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Wir, Mädchen in Auschwitz

Als Buch hier erhältlich:

Als Andra und Tatiana 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, waren die beiden nur vier und sechs Jahre alt. Gemeinsam berichten die Schwestern von dem, was sie erleben mussten: die Kälte, der Hunger, das Spielen in Schlamm und Schnee, die vielen toten Körper und der ständig rauchende Kamin. Ihr Cousin Sergio war zuerst im selben Kinderblock untergebracht, wurde dann aber ins KZ Neuengamme bei Hamburg geschickt. Er ist eins der zwanzig ermordeten Kinder vom Bullenhuser Damm.

In ihrem bewegenden Memoir erzählen die heute über 80-Jährigen auch von der Nachkriegszeit im englischen Kinderheim, der Zusammenführung mit den Eltern und dem Umgang mit der Last des Erlebten. – Ein wichtiges Zeugnis zweier der wenigen, die den Holocaust als Kinder überlebt haben, und eine starke Stimme in Zeiten des Rechtsrutsches in Europa.


  • Erscheinungstag: 25.05.2020
  • Seitenanzahl: 184
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011728

Leseprobe

DIE ÜBERLEBENSGESCHICHTE
ZWEIER SCHWESTERN

Andra und Tatiana Bucci

WIR, MÄDCHEN
IN
AUSCHWITZ

Aus dem Italienischen von
Ulrike Schimming

Wir, Mädchen in Auschwitz

Wir widmen dieses Buch allen Kindern von Auschwitz, den wenigen, die – wie wir – überlebt haben, und den vielen, die es nicht geschafft haben.

Mein Name ist Liliana Bucci, aber alle nennen mich Tatiana. Ich wurde am 19. September 1937 in Fiume geboren und bin eines der wenigen Mädchen, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben.

Ich bin Alessandra Bucci, aber schon immer werde ich Andra gerufen. Ich wurde am 1. Juli 1939 in Fiume geboren und bin wie meine Schwester Tati eines der wenigen Mädchen, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben.

 

Eine sehr lange Geschichte

Von Russland nach Fiume

Unsere Geschichte beginnt vor sehr langer Zeit. Giovanni Bucci, unser Vater, wurde in Fiume in einer katholischen Familie mit istrischen Wurzeln geboren. 1928 lernte er unsere Mutter, Mira Perlow, kennen. Die beiden verliebten sich und heirateten sieben Jahre später. Mira, 1908 in einer jüdischen Familie geboren, kam als kleines Mädchen nach Fiume. Ihre Eltern waren Moise Perlow und seine Frau Rosa, unsere geliebte Großmutter, mit der wir aufgewachsen sind, bis Auschwitz sie uns genommen hat. Großmutter Rosa wurde 1883 in der Familie Farberow geboren, die damals im Dorf Vidrinka lebte, an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland. Vidrinka gehörte damals zu Russland, so geht es aus den Ausweisen von Rosa und ihrer Tochter Mira hervor. Daher sprach unsere Großmutter als Kind Russisch (und natürlich Jiddisch).

Um 1910 – das genaue Jahr wissen wir nicht – heiratete Großmutter Moise Perlow. Wegen der vielen Pogrome, die zu jener Zeit in Osteuropa an Juden verübt wurden, verließ die Familie Vidrinka. So begann Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die lange Irrfahrt unserer Familie nach Westeuropa, eine nicht immer einfache Reise über Grenzen hinweg und durch Länder, deren Völker den Juden oftmals feindselig gegenüberstanden. Auf den Pferdewagen saßen die verschiedenen Generationen, angefangen bei unseren Urgroßeltern Lazzaro und Lea Schwarzman – vor Jahren entdeckten wir ihr Grab auf dem jüdischen Friedhof in Fiume – und ihren Kindern: unsere Großmutter Rosa mit ihrem Ehemann Moise Perlow; Großtante Rebecca mit ihrem Ehemann Salomon Plotkin; und eine ganze Schar an Kindern und Enkeln, Neffen und Nichten, Cousins und Cousinen.

