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Wenn der Morgen anbricht

Als Buch hier erhältlich:

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»Das alles wird keine Rolle mehr spielen, wenn der Morgen anbricht«, versicherte er und hielt meine Hand.

Chris

Ich habe alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann: meinen Traumjob und Freunde, die mir immer beistehen. Alles ist perfekt – zumindest habe ich das geglaubt, bis Cohen mir die Augen geöffnet hat. Durch ihn erkenne ich die Ketten, die ich bisher ignoriert habe. Und ich weiß nicht, ob ich ihm dafür danken oder ihn hassen soll, weil er mir meine Illusion genommen hat.

Cohen

Manchmal glaube ich, dass ich in meinem Leben nie die Kontrolle hatte. Schon immer wird mir vorgeschrieben, wer ich zu sein habe. Bis Chris mir die schönen Seiten des Lebens zeigt. Die Freiheit, die ein Mensch spüren kann. Dank ihm erahne ich, was außerhalb meines Käfigs liegen könnte. Die Frage ist nur, wie ich an den Schlüssel kommen soll, wenn man mir stets die Hände auf den Rücken bindet.


  • Erscheinungstag: 28.01.2025
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704433

Leseprobe

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Für alle, die von der Norm abweichen
und dafür verurteilt wurden.
Die anderen haben ja keine Ahnung,
was alles in euch steckt.

Und für alle, die in ihrem Herzen Frieden
statt Hass gefunden haben.
Die Welt braucht mehr Menschen wie euch.

Playlist

Sam Smith – Fire On Fire

Hozier – Take Me To Church

Sam Smith – Pray

Billie Eilish – come out and play

LEA – Warum schaust du weg

LUNA – blau

Revelle – erste liebe

Ed Sheeran, Taylor Swift – The Joker And The Queen

ZAYN, Sia – Dusk Till Dawn – Radio Edit

Clueso, ELIF – Mond

Calum Scott – If Our Love Is Wrong

Mariah Carey – The Art Of Letting Go

Calum Scott – No Matter What

Sufjan Stevens – Mystery of Love

Kapitel 1

Chris

Emily reichte mir das Notebook, auf dem die Röntgenaufnahmen von Mrs. Forster zu sehen waren, und sah mich erwartungsvoll an. »Was meinen Sie, Dr. Easton?«

Das war eine verdammt gute Frage.

Ich war es nicht gewohnt, solche Fragen zu beantworten. Oder zu entscheiden, wie ein Patient oder eine Patientin behandelt werden soll. Alles, was ich bisher gekannt hatte, waren Lehrbücher, Übungsmodelle oder kleinere Behandlungen unter Aufsicht. Dort hatte nichts passieren können, denn andere trafen die wichtigen Entscheidungen. Die Verantwortung lag nie in meiner Hand.

Jetzt war es anders. Ich war auf mich allein gestellt und musste entscheiden, was getan werden sollte. Fehler durfte ich mir keine erlauben. Denn im angrenzenden Behandlungszimmer wartete meine erste Patientin, und wenn ich etwas Falsches tat, würde sie darunter leiden. Dieser Druck lastete schwer auf mir, obwohl ich ihm eigentlich gewachsen sein sollte. Schließlich hatte ich mich von Anfang an auf genau diesen Tag vorbereitet.

Bestleistungen auf der High School.

Fast sieben Jahre auf dem College, die sich wie eine kleine Unendlichkeit angefühlt hatten.

Schlaflose Nächte, die ich mit Lernen verbracht hatte.

Das alles hatte ich auf mich genommen, um dort zu sein, wo ich heute war: die Zahnarztpraxis von Dr. Campbell – eine der renommiertesten Ärztinnen in ganz Kalifornien. Von Anfang an hatte ich gewusst, dass ich von ihr lernen wollte. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie mich bereits am ersten Tag ins kalte Wasser werfen und mir eigene Patienten zuteilen würde, die ich ganz ohne Aufsicht behandeln musste.

»Dr. Easton?«, hakte Emily nach, weil ich nicht antwortete. Sie und Stephanie waren mir heute als zahnmedizinische Fachangestellte zugeteilt worden, und irgendwie fand ich es komisch, dass sie mir assistieren sollten, obwohl sie sich besser auszukennen schienen als ich.

»Einen Augenblick«, antwortete ich und sah mir die Aufnahmen genauer an. Auch wenn ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, hatte ich furchtbare Angst davor, eine Entscheidung zu treffen. Irgendwie wünschte ich mir, ich könnte meinen besten Freund Jacob, der mit mir gemeinsam studiert hatte, um Rat fragen, doch er befand sich im gegenüberliegenden Behandlungsraum und führte eine Weisheitszahnentfernung durch.

Ich hatte mir nach dem College ein wenig Zeit für mich genommen und war durch das Land gereist, weil ich mir einiger Dinge bewusst werden und für wenige Monate Verpflichtungen und Verantwortung vergessen wollte. Jacob hingegen war direkt in die Berufswelt eingestiegen und hatte bereits vor ein paar Monaten die Stelle bei Dr. Campbell angetreten, wodurch er mittlerweile erfahrener war als ich.

Irgendwie beruhigte mich der Gedanke daran, meinem besten Freund auf den Gängen dieser Praxis zu begegnen.

Und trotzdem war in diesem Moment die Nervosität stärker als alles andere.

Ein letztes Mal musterte ich die Röntgenaufnahmen. Dann kam ich zu einem Entschluss. »Die Wurzel ist auf jeden Fall entzündet, allerdings würde ich die Entzündung nicht als derart schwerwiegend kategorisieren, dass eine Antibiotikabehandlung notwendig wäre. Wir bereiten Mrs. Forster auf eine Wurzelbehandlung vor.«

»Alles klar«, erwiderte Emily, bevor sie den Besprechungsraum verließ und sich auf den Weg zum Behandlungszimmer machte, wo Stephanie schon mit der Patientin wartete.

Ich blieb zurück, um im Kopf ein letztes Mal die Schritte einer Wurzelbehandlung durchzugehen. Dann folgte ich Emily und erklärte Mrs. Forster, was jetzt passieren würde. Sie stellte einige Rückfragen, die ich ihr beantwortete, bevor ich ihre schriftliche Einwilligung entgegennahm.

»Das könnte jetzt kurz ein kleines bisschen piksen«, warnte ich sie vor, als sie einige Augenblicke später auf dem Behandlungsstuhl saß und ich die Spritze für eine Lokalanästhesie ansetzte.

Kurz zuckte sie vor Schmerz zusammen. Dann wartete sie schweigend, bis das Betäubungsmittel seine volle Wirkung entfaltete.

