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Winterwunderglitzern

Als Buch hier erhältlich:

Weihnachtszeit – Zeit der Wunder

Victoria liebt die gemütliche Straße voller kleiner Geschäfte und Restaurants, die ihr Zuhause ist. Irgendwann wird auch sie hier ihre selbst entworfenen Kleider verkaufen. Bis dahin arbeitet sie in einer kleinen Weinbar und spart, wo sie nur kann. Doch jetzt soll ausgerechnet hier ein Kaufhaus eröffnen, das alle Ladenbesitzer in Existenzangst versetzt – so kurz vor Weihnachten! Was sie brauchen, ist ein Wunder, das ist allen klar. Und dann begegnet Victoria Oliver Russell, und er macht ihr ein ungewöhnliches Angebot …


  • Erscheinungstag: 21.09.2021
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951048
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kapitel 1

Oliver Russell war in der Lage, eine aus dem Ruder gelaufene Bilanz wieder ins Lot zu bringen, vor dem Konkurs stehende Unternehmen zu zerschlagen und ihnen neues Leben einzuhauchen, schwierige Personalentscheidungen zu treffen und seine Aktionäre glücklich und sehr, sehr reich zu machen. Seine Mutter jedoch daran zu hindern, sich in sein Privatleben einzumischen, war ihm bis heute nicht gelungen. Manche Dinge waren einfach nicht zu schaffen.

Erde an Oliver. Hier ist deine Mutter. Wie sehen deine Pläne für Weihnachten aus? Muss ich fürs Abendessen ein Extra-Gedeck auflegen? Zwinker, zwinker. Deine Mutter xx

Oliver saß gerade auf einem Hocker am Tresen der noblen Weinbar The Landing, als er die ›Zwinker‹-SMS las und sie als einen weiteren, schlecht kaschierten Versuch verstand, seinen Beziehungsstatus herauszufinden. Er stöhnte auf. Super, Mum. Genau der richtige Weg, um jemanden unter Druck zu setzen.

Konnte diese Woche noch schlimmer werden? Er warf sein Handy auf den klebrigen, bierbefleckten Tresen, griff nach dem Glas vor sich und nahm einen Schluck von dem fünfzehn Jahre alten Scotch, den er jetzt dringend brauchte. Als die honigfarbene Flüssigkeit wie Sirup seine Kehle hinunterlief und seinen Magen wärmte, zählte er im Stillen alle Dinge auf, die in der letzten Zeit falsch gelaufen waren.

Erster Fehler: seine Mutter glauben zu lassen, dass er endlich jemanden für eine längere Beziehung gefunden hatte, obwohl sein Liebesleben in Wirklichkeit nur als … ›nicht existent‹ bezeichnet werden konnte. Jetzt musste er sich alle möglichen Strategien ausdenken, wie er seine Eltern über die Feiertage beschwichtigen konnte, ohne innerlich wahnsinnig zu werden.

Während andere Familien am ersten Weihnachtstag lustige Spiele spielten und in die Kirche gingen, war die Vorstellung seiner Eltern von Spaß eine ganz andere – nämlich ihn im Wohnzimmer in die Enge zu treiben, mit Laserblicken zu durchbohren und ihn auszuhorchen, ob es in seinem Leben eine potenzielle Ehefrau mit möglicher Aussicht auf Nachkommen gab. Ein Enkelkind oder besser viele Enkelkinder, die sie verwöhnen konnten und die ihrem Lebensabend einen Sinn gaben. Die den Familiennamen weiterführten, und am besten einen Erben, dem sie das Geschäft anvertrauen konnten. Als Einzelkind wurde das von Oliver erwartet, genauso wie von seinem Vater vor ihm.

Das Problem war: Sesshaft werden zählte nach seinem letzten romantischen Fehlschlag nicht wirklich zu Olivers Prioritäten. Zumindest nicht in der nächsten, sehr langen, Zeit.

Zweiter Fehler: Um das Familienunternehmen in Gang zu halten, hatte er zugestimmt, das Chaos aufzuräumen, das sein Cousin dort angerichtet hatte. Ollie hätte ihn seinem Schicksal überlassen sollen, aber das hätte bedeutet, dass seine Eltern ebenfalls darunter gelitten hätten, und das wollte er auf keinen Fall zulassen. Da saß er nun also in einer schäbigen Bar in Chelsea zu lächerlich später Nachtstunde – oder war es bereits früher Morgen? –, nachdem er gerade erst seinen Arbeitstag beendet hatte. Vor ihm die Aussicht auf einen weiteren Siebzehn-Stunden-Tag morgen und am nächsten Tag und übermorgen und überübermorgen …

Er nahm noch einen Schluck Whisky, verschluckte sich aber fast, als jemand gegen seine Hüfte stieß, ihn am Arm rüttelte und damit bewirkte, dass der gehaltvolle, aber brennende Scotch seine Kehle hinunterrann.

»Hey, Hübscher.« Eine Frau, die alt genug war, dass sie seine Mutter hätte sein können – und obwohl er seine Mutter tief in seinem Inneren liebte, konnte er auf keinen Fall eine zweite gebrauchen –, erschien neben ihm und strahlte ihn an. Ihre Augen waren vom Wein ganz glasig. Der Lippenstift, der über ihren Mund fast bis zu den Nasenlöchern hoch verschmiert war, ließ sie wie einen aufgeschreckten Fisch aussehen. »Ich hab einen Mistelzweig dabei, du weißt, was das bedeutet, oder?«

»Dass es Zeit für mich ist zu gehen?« Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, hielt die schwankende Frau fest und schob sie dann zu ihren Freundinnen, die alle verkleidet waren als … na ja, er war sich nicht ganz sicher, aber er sah Glitzerflügel, und sie hatten federartige Heiligenscheine auf dem Kopf, also sollten es wohl Weihnachtsengel sein. Im November? Sogar die Musik in der Bar schien ihn zu verhöhnen, als wüsste sie genau Bescheid über seinen Stress bei der Arbeit und die Klemme, in der er familiär steckte. Zu laut und zu fröhlich, und alles drehte sich darum, an Weihnachten nach Hause zu fahren und verliebt zu sein. Er schüttelte sich. Nein, danke.

Was ihn zu seinem dritten Fehler brachte: sich ausgerechnet diese furchtbare Bar ausgesucht zu haben, um seine Sorgen zu ertränken. Es war noch nicht mal Dezember und doch kreischten hier alle aus voller Kehle Weihnachtslieder. Überall weihnachtete es. Das glitzernde Lametta, das in Girlanden von der Decke hing, der künstliche Weihnachtsbaum in der Ecke. Der Soundtrack im Hintergrund. Die Kleidung, die die Leute trugen. Weihnachten raste wie ein Schnellzug auf ihn zu, und ihm lief die Zeit davon. Er musste noch so viel tun, um seinen ersten Fehler zu beheben, bevor die Türen des neuen Kaufhauses Russell & Co. öffnen konnten, weit hinter dem Zeitplan, aber gerade noch rechtzeitig für die geschäftigste und damit lukrativste Zeit des Jahres. Um das hinzubekommen, brauchte er eine Art Wunder. Sein Handy vibrierte auf dem Tresen. Er schaute drauf und verzog das Gesicht. Noch eine SMS. Er wusste, was drinstand, aber er wusste auch, wenn er sie ignorierte, würde es nur noch schlimmer werden.

Oliver? Es ist nur eine einfache Frage. Ein Zwinkern für Ja. Zwei für Nein. Lernen wir endlich deine neue Freundin kennen? Deine Mutter xx

Oh-oh. Jetzt bemühte sie sich gar nicht mehr, ihre Absicht zu verschleiern, sondern probierte es auf die direkte Art. Es war ernst.

Er schrieb bemüht beiläufig zurück:

Wenn deine SMS auf meinem Bildschirm angezeigt wird, steht da auch, dass sie von dir ist. Oben über deinen SMS wird ein kleines Bild von dir angezeigt. Du brauchst mir also nicht zu schreiben, wer du bist.

Dann setzte er noch zwei Kuss-Smileys dahinter, denn sie war schließlich seine Mutter:

Ollie xx

Pause. Er beobachtete die drei grauen Punkte, die auf dem Bildschirm tanzten. Und dann:

Kein einziges Zwinkern. Wie soll ich das jetzt interpretieren? Wir wollen nur, dass du glücklich bist. Deine Mutter xxx

Mit ›glücklich‹ meinte sie ›verheiratet‹. Als ob man nur dann glücklich sein könnte. Er kannte jedenfalls genauso viele Leute, die verheiratet und unglücklich waren.

Wie kam er überhaupt dazu, ein Zwinkern per SMS zu verschicken? Er rollte stattdessen mit den Augen.

Kann noch nichts versprechen.