Diese Großfamilie lebte eine Weile in Ungarn, wo einige Verwandte von Rosas Ehemann eine Bonbonfabrik besaßen oder zumindest leiteten. Doch man blieb nur kurz, denn schon bald beschloss die Karawane weiterzuziehen. Vielleicht dachten sie, sie könnten möglicherweise in Etappen nach Palästina ziehen, oder sie suchten einfach nur nach neuen Möglichkeiten. Schließlich zog die Familie nach Fiume, dem heutigen Rijeka in Kroatien. Diese Stadt hatten sie sich wegen ihrer Lage am Meer als Ziel ausgesucht. So jedenfalls hat es uns Tante Gisella immer erzählt, die sich an jene Tage gut erinnerte, obwohl sie selbst noch ein Kind gewesen war. Es war eine endlose Reise, sagte sie immer.

Noch bevor der Erste Weltkrieg die Landkarten des alten Kontinents für immer verändern, Grenzen und nationale Zugehörigkeiten verschieben sowie Reiche verschwinden lassen sollte, gelangten die Perlows also von Russland nach Fiume. Hier trennte sich unsere Familie zum ersten Mal, was zur damaligen Zeit eigentlich nichts Ungewöhnliches war. Die Plotkins wanderten nämlich von Fiume nach Amerika aus. Zuerst Onkel Salomon, später seine Frau und ihre Kinder. Sie machten in New York ihr Glück. Allerdings verloren wir nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Tod von Großmutter Rosa und später nach dem Tod unserer Tanten den Kontakt zu unseren amerikanischen Verwandten.

Wir haben sie erst vor ein paar Jahren beinahe zufällig wiedergefunden, als Andras Tochter Sonia im Internet unseren Familienstammbaum zu rekonstruieren versuchte. Amerikanische Nachfahren der Plotkins schrieben sie an: »Könnte es sein, dass wir vielleicht verwandt sind?«

Von den sechs Geschwistern, die Russland verlassen hatten, waren nur unsere Großeltern in Fiume geblieben, alle anderen gingen in die USA. Großmutter Rosa jedoch wollte ihre Kinder auf einfache, aber anständige Weise in Fiume großziehen. Sie bekam Hilfe von der jüdischen Gemeinde der Stadt und von den amerikanischen Verwandten, die hin und wieder etwas schickten.

Fiume gehörte bis 1919 zur österreichisch-ungarischen Monarchie und von 1924 bis 1945 zu Italien, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne nach Ende des Ersten Weltkriegs. Wir kamen Ende der 1930er-Jahre auf die Welt und fühlten uns seit jeher als Italienerinnen, doch in gewisser Weise sind unsere Leben mit dem Untergang der großen Königreiche verbunden.

Großmutter Rosa war überaus religiös. Sie ging regelmäßig in die Synagoge, bis die Nazis das Gebäude im Januar 1944 in Brand steckten. In Fiume konnten die Bewohner ihre Religion eigentlich ungestört praktizieren. Österreich-Ungarn hatte zwar Tausende von Nachteilen, aber auch diese Besonderheit: Es ließ den Menschen ihre Nachnamen, es zwang sie nicht, glaubenskonform zu heiraten, und alle durften ihren Glauben frei ausüben. Katholiken, Juden, Muslime, Orthodoxe, Protestanten wuchsen gemeinsam auf. Die Ressentiments und die Diskriminierungen, die es trotz allem zwischen den Menschen gab (sie existierten leider seit jeher), gingen niemals von den Herrschenden aus. Im Gegenteil. Diese Tatsache ist sehr wichtig, denn nur so konnte Großmutter ihre Kinder in Freiheit aufziehen. Wir vermuten, dass sie aus diesem Grund in Fiume blieb. Die Atmosphäre in Russland, das Familie Perlow verlassen hatte, war von Angst geprägt: Juden wurden dort verfolgt, und wer Sicherheit und Frieden finden wollte, musste fliehen. Das war in Fiume anders.

