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Wir zwei für alle Zeit

Als Buch hier erhältlich:

Ihre Begegnung ist Schicksal ….

Mitten auf einer Party trennt sich Ericas Freund von ihr, dabei wollte sie eigentlich nicht zu der Feier gehen. Doch dann trifft sie Daniel, und der Abend verändert ihr Leben für immer. Bei ihm spürt sie sofort eine Verbundenheit, ihm vertraut sie ihr größtes Geheimnis an. Erica hat eine einzigartige Gabe, sie kann in Paralleluniversen eintauchen und beobachten, wie ihr Leben verliefe, wenn sie andere Wege eingeschlagen würde. Gerade als sie und Daniel am glücklichsten sind, geschieht eine Tragödie, und Erica steht vor der Entscheidung, ihre Fähigkeit bewusst einzusetzen und in eine Zeit vor all dem Schmerz zu reisen. Aber was, wenn sie Daniel in diesem anderen Leben nicht wiederfindet?



»Eines meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr. «
HELLO Magazine


  • Erscheinungstag: 25.01.2022
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951246
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Hayley

Prolog

7. September 2017

Ich habe eine andere Version von mir selbst gesehen.

Was wohl aus mir geworden wäre, denken die Leute manchmal, wenn ich diese eine bestimmte Person nicht kennengelernt, jene besondere Party verpasst oder einen Zug früher oder später oder gar nicht gefahren wäre. Wer wäre ich, wenn ich diesen Job nicht angenommen hätte, wenn ich an dem Tag verreist oder zu Hause geblieben wäre?

All das muss ich mich nicht fragen, weil ich mein anderes Ich gesehen habe. Ich konnte beobachten, wie es zwischen verschiedenen Ländern herumreiste, während ich an Ort und Stelle blieb, wie es den Job ignorierte, den ich annahm, wie es an dem Tag lachte, an dem ich vor Trauer in tausend Stücke zerbrach.

Und jetzt stehe ich vor der Wahl.

Durchs Küchenfenster starre ich in unseren verwilderten Garten. Die ledrig grünen Blätter verkeilen sich ineinander, einige sind an den Rändern bereits herbstlich golden gefärbt. Obwohl erst September ist, weht ein kühler Wind heulend durch den Spalt zwischen der Fensterscheibe und dem kaputten Holzrahmen. Seufzend schalte ich das Radio an.

Noch immer ist die Spannung im Raum zu spüren, schwebt über mir wie flirrende Hitze. Unser Streit – einer von vielen – hat sich in Schleifen gewunden, bis die Knoten nicht mehr zu entwirren waren.

Ich schließe die Augen und spüre, wie das andere Leben nach mir ruft, mir Antworten und einen Ausweg verheißt. Ich stelle mir vor, wie er bei Luigi’s auf mich wartet. Obwohl wir schon lange nicht mehr dort waren, weiß ich genau, wo er sitzt: am dritten Tisch rechts neben der Wand unter dem Bild von Charlie Chaplin. Das Gesicht der Eingangstür zugewandt. Er spielt mit dem Besteck, seine Kiefermuskeln sind angespannt. Falls ich nicht komme, wird er den Kopf in die Hände stützen, einige Haarsträhnen quellen zwischen seinen Fingern hervor. Dann steht er seufzend auf und nickt dem Personal zum Abschied zu, ohne etwas zu erklären.

Was er danach tun oder was passieren wird, weiß ich nicht, weil ich mir kein Leben ohne ihn vorstellen kann, ein Leben, in dem er mich noch nicht getroffen hat und noch nicht vor Traurigkeit grau geworden ist. Aber vielleicht ist genau das das Problem. Vielleicht sind wir zu eng miteinander verbunden, und der geteilte Schmerz lässt uns beide verwittern, so wie das Meer unser Haus verwittern lässt: Wir zersplittern, die wundervolle Kraft unserer Anfangszeit bekommt Risse.

Kapitel 1

September 2013

Als Mike mich zu der Verlobungsfeier abholt, bin ich zerstreut und mit Dingen beschäftigt, die mir zu diesem Zeitpunkt wichtig erscheinen. Ich habe keine Ahnung, dass sich bald alles ändern wird, dass die Zeit im Begriff ist, mein Leben in eines dieser für mich typischen Vorher-Nachher-Teile zu zerschneiden.