Noch bevor er ›Weihnachtself‹ sagen konnte, blinkte ihre Antwort auf seinem Bildschirm:

Wann kannst du es denn? Deine Mutter xx.

Ich weiß es nicht.

Wenn er ihr sagte, dass die reizende Clarissa sich einen fügsameren Freund gesucht hatte, würde seine Mutter versuchen, Dates für ihn zu arrangieren.

Wie aufs Stichwort kam eine weitere SMS:

Gibt es da etwas, das du uns nicht erzählst? Ist es vorbei? So schnell? Schon wieder? Oh, Oliver.

Er konnte ihre Enttäuschung beinahe spüren, obwohl so viele Meilen zwischen ihnen lagen. Dann traf ihre nächste SMS ein:

Vielleicht sollte ich für den ersten Weihnachtstag die Henleys einladen. Ich hab gehört, dass Arabella von ihrem Aufenthalt in einem indischen Ashram zurück ist – und sie ist SINGLE. Und hör auf, mit den Augen zu rollen. Deine Mutter xx

Ollie musste unwillkürlich lachen, trotz seiner wachsenden Frustration. Er versuchte, unverbindlich zu bleiben. Laut seiner Ex war das eine seiner Stärken.

Mach ja keine Dates mehr für mich aus. In Bezug auf Weihnachten kann ich noch nichts versprechen. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich mehr weiß.

Erzählst du es mir dann bei der Eröffnung des neuen Ladens?

Es waren nur noch ein paar Wochen bis dahin. Sie gab einfach nicht auf. So war sie schon immer gewesen. Sie würde nicht lockerlassen, bis sie endlich sein erstes Baby in den Armen hielt. Oder vielleicht sein zweites – oder besser noch, seine zweiten Drillinge.

Das war das Problem; sie gab nicht auf. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: sie beruhigen oder sie ignorieren. So beschloss er, Letzteres zu tun.

Als er bemerkte, dass er seinen Scotch noch nicht ausgetrunken hatte, und dankbar registrierte, dass das Barpersonal nun die schief singenden Gäste nach draußen schob, setzte er sich wieder hin und betrachtete nachdenklich den Whisky vor sich. Irgendwann würde die Bedienung auch ihn vor die Tür setzen, aber im Moment genoss er diese kurze Ruhe, die nur von den nervigen, aber gut gemeinten SMS seiner Mutter und einem gedämpften Gespräch zwischen dem Personal in einem kleinen Raum an der Seite der Bar gestört wurde.

Er konnte hören, wie Paul, der Typ, der ihn vorhin bedient hatte, sagte: »Hey, Vicki, ist es dir recht, wenn du heute zumachst? Ich hab Amanda versprochen, dass ich früh heimkomme. Heute ist unser Jahrestag.«

»Natürlich«, drang eine sanfte Stimme an Olivers Ohr. »Du hast mir geholfen, indem du die Frühschicht übernommen hast, damit ich meine Klasse unterrichten konnte, also kann ich mich gerne um die Nachzügler kümmern. Sara meinte, dass sie hierbleibt und mir beim Aufräumen hilft.«

Nachzügler? War er damit gemeint? Ollie sah sich in der Bar um und warf den drei anderen einsamen Trinkern einen Blick zu – alle drei männlich, und alle starrten sie hoffnungslos in ihre Gläser. Er lachte in sich hinein. Verdammt noch mal, ja, die Frau hatte recht – er passte haargenau auf diese Beschreibung. Er wollte sich nicht beeilen, denn je eher er nach Hause ging, desto schneller würde der Morgen mit all seinen Problemen kommen.

»Wie lief der Unterricht heute?«, hörte er Paul die Besitzerin der sanften Stimme fragen. »Hattet ihr noch mal Besuch von der Polizei?«

Polizei? Interessant. Ollie lehnte sich nach vorne, um die Antwort der geheimnisvollen Frau hören zu können.

»Oh, das war alles nur ein Missverständnis. Ihr Bruder hat ihr das iPad geschenkt. Jasmine wusste nicht, dass es gestohlen war.« Pause. »Ähm. Von ihrem Bruder, um ehrlich zu sein.« Ein leises Lachen ertönte, das so befreit und fröhlich klang, dass Ollie den Kopf reckte, um zu sehen, wem die Stimme gehörte. Der anderen Frau, die hier arbeitete, gehörte sie jedenfalls nicht, denn die sammelte gerade Gläser von leeren Tischen ein und hatte außerdem einen starken Londoner Cockney-Akzent. Diese Vicki stammte von irgendwo anders her. Vielleicht aus dem Südwesten, Ollie bemerkte die winzige Spur eines Dialekts, den er in seinen Urlauben in Cornwall schon mal gehört hatte, so ein beschwingter Singsang in ihrer Stimme, als würde sie zwischendurch immer wieder kurz in Lachen ausbrechen. »Wir haben das geklärt. Die Polizei hat die Anklage gegen sie fallen lassen.«

»Also, eine der Jugendlichen, die du unterrichtest, hat Diebesgut zu Hause. Na toll. Du solltest dich wirklich von solchen Leuten fernhalten, Vicki.« Paul kam zurück in die Bar und begann, den Tresen mit einem Geschirrtuch abzuwischen.

Die Frau folgte ihm. »Wenn ich das täte, würde sie in noch mehr Schwierigkeiten geraten, da bin ich mir sicher. Sie ist so begabt. Du solltest ihre Entwürfe sehen, die sind der Wahnsinn. Wirklich originell. Sie könnte es weit bringen, wenn jemand sie unter ihre Fittiche nähme. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen.«

»Du bist zu gut zu diesen Jugendlichen.« Paul runzelte die Stirn. »Anstatt dich auf deine eigene Karriere zu konzentrieren, verschwendest du deine ganze Energie an einen Haufen nutzloser Teenager, für die Dankbarkeit wahrscheinlich ein Fremdwort ist.«

Vicki drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften, sodass Ollie ihr Gesicht sehen konnte.

Wow! Sie trug ein Kleid, das aussah, als käme es direkt aus den Fünfzigerjahren; mit Schlitzausschnitt und enger Taille, über und über bedeckt mit cremefarbenen und scharlachroten Blumen. Ihr glänzendes dunkles Haar war locker zu einem Pferdeschwanz gebunden, den sie über die Schulter nach vorne gelegt hatte. Sie trug leuchtend roten Lippenstift auf ihren vollen Lippen, der überhaupt nicht verschmiert war, und hatte die schönsten dunklen Augen, die Ollie je gesehen hatte. Im krassen Gegensatz dazu war ihre Haut sehr blass; er war sich nicht sicher, ob sie Make-up aufgelegt hatte oder dies ihre natürliche Hautfarbe war, und es war ihm auch egal. Oliver Russell hatte in seinem Leben schon viele schöne Frauen kennengelernt, aber sie war eine ganz andere Liga. Sie war ganz einfach die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

Ihr wunderschöner roter Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch auf ihrer Stirn erschienen kleine Falten. »Paul, sie haben es so schwer im Leben. Sie haben so große Hoffnungen und so viel Potenzial, und niemand sonst scheint sich um sie zu kümmern. Wenn ich ihnen nicht helfe, wer dann?«

»Ich mein ja nur, sei vorsichtig. Dein Herz ist zu weich, Vicki, man wird dir noch wehtun.«

»Es ist ein Modedesign-Kurs für unterprivilegierte Mädchen, Paul. Ich bringe ihnen nicht bei, wie man im Ghetto am besten mit Waffen umgeht. Das Problem ist, dass ihnen die Möglichkeiten fehlen, ihre Arbeiten zu präsentieren. Alle Designschulen haben schon Ausstellungen organisiert, nur wir hinken hinterher. Ich muss mir irgendwas einfallen lassen.« Sie sah sich in der Bar um. Ihr Blick blieb an Oliver hängen, nur einen Moment lang.

Instinktiv lächelte er. Sie schaute nicht sofort weg, sondern lächelte schwach zurück. Überraschung flackerte in ihren Augen auf. Sogar von hier aus konnte er sehen, wie sich ihre Wangen röteten, als sich ihre Blicke trafen, und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, erfasste auch ihn ein Schwall Hitze. Ein Aufflackern von Interesse. Kurz. So kurz, dass er dem nicht ganz traute; vielleicht hatte er es sich nur eingebildet? Nur allzu schnell sah sie wieder weg. Schluckte. Dann drehte sie sich zu ihrem Arbeitskollegen um und nahm ihm das Geschirrtuch aus der Hand. »Gut, gut. Es gibt viel zu tun. Ab mit dir, Paul, wir haben alles im Griff. Bis morgen.«

Damit beugte sie sich vor, um weitere Flaschen in den kleinen Kühlschrank hinter der Bar zu stapeln, und gab Ollie den Blick auf ihren anmutigen, schlanken Hals frei, die sanften Kurven ihrer Schultern, die Wirbelsäule, deren einzelne Rippen sich wie Perlen unter dem eng anliegenden Vintage-Kleid abzeichneten. Sogar ihr Rücken war interessanter und anziehender als alles, was er in den letzten Wochen gesehen hatte. In den letzten Monaten. Jemals.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Als Sara eine Handvoll schmutziger Gläser neben ihn auf den Tresen stellte, bekam sie mit, wie er Vicki anstarrte, und grinste vielsagend. Er konnte in ihren Augen lesen, was sie dachte. Ja, es stimmte, er checkte diese Vicky ab. Lass mir doch meinen Spaß.