In Österreich-Ungarn herrschte damals noch die besondere Stimmung, die Mitteleuropa in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts prägte. Zwar besaß dieses Land viele Nachteile und Einschränkungen, doch unsere Familie konnte sich dort niederlassen und frei fühlen.

Unsere Mutter Mira wuchs in einem kulturell offenen Klima auf. Dieses Erbe hat sie uns weitergegeben: Mama hat uns durch ihre Erziehung Toleranz und Respekt beigebracht. Sie hat uns gelehrt, die Dinge und unser Leben offen zu betrachten. Auf diesen Prinzipien hat sie auch später bestanden, trotz all der Dinge, die wir während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten erleben mussten. Es war eine sehr wichtige Lehre, die nicht nur unseren Charakter geformt, sondern uns zu denen gemacht hat, die wir heute sind: Weltbürgerinnen und nicht nur Italienerinnen.

In der großen Wohnung in Fiume lebte Großmutter Rosa mit ihren sechs Kindern: Sonia, Gisella, Aaron, unsere Mutter Mira, Paola und Giuseppe, genannt Jossi. Alle waren zwischen 1902 (Tante Sonia) und 1913 (Onkel Jossi) geboren. Sie wuchsen wie ganz gewöhnliche Menschen auf, mit Zielen, Wünschen, Problemen und Widersprüchlichkeiten. Onkel Aaron beispielsweise war sehr fromm, im Gegensatz zu unserer Mutter, die nur an den höchsten Feiertagen in die Synagoge ging oder wenn Großmutter sie darum bat. Außer Mama und Tante Gisella wurden alle unseren Verwandten von den Nazis umgebracht.

Mama lernte unseren Vater also 1928 kennen. Giovanni, genannt Nino, war am 24. Juni 1906 in Fiume geboren worden und somit zwei Jahre älter als sie. Papa war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Er war ein schöner und sehr liebevoller Mann. Seine Familie hatte istrische Wurzeln: Ursprünglich lautete ihr Nachname Bucich, der 1938 durch eine weitere Fügung der Geschichte, der unsere Familie ausgesetzt war, in Bucci italianisiert wurde.

Seine Mutter, unsere Großmutter väterlicherseits, hieß Maria Salomon. Sie war katholisch, hatte aber vermutlich ebenfalls jüdische Wurzeln. Großmutter Maria betrieb eine Osteria, weshalb unser Vater das Kochen lernte. Ihren Ehemann, Großvater Tommaso, haben wir nie kennengelernt. Er war Seemann und starb während eines Holztransportes in der Straße von Messina, als Großmutter mit ihrem letzten Kind schwanger war. Papa hatte einen Bruder, Tommaso, der als Elektriker arbeitete, und eine Schwester, Antonietta, genannt Tante Tonci. Sie kam um 1919 auf die Welt, und wir waren ihr lange sehr verbunden.

Großmutter Maria war praktizierende Katholikin, vielleicht liebte sie uns deshalb nicht besonders: Sie hat die Ehe zwischen Papa und Mama nie akzeptiert. Eine jüdische Frau in ihrer Familie! Das gab sie uns bei vielen Gelegenheiten zu verstehen.

Unsere Eltern haben sich am Fuß des Uhrturms in Fiume kennengelernt, einem beliebten Treffpunkt der Jugend in jener Zeit. Vielleicht ist er es heute auch noch. Vor ihrer Hochzeit waren sie sieben Jahre verlobt. Papa arbeitete in einer Konditorei und spielte Fußball im Sportverein Fiumana und der italienischen Nationalmannschaft der Wehrpflichtigen. Er sagte immer, dass er auch für Bologna hätte spielen können, damals eine der besten Mannschaften Italiens. Doch das Leben hatte andere Pläne mit ihm, denn er heuerte als Koch auf einem Schiff an. Er liebte Schiffe. Und er liebte das Meer über alles. Noch in den letzten Jahren seines Lebens, als er bereits im Ruhestand war, ging er immer gleich nach dem Aufstehen auf den Balkon und blickte aufs Meer. Das war das Erste, was er am Tag unternahm.