Mike fährt die Promenade entlang, und wir reden nicht viel. Was nicht ungewöhnlich ist, da er die Musik immer so laut aufdreht, dass der hart wummernde Beat unsere Worte wegspült. Ich lehne den Kopf an die Fensterscheibe und betrachte den blassblauen Himmel. Auf der Feier werde ich nicht viele Leute kennen. Überhaupt gehe ich nur ungern auf Partys, mir ist es lieber, wenn Mike allein geht, doch heute hat er mich überredet, mitzukommen. So ist das mit Mike. Er kann mich dazu überreden, seine vielen Bekannten zu treffen und zu lange aufzubleiben, obwohl ich am nächsten Tag arbeiten muss. Seinetwegen esse ich zu viel und gebe mein Geld für Sachen aus, die ich nicht brauche. Ich lasse mich leicht überreden und bleibe gern in seinem Schatten. Das ist es, was ich besonders an ihm mag: dass er das Ruder übernimmt und ich einfach in der Menge, die sich von ihm unterhalten lässt, untertauchen kann.

Heute Abend allerdings ist Mike beim Aussteigen ungewöhnlich still. Im Hausflur ziehe ich die Stiefel aus, und herzförmige Konfettischnipsel bleiben an meinen Füßen kleben. Riesige silberne, herzförmige Luftballons schweben in der Luft wie zusätzliche Gäste, ich sehe Mike an und schneide eine Grimasse. Er nickt unbehaglich, und einen Moment lang frage ich mich, ob er so verkrampft wirkt, weil er erwägt, mir demnächst auch einen Heiratsantrag zu machen. Über diesen lächerlichen Gedanken muss ich laut lachen, denn hier geht es schließlich um Mike, wahrscheinlich habe ich das Glas Champagner, das mir jemand an der Haustür in die Hand gedrückt hat, zu schnell getrunken.

»Was ist so lustig?«, fragt Mike.

»Ach, na ja, ich … nichts.« Ein großer Mann, den ich nicht kenne, füllt mein Glas auf, ich bedanke mich lächelnd und trinke einen Schluck. Der Mann grinst mich an, dann wendet er sich ab, und ich schaue wieder zu Mike.

»Stimmt was nicht?« Normalerweise ist er als Erster zur Stelle, wenn es um Alkohol geht, im Unterschied zu mir ist Mike ein wahrer Partylöwe, der es genießt, wenn alle Augen auf ihn gerichtet sind. Nie will er aufhören zu trinken oder zu tanzen, und immer lässt er gleich nach der Ankunft amüsante Anekdoten und Witze auf Kosten anderer vom Stapel. Doch heute Abend ist alles anders, er nickt den Leuten lediglich zu und lächelt, statt zu lachen.

Die Hände tief in die Hosentaschen gestopft, schüttelt er den Kopf.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir mit dem Auto gekommen sind«, sage ich, doch er zuckt nur mit den Schultern. »Willst du wirklich nichts trinken?«

»Mike!« Kevin, der Gastgeber der Party, lallt schon ein bisschen, als er Mike auf den Rücken klopft. »Später gibt’s Jägerbomben. Gut?«

Wieder nickt Mike, sagt aber nichts. Kevin läuft an uns vorbei in die Küche, zu beschäftigt, um zu bemerken, dass mit Mike offensichtlich etwas nicht stimmt.

»Ich habe mich gefragt, ob du mir vielleicht einen Heiratsantrag machen willst.« Ich versuche, die Stimmung mit einem Witz aufzulockern, so wie Mike es sonst immer tut. Und es ist nicht irgendein Scherz, sondern unser ganz eigener, uralter Witz. Denn alle unsere Freunde machen das plötzlich: Verlobungspartys schmeißen, Hochzeiten planen und breit lächelnd und mit haufenweise Heliumballons großartige Dinge verkünden. Mike und ich wollen mit so etwas nichts zu tun haben, und das funktioniert auch bestens für uns.

Oder vielleicht nicht.

Er wird bleich, schluckt und schaut weg.

»Oh Gott, Mike? Du willst mir doch nicht wirklich einen Antrag machen, oder?« Ich versuche, meine panischen Gedanken zu ordnen. Ich will nicht heiraten. Das weiß er. Und er will auch nicht heiraten. Dachte ich jedenfalls. Ich darf Mike nicht verletzen, und das würde ihn unendlich verletzen, nicht wahr? Es einfach als Scherz darzustellen und Nein zu sagen?

Sanft berühre ich seine Schulter, und er steht auf.

»Ich kann jetzt nicht darüber reden«, erwidert er mit tonloser Stimme. »Nicht hier.«

Er blickt in meine Richtung, aber nicht ganz in meine Augen. Also stehe ich auf, streiche mir die Haare aus dem Gesicht und nehme seine rechte Hand. Ist er krank? Hat er Schulden? Warum weiß ich nichts davon? Ich ziehe ihn nach oben in ein extrem violett gestrichenes Schlafzimmer. Das Haus ist ein Labyrinth. Ich weiß nicht einmal, wem das Zimmer gehört oder ob es die betreffende Person stört, wenn wir uns auf die ebenfalls lilafarbene Bettdecke setzen, die als zerknitterter Haufen in der Mitte der Matratze liegt.