Trotzdem, das Letzte, was er wollte, war, dass sich jemand seinetwegen unwohl fühlte. Er wandte den Blick ab, aber da war etwas an ihr, das ihn dazu brachte, einen zweiten Blick zu riskieren. Sie war umwerfend, hatte ein sanftes Selbstbewusstsein und half in ihrer Freizeit armen Kindern … genau seine Vorstellung von perfekt.

Nicht, dass er an perfekt interessiert gewesen wäre. Oder überhaupt an irgendjemandem im Moment. Er hatte alle Hände voll zu tun, um das Familienunternehmen zu retten, da konnte er sich nicht von einer Frau ablenken lassen. Trotzdem, gucken durfte man ja wohl, oder?

Vicki bekam von alldem nichts mit. Vicki, hmm … Sie war mehr eine Victoria, dachte er. Der Name Victoria hatte etwas von Würde und Klasse an sich, und sie besaß beides in Hülle und Fülle.

Sara grinste immer noch. Sie öffnete den Mund, zweifellos um einen blöden Kommentar von sich zu geben, aber genau in diesem Moment vibrierte sein Handy wieder. Puh. Gerade noch gerettet. Aber leider kratzte die Rettung durch seine Mutter viel mehr an seinem Ego, als beim Anstarren einer schönen Frau erwischt worden zu sein.

Wie wäre es denn mit Jecca Forsythe? Die ist doch hübsch. Hat grade eine unschöne Scheidung hinter sich. Ich kann mir vorstellen, dass sie begeistert sein würde, mal wieder auszugehen. Deine Mutter xx

Die neueste in der langen Reihe der Single-Frauen, die seine Mutter ihm vorführte. Durch die Bank superhübsche Frauen, die alle dem Ideal seiner Eltern entsprachen, wie und wer eine Russell-Frau zu sein hatte; vorzugsweise die Tochter eines Geschäftspartners, um die Marke Russell zu stärken, klug, hübsch, aber nicht protzig, willens, ihn bei seinen Geschäften zu unterstützen, und erpicht darauf, eine Familie zu gründen. Aber bei keiner von ihnen hatte er dieses Gefühl … was auch immer es war, das er fühlen sollte. Die Art von Beziehung, die seine Großeltern gehabt hatten. Die Art von Liebe, bei der man zusammen lachte, zusammen Spaß hatte, sich gemeinsam weiterentwickelte. Diese Art von Liebe war in der Russell-Familie nicht sonderlich üblich. Loyalität, ja. Nähe … wenn nötig. Vertrautheit – eher nicht.

Nein, Mum. Weder Jecca noch Arabella. Oder irgendjemand anderes. Um mein Liebesleben kümmere ich mich selbst, danke.

Ein ›Ping‹ deutete an, dass eine weitere SMS eingetroffen war. Er wollte nicht hinsehen, aber er musste, denn sie zu ignorieren funktionierte nicht.

Nun, offensichtlich kannst du das nicht. Du brauchst Hilfe. Ich mache mir Sorgen um dich, Oliver. Allein zu sein ist nicht gut. Deinem Vater ist deine Zukunft so wichtig. Uns beiden. Wir vermissen dich. Deine Mutter xx

Oliver las die SMS zweimal und fluchte. Bei der Erwähnung seines Vaters tat ihm das Herz weh. Plötzlich wurde ihm der Grund für dieses jüngste intensive Interesse an seinem Liebesleben klar: Seine Eltern hatten so viel, worum sie sich sorgten – zu viel –, dass sie nach einer Ablenkung suchten. Und warum auch nicht? Es gab nicht viel anderes, worauf sie sich freuen konnten, also waren eine Heirat, Enkelkinder und eine rosige Zukunft für ihren Sohn alles, worauf sie hofften. Verärgert über sich selbst wegen seiner mürrischen Antworten tippte Oliver eine weitere SMS an seine Mum:

Wie geht’s Dad?

Es vergingen ein paar Momente, in denen sich Schuldgefühle in Olivers Magen breitmachten. Dann die Antwort:

Ach, weißt du, alles beim Alten. Aber sein Arzt meint, es gebe eine experimentelle Behandlung, die er ausprobieren will.

Da waren sie also schon angelangt, bei experimentellen Behandlungen. Alles andere war bisher wirkungslos geblieben.

Grüß ihn lieb von mir.

Er wusste, seine Mutter war darum bemüht, dass sie in dieser schwierigen Zeit alle enger zusammenrückten, und fand das gut, aber manchmal konnte es auch erdrückend sein. Er hatte es mit »Ich komme allein zurecht« versucht. Er hatte es mit »Ich bin noch nicht bereit, mich zu binden« versucht. Egal, was er schrieb, nichts überzeugte sie davon, dass bei ihm alles okay war. Und jetzt wollte sie diese besondere Frau kennenlernen. Die es nicht gab. Die richtige, mit der er eine feste Beziehung eingehen konnte.

Er wollte seine Eltern nicht enttäuschen, nicht schon wieder, wo sie doch schon so hart zu kämpfen hatten, aber er wollte auch nicht, dass seine Mutter über Weihnachten heimlich Verabredungen arrangierte und die sehr nette, aber für ihn uninteressante Arabella oder Jecca oder irgendeine andere Frau einlud, von der sie glaubte, dass sie perfekt zu ihm passen würde.

Er wollte, dass sie etwas hatten, worauf sie sich freuen konnten. Was sollte er nur tun?

Oliver? Wir freuen uns so darauf, sie kennenzulernen. Vor allem dein Vater.

Ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken, schrieb Oliver spontan zurück:

Okay. Okay, Mum. Ich bringe sie zur Eröffnung mit.

Oh, Ollie, mein Liebling.
Ollie! Endlich! Siehst du,
das war doch gar nicht
so schwer, oder? Ich bin
so aufgeregt.
Deine Mutter xx

Er starrte eine Minute lang auf den Bildschirm, bis ihm klar wurde, was er getan hatte.

Verdammt. Er hatte seiner Mutter gerade vorgeschwindelt, dass er eine Freundin hatte. Na super.

Er nahm einen weiteren Schluck Whisky. Es war noch Zeit. Zeit, um eine neue Freundin zu finden. Oder Zeit, sich eine neue Ausrede einfallen zu lassen, die er seiner Mutter am Tag der Eröffnung erzählen konnte.

Verdammt. Wenn er bis dahin keinen Plan hatte, würde seine Mutter ihn danach weiter permanent nerven. Wenn er nur eine finden könnte, die offen für eine für beide Seiten vorteilhafte Fake-Beziehung wäre. Dann würde seine liebe Mutter endlich Ruhe geben.

»Letzte Runde.« Wieder diese Stimme. Vicki war nahe genug, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Eine verspielte, blumige Mischung – gerne hätte er sich näher zu ihr hinübergebeugt und ihren Duft eingeatmet. Während sie redete, bewegten sich ihre Hände und huschten über die Gläser. »Möchten Sie noch etwas, bevor ich abrechne?«

Ihm fielen so viele Dinge ein, aber nichts davon konnte man hier in dieser Bar finden.

Es sei denn … Sie war freundlich. Sie war wunderschön. Sie war perfekt. Eine Idee begann sich in seinem Kopf zu formieren. Er sah quer durch die Bar in ihre dunkel-karamellfarbenen Augen, in denen Witz und, wenn er sich nicht irrte, auch ein wenig Feuer lag.

»Ja, da gäbe es tatsächlich etwas.«

Sie lächelte und hielt seinen Blick so fest, dass sich in seinem Bauch Verlangen regte. »Ja?«

»Wollen Sie mich heiraten?«

* * *

Nicht schon wieder.

»Auf keinen Fall.« Victoria versuchte, ihr Lächeln zu verbergen, während das hoffnungsvolle Grinsen von ›Mr. Groß, Dunkel und Verwegen‹ unter ihrem todernsten Blick verkümmerte. Zu oft schon hatte man sie – weil sie zierlich und irgendwie hübsch war – für eine leichte Beute gehalten, doch sie hatte ein Rückgrat aus Stahl. Das musste sie auch, um in dieser Welt zu überleben. Es half ihr dabei, höflich, aber bestimmt mit solchen Schnapsleichen umzugehen. Dieser Kerl hier war allerdings ein bisschen anders, definitiv ein wenig kultivierter als die üblichen Kunden.