Viele Jahre lang fuhr er auf den Handelsschiffen der Triestiner Lloyd zur See. Er segelte Richtung Osten: nach Afrika, dann durch den Sueskanal bis nach Indien. Dieser Beruf, diese Leidenschaft begleiteten ihn sein ganzes Leben lang. Während er auf See war, schrieb er Mama und uns immer viele Briefe. Diese Angewohnheit hatte er schon vor dem Krieg und nahm sie danach wieder auf, als er erneut zur See fuhr.

Erinnerungen an ihn vor dem Krieg haben wir nicht. Zum einen waren wir dafür noch zu klein, zum anderen war er ständig unterwegs und kam bereits in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft. 1940, als Italien in den Konflikt eingriff, segelte er gerade vor Südafrika. Sein Schiff, die Timavo, wurde vom Kapitän versenkt, damit die Engländer es nicht beschlagnahmen konnten. Obwohl Papa Zivilist und kein Soldat war, wurde er mit den anderen Italienern in das Gefangenenlager von Koffiefontein in der Nähe von Johannesburg gebracht. Dort blieb er bis 1945. Im Lager kümmerte er sich um die Mensa und kochte. Von unserer Deportation erfuhr er, während er selbst Gefangener war. Seine Familie schrieb ihm von unserem Schicksal. Wer weiß, was er beim Lesen dieses Briefes gedacht und empfunden hat.

Wir waren damals noch sehr klein. Doch in unserer Familie hatten alle ein sehr inniges Verhältnis zueinander. In den Jahren vor unserer Deportation, während Papa in Gefangenschaft war, ließ Mama uns jeden Abend ihr Hochzeitsfoto küssen. Sie zeigte auf unseren Vater und sagte: »Denkt immer an euren lieben Papa.« Genau dieses Ritual und dieses Foto hat uns später, nachdem der Horror von Auschwitz überstanden war, wieder nach Hause geführt.

1938: die Familie und die Rassengesetze

An unsere frühe Kindheit in Fiume haben wir einige wenige sehr klare Erinnerungen, aber auch andere, ziemlich verschwommene. Viele Dinge haben uns Mama und Tante Gisella später erzählt. Wenn wir heute daran denken, sehen wir aber sofort die Räumlichkeiten unserer Wohnung vor uns: einen langen Korridor, von dem die verschiedenen Zimmer abgingen. Wir lebten alle zusammen in der Via Milano 15, im Erdgeschoss: wir beide, Mama, Papa, wenn er nicht zur See fuhr, Oma Rosa, Onkel Jossi und unser Cousin Mario, der Sohn von Tante Sonia. Er war etwa zehn Jahre älter als wir und 1928 geboren. Als Tante Sonia wegen ihrer Arbeit nach Triest zog, blieb Mario bei Oma Rosa.

In Fiume hatte Mama eine Lehre als Schneiderin gemacht, Tante Gisella war Hutmacherin und Onkel Jossi Friseur geworden. Mama hatte ein sehr enges Verhältnis zu Tante Gisella, die 1937 Edoardo De Simone heiratete. Sie und Edoardo hatten sich ebenfalls in Fiume kennengelernt. Doch Tante Gisella zog nach Neapel zu ihrem Mann, der wie Papa auf einem Schiff arbeitete. Noch im selben Jahr wurde unser Cousin Sergio geboren.

Oma Rosa besuchte – wie bereits erwähnt – zwar regelmäßig die Synagoge und die Gemeinde, doch war sie deshalb nicht engstirnig oder weniger offen gegenüber anderen. Ganz im Gegenteil. Sie war eine ziemlich intelligente Frau, und obwohl sie sehr gläubig war, hatte sie anders als Oma Maria nichts dagegen, dass ihre beiden Töchter, Mira und Gisella, Katholiken heirateten.

