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Wiedersehen am Potsdamer Platz

Als Buch hier erhältlich:

Alice und John haben den Krieg in England überdauert. Doch die Sehnsucht nach der alten Heimat lässt Alice auch nach Jahren nicht los. Als sie 1945 das Angebot erhalten, nach Berlin zurückzureisen, um dort eine amerikanische Sondereinheit, die sogenannten »Monuments Men«, bei der Suche nach geraubten Kunstwerken zu unterstützen, sagen sie zu. Bei ihrer Ankunft wird Alice schmerzlich bewusst, was der Krieg zerstört hat: nicht nur Gebäude und Straßen, sondern auch Vertrauen, Würde und Menschlichkeit. Doch ihre Liebsten sind noch am Leben, und das ist alles, was für Alice zählt. Bis sie erfährt, was die vergangenen Jahre ihrer Familie tatsächlich abverlangt haben – und welch hohen Preis sie zu zahlen bereit waren, um durchzukommen.

»familiäre Dramen sind […] die Würze in ihrem Debütroman, der trotzdem noch mehr zu bieten hat. […] Der Leser erhält Einblicke in die Kunstszene und die Gesellschaft der frühen 1930er-Jahre.«Süddeutsche Zeitung

»Aufregende Familienchronik um eine junge Berlinerin.«Grazia

»Alexandra Cedrino zeichnet ein fiktives, aber dennoch authentisches Bild einer Elitenfamilie der Jahre 1930 bis 1933 in Berlin. Und einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg sucht und findet, auch wenn er hin und wieder in Sackgassen führt.«Wiener Zeitung


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Aus der Serie: Die Galeristinnen Trilogie
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001226

Leseprobe

Dieses Buch ist in tiefstem Respekt der Arbeit der Monuments Men in Deutschland gewidmet.

Once in a while you will stumble upon the truth but most of us manage to pick ourselves up and hurry along as if nothing had happened.

WINSTON CHURCHILL

TEIL 1

JUNI 1945

LONDON

The Blitz

Juni 1945

Ein weiterer Tag, an dem nichts auf mich wartet außer Hausarbeit, dachte Alice verzweifelt, als sie mit leerem Blick auf ihren Frühstücksteller starrte. Nachdem John zur BBC gefahren war, wo er seit Kurzem als Hörfunkredakteur arbeitete, war sie erschöpft vom vielen Lächeln auf den Stuhl gesunken. Sie wollte nicht, dass er merkte, wie schlecht sie sich fühlte. Zornig wischte sie mit dem Handrücken die Träne weg, die sich aus ihrem Auge gestohlen hatte. John hatte gefragt, ob sie heute Vorstellungsgespräche habe, und ohne nachzudenken hatte sie Ja gesagt und den Blick gesenkt. Dabei gab es nur noch ein einziges nächste Woche. Vorausgesetzt, der Job wäre bis dahin nicht vergeben. Sie fischte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte sich. Verflixt. Normalerweise war sie nicht so nah am Wasser gebaut. Sie brauchte einen Job. Aber nicht als Sekretärin, Schreibkraft oder Hausfrau, sondern als Fotografin. Je länger sich die Jobsuche jedoch hinzog, desto unsicherer wurde sie. War sie nicht gut genug? Aber das hätte ihr doch irgendjemand gesagt. Oder lag es daran, dass sie Deutsche war? Sie hatte durch ihre Heirat mit John die englische Staatsbürgerschaft angenommen und sich mittlerweile daran gewöhnt, Stevens – und nicht Waldmann – als Nachnamen zu führen. Dabei hatte sie damals so sehr um den Namen Waldmann gekämpft, darum, zu dieser Familie zu gehören. Und dann waren Görings Luftwaffenboys über das Land hergefallen, in das sie und John vor den Nazis geflohen waren, und hatten versucht, London und Dutzende andere Städte mit ihren Tod und Zerstörung bringenden Bomben in Schutt und Asche zu legen. England hatte schon vor dem Ausbruch des Krieges begonnen, sich auf eine mögliche deutsche Invasion und Angriffe der Luftwaffe vorzubereiten. In den Parks waren Schützengräben ausgehoben worden. Sperrballons, die feindlichen Kampfflugzeugen den Anflug auf Bodenziele erschweren sollten, hatten den Himmel verdunkelt, und Bahnhöfe, Bushaltestellen und U-Bahn-Stationen sowie Regierungs- und andere wichtige Gebäude waren mit Sandsäcken geschützt worden. Verdunkelungsvorhänge waren vorgeschrieben, und Gasmasken wurden zum ständigen Begleiter. Lebensmittel waren rationiert worden, und jeder, der auch nur ein kleines Stückchen Garten hinter dem Haus besaß, hatte begonnen, Gemüsebeete anzulegen. Auf den Straßen hatte man fast keine Kinder mehr gesehen, da die meisten – wenn überhaupt möglich – aufs Land evakuiert worden waren, in der Hoffnung, dass es dort sicherer wäre als in den großen Städten. John, der zu alt für die Armee war, hatte sich zum Luftschutzdienst beim Raid Wardens’ Service gemeldet und abends in der Nachbarschaft kontrolliert, dass alle Verdunkelungsvorhänge zugezogen waren, damit die Luftwaffe keine Hinweise auf mögliche Ziele bekam, Erste Hilfe geleistet, wenn es nötig gewesen war, und bei Alarm dafür gesorgt, dass alle in die Luftschutzkeller gingen. Auch Alice hätte sich gerne gemeldet, aber man hatte sehr schnell herausgefunden, dass sie gebürtige Deutsche war, und sie abgewiesen. Verständlicherweise war niemand besonders angetan von den Deutschen, und das Misstrauen ihnen gegenüber war noch immer enorm hoch. Alice hatte Glück, dass sie nicht als verdächtige Person gemeldet worden war. Wäre sie nicht mit Max Prendergast befreundet, der sich vehement für sie eingesetzt und seine Kontakte genutzt hatte, wäre sie – wie viele andere – in einem Internierungslager für Deutsche, Österreicher und Italiener, die als »enemy aliens« bezeichnet wurden, gelandet.

Während Alice das Frühstücksgeschirr zusammenräumte und abzuspülen begann, kehrten ihre Gedanken zurück zu ihrer Arbeit. Selbst John Heartfield, der Grafiker und Collagist, hatte ihre Fotografien ausdrücklich gelobt. Sicherlich würde er ihr nichts vorschwindeln? Wenn es um seine Arbeit ging, legte er größten Wert auf Qualität und verwendete nur wirklich gute Fotos für seine Collagen und Layouts. Als er sie um drei ihrer Aufnahmen gebeten hatte, wäre sie vor Stolz fast geplatzt. Und dennoch wollte niemand sie einstellen. Sie sehnte sich so sehr nach dem, was sie verloren hatte. Berlin. Ihr eigenes Fotostudio. Ihre Arbeit. Vor allem aber vermisste sie ihre Familie – Ludwig, Rosa und Johann – und die gemeinsame Arbeit in der Galerie. Würde sie sie jemals wiedersehen? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Nein, sie sollte sich nicht einmal vorstellen, wie es sein könnte, wieder in der Galerie zu arbeiten.