»Wenn ich ein Pfund für jeden Heiratsantrag bekäme, der mir am Ende einer durchzechten Nacht gemacht wird, wäre ich eine reiche Frau. Aber ein kleiner Rat, Kumpel – du solltest an deinem Antrag noch etwas arbeiten. Nächstes Mal könntest du vielleicht eine große romantische Geste einbauen, zum Beispiel … hmm, vielleicht den Namen der Frau herausfinden, bevor du sie bittest, den Rest ihres Lebens mit dir zu verbringen?«

»Ich nehme an, das heißt dann Nein?«

Er grinste, und sie musste zugeben, dass sie ihn in einem anderen Leben vielleicht ein klitzekleines bisschen attraktiv gefunden hätte, einem, in dem sie nicht durch eine lange Reihe gescheiterter Beziehungen schon so desillusioniert gewesen wäre. Da war etwas in seinen graublauen Augen, das sie dazu brachte, ihn weiter anzusehen, trotz seiner lächerlichen Frage. Irgendetwas an seinem zerzausten Haar, dass sie mit den Fingern hineinfahren und es bändigen wollte. Und dann noch seine ausgeprägte Kieferpartie und die Bartstoppeln … Er trug die übliche Uniform der Männer, die in den Büros in Chelsea arbeiteten – dunkler Anzug, weißes Hemd, braune Lederschuhe. Seine Anzugjacke hatte er an den Haken unter der Bar gehängt und saß mit offenem Hemdkragen, ohne Krawatte und mit hochgekrempelten Ärmeln da. Ein wenig legerer für ein paar Drinks am Freitagabend.

Das Leinenhemd umschmeichelte gut trainierte Muskeln. Breite Schultern. Er hatte eine kristallklare Stimme. Okay, vielleicht war er wirklich außergewöhnlich im Vergleich zu den üblichen Schickimicki-Möchtegern-Hipster-Anzugtypen, die nach der Arbeit hier hereinkamen. Und dann war da noch dieses Brennen, das sie ganz tief in sich drin gespürt hatte, als sich ihre Blicke begegnet waren. Etwas total Ursprüngliches. Ein Prickeln auf ihrer Haut. Etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte und das sie noch mal fühlte, als er lächelte.

Sie schüttelte den Kopf. »Ein hundertprozentiges Nein. Tut mir leid, hmm, oder auch nicht.«

»So einfach brechen Sie einem Mann also das Herz.« Er zuckte mit den Schultern.

»Oh, ich bin sicher, dass Sie es überleben werden. Es gibt eine Menge Frauen, die genau danach suchen, was Sie ihnen zu bieten haben.« Das Kribbeln ignorierend, das durch ihren Körper lief, druckte Victoria seine Rechnung aus, legte sie auf einen Untersetzer und schob sie ihm zu. »Hier ist Ihre Rechnung. Sie können bei Sara zahlen.«

Dann wandte sie sich ab und widmete sich dem Säubern der Zapfhähne. Aber aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er seinen Hocker zurückschob, seine Platin-Kreditkarte zückte, bezahlte und dann selbstbewusst Richtung Tür schritt. Sie tat so, als würde sie es gar nicht bemerken, als er sich umdrehte, ihr ein wehmütiges Lächeln schenkte und scherzhaft auf sein ›gebrochenes‹ Herz tippte, bevor er in der Nacht verschwand.

Als sich die Tür schloss, seufzte sie, und ihr Körper erschlaffte, als hätte sie während der gesamten Unterhaltung den Atem angehalten. Wow. Diese Verbindung, die da vom ersten Augenblick an zwischen ihnen geherrscht hatte, war … seltsam gewesen.

Sara, die neben ihr stand, puffte sie in die Seite. »Woah. Victoria Scott, das war ja ein verdammt heißer Kerl.«

Ja, kann man wohl sagen. »Sagt die Frau mit der superheißen Freundin.«

Sara lachte und hob die Handflächen. »Schätzchen, nur weil ich anders funktioniere, heißt das nicht, dass mir hübsche Männer nicht auffallen.«

Victoria erlaubte sich, das Prickeln zu genießen, nur für einen Moment. Es hatte Spaß gemacht und war lustig gewesen, aber mehr auch nicht. Schnell schlich sich die Realität in Form ihrer äußerst unerfreulichen Beziehungserfahrungen in ihre Gedanken, also steckte sie diese Gefühle in eine Schachtel und schloss den Deckel.

»Hübsch, aber betrunken. Muss er wohl sein, um einer Fremden einen Antrag zu machen.«

»Hmmm.« Saras Mund verzog sich. »Er hat die ganze Zeit über nur an einem Macallan genippt.«

»Ein armer Säufer also.« Victoria lachte. »Das ist ja noch schlimmer. Was für ein Schlag für mein Ego.«

»Ganz und gar nicht. Er schien im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, wie du zugeben musst. Schließlich hast du ihn ja, bis er bezahlt hat und zur Tür hinausgegangen ist, nicht aus den Augen gelassen. Vielleicht hättest du auf sein Angebot eingehen sollen?«

Victoria wirbelte herum und sah ihre Freundin an. »Was? Ist das dein Ernst?«

»Zumindest hättest du ein bisschen mehr mit ihm plaudern können und sehen, wohin das Ganze führt … zum Beispiel zu einem gemeinsamen Abend in einer Bar und einem Abendessen? Und vielleicht zu einer heißen Nacht?« Sie grinste und Victoria war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte.

Sara war relativ neu in der Bar; zwischen ihnen hatte sich eine lockere, lustige Freundschaft entwickelt, aber bei neuen Freundschaften musste man immer Geduld haben, bis man einander wirklich vertraute, bis man wusste, was man sagen und was man geheim halten sollte.

Bei ihren Freundinnen aus Devon, einer engen Clique, wusste Victoria immer genau, was sie meinten, was sie dachten, was sie sagen wollten, noch bevor sie es sagten. Sie waren einander über Jahre nähergekommen, waren füreinander da gewesen in tollen Zeiten, schlechten Zeiten und in den schlimmsten Zeiten, und obwohl sie jetzt über die ganze Welt verstreut waren – und sie sie so sehr vermisste, dass ihr das Herz schmerzte –, hielten sie einander immer noch, sooft sie konnten, in Gruppenchats auf dem Laufenden. Sie redeten ihr gut zu bei allem, was sie in Erwägung zog, und ermutigten sie, den nächsten Schritt zu machen, sogar bei Verabredungen, falls sie sich jemals wieder bereit dazu fühlte. Sara war großartig, aber Victoria wusste, dass es noch ein wenig dauern würde, bis sie sich ihr so nahe fühlte wie Zoe, Lily und Malie.

»Sara, er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, nicht, ob er mich zu einem Date einladen kann. Keine Drinks, auch kein Abendessen oder eine schnelle Nummer. Er hat einfach direkt mit dieser ›Bis dass der Tod uns scheidet‹-Nummer angefangen. Nein, danke.«

»Mir sah er eher wie der ›In guten statt in schlechten Zeiten‹-Typ aus, mit ihm könntest du sicher Spaß haben, und das ist doch genau das, was du jetzt brauchst.« Sara schien begeisterter von ihm zu sein, als Victoria es war. Was seltsam war, wenn man bedachte, dass Victoria am Ende eines solchen Abends haufenweise Anträge bekam und Sara normalerweise mit den Augen rollte und sich auf die Zunge biss. »Man kann nie wissen, vielleicht ist er sogar der Richtige.«

»Ich weiß es. Ist er nicht.« Den Richtigen gab es nämlich überhaupt nicht.

»Dein Pech.« Sara zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich sagen will, ist …«

»Dass es Zeit ist, die Böden zu wischen, damit wir nach Hause gehen können?«

Victoria beendete das Gespräch über ihr hoffnungsloses Liebesleben und schaute auf die Uhr. Ihre Füße schmerzten vom vielen Stehen und ihr Gehirn schmerzte vom Unterrichten netter, aber anstrengender Teenager und vom Managen der Bar bis in die frühen Morgenstunden.

»Schon dabei, Chefin.« Während Sara den Eimer mit heißem Seifenwasser füllte, schaute Victoria zu dem leeren Hocker hinüber, auf dem der heiße Typ gesessen hatte. Etwas in ihrem Bauch implodierte bei dem Gedanken an ihn. Was irritierend war, denn obwohl ihr Kopf rational erklären konnte, wie jemand, der gut aussah, quasi in rein physikalischer Hinsicht eine Wirkung auf sie hatte, tat ihr Körper so, als wäre der Typ die Lösung für ihren Sex-Entzug.