Unsere Familie war nicht reich, aber wir führten ein anständiges Leben. Wir waren immer gut gekleidet, auch weil Mama als Schneiderin viel daran lag, dass wir ordentlich und gepflegt herumliefen. Die schönen Mäntel, die wir auf dem Foto mit Sergio tragen, hat sie uns genäht. Sie hatte sich gut in der Stadt eingelebt, hatte viele Freundinnen – die meisten außerhalb der jüdischen Gemeinde –, die ihr auch nach dem Erlass der Rassengesetze von 1938 zur Seite standen. Es ist also kein Zufall, dass sie unseren Vater geheiratet hat, einen Atheisten aus einer katholischen Familie. Die beiden wurden standesamtlich getraut.

Im Sommer fuhren wir mit Mama und Oma ans Meer. Immer an denselben Kieselstrand, gleich hinter der Stadtgrenze. An unseren Geburtstagen feierten wir ein Fest: Jedes Jahr ließ Mama eine Fotografie von uns machen und notierte auf der Rückseite das Datum. Ihr gefiel das. Sie hatte eine Schwäche für Fotografie. Diese Tradition, unsere Geburtstage im Bild festzuhalten, als wären es wichtige Ereignisse, hat Tati später viele Jahre mit ihren Söhnen weitergeführt. Damals jedoch hat ein Fotograf die offiziellen Geburtstagsfotos von uns gemacht. Für diesen Anlass zog Mama uns immer wunderschön an: Es war ein besonderes Ereignis.

Als geschickte Schneiderin hat sie außerdem immer alles ausgebessert und umgearbeitet. Auch nach dem Krieg, als unsere amerikanische Verwandten Pakete voller Stoffe und Kleidungsstücke schickten, hat Mama alles für unsere Bedürfnisse zugeschnitten und umgenäht. Einmal fanden wir in einem Paket Papiertaschentücher, und wir Mädchen sagten: »Ach, die Amerikaner müssen ja wirklich arm sein, dass sie sich nicht einmal Stofftaschentücher leisten können!«

Wir führten also ein ganz normales Leben, jedenfalls bis 1938, als sich um uns herum alles ganz rasch wandelte. Zuerst kamen die Rassengesetze, dann der Krieg und die Deportation – und veränderten alles. Für immer.

Das erste Zeichen war die Italianisierung unseres Nachnamens. Papa wurde zu seinem Chef gerufen, der ihn zwang, seinen Namen von Bucich in Bucci zu ändern. Anderenfalls hätte er nicht wieder auf dem Schiff anheuern dürfen. Es war die erste, unmittelbare Folge der Italianisierungspolitik, die Istrien von dem faschistischen Regime aufgezwungen wurde.

Man forderte Papa zudem auf, in die faschistische Partei einzutreten. Für ihn als Sozialisten war es eine unglaubliche Zumutung, zu den Faschisten wechseln zu sollen (später nannte er sich »Nennianer«, einen Anhänger des Sozialisten Pietro Nenni). Doch wie so viele andere hatte auch er keine Wahl: Er musste schließlich eine Familie ernähren. Es war ein Zeichen für eine unaufhaltsame Entwicklung.

Das zweite Zeichen dafür, dass sich die Zeiten grundlegend änderten, war die Taufe von Mama. Der Erlass der Rassengesetze stand kurz bevor, und mit einem Mal wurde Italien zu einem feindlich gesinnten Land. Daher beschloss sie, sich selbst und Tatiana im August 1938 taufen zu lassen. Andra wurde gleich nach ihrer Geburt getauft: Es war der verzweifelte Versuch, uns vor dem Lauf der Geschichte – die Gesetze traten im September 1938 in Kraft – und der wachsenden Feindseligkeit gegenüber den jüdischen Gemeinden in Italien zu bewahren.

Mit den Gesetzen von 1938 veränderte sich auch das Leben in unserer Familie. Alle unsere Onkel verloren ihre Arbeit, und Tante Sonia musste aus Triest wieder zu uns ziehen. Unser Cousin Mario wurde von der öffentlichen Schule verwiesen und musste ein Lehrinstitut der jüdischen Gemeinde von Fiume besuchen.

