächelte. »Ja, ich bin es. Wie geht’s dir?« Als er aufstehen wollte, meinte sie: »Bleib doch sitzen.« Und dann setzte sie sich, den Putzlappen noch in der Hand, auf die Bank gegenüber.

»Arbeitest du etwa hier?«, erkundigte er sich.

»Ja«, antwortete sie. »Und glaub mir, es ist echt Arbeit. Kein Wunder, dass der Laden von Teenagern geschmissen wird. Sie sind wohl die Einzigen, die diesen Job energiemäßig bewältigen können. Und wie läuft’s bei dir?«

»Sehr gut, danke. Das ist übrigens Maddie. Maddie, das ist Emma Shay. Wir waren zusammen auf der Schule.«

»Obwohl Adam viel älter ist«, stichelte Emma. Er war drei Jahre älter als sie.

»Seit wann bist du wieder hier?«, wollte er wissen. Und in seiner Frage schwang keine Spur von Feindseligkeit mit.

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