War er aber nicht.

»Ich bin nicht an einem ›Richtigen‹ interessiert, der einer wahllosen Fremden in einer wahllosen Bar an einem wahllosen Freitagabend im November einen Antrag macht. Ich bin an niemandem interessiert, das weißt du. Ich bin mit Männern fertig. Und mit Beziehungen. Ich lasse nicht mehr zu, dass jemand auf meinen Gefühlen rumtrampelt. Nie mehr. Im Moment bin ich einzig und allein daran interessiert, meinen Job zu behalten, damit ich mein Designstudio und die Abendkurse für die Jugendlichen finanzieren kann. Heiratsanträge annehmen oder Männer daten stehen auf meiner To-do-Liste weiter unten als eine Wurzelbehandlung.« Sie drückte auf die Abrechnungstaste an der Kasse und runzelte die Stirn. »Und wir sind zwölf Pfund fünfundsiebzig Pence im Minus.«

»Ah, ja.«

Sie fühlte Saras Augen auf sich ruhen. »Was meinst du damit: ›ah, ja‹?«

Ihre Freundin nickte und stützte sich auf den Stiel von ihrem Mopp. Ihre Augen wurden traurig. »Peter.«

»Oh, und ich dachte, du würdest mir eine vernünftige Erklärung dafür geben, warum wir über zwölf Pfund zu wenig in der Kasse haben« – Victoria erschauderte bei der Erwähnung ihres Ex – »statt schon wieder über ihn zu reden. Was ist mit ihm?«

Saras Hand lag jetzt auf Victorias Rücken, ganz sanft. Verständnisvoll. »Er hat dich ziemlich verarscht, sicher, aber warum du zulässt, dass dieser Dreckskerl immer noch so einen Einfluss auf dich hat, verstehe ich nicht.«

»Weil er mir eine sehr gute Lektion erteilt hat: Vertraue niemals irgendwem.« Und erzähle vor allem nie jemandem von deinen intimsten Geheimnissen und Zweifeln, denn er wird sie gegen dich verwenden, wenn du es am wenigsten erwartest.

»Er hat dich verletzt, Liebes. Aber du musst ihn vergessen und deinen Weg weitergehen.«

»Ich bin komplett über ihn hinweg. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht mal, dass ich ihn je wirklich geliebt habe. Aber gerade, wenn ich meine, das alles überwunden zu haben – all die Erwartungen und die verlorene Zeit –, präsentiert er mir seine neue Verlobte, so als ob er gerade im Lotto gewonnen hätte und ich für ihn nur eine Art zeitweiliger Trostpreis gewesen wäre.«

»Dreckskerl. Obwohl du so einen verdammt hübschen Vorbau hast.« Sara lachte. »Und ich weiß, wovon ich spreche.«

»Okay, das reicht jetzt.« Lachend warf Victoria einen kurzen Blick auf sich selbst im Spiegel hinter der Bar. Ihre glatten Haare glänzten, ihre Frisur saß immer noch perfekt. Der Lippenstift war auch noch an seinem Platz. Cat-Eyeliner … perfekt. Das Kleid, das sie heute Morgen fertiggenäht hatte, betonte ihre Brüste. Ja, sie sah heute gut aus. Aber sie gab sich jeden Tag Mühe, in den Kleidern, die sie für sich selbst schneiderte, gut auszusehen – eine Art wandelndes Schaufenster für ihre eigene Design-Kollektion. Sie wollte, dass die Leute auf ihre Kleider aufmerksam wurden, sie danach fragten und vielleicht ein paar vintageinspirierte Teile bei ihr in Auftrag gaben.

Ihm war sie auch aufgefallen. Sie sollte den Heiratsantrag eines hübschen Mannes vermutlich als Kompliment auffassen, oder? Nur als Kompliment, nichts weiter. »Ich hab keine Lust mehr, über Männer zu reden. Egal ob vergangene oder gegenwärtige.«

»Was ist mit zukünftigen?« Sara zwinkerte, dann lachte sie über Victorias warnenden, finsteren Gesichtsausdruck. »Okay, okay, ich hab’s kapiert. Keine Gespräche über Männer mehr.«

Und doch – während Victoria die Bar abschloss, musste sie immer wieder an das Lächeln dieses Fremden denken. Seine selbstbewusste Haltung. Die Art und Weise, wie sich das Leinenhemd an seinen durchtrainierten Bizeps geschmiegt hatte … Und ihr wurde bewusst, dass sie vielleicht nicht mehr über ihn reden, aber ganz sicher weiter an ihn denken würde.

Kapitel 2

Es gab nichts Schöneres, als an einem ihrer seltenen freien Nachmittage auf dem Portobello Market herumzuschlendern, dachte Victoria, während sie an ihrem Kaffee nippte und spürte, wie die Spätherbstsonne sanft ihren Rücken wärmte. Sicher, sie arbeitete gern in Chelsea, mit seinen gepflegten weißen Terrassen und den unzähligen noblen Häusern und bewachten ausländischen Botschaften, die dem Viertel etwas Erhabenes verliehen. Sie liebte das dreihundert Jahre alte Chelsea Hospital aus rotem Backstein, das für eine historische Atmosphäre sorgte. Sie liebte die neuen und alten Geschäfte der großen Handelsketten, die sich direkt neben verschrobenen Boutiquen angesiedelt hatten und zuweilen eine gewagte Auswahl an ausgefallener Kleidung anboten. So exzentrisch und doch am Ende so vertraut, etwas, worauf man sich verlassen konnte. Chelsea war ihr Viertel. Es passte perfekt zu ihr. Es fühlte sich an, als wäre es ihre Bestimmung, genau hier einen Laden zu betreiben. Fast hätte sie einen gehabt. Aber jetzt stand sie wieder ganz am Anfang damit. Dank Peter.

Nein. Sie wollte sich den schönen Tag nicht mit Erinnerungen an gescheiterte Pläne verderben. Stattdessen würde sie einfach neue machen und sie in die Tat umsetzen. Ab heute würde sie sich auf ihre Entwürfe konzentrieren und ihr von Vintage-Mode inspiriertes Portfolio ausbauen. Und während Victoria so gerne in Chelsea arbeitete und lebte, erkundete sie mindestens genauso gern den Portobello Market. Die Atmosphäre hier war uriger, rustikaler. Voller Läden mit unterschiedlichsten Waren, Scharen von Hippies und exotischer Düfte aus aller Welt. Für Victoria war Portobello Chelseas freche, ungezwungene jüngere Schwester.

Als sie vom Notting Hill Gate aus den Hügel hinunterging, verspürte sie bei der Aussicht, einen tollen Stoff oder originelle Ideen für ihre Entwürfe zu finden, unwillkürlich ein Kribbeln im Bauch. An diesem Ende der Portobello Road säumten Antiquitätenläden die Straße und drängten mit ihren geheimnisvollen Wunderwaren bis auf die Bürgersteige hinaus. Dann ging das Ganze langsam in einen Freiluftmarkt über, wo sich Obst- und Gemüsestände aneinanderreihten, die mit Blumen und grellem Weihnachtsschmuck dekoriert waren. Weiter hinten, am schmuddeligen Ende von Ladbroke Grove, befand sich ihre persönliche Schatzkiste: Second-Hand-Stände und Trödel. Das war ihre Art von Himmel.

Das Geschnatter von Touristen und Einheimischen, die Rufe der Standbesitzer und das Brummen des Verkehrs vermischten sich zu einem fröhlichen weißen Rauschen, unterbrochen von Weihnachtsliedern, die blechern aus allen Ecken und Enden drangen. Victoria war an ihrem Lieblingsort und die Sonne schien.

Sie wünschte sich nur, dass Zoe, Lily und Malie – ihre ältesten und liebsten Freundinnen – hier wären und den Tag mit ihr verbringen könnten. Ihr Herz zog sich ein wenig zusammen bei dem Gedanken, dass sie über die ganze Welt verstreut ihren Träumen nachjagten. Heute hatten sie nur noch selten die Gelegenheit, sich physisch nahe zu sein. Aber wenn es mal dazu kam, hatten sie immer so viel Spaß zusammen – beim Shoppen, beim Lachen über irgendeine Kleinigkeit, beim Aufbrezeln für eine Party-Nacht.

Jene Nacht, damals …

Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Der Abend hatte wie jeder andere begonnen. Vier junge Frauen, die sich zusammen schick machten. Die Unterhaltung hatte sich nur um Make-up und Kleider gedreht. Wer die höchsten High Heels hatte, wer darin laufen konnte. Es ging um Spaß, um Vorfreude, um Lebenslust. Eine Tanzparty im Sommer, so aufregend …

Ein Schauer lief Victoria den Rücken hinunter. Diese Nacht hatte alles verändert – wer sie waren, was sie vom Leben wollten, was aus ihnen werden würde. Seltsam, wie ein Sekundenbruchteil, in dem man nicht aufpasste, einen für immer verändern konnte.