Tatiana hingegen konnte noch in den Kindergarten gehen, was wir nur durch ein paar Fotos wissen, denn wir haben nur sehr wenige Erinnerungen an jene Zeit. Tati weiß aber noch, dass sie an einem Nachmittag ununterbrochen weinte, weil Mama sie ein bisschen zu spät vom Kindergarten abgeholt hatte.

Die Stimmung zu Hause wandelte sich schnell, und wir erlebten schwierige Monate. Aber eigentlich waren wir das schon gewohnt: Unsere Familie wurde erneut verfolgt. Wir werden nie vergessen, dass Mussolini selbst die Rassengesetze verkündete und zwar in Triest, quasi gleich um die Ecke von unserem Zuhause in Fiume. Es war, als würden wir von einem Wirbel mitgerissen, aus dem es kein Entkommen gab. Dabei wussten wir damals noch nicht, dass die Zukunft noch viel schlimmer und dramatischer werden sollte – und dass Mamas Versuch, uns mithilfe der Taufe zu retten, vergeblich gewesen war.

Inzwischen war der Krieg nun auch in Italien angekommen. Wie bei allen fehlten auch bei uns die Nahrungsmittel, und wir kämpften mit den Problemen, die der Konflikt in Europa mit sich brachte: Inflation, Rationierung, Schwarzmarkt. Mit Papas Lohn, der zum Glück weiter gezahlt wurde, obwohl er weit weg und in Kriegsgefangenschaft war, konnten wir gerade so eben überleben.

Nach dem 8. September 1943, dem Waffenstillstandsabkommen zwischen den Alliierten und Italien, veränderte sich die Lage noch ein weiteres Mal: Fiume wurde zusammen mit den Provinzen Udine, Triest, Gorizia, Pula und Ljubljana zur Operationszone Adriatisches Küstenland vereint und einer deutschen Militärverwaltung unterstellt. Im Chaos und Durcheinander des Herbstes 1943 verpasste Tati die Aufnahme in die erste Klasse. Wir erinnern uns noch gut, wie wir im Winter 1943/44, vor unserer Verhaftung, immer in die Schutzräume gerannt sind. Dort gab es einen Soldaten, der uns mochte und uns immer Bonbons schenkte.

Onkel Edoardo, Tante Gisellas Mann, der zum Militär eingezogen worden war, geriet nach dem 8. September in die Hände der Deutschen und wurde in ein Gefangenenlager gebracht, in dem er bis zum Ende des Krieges inhaftiert blieb. Auch deshalb beschloss Tante Gisella, die im Sommer mit unserem Cousin Sergio nach Fiume gekommen war, nicht nach Neapel zurückzukehren. Denn sie konnte ihren Mann dort ja nicht in die Arme schließen. Wir wurden also zu einer Großfamilie, allerdings ohne die beiden Seemänner – Papa und Onkel Edoardo –, die weit weg in Gefangenschaft waren. Im Nachhinein war Tante Gisellas Entscheidung, in Fiume zu bleiben, ein tragischer Fehler, denn die Alliierten sollten ganz Süditalien schon bald befreien. Nach dem 8. September war Italien zweigeteilt: Der Süden war bereits befreit, während nördlich von Cassino das restliche Land von den Nazis besetzt war.

Diese Besetzung ging der Deportation der italienischen Juden in die Vernichtungslager voraus, die überall auf dem europäischen Kontinent, wo die Deutschen und ihre Verbündeten herrschten, errichtet worden waren. So legte sich das Netz, mit dem die Juden gefangen werden sollten, auch über Fiume. Wäre Tante Gisella in Neapel geblieben, wäre die Geschichte unserer Familie, vor allem die von Sergio, vermutlich ganz anders verlaufen. Aber niemand kann ihr deshalb einen Vorwurf machen. Niemand kennt sein Schicksal, erst recht nicht in einem Weltkrieg. Daher war es nur verständlich, dass sie als Frau, allein mit einem kleinen Kind, die ihr fremde Stadt verließ und nach Hause zu ihrer Mutter und der eigenen Familie fuhr.