Ich stellte mich hinter sie, damit sie nicht sah, wie ich ein paarmal tief ein- und ausatmete, um mich zu beruhigen. Meine erste Wurzelbehandlung.

Wieder versuchten die Ängste mich zu überrollen, doch diesmal bemühte ich mich, sie beiseitezuschieben. Ich konnte das. Ich hatte mich jahrelang darauf vorbereitet, und es gab keinen Grund, wieso ich mein Handwerk jetzt nicht beherrschen sollte.

Stephanie, Emily und ich positionierten uns um Mrs. Forster herum.

»Und jetzt den Mund weit auf«, wies ich sie an. Dann sah ich zu Stephanie. »Den Kofferdam, bitte.«

Sie reichte mir das Spanngummi, welches ich dazu nutze, den infizierten Zahn von der Mundhöhle zu isolieren, damit er während der Behandlung möglichst trocken und frei von Bakterien blieb.

»Jetzt der Bohrer.«

Während Stephanie den Aufsatz wechselte und mir den Bohrer übergab, führte Emily den Sauger und das Winkelstück, welches beim Bohren Wasser zum Kühlen auf den Zahn gab, in die Mundhöhle. Ich nickte ihr zu und begann zu bohren.

Als ich einen ausreichend großen Zugang zum Inneren des Zahns geschaffen hatte, legte ich den Bohrer zur Seite und hielt kurz inne. In diesen unbedeutend kurzen Sekunden kam ich mir vor wie ein richtiger Zahnarzt. Ich fühlte mich unbesiegbar, als das Adrenalin durch meine Adern rauschte.

Und vielleicht war genau das mein Problem.

Denn in dem Moment, in dem ich mit der Entfernung des Nervengewebes im Inneren des Zahnes anfing, schrie Mrs. Forster auf. Ein heftiges Zucken ergriff ihren Körper.

Ich musste etwas tun, das wusste ich.

Und doch blieb ich wie versteinert stehen, während die Patientin sich vor Schmerzen auf dem Behandlungsstuhl wand.

Stephanie und Emily warfen mir fragende Blicke zu, doch ich konnte nichts sagen. In meinem Kopf waren nichts als Chaos und Leere.

Dann wurde die Tür aufgerissen.

»Was zur Hölle ist hier los?«, fragte Dr. Campbell.

Emily erklärte ihr die Situation, weil ich mich noch immer nicht artikulieren konnte.

Dr. Campbell ging zum Computer und öffnete die abgespeicherten Röntgenbilder von Mrs. Forster. »Verdammte Scheiße«, entwich es ihr leise, bevor sie sich abwendete und auf die Patientin zusteuerte. Dr. Campbell packte sie an den Oberarmen und versuchte, sie zu beruhigen. »Hören Sie mir zu! Ich muss Ihre Zahnkrone wieder verschließen. Wir können so nämlich nicht mit der geplanten Behandlung fortfahren. Es tut mir wirklich leid, aber das ist die einzige Option, die wir gerade haben. Danach verschreibe ich Ihnen Antibiotika.«

Das war er.

Der Augenblick, in dem ich begriff, dass ich etwas furchtbar falsch gemacht hatte.

Mrs. Forster klammerte sich von Schmerzen geplagt am Stuhl fest, während Emily und Stephanie blitzschnell die erforderlichen Instrumente zusammensuchten, damit Dr. Campbell meinen Fehler wieder geradebiegen konnte. Als ihr Blick auf mich fiel, versteinerten ihre sonst so weichen Züge. »Sie gehen jetzt lieber.«

Meine Beine trugen mich aus dem Zimmer, obwohl mein Kopf noch immer bei Mrs. Forster war. Sie trugen mich den Gang entlang. An Empfang und Wartezimmer vorbei, bis hin zur Küche.

Dort gaben sie hinter verschlossener Tür nach.

Ich ging zu Boden.

Und dann spürte ich den Schmerz von Mrs. Forster in meiner eigenen Seele.

»Fehler passieren jedem von uns mal«, versuchte Jacob mich aufzumuntern, doch seine Worte prallten einfach an der Mauer aus Schuldgefühlen ab, die mich gefangen hielt.

»Dieser hätte nicht passieren dürfen.«

»Aber das ist er. Und du kannst es nicht mehr ändern. Jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen, das Geschehene akzeptieren und weitermachen, Kumpel.«

Wir saßen am Esstisch in der Küche der Praxis, wo Jacob schon seit ein paar Minuten erfolglos versuchte, mich zu beruhigen.

Menschen leiden zu sehen war hart. Doch noch viel schlimmer war es, wenn man selbst für ihr Leid verantwortlich war. Dann konnte man nicht einfach weitermachen und so tun, als wäre nichts gewesen. Zumindest konnte ich es nicht.

»Du musst immer an diejenigen denken, denen du geholfen hast, statt an die, bei denen etwas schiefging.«

»Das war meine erste eigene Patientin«, erinnerte ich ihn. »Unbeaufsichtigt hab ich bisher noch niemandem geholfen.«

»Aber das wirst du noch.«

»Sofern ich nicht an meinem ersten Tag gefeuert werde.«

»Georgina wird dich nicht feuern.«

Entgeistert sah ich Jacob an. »Ihr nennt euch beim Vornamen?«

Er rückte seine Brille zurecht und zuckte dann mit den Schultern. »Das macht sie bei so ziemlich jedem. Schließlich verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit in der Praxis. Da ist ihr ein angenehmes Arbeitsklima wichtig.«

Bei mir wird es wohl kaum so weit kommen, dachte ich, als Mrs. Forsters schmerzerfüllte Laute wieder in meinem Ohr nachhallten.

»Dir wird sie auch noch das Du anbieten«, schob Jacob schnell hinterher, als hätte er meine Gedanken gehört. »Bei mir kam das auch erst nach ein paar Wochen.«

Ich war mir da nicht sicher, hatte jedoch keine Kraft, ihm zu widersprechen.

Jacob öffnete gerade den Mund, um noch etwas zu sagen, als die Tür schwungvoll aufgerissen wurde und Dr. Campbell hereingestürmt kam.

»Jacob, ich muss mit Dr. Easton ein Gespräch unter vier Augen führen.« Sie funkelte ihn an und deutete auf die Tür.

Er warf mir einen letzten aufmunternden Blick zu. Alles wird gut.

Dann waren Dr. Campbell und ich allein in dieser Küche, die auf einmal viel zu klein für zwei Personen wirkte.

»Das, was da passiert ist …«

»Es tut mir leid«, fiel ich ihr ins Wort, doch sie schüttelte nur den Kopf und strich sich dann mit der Hand eine Strähne ihres schulterlangen dunkelroten Haares hinters Ohr.