Geistesabwesend strich sie sich mit der Hand über den Bauch und schob die Gedanken beiseite. Da sie nun dringend eine aufbauende Shoppingtherapie brauchte, beschleunigte sie ihre Schritte und steuerte den ersten Laden an – The Fabric Store. Sie steckte ihren mittlerweile leeren Mehrwegbecher in ihre Handtasche und drückte die Tür auf.

Betsy, die gertenschlanke Ladenbesitzerin, blickte von ihrem Handybildschirm auf und lächelte, als Victoria hereinkam. »Hallo, meine Liebe«, grüßte sie mit einer tiefen Stimme, von der Victoria annahm, dass sie von jahrelangem Kettenrauchen oder Whiskytrinken oder beidem herrührte. »Schon wieder da? Suchst du was Bestimmtes?«

»Nicht wirklich, danke, Betsy. Ich schaue mich nur um.« Ja, sie kam so oft hierher, dass sie mit der Besitzerin per Du war. Victorias Blick saugte sich gierig an den Stoffballen fest, die sich reihenweise an den Wänden auftürmten. »Und sabbere ein bisschen.«

»Kann’s dir nicht verübeln. Dieser Ort ist mein Stück vom Paradies.« Betsy strich mit ihrer Hand über einige gesteppte Quilt-Quadrate, als wären sie ihre Kinder. Victoria konnte sie gut verstehen. Nur Menschen, die Stoffe, Nähen und Basteln liebten, konnten den Reiz eines hübschen Musters oder die weiche Beschaffenheit gut gesponnener Seide wertschätzen. Nicht einmal Malie, Zoe oder Lily verstanden das. Aber Betsy strahlte, weil sie wusste, dass sie mit einer verwandten Seele sprach. »Hast du deine Mädchen diesmal gar nicht dabei?«

Victorias Wangen erröteten. »Oh, das sind nicht meine Mädchen. Das sind meine Schülerinnen. Ich unterrichte Modedesign.«

»Ich hab mir schon gedacht, dass du noch nicht alt genug bist, um Kinder im Teenageralter zu haben, aber … na ja, heutzutage weiß man ja nie, oder? Sie schienen nett zu sein. Richtig höflich und haben die Ware nicht mit ihren schmutzigen Fingern betatscht, wie es manche Leute tun.«

Was für eine erfrischende Einstellung, verglichen mit Pauls vorsichtiger Warnung. Allerdings hatte Victoria ihnen vorher beigebracht, wie man sich allgemein in Läden und insbesondere in einem Stoffgeschäft verhält, damit sie nicht zwischen den Stoffbahnen der Shantung-Seide rumtobten. Am Ende war sie stolz auf sie gewesen.

»Die Mädchen sind wirklich reizend. Aber einige von ihnen können sich keine Stoffe leisten, deswegen suche ich nach billigen Muster- oder Reststücken, irgendwelchen hübschen Kleinigkeiten, mit denen sie die recycelten Kleider, an denen sie herumbasteln, aufpeppen können.«

»Schau hier mal durch.« Mit einem Ächzen schob Betsy einen riesigen Pappkarton hinter der Theke hervor in die Mitte des Raums. »Ich sortier gerade aus, um Platz für eine neue Lieferung am Montag zu schaffen. Da drin sind jede Menge Bänder von der letzten Saison und Ausverkaufsartikel. Ich kann sie dir billig überlassen, weil’s für einen guten Zweck ist.«

»Das wär super.« Victoria betrachtete die Kiste, die vor sommerlichen Stoffresten, Halloween-Stoffen und österlichen Schleifen überquoll. Das Ganze hatte einen Wert von weit über dreißig Pfund. Für manche Leute war das nicht viel, aber es machte einen beträchtlichen Batzen ihres Gehalts aus – von dem nach Abzug der Lebenshaltungskosten und der Miete für ihre Wohnung und ihr Designstudio nicht viel übrig war. Sie zögerte ein wenig, aber dann dachte sie daran, wie sehr diese Kinder eine Chance verdienten. »Ich nehme alles.«

»Gib mir einfach ’nen Zehner. Ich bin froh, dass es so eine gute Verwendung findet.«

»Wow. Vielen lieben Dank. Das ist sehr großzügig.«

»Du lässt hier so schon immer genug Geld da.« Betsy winkte ab, als wäre das überhaupt kein Problem, aber für Victorias Schülerinnen bedeutete es, dass sie ihre Entwürfe verwirklichen konnten. Das wiederum würde sie mit dem Stolz erfüllen, etwas erreicht zu haben, zu sehen, wie ihre Träume und Ideen Wirklichkeit wurden. Mehr als alles andere wollte Victoria, dass sie lernten, dass sie große Träume haben durften.

»Das hier ist wunderschön.« Victoria ließ ein Stück weicher blassblauer Baumwolle mit einem zarten weißen Wirbelmuster durch ihre Finger gleiten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Freundin Malie, in einem einfachen Strandkleid mit Neckholder-Ausschnitt aus diesem Stoff, während sie sich nach einem Unterrichtstag in ihrer Surfschule auf Hawaii in den letzten Sonnenstrahlen räkelte. Eines Tages, so versprach sich Victoria, würde sie erfolgreich genug sein, um es sich leisten zu können, dorthin zu fliegen und sich von Malie ein paar Surf-Tricks beibringen zu lassen. Sie ließ den Stoff fallen, als ihr etwas wundervoll Glitzerndes ins Auge fiel: ein überaus edler, doppelt gestärkter elfenbeinfarbener Satinstoff. Der perfekte Farbton für ein Hochzeitskleid. Sie stellte sich ein trägerloses Bustier-Mieder vor, das mit Kristallen, die das Licht einfingen, und feinster Spitze verziert war; unten sollte sich eine taillenbetonende Silhouette mit bodenlangem Rock und einer Schleppe anschließen, die hinter der Braut den Gang entlangglitt. Dramatisch. Schlicht. Raffiniert. Modern und doch zeitlos. Die Idee war bereits vollständig ausgereift in ihrem Kopf, alles, was sie tun musste, war, sie zu skizzieren.

»Oh«, seufzte sie. Der Satin war so schimmernd und überwältigend, dass es ihr den Atem raubte. »Wie viel kostet der?«

»Wunderschön, nicht wahr?« Betsys Blick wurde genauso schwärmerisch, wie Victoria sich ihren eigenen im Moment vorstellte. »Einhundertdreißig Pfund pro Meter.«

»Ein bisschen außerhalb meiner Preisspanne im Moment.« Was bedeutete: völlig unerschwinglich. Victoria legte den Stoff schnell zurück. Aber sie machte ein Foto von dem Etikett, damit sie es zu Hause an ihr Moodboard pinnen konnte, zusammen mit dem Entwurf, sobald sie ihn skizziert hatte. Wieder etwas, wofür sie sparen musste. Schon wieder. Es kam auf die Liste, auf der schon die Hawaii-Reise zu Malie stand, ein Trip nach Devon zu Lily und der Plan, sich mit der um die ganze Welt reisenden Zoe zu treffen. »Vicki, Liebes?« Betsys raue Stimme riss sie aus ihren Träumen. »Kannst du kurz auf den Laden aufpassen, während ich oben aufs Klo gehe? Ich bin im Moment die Einzige hier und der Verzweiflung nahe.«

»Klar doch. Mach dir ruhig auch eine Tasse Tee, wenn du schon mal oben bist. Ich bleibe gern noch eine Weile. Wahrscheinlich musst du mich eh aus dem Laden rauszerren, wenn du schließt.« Sie schlenderte zur Ladentheke und bestaunte dort eine kleine antike Zigarrenkiste, in der Vintage-Haarschmuck lag. Eine Spange aus Perlen, eingefasst in eine platinfarbene Blütenform, erregte ihre Aufmerksamkeit. Damit könnte Lily ihre Haare zusammenhalten, während sie im Restaurant arbeitete. Als Nächstes durchstöberte sie einige preisreduzierte Stoffrollen und fand weißes italienisches Leinen. Es fühlte sich kühl an, perfekt für ein luftiges Sommerkleid oder … Sie schluckte, als ihr erneut in den Sinn kam, was ihr in den letzten Stunden mehr als einmal durch den Kopf geschossen war. Das Hemd eines gewissen Mannes.

Sein Hemd. Das Hemd des Mannes, an den sie seit gestern Abend ununterbrochen dachte. Was dumm war. So dumm. Sie hatten sich ja nicht einmal richtig unterhalten.