Der Sommer 1943 in Fiume war sehr heiß, so jedenfalls erinnern wir uns. Es war der erste, in dem wir wegen des Krieges nicht ans Meer konnten. Um uns etwas zu erfrischen, steckte Oma uns drei, also uns beide und unseren Cousin Sergio, in eine Wanne mit kaltem Wasser. Das sind unsere ersten Erinnerungen an Sergio. Für uns Kinder war der Sommer trotz allem fröhlich, denn wir ahnten ja nicht, was um uns herum geschah und welches Schicksal noch auf uns wartete. Es war der letzte Sommer, den wir alle zusammen verbrachten, während Europa brannte.

Im Winter 1943/44 flüchtete ein Teil unserer Familie aus Fiume und versuchte so, der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Onkel Aaron, seine Frau Carola und ihr Sohn Silvio, der genauso alt war wie Tati, konnten sich eine Zeit lang in Grisignano di Zocco verstecken, einem kleinen Dorf in der Nähe von Vicenza. Mit dabei waren auch Tante Paola und Mario, der damals sechzehnjährige Sohn von Tante Sonia. In dem kleinen Dorf bildete sich ein Netzwerk, dem es ein knappes Jahr gelang, eine jüdische Familie zu schützen und diesen fünf Menschen zu helfen. Heute gibt es in Grisignano di Zocco ein kleines Museum, das an diese Ereignisse und die großartige Solidargemeinschaft von damals erinnert.

Unsere Verwandten wurden jedoch im November 1944 aufgegriffen, weil sie von ein paar Italienern denunziert worden waren. Onkel Aaron und die anderen wurden von den Deutschen zunächst nach Ravensbrück gebracht, da gegen Ende 1944 die Transporte nach Birkenau bereits eingestellt worden waren. Sie starben allerdings an ganz verschiedenen Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten: Aaron und unser Cousin Mario in Sachsenhausen im April 1945; Carola, Silvio und Paola in Bergen-Belsen, nur wenige Wochen vor der Befreiung. Unsere Cousine Kitty Braun Falaschi, die Nichte von Onkel Aaron, die ebenfalls mit ihnen deportiert wurde, das Lager aber überlebte, erzählte uns später, dass der kleine Silvio während eines Transportes in den Armen seiner Mutter Paola starb. »Endlich«, hatte sie geseufzt.

Die Verhaftung

Auch Mama wollte für uns beide ein Versteck finden und wandte sich an Oma Maria, die viele Leute in den umliegenden Dörfern von Fiume kannte. Doch niemand half uns.

Wir wissen nicht mehr, an welchem Tag genau wir verhaftet wurden. Aber wir wissen, dass wir am 29. März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden. Das hat Mama uns erzählt. Die Nazis müssen also in der zweiten Märzhälfte 1944 in unsere Wohnung eingedrungen sein.

Die erste Erinnerung an diesen Abend sind die Geräusche, die Schreie und der Krach, die von nebenan in unser Schlafzimmer dringen. Dann kommt Mama völlig außer Atem zu uns gerannt. Es ist ein Bild, das sich uns eingebrannt hat. In größter Eile zieht sie uns an: Wir müssen los, weg von hier. Wir fragen: Wohin denn? Warum denn? Doch nicht einmal sie hat eine Antwort darauf.

Wir begreifen nicht, was passiert. Andra hat etwas Fieber, noch von den Windpocken, die sie in den Tagen zuvor gehabt hat. Dann schwenkt unsere Erinnerung auf den gedeckten Tisch. Es ist wahrscheinlich noch gar nicht so spät am Abend, als sie uns holen. Das haben wir mit den Jahren rekonstruiert. Mama meinte immer, es wäre so gegen 21 Uhr gewesen. Wir sind eine normale Familie, die zu Abend isst, nachdem die Kinder im Bett sind. Ein Abendessen, das nie verspeist wurde.