Ich muss mich langsam daran gewöhnen, nie wieder mit den Menschen, die mir wichtig sind, das zu tun, was ich liebe, dachte sie, während sie die gespülten Teller und Tassen einräumte und die Schranktür zuknallte. Am liebsten hätte sie sich für diesen Gedanken geohrfeigt. Jetzt klang sie tatsächlich wie eine dieser traurigen alten Frauen, die ihrer Jugend nachweinten. Missmutig lehnte sie sich gegen die Anrichte und tappte ungehalten mit dem Fuß. Nein. So wollte sie nicht sein. Ich muss mich auf das konzentrieren, was ich tun kann, dachte sie, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ging in die Dunkelkammer, um einen neuen Film in die Kamera einzulegen. Dann zog sie ihre Jacke an. Irgendwo in dieser riesigen Stadt musste es eine Aufgabe für sie geben.

*

Wieder einmal hatte ihr Weg Alice in die Nähe der Blackfriars Bridge geführt. Egal in welchen Bus sie einstieg, immer landete sie in dieser Gegend. Könnte es damit zu tun haben, dass meine und Max’ Galerie auf der anderen Seite der Themse gewesen ist?, fragte sie sich, als sie zum Tower Beach hinunterging, um die vielen Kinder und Frauen zu beobachten, die hier ein paar ausgelassene Stunden verbrachten. Ihr Blick wanderte zur Waterloo Bridge. Sie nahm die Kappe vom Objektiv, spannte den Hahn und blickte durch den Sucher. Ladys’ Bridge, so sollte man sie nennen, dachte sie. Schließlich waren es hauptsächlich Frauen gewesen, die sie gebaut hatten, während die Männer im Krieg gewesen waren. Doch nun, wo sie heimgekehrt waren, sollten die Frauen klaglos zurück in die zweite Reihe. Alice schnaubte ärgerlich.

Sie fand einen Bildausschnitt, der ihr gefiel, stellte Blende und Schärfe ein und drückte ab. Dann wandte sie sich nach rechts, überquerte die Blackfriars Bridge und ließ ihren Blick auf der Suche nach weiteren Motiven schweifen. Dort drüben war die Redaktion des Workers’ News, wo John seinen ersten Job gehabt hatte. Während sie im Vorbeigehen zum Fenster hochblickte, lächelte sie, als sie daran dachte, wie sie die Besprechung der 20th German Art Exhibition in seinem kleinen, überfüllten Büro geschrieben hatte. Und da drüben: das Ye Holy Lamb, in dem sie sich so oft zum Mittagessen getroffen hatten. John hatte sich aus Redaktionssitzungen, sie sich aus Besprechungen mit Exilkünstlern geschlichen. Immer war ihre Kamera dabei gewesen, um Bilder für das Buch aufzunehmen, das sie gemeinsam machen wollten. Alice liebte es, John dabei zuzusehen, wie er vor seiner Schreibmaschine und dem ordentlich gestapelten Papier saß. Wie er mit seinen Zeigefingern auf die Tasten hackte, in einem Tempo, das jede Sekretärin neidisch gemacht hätte. Und wenn er merkte, dass sie ihn von der Tür ihrer Dunkelkammer aus beobachtete, hob er den Blick und sah sie an.

Aber auch aus diesem Plan war nichts geworden. Jetzt waren die Fotos fein säuberlich in schwarzen Kartons verstaut, und niemand – außer ihr selbst – interessierte sich noch für sie. Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie sollte sich lieber an die Freude erinnern, die sie bei der gemeinsamen Arbeit gespürt hatte, und nicht an die Tatsache, dass jeder Verlag das Manuskript abgelehnt hatte. Von einer gebürtigen Deutschen? Misstrauische Blicke. Schwierig. Haben Sie nichts Heiteres? Irgendwann hatten sie es aufgegeben und das Manuskript und die Fotografien weggeräumt.

Alice beschleunigte ihre Schritte und bog rechts ab. Als sie an einem hoch aufgetürmten Trümmerhaufen vorbeikam, der von einer Gruppe Arbeiter abgetragen wurde, blieb sie stehen. Einer der Männer blickte neugierig zu ihr herab. Fragend hielt sie die Kamera hoch, und als er ihre stumme Bitte verstand, grinste er und nickte. Schnell machte sie einige Aufnahmen. Als sich eine Wolke vor die Sonne schob, blickte sie zum Himmel empor und kniff die Augen zusammen, schätzte die Belichtungszeit und verstellte sie an der Kamera. Die Silhouetten der Arbeiter hoben sich als scharfe Umrisse gegen den Himmel ab. Es war ihr nicht entgangen, dass die Männer posierten, ihre Muskeln anspannten, sobald sie das Objektiv auf sie richtete. Sie ließ die Kamera sinken, kramte in ihrer Tasche nach ihren Zigaretten und zündete sich eine an, bevor sie den Arbeitern zum Abschied winkte und weiterging.

Gerade wollte Alice die Fahrbahn überqueren, als ihr Blick an einer Backsteinmauer hängen blieb, auf der sie mit Kreide geschriebene verwischte Buchstaben erkennen konnte. We – Barington Family – are now living here – 54 Basil Street – Thank you, kind sir, konnte sie entziffern. Dafür liebte Alice die Briten: ihren unerschütterlichen Glauben, dass es weiterging. Dass sie es schaffen würden, wenn sie nur zusammenhielten. Sie legte ihre Handfläche auf die Ziegelsteine. Dann machte sie eine Aufnahme, bevor sie weiterging und ein paar Minuten später vor dem stand, was von der Prendergast & Waldmann Gallery übrig geblieben war.