Dr. Campbell war schätzungsweise Ende vierzig, doch wenn sie wütend war, wirkte sie seltsamerweise deutlich jünger. »Ich bin nicht diejenige, der Sie das sagen sollten. Sicherlich wäre eine solche Entschuldigung gegenüber Mrs. Forster deutlich angebrachter, die Ihretwegen vermutlich von nun an traumatisiert ist.«

»Das war nicht meine Absicht«, erklärte ich kleinlaut, obwohl wir beide wussten, dass das nichts an der Situation änderte.

Manchmal waren Absichten nicht von Bedeutung. Manchmal kam es nur auf das Resultat an.

Und dieses Resultat war ziemlich übel.

»Verdammt! Ich hoffe sehr für Sie, dass wir uns demnächst nicht mit einer Klage rumschlagen dürfen.«

Ich schluckte schwer. »Wie geht es ihr?«

»Körperlich ganz in Ordnung. Ich habe den Schaden so gut es ging begrenzt und ihr nun Antibiotika verschrieben, die die Entzündung ein wenig unter Kontrolle kriegen sollten. Wenn das gelingt, sollte eine erneute Wurzelbehandlung weitestgehend schmerzfrei möglich sein. Ich bezweifle jedoch, dass sie die in meiner Praxis vornehmen lassen wird.«

»Und mental?«, fragte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich die Antwort darauf überhaupt wissen wollte.

»Schwer zu sagen. Verängstigt. Erschüttert. Aufgebracht. Panisch. Diese Worte treffen es glaube ich ganz gut.«

Ich stöhnte frustriert auf und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. »Mist, ich hatte gedacht, dass …«

»Dass eine Behandlung mit Antibiotika nicht notwendig sei?«, vervollständigte sie meinen Satz mit hochgezogener Augenbraue.

»Ja. Die Entzündung sah halb so wild aus.«

»Oh Gott.« Dr. Campbell zog ihren Kittel aus, unter dem ein Kleid zum Vorschein kam, das vermutlich mehr kostete als meine monatliche Miete. Dann kam sie zu mir und setzte sich auf den gegenüberliegenden Stuhl. »Das war eine grobe Fehleinschätzung. Die Entzündung war sehr weit fortgeschritten, weshalb eine schmerzfreie Wurzelbehandlung unmöglich war. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das Antibiotikum anschlägt oder ob der Zahn nicht vielleicht sogar gezogen werden muss.«

Ich schluckte schwer. Dann stellte ich die Frage, die mir vermutlich am schwersten auf der Seele lastete: »Für diese Fehleinschätzung verliere ich sicher meinen Job, oder?«

Dr. Campbells Züge wurden weicher. »Nein, Sie verlieren Ihren Job nicht. Sie werden aus diesem Fehler lernen und ein noch besserer Arzt werden. Denken Sie, ich bin ganz ohne Fehler zu der Dr. Campbell geworden, deren Name in der Welt der Zahnmedizin weithin bekannt ist? Wir alle sind mal im Irrtum. Das Wichtigste ist dabei nur, dass wir das große Ganze nicht aus den Augen verlieren und uns von unseren Misserfolgen nicht unterkriegen lassen. Und auch Sie dürfen das nicht. Sie müssen aufstehen und weitermachen, verstanden?«

Ich nickte zögerlich. Ein Teil von mir wusste, dass sie recht hatte. Dass solche Dinge passieren konnten. Doch ein anderer Teil machte sich noch immer Vorwürfe. Vermutlich würde es noch ein paar Tage und erfolgreiche Behandlungen dauern, bis ich diesen Vorfall endgültig würde loslassen können.

»Sehr gut! Und für die Zukunft: Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Sie mal unsicher sind. Sie stehen noch ganz am Anfang. Fragen Sie einfach nach. Egal ob Jacob oder ich, irgendwer wird Ihnen sicher mit einem Rat zur Seite stehen. Lieber um Hilfe bitten, als im Alleingang einen vermeidbaren Fehler begehen.«

»Sie haben recht«, stimmte ich zu und ärgerte mich im selben Moment darüber, vorhin trotz Unsicherheit ohne Absprache gehandelt zu haben.

»In Ordnung.« Sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, bevor sie aufstand und sich ihren Kittel wieder überzog. »Dann nehmen Sie sich jetzt noch ein paar Minuten, essen eine Kleinigkeit und raffen sich für später auf. Denn in vierzig Minuten haben Sie Ihren nächsten Termin. Und ich bin sicher, dass Sie Ihren Job dieses Mal gut machen werden.«

Sie lag richtig.

An diesem Tag hatte ich noch drei weitere Patienten. Zwei übliche Kontrolluntersuchungen und eine Wurzelbehandlung, bei der ich diesmal für die Auswertung des Röntgenbildes Jacob konsultierte.

Alles lief nach Plan.

Und trotzdem war da noch immer dieses bittere Gefühl in mir, als ich die Praxis am Abend verließ.

Mrs. Forster – sie war alles, woran ich den ganzen Tag gedacht hatte.

Kapitel 2

Cohen

Das Einzige, was ich an meinem Job nicht mochte, war der Dresscode für die Angestellten: schwarze Hose, weißes Hemd. Immer.

Ich fand nicht, dass Hemden mir standen. Ich bevorzugte sportliche Looks. Kleidung, die ich sowohl in der Freizeit als auch im Fitnessstudio tragen konnte, aber um so was für die Arbeit tragen zu können, hätte ich einen neuen Job gebraucht. Und das war etwas, was ich definitiv nicht wollte. Ich liebte meine Tätigkeit im House of Soul, einer Bar inmitten des Mission District von San Francisco. Andere mochten der Ansicht sein, dass jemand in meinem Alter mehr aus seinem Leben machen sollte, statt als Barkeeper zu arbeiten. Ich war der Meinung, dass ich dort genau richtig war.

Ich stand vor dem großen Spiegel in meinem Zimmer, knöpfte das weiße Hemd bis auf die beiden oberen Knöpfe zu und trug mein Lieblingsparfüm auf – Chanel Allure Homme Édition Blanche –, als es an meiner Tür klopfte.

Ohne eine Antwort abzuwarten, kam meine Mutter herein. Unsere Blicke kreuzten sich im Spiegel, und ihre Mundwinkel hoben sich auf eine seltsame Art und Weise, die nach außen hin wie Stolz aussah und doch nur ein Schauspiel war, hinter dem sie ihre Missbilligung versteckte.

»Ja?«, fragte ich, weil sie einfach stehen geblieben war, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich wollte nur kurz nach dir sehen. Machst du dich gleich auf den Weg zur Arbeit?«

Ich nickte.