»Mike?«

Dann begreife ich, dass es um etwas ganz anderes geht. Er hat keinen Diamantring in seiner Tasche versteckt, und er war auch nicht nervös, weil er mir einen Antrag machen will. Weder geht es um eine Krankheit noch um Schulden oder sonst etwas, bei dem ich ihm helfen könnte, indem ich einfach weiter die Frau bin, die immer über seine Witze lacht. Es geht um etwas anderes, und als ich Mikes Gesicht betrachte und sehe, wie seine Augen sich röten, dämmert es mir auch, was das sein könnte.

In dem Moment, in dem ich begreife, spricht er es aus, was den Schmerz verdoppelt.

»Ich will nicht länger mit dir zusammen sein, Erica.«

Mir droht der Champagner hochzukommen, den ich getrunken habe, als alles noch in Ordnung zu sein schien und ich einfach nur Gast auf einer Party war. Ich schlage eine Hand vor den Mund. Ein Herzkonfetti klebt glitzernd am Rand meiner Handfläche.

»Es tut mir leid. Ich habe es versucht. Aber ich kann es nicht.«

Das war’s. Drei Sätze, und alles ist vorbei.

Er öffnet die Tür, und Geräusche von der Feier dringen herein. Ein silberner Luftballon schwebt an der Tür vorbei.

»Du kannst mich nicht einfach hier sitzen lassen«, sage ich. Ich sehe, wie er in seiner Tasche nach etwas sucht. Nach seinem Autoschlüssel.

»Du wusstest es! Du wusstest, dass du vor mir die Party verlassen wirst, und deshalb wolltest du mit dem Auto fahren! Warum hast du mich überhaupt mitgenommen?«

Er zuckt die Achseln. Er ist blass, und mir wird klar, dass er mir das lieber erspart hätte. Und doch kann er es nicht. »Es tut mir leid, Erica.«

»Aber wir müssen reden!« Meine Stimme klingt nicht nach meiner Stimme, vage bin ich mir bewusst, dass ich irgendwie meinen Tonfall korrigieren muss, um nicht zu verzweifelt zu klingen. »Fahren wir zu mir und reden.«

»Das möchte ich nicht, Erica.«

Vor ein paar Monaten haben wir ein Wochenende in London verbracht. Wusste er da schon Bescheid? Hat er eine andere? Das dumpfe Dröhnen der Musik von draußen verursacht mir Kopfschmerzen und Schwindel. Ich presse eine Hand an die Schläfe, um den Schmerz zu lindern und das Gefühl, dass ich zu Boden fallen könnte, in den Griff zu bekommen. »Warum jetzt?«

Erneut zuckt er mit den Schultern. »Mir reicht es einfach. Wir hatten eine gute Zeit. Aber wir sind zu verschieden.«

»Das ist doch gut! Gegensätze ziehen sich an!« Allerdings, schon während ich es ausspreche, frage ich mich, ob das wirklich stimmt.

»Eben nicht. Du bist glücklich hier, du redest gern über diesen ganzen alten Kram und das Museum und so … Wie auch immer, ich ziehe weg«, verkündet Mike abrupt, den Blick noch immer auf etwas hinter mir fixiert. »Kath von der Niederlassung in Cardiff hat mir eine Stelle angeboten. Es handelt sich nur um eine Vertretung für ein paar Wochen. Danach werde ich eine Zeit lang reisen«, fährt er fort und unterstreicht mit einer lächerlichen Geste seinen Flug, seine Reise, sein Verschwinden aus meinem Leben. Das lenkt mich so ab, dass ich beinahe das Flackern in seinen Augen nicht bemerkt hätte. Doch nur beinahe, und nun wird mir auch der Grund klar.

Kath.

Kath, die Leiterin der Bank, in der Mike arbeitet, war letztes Jahr längere Zeit in Blackpool, um die Filiale zu retten, und bei Betriebsfeiern hat sie mich immer von oben bis unten gemustert und ihren makellosen Kopf ständig zu laut lachend zurückgeworfen.

Ich starre ihn an, sein blondes Haar, die winzige Aknenarbe auf seiner Stirn und die goldfarbenen Bartstoppeln am Kinn. Ich dachte, er gehörte mir, aber das ist nicht der Fall. Der Gedanke schneidet sich tief in mein Herz, zugleich fühle ich mich seltsam betäubt.

»Kath redet also nicht über alten Kram? Sie ist nicht so langweilig wie ich?« Ich versuche, spitz zu klingen, überlegen, meine Stimme ist jedoch belegt vor Schmerz.