Wie aufgeregt sie alle gewesen waren, als endlich die Kiste aus Berlin angekommen war. Gott sei Dank hatten Max und Alice es rechtzeitig geschafft, die Bilder in sein Landhaus zu bringen, wo sie immer noch waren. Alice steckte die Kamera in die Tasche und schob sie auf den Rücken. Dann setzte sie ihren Fuß auf den Vorsprung eines Mauerstücks und stützte sich auf der halb zertrümmerten Außenwand ab. Vorsichtig schob sie sich über die Kante, und als sie schließlich oben stand, wischte sie sich die staubigen Hände an der Hose ab. Stirnrunzelnd blickte sie über die zerbombten Überreste des Gebäudes. Dort drüben musste ihr Büro gewesen sein. Direkt neben dem von Max. Und dort hinten das Lager. Alice schob sich ein paar Schritte weiter in Richtung Lagerraum, dann setzte sie sich auf einen Balken, der stabil genug wirkte, und zündete sich eine Zigarette an. Was hatte Max an jenem Tag im April 1939 gesagt? Sie runzelte die Stirn und nahm einen tiefen Zug. Er hatte gerufen: »Hier kommen …

Eine Lieferung aus Berlin

April 1939

… endlich die Liebesgrüße aus Berlin. Deine Onkel haben sich reichlich Zeit gelassen.«

Alice grinste und stieß Max den Ellbogen in die Seite. Beim ersten entfernten Dröhnen des Lastwagens waren sie alle auf die Straße gelaufen und standen nun zu fünft auf dem Gehweg. John und sie, Landsberger, Max und sein Freund, ein talentierter junger walisischer Maler namens Connor, den Alice sofort gemocht hatte. Gespannt blickten sie auf das Straßenende, wo der Transporter jeden Moment um die Ecke biegen musste.

»Nun, es ist schon in normalen Zeiten nicht einfach, eine so große Sendung zu verschicken. Und dann auch noch ins Ausland«, antwortete sie.

John schlang ihr von hinten seinen Arm um die Taille, sein Kinn ruhte auf ihrem Kopf, und sie lehnte sich an ihn.

Max warf ihm einen überraschten Blick zu und grinste. »Du siehst aus wie ein Einbrecher.«

Alice drehte den Kopf und sah, dass John ein Stemmeisen in der Hand hielt. Sie schmunzelte. »War das etwa einer deiner verschiedenen Jobs in Berlin? Einbrüche?«

Er küsste ihren Nacken. »Mit irgendetwas muss man ja sein Geld verdienen. Außerdem …«, er grinste, »… gibt es denn so einen großen Unterschied zwischen Kunsthändlern und Gaunern?«

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite und lachte. »Und ob es einen Unterschied gibt!«

»Uff«, keuchte er und grinste, doch ihre Aufmerksamkeit wurde von dem großen Transporter abgelenkt, der um die Ecke bog und auf sie zuhielt. Er wurde langsamer und hielt schließlich direkt an der Bordsteinkante vor ihnen an.

Der Beifahrer steckte den Kopf aus dem Fenster und blickte zu ihnen herab. »Prendergast & Waldmann Gallery?«, fragte er, und alle nickten eifrig.

Die beiden Fuhrmänner stiegen aus, öffneten die Ladeklappe, sprangen hinauf, hievten eine Kiste auf den Gehweg und trugen sie in die Galerieräume.

»Und? Was genau ist da jetzt alles drin?«, fragte Landsberger und zog an seiner Zigarette. »Vielleicht noch mehr Bilder, die in diesem beschissenen Deutschland nicht mehr erwünscht sind? Wäre doch eine elegante Lösung.« Noch vor ein paar Jahren war Arthur Landsberger ein gefragter Journalist gewesen. Leider einer, den die Nazis nicht weiterarbeiten lassen wollten, da er für das genaue Gegenteil von dem stand, was diese Mörder vertraten. Seine linken Ansichten waren nicht länger erwünscht gewesen. Also hatte er das Land verlassen, um nicht als Wasserleiche in irgendeinem Kanal zu enden. Doch auch die Engländer beobachteten ihn mit Argwohn. Wenn Max und John nicht schützend ihre Hände über ihn halten würden … Noch etwas, was Alice den Nazis übel nahm. Sie verjagten die besten Leute aus dem Land und zwangen sie in ein Leben im Exil. Exil nahm einem alles. Die Sprache. Die Kultur. Sogar die Gedanken. Wenigstens konnte sie selbst noch immer mit Bildern arbeiten. Die Sprache der Kunst war universell. Für Schriftsteller und Journalisten war es viel schwieriger.

Alice sah zu Landsberger, der interessiert um die Kiste herumging, die die beiden Transporteure im vorderen Ausstellungsraum abgestellt hatten.

»Sie müssen den Empfang quittieren, dann gehört sie Ihnen«, riss sie die Stimme des Jüngeren der beiden aus ihren Gedanken.

Alice nickte und beugte sich vor, um das Etikett auf der Transportkiste zu überprüfen. Ihr Name. Und der Absender war die Galerie Waldmann in Berlin. Sie richtete sich wieder auf und kritzelte hastig ihre Unterschrift auf das Papier. Die beiden Fuhrleute tippten an ihre Kappen, und wenige Sekunden später hatten sie den Ausstellungsraum verlassen.

Max rieb sich die Hände. »Wollen wir die Kiste öffnen?«

Alice nickte, und John setzte das Stemmeisen an, während sich alle um ihn drängten. Alices Puls beschleunigte sich. Sie hatte so hart um das Erbe ihres Vaters gekämpft. Und dennoch einen Teil an Erik Wolfferts verloren. Wenigstens diese Bilder waren ihr geblieben.

Nachdem John den Deckel der Kiste aufgestemmt hatte, schob sie behutsam die Holzwolle beiseite. Zehn Gemälde. Mit Johns und Max’ Hilfe hob sie sie aus der Kiste und stellte sie an die Wand. Beim Anblick jedes einzelnen machte ihr Herz einen Sprung. Ja, dieses hier! Das hatte über dem Schreibtisch ihres Vaters gehangen. Und hier! Das war ihr Porträt.

Connor war vor den Bildern auf die Knie gesunken und studierte sie. Er blickte zu ihr auf. »Und die hat alle dein Vater gemalt?«, fragte er, und Alice nickte stolz.

Als sie einen leisen anerkennenden Pfiff hörte, wandte sie sich um. »Jetzt sieh dir das an«, sagte Max, der ein weiteres Bild aus der Kiste hervorgeholt hatte. Alice stockte der Atem.

»Das Bild, das Clara uns zur Verlobung geschenkt hat!«, rief John.

Sie trat neben ihn, als sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde.

Max seufzte. »Es tut mir leid, aber wir haben noch nicht geöffnet …«

»Ist das wirklich ein Lux?«, hörte Alice eine Frauenstimme hinter sich. Verblüfft drehte sie sich um. »Wenn das nicht das Fräulein Waldmann ist. Ist die Welt nicht klein«, sagte Grete Ring, und Alices Augen weiteten sich.

»Dr. Ring! Meine Güte! Wie kommen Sie denn … Ich meine … Gerade jetzt … hier …« Wenn es eine Frau im Kunsthandel gab, zu der Alice aufsah, dann war es Grete Ring. Dass die einst so angesehene Kunsthändlerin, die den Kunstsalon Cassirer in Berlin geführt hatte, gerade heute hier gelandet war … Sie konnte es nicht fassen.