Ein paar Sekunden war es still, und ich wusste genau, was das bedeutete. Dass meine Mom nur nach neuen Worten suchte, um anzusprechen, was sie immer ansprach. Weil sie keiner von den Menschen war, die ihre Gedanken für sich behalten konnten – es sei denn, mein Vater schüchterte sie ein, doch das war eine andere Geschichte. Wenn er ihr nicht im Weg war, musste sie ihre Gedanken jedem stets aufzwingen. Und wer eignete sich dafür schon besser als ihr eigener Sohn?

»Ich finde, du solltest dir einen neuen Job suchen«, platzte es letztlich aus ihr heraus.

Ich rollte mit den Augen. »Wir hatten dieses Thema schon hundertmal. Fang bitte nicht wieder damit an.«

»Warum?«

»Weil ich es nicht tun werde.«

Sie stellte sich unmittelbar hinter mich. »Das kann doch unmöglich das sein, was du dir für deine Zukunft vorstellst.«

Ich drehte mich um und begegnete erneut ihrem Blick.

Es war komisch, wie kalt ihre Augen manchmal wirkten. Die Augen einer Mutter sollten Wärme ausstrahlen, wenn sie ihr Kind ansah. Bei meiner war das selten der Fall. Hin und wieder schon. Manchmal, wenn sie ausnahmsweise mit mir zufrieden war, gab es Momente, in denen sie wie eine normale Mutter schien. Doch hier und jetzt war da nichts als erwartungsvolle und berechnende Kälte.

»Es gibt Schlimmeres, als in einer Bar zu arbeiten. Ich bin damit zufrieden. Und das sollte alles sein, was zählt.«

Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie eine gerade Linie bildeten. »Du weißt genau, dass das unmöglich Gottes Wille sein kann. Du, in dieser Bar. Überall nur halb nackte Männer und Frauen auf der Suche nach dem nächsten Rausch. Dieser Job ist alles andere als christlich.«

Es kostete mich all meine Kraft, nicht spöttisch aufzulachen. Meine Mom hatte keine Ahnung davon, wie das House of Soul war. Sie wusste nicht, dass es da nicht um Alkohol, Drogen oder Sex, sondern um Musik ging. Sie wusste nicht, wie sehr die Musik, die dort gespielt wurde, manche Menschen berührte. Ja, vielleicht war es eine Art Rausch, doch es war der beste, den man sich vorstellen konnte. Einer, der nicht gefährlich war, sondern Herzen berührte.

Das Problem war nur, dass meine Mutter das nicht verstand – oder viel eher nicht verstehen wollte.

Ich hatte sie schon so oft gebeten, einfach mal während meiner Schicht vorbeizuschauen und sich alles genau anzusehen. Ich war sicher, dass sie dann erkennen würde, dass das House of Soul keine typische Bar war, wie sie es sich vorstellte. Doch sie hatte abgelehnt, weil sie einen Ort, der in ihren Augen derart unchristlich war, nicht betreten wollte.

Was würden die Leute nur sagen, wenn sie erführen, dass ich dort war, Schatz?

Und mit »Leute« meinte sie bloß ihre eigene Glaubensgemeinschaft. Die Meinung dieser Menschen war ihr das Wichtigste. Viel zu früh hatte ich lernen müssen, dass sich auch die Wünsche und Ansichten ihres eigenen Sohnes dem unterordnen mussten.

»Ich werde meinen Job nicht aufgeben, Mom.« Meine Stimme klang seltsam ruhig, obwohl ich innerlich kurz vorm Explodieren war. Doch ich wusste, dass ich das nicht durfte, meine Gefühle nicht zeigen konnte. Nicht vor meiner Mutter, weil das alles nur noch schlimmer machen würde.

Kurz musterte Mom mich, als würde sie in meinem Gesicht nach Anzeichen suchen, wie ernst es mir war. Dann gab sie ein verächtliches Schnauben von sich und drehte sich um. »In Ordnung. Tob dich aus, solange du jung bist. Aber wir wissen beide, dass dieser Job nicht für immer ist. Du solltest zusehen, dass du langsam erwachsen wirst und Verantwortung für dein Leben übernimmst.«

Mit diesen Worten ließ sie mich allein in meinem Zimmer zurück.

Ich atmete tief durch. Verdammt! Ich übernahm Verantwortung. Das Problem war nur, dass meine Eltern es nicht sahen, weil sie es nicht sehen wollten. Es war nicht die Art von Verantwortung, wie sie sie von mir erwarteten.

Wenn Menschen von toxischen Beziehungen sprachen, bezogen sie sich oft auf romantische Verbindungen. Doch was war mit denen zu jenen, die man auf andere Weise liebte? Der Beziehung zu den eigenen Eltern?

Viel zu oft wurde übersehen, wie toxisch diese sein konnte.

Wenn ich an meine Eltern dachte, dann war da nur selten Wärme. Ich spürte hauptsächlich Unwohlsein, Kälte, Abweisung, vielleicht sogar ein kleines bisschen Angst, obwohl niemand Angst vor seinen Eltern haben sollte.

Meine Mutter und mein Vater hatten stets den Ton angegeben. Hatten mich in ihre strengen religiösen Überzeugungen gedrängt und Erwartungen an mich gestellt, denen ich nicht gerecht werden konnte oder wollte. Widerworte waren im Keim erstickt worden. Und zurück blieb jetzt ein erwachsener Mann, der noch immer kaum für sich einstehen konnte.

Manchmal hätte ich ihnen am liebsten gesagt, dass ich nichts mit ihrer Religion zu tun haben wollte, doch das traute ich mich nicht. Über die Jahre hatten wir uns immer weiter voneinander entfernt. Da war keine emotionale Nähe zwischen uns, und hin und wieder merkte ich, wie ich Fortschritte machte. Wie ich entgegen den Wünschen meiner Eltern handelte, beispielsweise bei der Wahl meines Berufs. Oder als ich mir heimlich meine ersten Tattoos hatte stechen lassen. Doch das tat ich nur, wenn ich wusste, dass ich es mir erlauben konnte. Wenn ich das Gefühl hatte, damit bei ihnen durchzukommen, auch wenn sie nicht ganz zufrieden damit waren, was ich tat.

Es gab jedoch auch Aspekte in meinem Leben, in denen ich mir einen Widerstand nicht zutraute. Zum Beispiel, wenn es darum ging, auszuziehen. Ich war einundzwanzig Jahre alt, hatte einen festen Job und war somit bereit dazu. Doch ich wusste, dass meine Eltern es nie zulassen würden. Seit die Sache mit Liam geschehen war, überwachten sie mich auf Schritt und Tritt. Mich gehen zu lassen, würde bedeuten, mir mehr Freiheit zu schenken, und das käme für sie nie infrage.