Und wer machte einer Fremden überhaupt auf diese Weise einen Antrag?

Und warum? Er war nicht betrunken gewesen. Er hatte nicht verzweifelt ausgesehen – ganz im Gegenteil.

Sie musste sich ablenken. Zum ersten Mal seit Langem funktionierte der kreative Gedankentunnel nicht. Sie brauchte ihre Freundinnen. Wie spät war es … wo hielt sich Zoe gerade noch mal auf? Es war schwer, da auf dem Laufenden zu bleiben. Irgendwo in Mexiko … Sie checkte die Weltzeituhr-App. Für Malie war es noch zu früh am Morgen, aber zwei von dreien war besser als keine. Sie spürte ein freudiges Flattern im Magen, als sie ihr Tablet herauszog und den Gruppenchat-Button drückte. Lily meldete sich sofort. Wahrscheinlich, weil sie in der gleichen Zeitzone war. Noch wahrscheinlicher, weil um zwei Uhr nachmittags in ihrem Restaurant noch nicht so viel los war. Oder es nach dem Mittagsansturm gerade ruhiger wurde.

Ihr fröhliches, aber leicht gerötetes Gesicht füllte den Bildschirm aus. »Hey V! Wie kommt es, dass du an einem Samstag unterwegs bist?«

»Nur für ein paar Stunden. Ich muss später wieder in die Bar. Es ist schön, dich zu sehen. Wie läuft’s so?«

»Äh … Hallo?« Zoes grüne Augen kamen ins Blickfeld, dann eine Wange und ihr Rosenknospenmund. »Ich hoffe für dich, dass du was Spannendes zu erzählen hast. Es ist mitten in der Nacht.«

»Oh. Entschuldige, ich dachte, es sei neun Uhr morgens bei dir. Vielleicht liegt meine App falsch.«

Zoe blinzelte, strich sich das blonde Haar glatt und schielte auf den Bildschirm. »Neun. Genau. Also mitten in der Nacht.«

»Entschuldigung. Hab vergessen, dass du ’ne Nachteule bist.« Victoria versuchte zu erkennen, ob neben Zoe jemand im Bett lag. Die Kissenbezüge waren blütenweiß mit Stickereien an den Rändern. Teuer. War da ein Schatten? Ein Arm? Oder war es nur Wunschdenken, dass Zoe jemals jemandem erlauben würde zu sehen, was für ein Mensch sich da hinter den Narben verbarg?

Lilys Augen verengten sich. »Wo bist du, V? Sieht schmuddelig aus.«

»In einem Stoffladen beim Portobello Road Markt. Es ist nicht schmuddelig, es ist der reinste Himmel.«

Zoe rollte mit den Augen. »Ich hätte mir denken können, dass du entweder gerade von Stoffen umgeben bist oder in der Bar stehst. Du musst mal an die frische Luft, Mädchen, du siehst langsam aus wie ein Zombie.«

Victoria lachte, runzelte aber die Stirn. War sie so blass? Vielleicht sollte sie etwas weniger von ihrem hellen, aber interessant aussehenden Make-up auftragen. Es gehörte zu ihrem Vintage-Look, aber vielleicht hatte sie es auch übertrieben?

»Ich komm schon an die frische Luft. Bin gerade von der Notting Hill Gate U-Bahn-Station hochgelaufen.«

Sie betrachtete Zoes Grinsen und schüttelte den Kopf. »Wir können nicht alle von einem exotischen Strand zum nächsten flitzen, Hotels und Resorts rezensieren und auch noch dafür bezahlt werden.«

»Harter Job, aber irgendjemand muss ihn ja machen, oder?« Zoe gähnte. »Bist du etwa neidisch?«

»Nur ein bisschen. Dein Job ist nichts für mich, und du würdest umgekehrt meinen hassen. Du kannst das eine Ende einer Nähnadel ja nicht vom anderen unterscheiden.«

Zoe runzelte die Stirn und tat so, als wäre sie verwirrt. »Die haben verschiedene Enden?«

»Ja, und das eine ist ziemlich spitz. Ich finde es sehr schön, dass wir alle das tun, was uns glücklich macht.« Denn es hatte eine Zeit gegeben, in der das Glück für sie alle gefühlt in weiter Ferne gelegen hatte. Sie hatten jede auf ihre Weise darum kämpfen müssen, die neue Normalität zu akzeptieren, und sie war so stolz darauf, wie weit sie gekommen waren. »Apropos nähen … Zo, hier gibt es wunderschöne perlenbesetzte rosa Spitze. Ich könnte dir ein hinreißendes Kleid für eine Soiree nähen oder ein Captains-Dinner … oder was auch immer du in deinem Job so tun musst.«

»Ich bin auf einem Kreuzfahrtschiff. Ja, gerne. Bodenlang wie immer. Perfekt. Hat jemand in letzter Zeit was von Malie gehört? Sie ist gerade nicht im Chat, oder? Ich sehe auf meinem Bildschirm nur grüne Punkte neben Lily und V. Ach, und Lily, bist du gerade draußen?«

Lily lachte. »Nein. Ich bin in meinem Restaurant. Wir haben mit der Dekoration experimentiert. Im Moment versuchen wir es mit einer lebenden Wand.«

Victoria blinzelte, um es deutlicher sehen zu können. »Was um alles in der Welt ist das?«

»Das hinter der Theke ist eine Kräuterwand. Nur wie das mit der Bewässerung gehen soll, ist mir noch nicht klar.«

Bewässerung? Innen? Das war alles ein bisschen zu verwirrend für Victorias Hirn.

»Ja, es muss ja gegossen werden! Okay, das war’s, ich gehe in die Küche.« Kurz war es auf dem Bildschirm verschwommen, dann tauchte Lily wieder auf, umwerfend wie immer. Sie hatte ihr dunkles Haar mithilfe zweier Essstäbchen zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, ihre Augen leuchteten. »So ist es besser. Malie geht’s gut. Es ist auf Hawaii gerade wirklich Nacht, aber wir haben gestern miteinander gesprochen, nachdem ich das Restaurant geschlossen hatte. Die Surfschule läuft gut. Sie scheint glücklich dort zu sein.«

»Also, V, was ist zurzeit in Chelsea so los?« Zoe unterdrückte ein Gähnen.

Heiratsanträge. Victoria lehnte sich gegen einen hohen Hocker hinter der Ladentheke und verscheuchte das Bild dieses hinreißenden Körpers aus ihren Gedanken, der wie ein Geschenk in weißes Leinen verpackt war. Sie schaffte es aber nicht, ihr Lächeln zu verbergen. »Oh, das große Klatschthema ist im Moment, dass am Ende meiner Straße ein neues Kaufhaus eröffnet. Alle Ladenbesitzer in der Gegend kommen ständig in die Bar und beschweren sich, dass es ihnen die Kundschaft abwerben wird. Es klingt alles so düster, das können wir kurz vor Weihnachten gar nicht brauchen.«

»Vielleicht wird es ein allgemeiner Anziehungspunkt werden, der neue Kunden in die Gegend bringt, und alle profitieren davon?« Lily mit ihrem Geschäftssinn sah immer das Positive in allem.

»Das wäre super. Anscheinend ist der Besitzer ein richtiger Idiot und verscherzt es sich gerade mit allen. Es gab Probleme mit der Müllabfuhr oder besser gesagt mit der fehlenden Müllabfuhr. Das Ende der Straße sieht seit Monaten aus, als hätte da eine Bombe eingeschlagen. Und an alle Autos, die irgendwo in der Nähe der Grundstückseinfahrt geparkt sind, bringt eine private Firma Parkkrallen an und verlangt dann Wucherpreise fürs Abmontieren. Die Leute haben beobachtet, wie der Besitzer ab und zu rausgekommen ist, sich die Nummernschilder angesehen und dann telefoniert hat. Fünf Minuten später sind die dann mit den Parkkrallen angerückt. Und jeder, der mehr darüber rausfinden will, kriegt eine Verwarnung.«

»Klingt ja nach voll dem netten Typen.«

»Na ja, es war Peter, der sich beschwert hat, wahrscheinlich hat er nicht ganz die Wahrheit erzählt. Oder vielleicht hat er den Besitzer einfach gegen sich aufgebracht, wir sprechen hier schließlich von Peter.« Victoria dachte einen Moment lang nach und schnitt dann eine Grimasse. »Zwei Alpha-Löcher als Nachbarn. Na toll.«

Zoe setzte sich auf. »Du triffst Peter immer noch? Warum das denn?«

Victoria zuckte mit den Schultern und versuchte, fröhlich zu bleiben. »Hab kaum eine andere Wahl. Sein Laden ist gegenüber der Bar.«

»Du solltest in diesem Laden doch deine tollen Modelle verkaufen. Hatte er dir das nicht versprochen? Dass ihr beide Geschäftspartner würdet? Und dann hast du ihn beim Rumknutschen mit der Verkäuferin erwischt. Dreckskerl. Du solltest ihn wegen Vertragsbruchs verklagen.«

»Es war nur ein mündlicher Vertrag.«

»Und Lily sollte Alistair auch verklagen.«

Victoria warf Lily einen raschen Blick zu, denn sie wusste, dass dieses Gespräch für Lilys Geschmack langsam ein wenig zu intim wurde. Ihr Ex war mit einem Teil ihres Geldes abgehauen, und sie hatte beide nie wiedergesehen.