Die kleine Frau schaute sich mit vogelartig blitzendem, neugierigem Blick um. »Und wer sind die anderen Herrschaften?«, fragte sie, und Alice stellte einen nach dem anderen vor. Ihren englischen Geschäftspartner Max Prendergast, den walisischen Maler Connor Sheen, den österreichischen Journalisten Arthur Landsberger und natürlich ihren Ehemann John Stevens. Grete Ring sah ihn an und nickte. »Aber natürlich. Ich erinnere mich. Sie waren damals in der Nationalgalerie. Sie haben sich den Turm der blauen Pferde angesehen.«

John nickte. »Und Sie beschuldigten einen älteren Herrn der Unwissenheit.« Dr. Ring stutzte, dann lachte sie. »Richtig. Meine Güte, war dieser Mann ein Narr. Keine Ahnung von Kunst, aber das große Wort führen. Von denen gibt es in Deutschland ja nun mehr als genug.« Sie sah Alice an. »Wie geht es Ihren Onkeln? Bleibt die Waldmann-Galerie in Deutschland?«

Alice räusperte sich. »Soweit ich weiß, geht es ihnen gut. Und ja, sie bleiben in Berlin, obwohl sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Anscheinend gibt es eine jüdische Großmutter. Und dann … Na ja … Sie stehen der Regierungspolitik nicht gerade wohlwollend gegenüber.«

»Aber zumindest haben sie die Möglichkeit zu bleiben und Geschäfte zu machen. Das ist nicht allen vergönnt.«

Alice zuckte zusammen und senkte betreten den Blick. »Das ist richtig.«

Grete Ring musterte sie und legte ihr die Hand auf den Arm. »Das muss Ihnen nicht peinlich sein, mein Kind. Man kann es sich nicht immer aussuchen. Und Sie haben das Richtige getan.« Sie trat einen Schritt zurück und deutete auf die Bilder an der Wand. »Ich sehe, Sie haben gerade eine Lieferung erhalten. Aus Deutschland? Darf ich?«, fragte sie.

»Ja, natürlich«, antwortete Alice und folgte ihr mit dem Blick. Langsam bewegte sich die Kunsthändlerin an den Bildern entlang. »Die sind von Ihrem Vater, nicht wahr? Wirklich schön … Wollen Sie sie verkaufen?«

Alice zuckte mit den Schultern. »Eins, vielleicht zwei. Nicht alle. Dafür hänge ich zu sehr an ihnen.«

Ring nickte. »Ja, das kann ich verstehen. Also hier …« Sie deutete auf das Kinderporträt von Alice. »Da hat Sie Ihr Vater wirklich gut getroffen.« Sie zeigte auf das Bild daneben. »Ich glaube, das haben wir mal ausgestellt. Das Interesse an Ihrem Vater war groß. Aber leider fiel es ihm immer schwer, sich von seinen Werken zu trennen. Wirklich sehr schöne Bilder. Seien Sie froh, dass Sie sie aus Deutschland herausbekommen haben.«

Alice nickte und dachte daran, wie viel Mühe es sie gekostet hatte, die Gemälde von den deutschen Behörden, die sie nach dem Tod ihres Vaters beschlagnahmt hatten, zurückzufordern. »Meine Onkel haben mir geholfen. Ich hatte ziemlichen Ärger mit dem Ministerium, das sich nicht entscheiden konnte, ob sie als entartet erklärt werden sollten. Solange standen sie im Depot Niederschönhausen, wo alle aus den Museen beschlagnahmten Bilder untergebracht worden waren.« Und die nun in der Schweiz versteigert werden sollten, um die deutsche Aufrüstung zu finanzieren. Unter den Kunsthändlern hatte es eine Diskussion gegeben, ob man sich an diesen Auktionen beteiligen sollte. Einige waren dafür und führten an, dass die Gemälde vor einer möglichen Zerstörung bewahrt werden mussten. Andere hingegen waren der Meinung, man müsse sich dem verweigern, da man damit nur die Nazis finanzieren würde. Alice selbst war hin- und hergerissen. Was geschah mit den Gemälden, die nicht verkauft würden?

Ring hob die Augenbrauen. »Untergebracht. Ja. Sie wissen, dass die Nazis auch den Turm der Blauen Pferde beschlagnahmt haben, oder?« Der Turm der blauen Pferde … von Franz Marc. Ihr Vater hatte Alice auch zwei Gemälde von Franz Marc hinterlassen. Weiße Katze und Springendes Pferd. Sie war dazu gezwungen gewesen, die Werke an Erik Wolfferts zu verkaufen, um damit die Flucht der kleinen Leonie, der Tochter des Kunsthistorikers Marcel Hirschberger, zu finanzieren. Als Kind hatte Alice diese beiden Bilder geliebt. Immer wenn ihre Eltern sich gestritten hatten, hatte sie sich in sie hineingeträumt, entweder um sich an die kleine runde Katze zu schmiegen oder um mit dem fröhlichen gelben Pferd davonzureiten.

*

Juni 1945

Ein Geräusch riss Alice aus ihren Gedanken, und sie blickte suchend auf und fand sich in den zerstörten Überresten ihrer alten Galerie wieder. Eine magere weiße Katze kletterte auf einem Schutthaufen herum und hatte dabei ein paar Steine losgetreten. Als sie Alice sah, miaute sie vorwurfsvoll, als würde sie fragen, wer eigentlich für dieses Chaos verantwortlich war. Dann sprang sie auf einen Sims und streckte sich in der Sonne aus. Alice sah zu ihr hinüber, und die Katze begann sich genüsslich zu putzen. Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, stand Alice auf und tastete sich vorsichtig in ihre Richtung vor. Als sie eine Stelle gefunden hatte, die stabil genug war, holte sie die Kamera aus ihrer Tasche und machte ein paar Aufnahmen. Kleine weiße Katze … Alice ließ die Kamera sinken. Sie hatte geglaubt, sie würde die beiden Marc-Gemälde nie wiedersehen. Aber dann, nur eine Woche nach der Eröffnung der Galerie … Sie bekam immer noch wackelige Knie, wenn sie daran zurückdachte, wie Max in der Tür zu ihrem Büro stand und fragte: »Erwartest du eine Lieferung?«

Zwei Gemälde

August 1939

Alice hatte sich gerade fertig gemacht, um mit John zum Mittagessen zu gehen, als Max in ihrer Tür stand.

»Eine Lieferung? Nein. Warum?« Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Wartest du einen Moment?«, bat sie John und legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch. Dann folgte sie Max in den Ausstellungsraum, wo ein Bote neben einer ordentlich verpackten Holzkiste stand. John schloss sich ihnen an.

»Sind Sie Mrs. Alice Stevens?«, fragte der Bote, und als sie nickte, hielt er ihr ein Klemmbrett hin. »Dann müssen Sie mir hier den Erhalt quittieren.«

Alice runzelte die Stirn und nahm ihm die Papiere ab. Hatten Johann und Ludwig noch etwas geschickt? Sie hatte seit Monaten nichts von ihnen gehört. Ihr Blick glitt über das Papier. Tatsächlich, der Absender saß in Berlin … Und dann erstarrte sie.