Sie brauchten die Kontrolle über mich wie die Luft zum Atmen. Und ich war derart früh in diesen Kreislauf geraten, dass ich nicht wusste, wie ich sie dieser Kontrolle berauben konnte.

Mit anderen Worten: Ich steckte inmitten einer toxischen Beziehung. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr jemals entkommen sollte, wenn bei jedem Schritt, den ich machte, der erste Gedanke meinen Eltern galt.

Meinen Eltern, die ihre Religion mehr liebten als mich.

Meinen Eltern, die viel zu selten mich priorisierten.

Meinen Eltern, die aus meinem Leben ein Gefängnis machten.

Ein Gefängnis, dessen Schlüssel längst inmitten von falschen Erwartungen, Druck und Kontrolle verloren gegangen war.

Kapitel 3

Chris

Respect von Aretha Franklin.

Die Wucht dieser Hymne traf mich, als ich gemeinsam mit Jacob und Sam, einem guten Freund von uns, das House of Soul betrat.

Mein Fehler bei der Behandlung von Mrs. Forster lastete noch immer schwer auf mir, und anscheinend konnte man mir das auch ansehen. Denn als ich nach der Arbeit mit Jacob nach Hause gelaufen war, hatte er vorgeschlagen, den Abend heute hier zu verbringen, um »auf andere Gedanken zu kommen«. Eigentlich hatte ich keine Lust darauf gehabt, doch vermutlich war es besser, als in meinem Zimmer zu hocken und wieder und wieder über den Vorfall nachzudenken.

Und jetzt, wo ich hier war, musste ich zugeben, dass es wirklich guttat. Es war seltsam, wie die Musik, die hier gespielt wurde, einen bewegen und etwas in einem verändern konnte. Seltsam, und doch genau das, was ich gerade brauchte.

Drinnen wurden wir von Brook und Sky von der Bühne aus mit einem kleinen Winken begrüßt. Wir gingen vorbei an runden Tischen, die von hölzernen Stühlen gesäumt wurden, bis wir an der kleinen Sitznische in der Nähe der Bühne ankamen, die unser Stammplatz war. Dort nahmen wir Platz, legten unsere Sachen ab, und ich fragte Jacob und Sam, was sie trinken wollten. Dann lief ich quer durch den Raum zur Bar, hinter der sich ein Regal imposant bis zur Decke emporzog. Kurz schaute ich mich nach einem Barkeeper um, als Cohen, der vermutlich gerade das Bierfass unter der Theke gewechselt hatte, aufstand und sich in mein Sichtfeld schob.

»Hey, Chris.«

»Hey, Cohen.« Ich schenkte ihm ein freundliches Lächeln zur Begrüßung, doch wie gewohnt erwiderte er es nicht.

Cohen und ich kannten uns bereits seit einiger Zeit, weil er ein Freund von Sky war, die wiederum mit Sam zusammen war. Trotzdem beschränkten sich unsere Gespräche meistens auf eine Begrüßung und einen Abschied.

Cohen sprach nie viel. Aber irgendwie machte ihn genau das aus.

»Was bekommst du?«, wollte er wissen, während er ein paar herumstehende Gläser wegräumte, um seine Arbeitsfläche geordnet zu halten.

»Erst mal nur drei Bier. Die anderen warten schon.«

»Wer?«

»Sam und Jacob.«

»Okay. Setz dich ruhig, ich brauch kurz ’ne Minute.« Er deutete auf einen freien Barhocker, und ich nahm Platz. Dann griff er nach einem Stofftuch und trocknete die frisch gespülten Biergläser ab.

Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Das glatte dunkelbraune Haar fiel ihm hin und wieder in Strähnen in die Stirn, die er wie beiläufig mit den Fingern zur Seite kämmte. Der Dreitagebart betonte seinen markanten Kiefer, und das weiße Hemd spannte sich über seinen muskulösen Körper. Cohen war nicht einfach nur breit gebaut. Er lebte für den Kraftsport, und das sah man ihm an. Vermutlich waren das und sein schönes Gesicht der Grund, weshalb ihm jeden Abend mindestens drei Frauen ihre Telefonnummer zusteckten.

Doch trotz all dessen waren es seine Augen, die mich am meisten faszinierten. Blaugrau, wie schwere Gewitterwolken, die nur darauf warteten, einen Sturm zu entfesseln. Augen, die aussahen, als hätte sich jahrelange Trauer in ihnen zusammengebraut.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cohen.

Ertappt wandte ich den Blick ab, auch wenn es dafür jetzt zu spät war. »Ja … ich … sorry.«

»Schon okay.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cohen das erste Bier zapfte.

Doch statt erleichtert aufzuatmen, weil er nicht genauer nachhakte, ärgerte ich mich über mein eigenes Verhalten. Ich wusste, dass Cohen es hasste, wenn man ihn angaffte und ihm gegen seinen Willen Handynummern auf feuchten Cocktailservietten notiert rüberschob. Trotzdem hatte ich ihn in diesem Moment auf genau diese Art und Weise angesehen: begierig.

Heute war einfach nicht mein Tag. Ich nahm jedes Fettnäpfchen mit, das ich finden konnte, und wünschte mir gerade nur, der Tag wäre endlich vorüber.

Ein erschöpftes Seufzen glitt über meine Lippen, bevor ein Bierglas mit einem lauten Knallen neben mir abgestellt wurde.

Cohen stand mir gegenüber. Sein Blick aus blaugrauen Augen traf mich und hielt mich an Ort und Stelle. Er sah mich ernst an, und doch war da etwas in seinem Ausdruck, was ich bisher noch nicht von ihm kannte. Es sah aus wie … Sorge.

»Alles okay bei dir? Du wirkst irgendwie ein wenig neben der Spur.«

Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Nachfrage wunderte. »Ja, schon gut. Heute läuft es einfach nicht so.«

»Hm, verstehe. Ist irgendwas Besonderes vorgefallen?«

Einen kurzen Moment rang ich mit mir, ob ich ihm von meinem ersten Arbeitstag erzählen sollte. Zwar kannten wir uns durch gemeinsame Freunde schon länger, hatten aber nie eine besonders tiefgehende Bindung zueinander aufgebaut.

Doch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, nahmen Sam und Jacob sie mir ab, indem sie sich links und rechts von mir auf einem Barhocker niederließen und das Thema wechselten.

»Wir dachten schon, du bist verloren gegangen«, sagte Jacob und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.