Lily schüttelte den Kopf, ihre Wangen röteten sich vor Scham. »Auf keinen Fall. Ich kann es mir nicht leisten, vor ein Bagatellgericht zu ziehen. Außerdem schäme ich mich so dafür, ich will nicht, dass jemand davon erfährt. Kannst du dir vorstellen, wie gern die klatschsüchtige Mrs. Whittaker im Dorf alles darüber wissen würde? Nein. Auf keinen Fall. Al ist weg und das Geld auch. Er und Peter sind beides Dreckskerle.«

»Scheint die einhellige Meinung zu sein.« Victoria nickte, dankbar für die unerschütterliche Unterstützung durch ihre Freundinnen. »Ja, komisch, was mir das Herz gebrochen hat, war nicht, ihn mit einer anderen Frau zu erwischen, sondern zu sehen, wie all die Pläne, die wir gemacht hatten, den Bach runtergingen. Ich dachte, ich würde endlich einen Verkaufsraum für meine Entwürfe bekommen – in Chelsea. Der Traum einer jeden Modedesignerin. Hab ich euch erzählt, dass er jetzt mit der Frau verlobt ist, mit der er mich betrogen hat?«

»Nein! Das ging aber schnell.« Zoe schien jetzt hellwach zu sein.

»Er meinte, man wisse es einfach, wenn man die Richtige gefunden hat – offenbar hat er gedacht, dass mich das interessiert.«

Erst Peter, und jetzt redete auch Sara über »den Einen«. So viele Leute glaubten, dass der oder die Richtige die Erfüllung in ihrem Leben bedeuten würde, dachte Victoria mit einem kleinen Ziehen in der Brust. Als ob Single sein so schlimm wäre. Sie mochte es. Sie mochte die Freiheit, mochte es, keine Kompromisse eingehen oder sich darüber Sorgen machen zu müssen, was der andere dachte. Sie mochte es, Entscheidungen für sich selbst zu treffen, zu tun, was sie glücklich machte. Auch wenn sie sich manchmal ein bisschen … einsam fühlte.

»Nach sechs Monaten Beziehung hast du echt mehr verdient«, sagte Lily.

»So lange hat er gebraucht, um herauszufinden, dass ich nicht die Richtige war. Stell dir das mal vor. Oder vielleicht lag es daran, dass ich ihm alles über unseren Unfall erzählt habe – und ich meine wirklich alles und was das für mich bedeutet. Da konnte er gar nicht schnell genug abhauen.«

Sie selbst hatte sich damit abgefunden, keine Kinder haben zu können. Es hatte einige Zeit gedauert, aber sie hatte es verarbeitet. Sie hatte gedacht, sie hätte jemanden gefunden, mit dem sie ihr Leben teilen könnte, weil er gar keine Kinder wollte … bis er dann auf einmal doch welche wollte. Und seither sah sie überall Babys und runde Bäuche und musste das alles noch einmal verarbeiten. Das ständige Konfrontiertsein mit dem, was sie nicht haben konnte, schmerzte sie sehr.

»Oh, Schatz.« Zoes Stimme wurde weicher. Diese Frauen waren die Einzigen, die sie wirklich verstanden. Sie waren dabei gewesen. Sie hatten all das gemeinsam durchlebt. »Oberflächlich ist noch ein viel zu harmloses Schimpfwort für ihn. Du solltest genug sein. Du bist genug.«

Das war sie, und sie wusste es. Victoria maß ihren Wert nicht daran, ob sie Kinder haben konnte oder nicht. Schade, dass jemand anderes es tat. »Die Sache ist, ich kann es ihm gar nicht verdenken, dass er sich überrumpelt gefühlt hat. Wenn ich eine genaue Vorstellung von der Zukunft hätte und jemanden treffen würde, der nicht in dieses Bild passt, wäre ich mir auch nicht sicher, ob ich bei ihm bleiben würde.« Besser, ab und zu einsam zu sein, als einen weiteren Herzschmerz zu riskieren oder enttäuscht zu werden oder sich irgendwie … weniger wert zu fühlen.

»Er hätte schon taktvoller sein können. Er hätte dich nicht betrügen sollen.« Zoe war immer bereit, sich für Victoria einzusetzen, selbst nach allem, was passiert war.

»Mir geht’s gut. Es ist alles okay. Männer stehen im Moment nicht auf meinem Plan.«

»Das kannst du laut sagen.« Zoe nickte.

»Auf jeden Fall.« Lily nahm ein Weinglas in die Hand und begann es zu polieren. »Aber wie erbärmlich das von Peter war. V, wenn er dich nicht um deiner selbst willen mag und nur für das, was du ihm geben kannst, ist er nicht der Richtige für dich. Nicht in der Lage zu sein, Kinder zu bekommen, sollte keine Rolle spielen, verdammt.«

»Ich fühle mich aber irgendwie wie eine Adoptivmutter für all die Jugendlichen, die ich unterrichte. Mein Leben ist interessant und ausgefüllt. Es macht Spaß. Es ist gut.« Je mehr sie es sich einredete, desto mehr würde sie es glauben. Aber dass eine Beziehung auf so spektakuläre Weise geendet war, dass sie ihren Freund in flagranti mit einer Frau erwischt hatte, die er gerade erst kennengelernt hatte, dazu noch auf Victorias Schneidetisch in ihrem Studio, das hatte doch ein wenig an ihrem Ego genagt. Es fühlte sich an, als hätte er es irgendwie geplant, um zu beweisen, dass sie nicht genug war. Unzulänglich. Unvollkommen. Im Nachhinein hatte er behauptet, Victoria sei diejenige in ihrer Beziehung gewesen, die nicht ehrlich gewesen war. Dass sie ihm etwas vorgemacht und ihn glauben lassen hatte, sie hätten eine gemeinsame Zukunft. Und dann hätte sie ihm diese weggenommen, als sie ihm ihr Geheimnis anvertraut hatte. Sie konnte eben keine Kinder bekommen. So wie manche andere Frauen auch nicht. Sie war nicht die einzige Person im ganzen Universum, die dazu nicht in der Lage war. Doch er hatte ihr das Gefühl gegeben, dass sie eine Art nutzloser Sonderling sei.

Sie kramte in ihrem Hirn nach positiven Vorkommnissen. »Also die Aussicht auf einen neuen Laden, der ihnen die Kunden stiehlt, bringt die Ladenbesitzer wohl dazu, mehr zu trinken. Das Geschäft hat in letzter Zeit regelrecht geboomt. Ich hatte gar keine Zeit, über Peter und all das nachzudenken. Ich glaube nicht, dass wir jemals so viel zu tun hatten. Na ja, außerdem ist bald Weihnachten, deshalb werden bei uns auch eine Menge Büropartys gefeiert.« Ihre Gedanken wanderten zurück zur letzten Nacht.

Der Antragsteller hatte nicht an einer Büro-Weihnachtsfeier teilgenommen. Vielleicht war er versetzt worden? Vielleicht hatte er gerade mit jemandem Schluss gemacht. Vielleicht … warum interessierte sie das überhaupt? Am Ende war er doch nur wieder wie alle anderen.

Männer stehen nicht auf dem Plan. Aber ein bisschen Schaufensterbummel schon.

Lilys Mundwinkel zuckten. »Steht Flirten auch nicht auf dem Plan? Denn das vermisse ich schon sehr.«

»Ooh? Mit jemand Bestimmtem etwa?«, fragte Victoria, dankbar, dass sie nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stand.

»Noch nicht«, sagte Lily. »In einer Stadt, in der ich alles über alle Männer und deren Mütter weiß? Sehr unwahrscheinlich!«

Zoe nickte mit großen Augen. »Flirten ist okay. Sogar mehr als das. Ja. Flirte ruhig.«

»Was ist mit Sex?«, fragte Lily, während sich ihre Wangen wieder rosa färbten. Victoria wollte herausfinden, warum sie gerade diese Frage stellte. Hatte Lily etwas Neues zu erzählen? Ihre Freundin lächelte geheimnisvoll. »Nur so für die Zukunft.«

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