»Alice?«, hörte sie John. Sie ließ das Klemmbrett sinken und starrte die Kiste an.

»Hören Sie, ich muss weiter, hab draußen noch ein paar Ladungen auf dem Laster. Unterschreiben Sie, oder soll ich’s wieder mitnehmen?« Der Spediteur hielt ihr seinen Stift hin, und Alice griff automatisch danach, kritzelte ihre Unterschrift auf das Papier und gab es ihm zurück, ohne ihn anzusehen.

Vorsichtig umrundete sie die Kiste. John war neben sie getreten und beugte sich hinunter, um den Zettel zu lesen, der an der Kiste befestigt war. »Berlin …«, murmelte er, beugte sich noch weiter vor … und wich hastig zurück. Er rammte fast seinen Hinterkopf gegen ihre Nase, so eilig hatte er es, Abstand zwischen sich und die Kiste zu bringen.

»Könnt ihr mir bitte erklären, was los ist?«, fragte Max und runzelte die Stirn. »Ihr tut so, als ob in der Kiste eine Bombe sein könnte und nicht nur Bilder. Es sind doch nur Bilder, oder? Nicht wahr?«, fragte er misstrauisch und trat einen Schritt zurück.

»Nun, in gewissem Sinne ist es eine Bombe«, antwortete John. Alice konnte die Anspannung in seiner Stimme hören.

Max wurde blass und wich erschrocken einen weiteren Schritt zurück.

»Keine Sorge«, versuchte Alice, deren Herz heftig gegen ihre Rippen hämmerte, ihn zu beruhigen. »Es ist keine solche Bombe …«

Was auch immer sich in dieser Kiste befand: Sie wollte es nicht haben. Weil es von ihm stammte. Erik Wolfferts. Alice drehte auf dem Absatz um und lief zur Tür. Der Spediteur war noch nicht weg. Noch konnte sie ihm sagen, er solle die Kiste wieder mitnehmen. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als John sie zurückhielt. Als sie ihn anblickte, schüttelte er den Kopf. Seine Sommersprossen hoben sich scharf von seinem blassen Gesicht ab.

»Sieh wenigstens nach, was drin ist«, sagte er leise.

Alice zögerte kurz, dann nickte sie.

John ließ sie los und ging in den hinteren Teil des Geschäfts, um das Stemmeisen zu holen. Als er zurückkam, hatte sein Gesicht den Ausdruck grimmiger Entschlossenheit angenommen. Er setzte das Werkzeug an der Kistenkante an, hebelte, setzte auf der anderen Seite erneut an. Wenige Sekunden später hob er den Deckel ab.

Unter der Holzwolle konnte sie zwei Bilderrahmen ausmachen. Sie schob sie beiseite und hob vorsichtig das kleinere der beiden Gemälde heraus. Kleine weiße Katze. Von Franz Marc. Behutsam legte sie es auf den großen Tisch, der den Raum beherrschte. Dann hob sie das zweite, etwas größere Gemälde heraus. Noch bevor sie es sah, wusste sie, welches es war. Springendes Pferd. Ebenfalls von Franz Marc. Sie legte es neben die Katze, verschränkte die Arme und trat einen Schritt zurück. »Ich werde sie zurückschicken.«

Als John nicht antwortete, blickte sie ihn an. Er hatte die Augen verengt, und sie konnte sehen, dass er die Zähne so fest zusammenbiss, dass sich die Muskeln seines Kiefers deutlich unter der Haut abzeichneten. Er hatte das Stemmeisen beiseitegelegt und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und Alice war sich sicher, dass sie zu Fäusten geballt waren.

»Seht mal hier. Hier ist auch ein Brief. Adressiert an dich, Alice«, rief Max. Er reichte ihr den Umschlag.

Alice starrte ihn an, als wäre er etwas Lebendiges, etwas Gefährliches. Giftig. Sie runzelte die Stirn und konnte ihren Namen erkennen, den Erik in seiner schönen, schwungvollen Handschrift auf den Umschlag geschrieben hatte. Am liebsten hätte sie ihn ungelesen in den Mülleimer geworfen. Widerwillig nahm sie ihn Max ab, öffnete ihn und zog den Brief heraus. Faltete ihn auseinander. Spürte, wie ihr der kalte Schweiß den Rücken hinunterlief.

Meine liebe Alice!

Erinnerst Du Dich? Denkst Du ab und zu an den Abend, als ich Dir meine Galerie, meine Gemälde zeigte? Natürlich tust Du das. Genau wie ich. Weißt Du, dass es hier niemanden gibt, mit dem ich so reden kann wie mit Dir? Kannst Du mit Deinem Mann über all die Dinge sprechen, über die wir gesprochen haben? Über Kunst. Malerei. Über Schönheit. Farben und Licht und Wahrheit. Darüber, was ein großes Gemälde von einem lediglich guten unterscheidet. Woran man wirklich große Kunst erkennt. Die wenigsten können das. Du schon. Du verstehst, was Kunst einem geben kann. Und da ich weiß, was diese beiden Marc-Gemälde für Dich bedeuten, gebe ich sie Dir zurück.

Ich denke immer noch daran, was wir hätten erreichen können, wenn Du Dich anders entschieden hättest. Bereust Du nicht ab und zu, dass Du gegangen bist? Es wäre für alle einfacher gewesen, wenn Du geblieben wärst. Für Deine Familie. Für Dich. Wahrscheinlich sogar für Deinen Mann.

Jedenfalls hoffe ich, dass es Dir – und Deiner kleinen Familie – gut geht und wünsche mir, dass wir uns bald wiedersehen.

Erik

Ungläubig starrte sie auf die Zeilen. Ihr ganzer Körper bebte vor Wut, und erstaunt registrierte sie, dass ihre Hände zitterten. Wie konnte dieser Bastard es wagen! Was glaubte er, wer er war! Alice sah auf und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie reichte John den Brief, und während er las, presste er die Lippen zusammen, sodass sie eine harte, scharfe Linie in seinem Gesicht bildeten.

»Ich gebe sie zurück. Ich will sie nicht«, wiederholte Alice.

John faltete den Brief zusammen, legte ihn auf den Rand der Kiste und stellte sich ans Fenster.

Sie spürte, wie ihre Wut auf Erik immer größer wurde, bis sie fast alles zu verschlingen drohte. Immer und immer wieder schaffte er es, sich in ihr Leben zu drängen. Selbst hier, Hunderte von Kilometern entfernt. Aber was fast noch schlimmer war: dass sie tatsächlich in seiner Schuld stand. Hätte er damals nicht geschwiegen, als er sie mit Leonie am Bahnhof gesehen hatte, wären sie nie und nimmer aus diesem verfluchten Deutschland herausgekommen. Denn dort, auf dem Bahnsteig, hatte Erik genau verstanden, warum sie die Bilder verkaufen musste, wozu sie das Geld brauchte. Um ein kleines jüdisches Mädchen, das seine Eltern verloren hatte, in Sicherheit zu bringen.