Ich hatte keine Ahnung, woran das lag, aber mit einem Mal war da ein Hauch von Enttäuschung in mir. Weil ich gerne herausgefunden hätte, wohin das Gespräch mit Cohen hätte führen können. Auf einer tieferen Ebene hatten wir noch nie miteinander geredet.

»Alles gut. Ich hab mich nur kurz mit Cohen unterhalten.«

»Oh, hey«, grüßte Jacob ihn, als hätte er ihn gerade erst bemerkt.

Cohen erwiderte den Gruß mit einem Nicken, ehe er sich der Zapfsäule zuwandte.

Nur wenige Augenblicke später standen zwei weitere Biergläser vor uns. Wir stießen an, und ich nahm einen kühlen Schluck.

»Wie war dein erster Tag in der Praxis?«, wollte Sam wissen und rammte damit das Messer unwissentlich tiefer in die noch immer blutende Wunde.

Aber vielleicht war es ganz gut, darüber zu sprechen, um es besser verarbeiten zu können. »Nicht gerade berauschend. Habe einen ziemlich dummen Fehler gemacht, der auf Kosten meiner Patientin ging.«

Sam verzog das Gesicht zu einer Grimasse und fuhr sich durch das blonde Haar. Er musterte mich aufmerksam mit seinen stechend blauen Augen. »Klingt übel.«

»War es auch.«

»Aber das hätte jedem passieren können«, erinnerte mich Jacob zum wahrscheinlich hundertsten Mal.

»Das stimmt«, pflichtete Sam ihm bei, obwohl er gar nicht wusste, was genau vorgefallen war. »Ich hab heute auch einen ziemlich dummen Fehler bei der Arbeit gemacht. Wir richten ja gerade eine Villa am Stadtrand für ein superreiches Ehepaar ein, und ich hab die falschen Marmorplatten für die Kücheninsel geordert. Es ist zwar grundsätzlich kein Problem, sie wieder zurückzuschicken und die richtigen zu bestellen, aber es verzögert den ganzen Prozess um mehrere Tage, was zu ziemlich viel Krawall mit den Auftraggebenden führen könnte.«

»Oh. Na ja, Mann, war schön, dich gekannt zu haben«, scherzte Jacob, woraufhin ihm Sam seinen Bierdeckel entgegenschleuderte – und ihn am Oberarm traf.

»Das ist nicht witzig. Ich bin schon den ganzen Tag unfassbar mies gelaunt deswegen.« Er seufzte tief und nahm dann noch einen Schluck von seinem Bier.

»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass die deshalb Ärger machen«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Wie ihr schon gesagt habt, Fehler können jedem passieren. Außerdem, wenn sie sich eine Riesenvilla leisten können, können sie es sich im Notfall ebenfalls leisten, drei Tage im Hotel zu verbringen, falls sie sonst nichts in der Gegend haben.« Wobei solchen Leuten bestimmt Dutzende Immobilien in der Gegend gehörten.

»Ja, vermutlich hast du recht. Umbringen wird es sie nicht.«

»Und außerdem solltest du dir den Job, für den du so hart gearbeitet hast, nicht durch einen einzigen Kunden versauen lassen. Immerhin hast du dir bisher noch nichts zuschulden kommen lassen.«

Sam hatte im selben Semester mit Jacob und mir angefangen zu studieren. Doch anders als wir hatte er sich für Interior Design entschieden. Gleichzeitig mit Jacob war er als Innenarchitekt in die Berufswelt eingestiegen, und ich wusste genau, wie sehr er seinen Job liebte.

Leider hatten aber auch schöne Jobs ihre Schattenseiten: Druck, Ansprüche, Perfektionismus.

»Du hast recht«, gab er zu. »Das weiß ich ja auch. Manchmal ist es irgendwie nur schwer, daran festzuhalten.«

Ich nickte zustimmend. »Ja, weil wir oft zu Momentaufnahmen neigen. Wir sehen immer nur das, was gerade ist, obwohl das Gesamtbild eigentlich viel größer ist.«

Jacob grinste.

Stirnrunzelnd begegnete ich seinem Blick. »Was ist los?«

»Die ganzen Tipps, die du Sam gibst, ’ne?«

»Was ist damit?«

»Tausch mal in deinem Kopf die Rolle mit ihm. Dann hast du eigentlich dein eigenes Problem gelöst.«

Da war was dran.

Ich steckte in meiner eigenen kleinen Momentaufnahme fest. Immer wieder war da nur Mrs. Forster, die vor meinen Augen litt. Meinetwegen. Weil ich einen Fehler begangen hatte.

Dabei hatte ich heute so vielen anderen Patienten geholfen. So viele, auf die ich mich aus irgendeinem Grund nicht fokussieren konnte.

Vielleicht lag das in unserer Natur als Menschen. Vielleicht konzentrierten wir uns immer so sehr auf die intensiven Augenblicke, dass sie uns viel schlimmer vorkamen, als sie waren. Sie waren nur ein Kratzer auf einem sonst makellosen Gesamtbild, und doch taten wir so, als wären sie ein tiefer, alles zerstörender Krater.

Jacob, der anscheinend sehen konnte, was in meinem Kopf vorging, grinste immer breiter, bevor er überschwänglich den Arm um meine Schulter legte und mich zu sich heranzog. »Siehst du?«

Ein kurzes Lachen glitt über meine Lippen, bevor ich mich von ihm losmachte, um mein Bier auszutrinken. »Ich verstehe.«

»Dein Glas ist leer«, stellte Jacob fest. »Wird wohl langsam Zeit für die nächste Runde.« Er sah sich suchend um, bis sein Blick Cohen fand. »Hey, Cohen. Können wir noch mal drei Bier haben?«

Statt Jacob anzusehen, traf Cohens Blick mich. Ich hatte keine Ahnung, was genau es war, doch mit einem Mal erkannte ich eine tiefe Finsternis zwischen den Gewitterwolken.

Sekunden, die sich wie tonnenschwere Minuten anfühlten, vergingen.

Dann wandte Cohen sich Jacob zu und gab ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, die Bestellung registriert zu haben.

War alles okay bei ihm?

Sam und Jacob wechselten das Thema und führten ein derart belangloses Gespräch, dass ich mich zwischendurch kurz fragte, ob ich mir den Moment mit Cohen bloß eingebildet hatte. Wäre er wirklich gewesen, hätten Sam und Jacob das doch sicher kommentiert, oder war er vielleicht gänzlich an ihnen vorbeigegangen?

Ich hatte keine Ahnung. Das Einzige, was ich wusste, war, dass Cohen beim Zapfen unseres Biers fast schon bewusst versuchte, nicht in meine Richtung zu sehen.