Die nächste, vielleicht noch stärkere und einprägsamere Erinnerung ist die an unsere Großmutter. Unsere geliebte Oma Rosa, schwarz gekleidet, wie es damals bei den alten Frauen und Witwen üblich war, kniet auf dem Boden, weint und fleht einen großen, gnadenlosen Mann an. Unbeweglich steht er vor ihr. Sie bittet ihn inständig, die Kinder zu verschonen; die Männer sollten die Erwachsenen mitnehmen, aber nicht die Kinder. Was haben die Kleinen denn getan? – Als ob sie, die Erwachsenen, jemals etwas getan hätten ... Wir beide haben keine Angst, sondern können es einfach nicht glauben: So haben wir Oma Rosa noch nie erlebt. Sie hat noch nie vor uns geweint. Tati erinnert sich, dass sie keine Angst empfunden hat, sondern nur Schmerz, Großmutter so zu sehen.

Jahre später haben wir begriffen, was uns damals unverständlich, ja geradezu geheimnisvoll vorkam. Großmutter musste damals schon vieles, wenn nicht gar alles verstanden haben. Vielleicht hatte sie auch geahnt, was passieren würde. Möglicherweise erinnerte sie sich an ihre Flucht vor den Pogromen in Osteuropa, vermutlich hatte sie Gerüchte gehört, die sich um das Verschwinden der Juden rankten und die einen Teil unserer Familie veranlasst hatte, sich zu verstecken. Oder vielleicht ahnte sie etwas wegen eines Vorfalls, der wenige Tage vor unserer Verhaftung geschehen war. Mama hat es uns später erzählt: Oma Rosa hatte am Fenster unserer Wohnung gestanden und den Mann vorbeigehen sehen, der uns vermutlich verraten hat. Er war kein Jude, aber er arbeitete in der Synagoge und kannte daher viele Familien aus der Gemeinde. Er hatte Großmutter beruhigt: Wir wären eine Familie aus einfachen Verhältnissen und hätten nichts zu befürchten. War das vielleicht eine Falle gewesen? Eine Art Täuschung, damit sie nicht über eine Flucht nachdenken würde?

Mama beharrte darauf, dass während unserer Verhaftung auch »unser« Spion dabei gewesen wäre. Vermutlich hatte er uns verkauft, doch darüber haben wir nie Genaueres erfahren. Vielleicht war dieser »Signore« mehr ein »Nutznießer« als ein Denunziant, der den Deutschen half und Hinweise über Juden lieferte. Woran wir uns auf jeden Fall sehr gut erinnern, ist, dass an dem Abend unserer Verhaftung Nazis und Faschisten in unsere Wohnung eindrangen. Deutsche und Italiener. Wir wurden deportiert, weil italienische Faschisten den Nazis halfen.

Und so werden wir fortgezerrt: wir beide, Mama, Oma Rosa, Tante Gisella, Sergio, Tante Sonia und Onkel Jossi. Wir verlassen das Haus so überstürzt, dass wir praktisch nichts mitnehmen können. Gewaltsam werden wir auf einen Lastwagen verfrachtet. Wir wissen nicht, was für eine Marke oder was für ein Modell es war, aber er war groß genug, dass wir alle sitzen konnten, wir und unsere Aufseher. Wir erinnern uns auch an das Geschrei, die Befehle, die Rufe auf Italienisch und auf Deutsch. In Susak verbringen wir die Nacht, wie Mama uns später erzählt. In diesem kleinen Weiler in der Nähe von Fiume gab es ein Gebäude, wo die SS die Gefangenen verhörte, bevor sie in die Risiera, die Reismühle von San Sabba, geschickt wurden. Die Aktion wurde von dem Österreicher Franz Stangl geleitet, der bereits Lagerkommandant im Vernichtungslager Sobibór in Polen gewesen war.

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