Langsam ging sie zu John, unsicher, was sie sagen sollte. Sie wollte, dass er mit ihr sprach. Und auf der anderen Seite … wollte sie nichts hören. Nichts, was mit Erik Wolfferts zu tun hatte. Sie stellte sich neben ihn und sah ihn von der Seite an.

Er starrte ausdruckslos auf die Straße, schien die Passanten zu beobachten. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Ich schätze, wir werden ihn nie los, was?« Er zog seinen Tabak aus der Hosentasche und drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und sog den Rauch tief ein.

Alice blinzelte. »John, wenn ich einen anderen Weg gewusst hätte, wäre ich nie zu ihm gegangen … Das musst du mir glauben. Es ist nicht mehr passiert, als ich dir damals erzählt habe.«

Er sah sie erstaunt an. »Glaubst du, ich mache dir Vorwürfe? Ich weiß, dass du mir alles erzählt hast. Ich weiß, dass das alles war. Nein. Es ist nur … Ich habe das Gefühl, dass dieser Bastard sich immer wieder zwischen uns drängt. Jedenfalls solange er lebt.« Er griff nach ihrer Hand, strich nachdenklich über deren Rücken und zog sie dann an sich.

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag, dann löste sie sich von ihm und sah ihn an. »Ich werde die Bilder zurückschicken.«

John schüttelte den Kopf. »Sie gehören dir, egal wie sie hierhergekommen sind. Es sind die Gemälde, die dein Vater dir hinterlassen hat. Die, für die du so lange gekämpft hast.«

»Aber sie sind vergiftet, John. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, muss ich nicht an meinen Vater, sondern an Erik denken. Und das will ich nicht! Ich will ihm keinen Platz in unserem Leben einräumen, verstehst du?«

»Ich verstehe sehr gut, was du meinst. Aber es ist nicht die Schuld der Bilder. Und auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ist Erik dennoch leider ein Teil unseres Lebens. Ob es uns gefällt oder nicht. Du kannst die Vergangenheit nicht auslöschen, so gern du das auch würdest. Erik hat dir die Bilder weggenommen und sie dir dann wieder zurückgegeben. Sie sind zu dir zurückgekehrt. Gerade du solltest das zu schätzen wissen, meinst du nicht? Erinnerst du dich? Du warst es, die mir gesagt hat, dass es Bilder gibt, die ihren Weg nach Hause finden. Und ich denke, das ist bei diesen beiden der Fall. Meinst du nicht auch? Sie haben ihren Weg zu dir gefunden, durch alle Schwierigkeiten hindurch. Wenn du sie jetzt zurückschicken würdest … Was würde das für sie bedeuten? Und was würde es über dich aussagen?«

Sie sah ihn nachdenklich an, dann nickte sie. »In Ordnung. Aber etwas muss ich dennoch tun.«

»Und das wäre?«, fragte John.

»Gibst du mir dein Feuerzeug?«

Er runzelte die Stirn. »Du willst jetzt nicht die Bilder …?«

Alice schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus. »Nein, natürlich nicht, Dummerjan.«

John griff in seine Hosentasche, zog sein Feuerzeug heraus und legte es auf ihre offene Handfläche. Alice ging zur Holzkiste hinüber, auf deren Rand John den Brief gelegt hatte. Sie nahm ihn und trat an den Tisch, auf dem ein großer Kristallaschenbecher stand. Dann ließ sie das Feuerzeug aufschnappen und hielt die auflodernde Flamme an das Papier. John war ihr an den Tisch gefolgt und stellte sich neben Max, der die beiden Bilder vom Tisch genommen und gegen die Wand gelehnt hatte. Als die Flammen über das Papier züngelten, ließ Alice den Brief in den Aschenbecher fallen, und die drei sahen zu, wie er zu Asche zerfiel. John legte seinen Arm um Alice und zog sie an sich.

Schließlich räusperte sich Max. »Irgendetwas sagt mir, dass ich gerade Zeuge eines Exorzismus geworden bin. Ich könnte jetzt einen ordentlichen Gin Tonic gebrauchen. Vielleicht sogar Gin ohne Tonic. Ihr auch?«

Damit drehte er sich um, und nach einem letzten Blick auf den Aschenbecher folgten sie ihm in sein Büro.

*

Juni 1945

Alice schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte zum Himmel empor. Die Sonne blendete sie. Wie lange war sie nun schon hier in diesen Ruinen? Wahrscheinlich über eine Stunde. Ihr Magen knurrte. Gott sei Dank hatte sie ein Sandwich und eine Flasche Wasser mitgebracht. Vorsichtig balancierte sie zurück zu dem Mauerbrocken, auf dem sie gesessen hatte und der nun im Schatten lag, dann packte sie ihr Mittagessen aus. Die Katze, die bis jetzt träge in der Sonne gelegen hatte, beobachtete sie mit neu erwachtem Interesse. Als sie sah, dass Alice etwas zu essen aus ihrer Tasche nahm, sprang sie elegant von ihrem Liegeplatz herab und lief leise jammernd über den Schutt zu ihr hinüber. Alice riss etwas vom Sandwich ab und legte es vor sich auf den Boden. Noch bevor sie selbst einen Bissen nehmen konnte, hatte die Katze ihren Teil heruntergeschlungen und sah sie schnurrend an. Alice schüttelte den Kopf. »Hör mal, du, ich glaube, du hast nicht einmal gekaut.« Die Katze wand sich um ihre Beine und jammerte. Alice lächelte. »Glaubst du, ich falle auf dich rein? Sieht fast so aus, oder? Na gut. Hier, bitte sehr. Aber dann ist es genug, verstehst du?« Sie riss ein weiteres Stück ab und warf es der Katze zu, die sich darauf stürzte und auch dieses in wenigen Sekunden heruntergeschlungen hatte. Alice sah ihr zu, dann aß sie den Rest ihres Sandwichs und spülte mit Wasser nach. Die Katze sprang neben sie und untersuchte neugierig ihre Tasche. »Ich nehme an, du hoffst, dass ich noch etwas für dich habe. Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber außer meiner Kamera und Zigaretten ist da nichts drin.« Sie hob die Katze hoch, fühlte, wie dünn sie war, und setzte sie sich auf den Schoß. Das Tier streckte sich und beschnupperte sie interessiert. Als Alice begann, es zu streicheln, fing es an, abwechselnd links, dann rechts zu pföteln, rollte sich schließlich zusammen, schnurrte und schloss die Augen. Vorsichtig streichelte Alice über das staubige Fell, unter dem sie die Rippen spüren konnte, und blickte hinüber zu der Stelle, an der sich einst der Lagerraum der Galerie befunden hatte.