Und als er mir mein Glas dann mit einem lauten Knallen vor die Hände stellte und daraufhin verschwand, ohne mich eines Blickes zu würdigen, fühlte sich das wie eine Antwort auf meine Frage an.

Cohen

Keine zwei Stunden später verschwanden Chris, Jacob und Sam endlich. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl gehabt, dass Chris mich beobachtete, aber ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich war ziemlich abweisend gewesen. Allerdings hatte ich das zu diesem Zeitpunkt nicht richtig unter Kontrolle gehabt.

Da war einfach nur diese … Wut gewesen.

Auf Chris, weil es ihm schlecht ging und er lieber den Seelsorger für Sam gespielt hatte, statt sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern.

Auf Sam, weil er Chris nicht zugehört, sondern sich selbst in den Mittelpunkt gespielt hatte.

Wenn ich ehrlich war, wusste ich, dass meine Wut im Augenblick vielleicht ein wenig irrational war. Allerdings kannte ich das Gefühl, dass niemand einen sah, obwohl man so viel zu sagen hatte, nur zu gut. Wenn die eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse in den Hintergrund rückten, damit die anderer befriedigt wurden.

Ich versuchte, all diese Gedanken von mir abzuschütteln, während ich durch das House of Soul ging und leere Gläser einsammelte. Der Geruch nach abgestandenem Bier schlug mir in die Nase, als sie sich auf meinem Tablett stapelten.

»Und, wie lief’s bei dir?«, fragte Amy, nachdem sie von der Bühne geklettert war und auf die Bar zulief, hinter der ich gerade das Geschirr spülte.

Ich zuckte mit den Schultern. »So wie immer, würde ich sagen. Bei euch?«

Sky schloss zu uns auf, stellte sich neben Amy und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ziemlich gut.«

»Wohl eher großartig«, korrigierte Amy sie mit einem frechen Funkeln in den grauen Augen. Mit den Fingern kämmte sie durch ihre platinblonden schulterlangen Haare, die sich im Laufe des Abends leicht verknotet hatten, weil sie auf der Bühne immer alles gab. »Wir waren echt fantastisch. Aber das hast du ja selbst gehört.«

Ich grinste. Es gab nicht viele Menschen, die so von ihrem eigenen Können überzeugt waren wie Amy.

»Fantastisch trifft es wirklich ganz gut.« Ich drehte mich um und fischte zwei saubere Gläser aus dem Regal hinter mir. »Was wollt ihr trinken?«

Amy fasste sich mit gespielter Arroganz an den Hals. »Für die heiligen Stimmbänder bitte nur ein stilles Wasser.«

Ich biss mir auf die Lippe. »Und du, Sky?«

Sie zog sich einen Haargummi vom Handgelenk und band ihre braunen Locken zu einem hohen Zopf, damit sie ihr nicht ständig ins Gesicht fielen. Ich wusste, wie sehr sie das hasste. »Mir reicht auch ein Wasser. Danke, Cohen.«

»Klar doch.« Während ich ihnen ihr Wasser einschenkte, nahmen sie auf den Barhockern mir gegenüber Platz. »Wo habt ihr eigentlich Brook gelassen?«, fragte ich und reichte ihnen ihre Gläser.

»Sie hat sich heute freigenommen, um bei ihren Eltern nach dem Rechten zu sehen. Ziemlich schwere Grippe. Die liegen schon seit Tagen flach, und Brook wollte heute mal für sie einkaufen gehen und ihnen ein paar Vorräte für die Woche vorkochen.«

»Verstehe.«

»Sie meinte, sie ist ab morgen wieder da«, ergänzte Sky und nahm einen Schluck. »Hoffentlich bleibt es dabei.«

»Selbst wenn nicht, zweistimmig klingen wir auch toll.«

Sky lachte. »Ich glaube, du findest dich auch einstimmig ganz gut.«

Amy nickte selbstzufrieden, und selbst ich konnte in diesem Moment mein Lachen nicht mehr zurückhalten.

Es war schön, wie meine Freundinnen mich ablenkten, ohne es zu merken. Wie sie mich selbst die Wut vergessen ließen, die sich in den letzten Stunden in mir angesammelt hatte. Solche lockeren Gespräche waren manchmal genau das, was man brauchte.

Ich war froh, Sky, Amy und Brook kennengelernt zu haben, als ich meinen Job im House of Soul angefangen hatte. Obwohl die drei sich bereits durch ihr gemeinsames Musikstudium gekannt und eine Einheit gebildet hatten, hatten sie mich sofort in ihren Reihen aufgenommen und mir seitdem nie das Gefühl gegeben, nicht dazuzugehören.

Wir redeten und redeten und hörten auch dann nicht damit auf, als der letzte Gast durch die Tür nach draußen verschwand. Ich räumte noch Kleinigkeiten auf, und Amy und Sky unterstützen mich dabei.

Als wir dann rund eine halbe Stunde später auf der Straße vor der Bar standen, sah Sky uns auf eine fast schon sehnsuchtsvolle Art und Weise an.

»Ich finde es so toll, dass ich mit euch zusammenarbeiten kann, Leute.«

Gespielt angeekelt schob Amy Sky von sich weg. »Du bist so … sentimental, seit du mit Sam zusammen bist. Vielleicht solltet ihr euch doch trennen.«

Sky funkelte sie böse an. »Wir sind doch schon seit zwei Jahren zusammen.«

»Na und? Ich erinnere mich noch an die guten alten Zeiten, wo er nicht war. Mann, war das super.«

»Mein armer Freund.«

»Lass sie ruhig reden«, unterstützte ich Sky. »Wir wissen doch alle, dass Amy von all deinen Freundinnen am besten mit Sam auskommt.«

»Weil ich ein sehr pflegeleichter Mensch bin, Leute. Das hat nichts mit Sam zu tun. Ich komme mit jedem zurecht.«

Ungläubig sah ich sie an. »Du? Pflegeleicht? Du hast dich letztens von der Bühne aus fast mit einem Gast angelegt, weil er nicht deine Schokoladenseite fotografiert hat.«

Sie machte einen Schritt auf mich zu und bohrte mir den Zeigefinger in die Brust. »Da ging es nicht darum, von welcher Seite er mich fotografiert, sondern darum, dass meine besten Züge für Fremde ganz sicher nicht unter meinem Rock sind.«

»Oh.« Ich ballte die Hand zu einer Faust. »Wieso hast du nichts gesagt? Ich hätte ihn rausgeworfen.«

Amy schenkte mir ein weiches, dankbares Lächeln. »Ich weiß, aber ich wollte nicht, dass du ihm wehtust und dafür in Schwierigkeiten gerätst. Außerdem habe ich mich selbst darum gekümmert.«

»Damit meint sie, dass sie nach dem Song zu dem Kerl hin ist, ihm das Handy aus der Hand geschlagen und es mit dem Absatz ihres High Heels zertrümmert hat«, klärte Sky mich auf. 