Glücklicherweise war es Max und ihr noch rechtzeitig gelungen, die Gemälde in sein Landhaus zu schaffen. Nachdem sie die Galerie endgültig aufgelöst hatten, hatte er sich einem Kunstevakuierungsteam der National Gallery angeschlossen und brachte auch Alice für kurze Zeit dort unter. Während John damals tagsüber in der Redaktion war, hatte sie fotografiert, inventarisiert und zusammen mit Max Gemälde verpackt. Die Engländer hatten schon früh einen Plan entwickelt, um ihre Kunstwerke vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. War anfangs die Angst vor einer Invasion ausschlaggebend gewesen, waren es später die beinahe allnächtlichen Bombenangriffe, die es notwendig machten, alles in Sicherheit zu bringen. Wäre da nicht der Krieg gewesen, die ständigen Angriffe, die Zerstörung, das Chaos, das einen so furchtbar müde machte, hätte Alice sich fast wohlgefühlt. Wie viele Kunsthistoriker hatte es unter den Emigranten in ihrem Team gegeben. Marcel Hirschberger, Leonies Vater, hätte dort perfekt hineingepasst.

Jedes Mal, wenn sie an Leonies Eltern dachte, wurde ihr das Herz schwer. Es hatte so wenig gefehlt, damit auch sie Deutschland in Richtung England hätten verlassen können. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab, als sie an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dachte. Selbst im heißen Sonnenschein fröstelte sie, wenn sie an den Anruf von Lea Hirschberger zurückdachte. Sie kommen …

Das würde Alice den Deutschen nie verzeihen. Die Deutschen … Das Selbstverständnis, mit dem sie sich selbst als Deutsche gesehen hatte, war spätestens in jener Nacht, in der die Fensterscheiben eingeschlagen worden waren, zerstört worden. Dabei war sie einst stolz auf dieses Land gewesen. Auf seinen Fortschritt. Sein Wissen. Seine Kultur. Wie dumm von ihr zu glauben, dass aus Deutschland etwas Positives kommen könne. Umso schmerzlicher war es, dass all diese Hoffnungen, die nicht nur sie gehegt hatte, dass all das Gute, Helle zerschlagen, ermordet oder aus dem Land gejagt worden war. Nein, sie fühlte sich nicht mehr als Deutsche. Umso bitterer war es, dass die Engländer sie sehr wohl als Deutsche sahen. Sie seufzte und rieb sich die Augen. Wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie sich als Berlinerin. Nicht als Deutsche. Viele Engländer sahen das jedoch anders. Für sie gehörte sie nicht dazu. Im Gegenteil. Alice war für sie Angehörige einer Feindmacht. Wenn sie ganz ehrlich war, stürzte das Hören der deutschen Sprache sie immer wieder in ein Gefühlschaos. Auf der einen Seite war es die Sprache, in der sie dachte und träumte. Auf der anderen war es die Sprache der Mörder und Verbrecher. Sie würde sich im Englischen nie so zu Hause fühlen wie im Deutschen.

Hatte John all die Jahre in Berlin genauso empfunden? Immerhin hatte er eine deutsche Mutter und lange in Berlin gelebt. Gab es für ihn so etwas wie Heimat?

Für kurze Zeit war ihre Heimat die Galerie Waldmann in Berlin gewesen, die Alice zusammen mit ihren Onkeln Ludwig und Johann geführt hatte. Noch etwas, was sie den Nazis nicht verzeihen würde …

Alice fischte mit einer Hand ihre Zigaretten aus der Tasche, während sie mit der anderen die schlafende Katze stützte. Sie hatte so große Hoffnungen in die Prendergast & Waldmann Gallery gesetzt, die sie gemeinsam mit Max aufzubauen begonnen hatte. Sie hatte wirklich geglaubt, dass sie ihre Arbeit fortsetzen und vielleicht – mit etwas Glück – eine Partnerschaft mit der Galerie Waldmann in Berlin vereinbaren könnte. Anfangs hatte auch alles vielversprechend ausgesehen. Durch Grete Rings Empfehlung hatte sich ein kleiner Kreis potenzieller Kunden gebildet, und Max und sie hatten die ersten Ausstellungen deutscher und österreichischer Künstler im Exil geplant. Doch dann kam der 3. September 1939. England hatte Deutschland den Krieg erklärt. Wenn Alice ehrlich war, hatte die Galerie schon vorher massiv zu schwächeln begonnen. Einzig und allein Max’ finanzielle Reserven hatten den Betrieb aufrechterhalten. Der Kriegsausbruch war der endgültige Todesstoß gewesen. Welcher Sammler würde sich jetzt noch Kunst aus Deutschland an die Wand hängen? So schloss die Galerie nach weniger als einem Jahr ihre Pforten.

Alice drückte die Zigarette aus und schüttete ein wenig Wasser aus ihrer Flasche über die Kippe. Nicht dass sie hier noch einen Brand entfachen würde. Von Feuer hatte sie wirklich genug …

Der Nachtangriff

September 1940

Als der Alarm kam, hatte Alice bereits im Bett gelegen. John hatte Dienst. Hastig hatte sie sich etwas übergeworfen, sich das stets gepackte Bündel geschnappt, das immer neben dem Bett lag und das alles Wichtige enthielt – Papiere, Geld und wenigstens ein Buch –, und war mit den Nachbarn in den Luftschutzkeller gerannt. Stundenlang hatten sie auf das Geräusch der Maschinen gehorcht, die ihre tödliche Last über London abwarfen. Irgendjemand hatte Tee mitgebracht und ihn an alle verteilt, und so saßen sie an die Wand gelehnt, die Tassen zwischen den Händen und die Blicke gegen die Decke gerichtet. Jeder hoffte, dass die Bomben nicht über ihnen explodieren würden. Auch wenn das bedeutete, dass sie es irgendwo anders tun würden und anderen Menschen den Tod bringen würden, die genau das Gleiche hofften. Erst gegen fünf Uhr morgens konnten sie den Luftschutzkeller verlassen, erschöpft und erleichtert, dass sie auch dieses Mal nicht getroffen worden waren. Ihre Nachbarschaft war glimpflich davongekommen, im Gegensatz zu anderen Bezirken, von denen nicht viel übrig geblieben war.