»Verdient. Mit mir sollte man sich besser nicht anlegen.«

»Sonst wird die pflegeleichte Lady zum Drachen, nicht wahr?«, neckte ich sie.

»Für einen sonst so schweigsamen Mann reißt du die Klappe heute echt weit auf.« Ihre Faust traf auf meinen Oberarm, doch ich spürte den Hieb kaum.

Sky lachte. »Manchmal fühlt es sich mit dir noch immer wie auf dem College an, Amy.«

»Ich bin halt jung geblieben.«

»Wohl eher kindisch«, stichelte ich und fing ihren nächsten Faustschlag ab, bevor er mich treffen konnte.

Ein Ton, der einer läutenden Glocke ähnelte, erklang. Sky zog ihr Handy aus der Tasche, las die Nachricht und sagte: »Okay, Sam ist mittlerweile auch wieder zu Hause und fragt schon, wo ich bleibe. Wie wär’s, wenn wir den Rest des Gesprächs auf morgen Abend verschieben? Wir haben doch alle die frühere Schicht oder ganz frei, und ich könnte noch Brook, Jacob und Chris fragen, ob sie Zeit für einen Pizzaabend haben. Es ist schon so lange her, dass wir alle was zusammen unternommen haben.«

Ich konnte nicht genau sagen, was es war, doch bei der Erwähnung von Chris’ Namen rührte sich etwas in mir. Vielleicht war es der leise Wunsch danach, das Gespräch mit ihm an der Stelle weiterzuführen, wo wir unterbrochen worden waren. Herauszufinden, was es gewesen war, das ihn so belastet hatte, um ihm diesmal die Möglichkeit zu geben, darüber zu sprechen.

Damit er nicht auch zu einem Menschen wurde, dessen Inneres ungesehen blieb.

»Klingt gut«, sagte Amy. Dann sah sie mich auffordernd an.

»Ich bin auch dabei.«

Kapitel 4

Chris

»Den Bohrer, bitte.« Noch bevor mir Emily diesen gereicht hatte, sah ich, wie sich die Augen meiner Patientin vor Schreck ein wenig weiteten. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das Geräusch ist vielleicht ein wenig angsteinflößend, aber Sie werden höchstens einen leichten Druck spüren. Dank der lokalen Betäubung sollten Sie keinen Schmerz wahrnehmen.«

Ihre Züge entspannten sich sichtlich. Dann brachte sie ein leichtes Nicken zustande, mit dem sie zum Ausdruck brachte, dass sie bereit war.

Ich führte den Bohrer in ihre Mundhöhle und setzte ihn dort an, wo ich zuvor das Zahnfleisch für die Weisheitszahnentfernung aufgeschnitten und zur Seite geklappt hatte. Dann aktivierte ich das Gerät, während Stephanie neben mir stand und zur Kühlung des Gewebes die entsprechende Stelle mit einer Kochsalzlösung spülte. Ich bohrte, bis die Zahnkrone des noch immer im Kieferknochen steckenden Zahnes freigelegt war.

Dann musste ich den Zahn nur noch zerteilen, die einzelnen Stücke entnehmen, den Bereich desinfizieren und die Wunde vernähen.

Geschafft – meine erste eigene Weisheitszahn-OP.

In dem Moment, in dem ich auch das letzte Instrument zur Seite legte, spürte ich, wie ein Zittern von meinen Händen Besitz ergriff. Es fühlte sich an wie eine Mischung aus Aufregung, Erleichterung und Erfolg.

»Sie haben es geschafft«, verkündete ich der Patientin und richtete den Behandlungsstuhl wieder auf. Dann erklärte ich ihr, worauf sie während der postoperativen Heilungsphase achten musste, bevor ich die restlichen Formalia Stephanie und Emily überließ.

In der Küche der Praxis traf ich auf Jacob, der am Esstisch saß und sein Müsli aß.

»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte er mit vollem Mund.

Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihm fallen und atmete erleichtert aus. »Gut, glaub ich.«

Jacob klopfte mir stolz auf die Schulter. »Klasse! Dein erster Weisheitszahn. Wäre es nicht ein wenig eklig, hätte ich dir empfohlen, ihn zu behalten, sofern deine Patientin ihn nicht will. Oder zumindest die Einzelteile, die davon übrig sind.«

Ich drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn fragend an. »Wie kann es sein, dass du Zahnarzt bist und das eklig findest?«

Noch ein Löffel von dem Müsli landete in seinem Mund, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »Keine Ahnung. Eigentlich hab ich kein Problem damit, Leuten im Mund herumzuwühlen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich behalten will, was ich da drin finde. Das klingt für mich eher nach einer Angelegenheit für den medizinischen Abfall.«

Da hatte er gar nicht mal ganz unrecht.

Jacob stand auf und räumte seine leere Schüssel in die Spülmaschine. Gerade als er sich erneut setzen wollte, öffnete Stacey, die zahnmedizinische Fachangestellte, die ihm in der Regel assistierte, die Tür.

»Dr. Dawn? Mrs. Davis ist jetzt da.«

»Danke … Ich komme sofort.« Er tippte noch kurz eine Nachricht in sein Handy, dann stand er auf und ging zur Tür. »Bevor ich es vergesse«, sagte er noch und hielt inne. »Sam und Sky laden heute Abend zu einem Pizzaabend bei ihnen ein. Ich soll dich fragen, ob du auch Zeit hast.«

Ich checkte kurz meinen Kalender, fand für heute aber keinen Eintrag. »Ich könnte.«

»Sehr gut, dann haben wir ein Date, Dr. Easton«, antwortete er augenzwinkernd.

Ich konnte mir mein Grinsen nicht verkneifen. »Ich kann es kaum abwarten, Dr. Dawn.«

»Ahh, wie schön, dass ihr gekommen seid«, war das Erste, was ich hörte, als die Tür geöffnet wurde.

Im nächsten Moment fand ich mich in einer kurzen, aber festen Umarmung von Sky wieder. »Danke für die Einladung. Ich hab mich sehr gefreut.«

»Ist doch selbstverständlich.« Sie ließ von mir ab und zog dann Jacob an sich. »Ihr könnt übrigens schon ins Wohnzimmer durchgehen. Amy und Brook sind bereits da. Ich muss noch kurz in die Küche.«

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