Als Alice endlich in die Wohnung zurückkehrte, war John noch nicht wieder da. Es war nicht das erste Mal, dass er erst tagsüber nach Hause kam. Vor allem nachdem es so heftige Angriffe gegeben hatte. Und jedes Mal war sie vor Sorge außer sich gewesen. Also hatte sie versucht, sich mit Aufräumen abzulenken, hatte geprüft, ob noch alles da war, sich Tee gemacht und die Bilder, die durch die Erschütterungen der Einschläge von der Wand gefallen waren, wieder aufgehängt. Hatte gewartet. Jedes Mal, wenn sie ein Geräusch im Treppenhaus hörte, hatte sie die Ohren gespitzt. Und war immer wieder enttäuscht worden. Bis es schließlich gegen elf Uhr vormittags an der Tür geklopft hatte. Sie war am Küchentisch eingenickt, und das Geräusch erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe die Teetasse vom Tisch gefegt hätte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Erneut hämmerte es gegen die Tür.

»Ja. Ja! Ich komm ja schon.« Alice riss die Tür auf.

In dem Moment, als sie den Blick in den Augen des jungen Mannes sah, der vor ihr stand, wusste sie, dass etwas passiert war. Er stammelte herum, knetete am Saum seiner Jacke, und Alice hätte ihn am liebsten gepackt und geschüttelt. Alles, was sie verstand, war, dass sie versucht hatten zu verhindern, dass die Flammen auf die Häuser übersprangen. John hatte geglaubt, er hätte etwas gehört – ein Kind vielleicht. Und bevor ihn jemand zurückhalten konnte, hatte er begonnen, Steine und Ziegel beiseitezuschieben. Dann war er aus dem Blickfeld seiner Kameraden verschwunden, und wenige Sekunden später war eine Wand eingestürzt. Genau dort, wo John gestanden hatte. Der Junge versicherte Alice stammelnd, dass sie alles versuchen würden, um ihn herauszuholen. Doch das war ihr nicht genug. Sie hatte den Fremden gepackt und ihm befohlen, sie hinzubringen. Zuerst wollte er nicht. Sein Befehl lautete nur, sie zu informieren. Aber Alice hatte ihm keine Wahl gelassen. Sie hatte sich ihre Jacke geschnappt und war aus dem Haus gestürmt, dem Jungen dicht auf den Fersen. »Wohin?«, hatte sie ihn angebellt, und er hatte nicht mehr gewagt, sich ihr zu widersetzen. Er war vorausgelaufen, und fünfzehn Minuten später stand sie keuchend vor der Ruine, unter der irgendwo John lag.

Sie blickte sich um und stürzte auf einen der Männer zu, der die Arbeiten zu koordinieren schien. »Haben Sie John schon gefunden? Wo genau ist er verschüttet worden? Haben Sie …«

Der Mann, in dessen Falten sich der Ruß eingegraben hatte, schüttelte den Kopf. »Wir wissen ungefähr, wo er liegt, und versuchen, ihn da rauszuholen. Und jetzt gehen Sie da rüber und stehen nicht im Weg herum, wenn Sie ihn in einem Stück zurückhaben wollen.«

Alice wollte protestieren, wurde aber energisch auf die andere Straßenseite geführt und war dazu verdammt, tatenlos zuzusehen. Zu warten. Sie wusste, dass sie nichts tun konnte. Aber das Herumstehen, die Angst um John, trieben sie fast in den Wahnsinn. Um sie herum herrschte hektische Betriebsamkeit, und sie stand einfach nur da. Blass und stumm rauchte sie eine Zigarette nach der anderen und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Schutthaufen, die Kalkbrocken, das zerbrochene Glas, die heruntergefallenen Mauerstücke. Wie lange gruben sie schon? Minuten? Stunden? Die Zeit verrutschte, war nicht mehr greifbar, zog sich quälend in die Länge. Sie hob den Blick zum rußigen Himmel, zur Sonne, deren Strahlen sich durch den Staub und Rauch kämpften und blinzelte. Und dann … ein Ruf … Ihr Blick flog zurück zur Ruine. Zwei Männer zerrten an etwas, und als Alice sich durch die Schaulustigen drängte und ganz vorne am Rand des Trümmerfelds stand, konnte sie einen roten Haarschopf erkennen. Dann einen Arm, eine Hand … Sein Kopf, voller Staub und Ruß, tauchte über einem Balken auf. Die Männer zogen ihn zwischen zwei Mauerstücken heraus. Bewegte er sich? Ja, er hob den Kopf, und noch bevor jemand sie zurückhalten konnte, stolperte Alice vorwärts, drängte sich an den Männern vorbei und kletterte über die Trümmer auf John zu. Schließlich kniete sie vor ihm, keuchend, und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme geschlossen und nie wieder losgelassen.

»Du brauchst ein Bad«, war das Einzige, was ihr einfiel.

John lachte auf, dann atmete er zischend ein, sein Gesicht verzerrt vor Schmerz. »Ist das alles, was dir einfällt?«, fragte er und presste die Hand gegen seine Rippen.

Alice schüttelte den Kopf, schob einen der beiden Männer, die John stützten, beiseite und legte ihren Arm um ihn. »Ja. Aber warte, bis wir zu Hause sind. Bis dahin wird mir bestimmt einiges einfallen. Oder warte: Mir fällt tatsächlich noch eine Sache ein. Mach so etwas nie, nie wieder!«

»Ich versuche es.«

Sie sah ihn an. »Versuchen reicht mir nicht, John. Ich meine es ernst. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn …« Ihre Kehle wurde eng, und sie räusperte sich. »Ich liebe dich, du irischer Tölpel. Und jetzt lass uns ins Krankenhaus fahren, damit sie dich untersuchen können. Und dann bringe ich dich nach Hause.«

Wie durch ein Wunder hatte er sich nichts gebrochen. Ein paar schmerzhaft geprellte Rippen, etliche blaue Flecken und Schrammen. Nichts, was nicht heilen würde. Jemand hatte sie nach Hause gefahren, und Alice hatte Wasser für ein Bad erhitzt und John den Staub und Ruß vom Körper gewaschen.

Später hatte sie eine ganze Weile an seinem Bett gesessen und ihm beim Schlafen zugesehen, bevor sie in die Küche gegangen war, um sich einen großen Whiskey einzuschenken und eine Zigarette anzuzünden. Erst da, im schwindenden Licht des Sommerabends, hatte sie zu zittern begonnen. Hatte die Zigarette ungeraucht im Aschenbecher verglühen lassen, den Whiskey ungetrunken auf dem Küchentisch stehen gelassen, den Kopf auf die Arme gelegt und geweint. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagesessen hatte, als sie schließlich mit der Hand über ihr Gesicht fuhr. Der letzte Schimmer des Tages verblasste am Horizont. Sie griff nach dem Glas, trank es aus, zündete sich noch eine Zigarette an, die sie diesmal auch rauchte, und ging dann zurück ins Schlafzimmer zu John. Vorsichtig legte sie sich zu ihm. Kurz bevor ihr die Augen zufielen, flüsterte sie: »Ich liebe dich.«

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Juni 1945

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