»Es tut mir leid«, sagt er. »Aber du warst diejenige, die den Job im Museum angenommen und dadurch eine Reise verhindert hat. Erst dachte ich, ich könnte noch länger warten, aber das kann ich nicht. Ich möchte mal was anderes erleben, Erica. Ich habe es hier so satt. Mir ist langweilig.«

»Langweilig? Aber ich habe den Job im Museum doch nur für drei Monate angenommen. Und danach, ich …«

»Ja, klar«, unterbricht er mich, und vage erinnere ich mich daran, dass mich seine Unterbrecherei schon früher irritiert hat, aber nur ein bisschen, daher habe ich es nie richtig registriert. Jetzt ist es bedeutungslos: eine Seifenblase, die vor mir schwebt und in dem Moment zerplatzt, in dem ich die Hand nach ihr ausstrecke. »Danach findest du sicher einen anderen Grund. Und das ist ja in Ordnung, aber eben nichts für mich. Ich will mehr, Erica. Ich kann hier keine Sekunde länger bleiben.« Er senkt den Blick und rückt von mir ab, als ich versuche, seine Hand zu nehmen. »Lass mich gehen.«

Und dann ist er weg, hat schlüsselklimpernd das Zimmer verlassen, auf nach Cardiff und zu Kath und in eine Welt, in der er von einer Ex erzählen wird, die er nicht mehr liebt und die ihn zu sehr gelangweilt hat, um auch nur eine Sekunde länger bei ihr zu bleiben.

Die Taubheit in meinem Kopf greift auf meinen ganzen Körper über, ich renne ihm nicht hinterher, versuche nicht, ihn umzustimmen oder ihn zum Bleiben zu bewegen. Regungslos hocke ich auf dem Bett und denke über seine Worte nach, die ich immer und immer wieder höre. Nach einigen Minuten lässt die Betäubung nach, und plötzlich und unschön beginnen die Tränen zu fließen, mein Atem kommt nicht mehr hinterher.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon in diesem Raum bin, heulend und schluchzend auf der lilafarbenen Bettdecke zusammengekauert, als die Tür aufgeht und jemand hereinkommt. Es ist der Mann, der vorhin mein Glas aufgefüllt hat. Ich betrachte ihn. Vielleicht Anfang dreißig, groß, dunkle Haare, eine schwarz umrandete Brille und große, gerade Zähne … Als er die Augenbrauen hebt, erwache ich aus meiner Trance und lege eine Hand an meine laufende Nase.

»Entschuldigung. Ich wollte nur meinen Mantel holen. Aber ich kann auch in ein paar Minuten wiederkommen«, bietet er an.

Ich wische mir über die pochenden Augen. »Es macht mir nichts aus.«

Er steht in der Tür und schaut besorgt drein. »Möchtest du was trinken?«

»Eigentlich könnte ich ein paar Taschentücher gebrauchen.«

Er lächelt und verlässt den Raum, die Tür leise hinter sich schließend, um einige Minuten später mit einem Bündel Toilettenpapier zurückzukommen. Dann setzt er sich auf die Bettkante und trommelt mit den Händen auf seine Knie.

»Ich habe nichts geahnt«, sage ich. Ich müsste konkreter werden, aber dazu fehlen mir die Worte oder die Energie.

»Der Typ, mit dem du gekommen bist, ist gerade gegangen. Mike, richtig? Ich nehme mal an, dass er nicht zurückkommt?«

Ich schüttle den Kopf. »Warum bringt er mich hierher, um dann so was zu tun?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, behauptet er, dabei steht die Antwort doch unausgesprochen im Raum. Mike ist ein Feigling, und wenn er in meiner Wohnung mit mir Schluss gemacht hätte, hätte er darüber reden müssen, ich hätte geschrien und mich an ihn geklammert und ihn nicht gehen lassen. Ich hätte von unseren Plänen angefangen, gemeinsam die Welt zu bereisen, und ihn gebeten, so lange zu warten, bis die drei Monate im Museum vorüber sind. Und genau das wollte er vermeiden.

»Er geht weg«, meine ich. »Erst nach Cardiff, und dann will er herumreisen. Ich glaube, er hat eine andere.« Als ich mich das sagen höre, zucke ich zusammen, denn normalerweise würde ich einem Fremden gegenüber niemals so etwas Persönliches preisgeben. Vielleicht bin ich jetzt ja eine andere Version meiner selbst.

Der Mann schüttelt den Kopf. »Tut mir wirklich leid. Schlechter Stil, so was auf einer Party zu machen. Und auch, wenn es wie ein Klischee klingt, du bist ohne ihn bestimmt besser dran.«

Ich blicke an ihm vorbei, um nachzudenken, doch jeder einzelne verworrene Gedanke führt zurück zu Mike. Eine vage Angst aus meiner Kindheit steigt in mir hoch. Allein zu sein und sich hinter niemandem verstecken zu können. So wird es jetzt wieder sein. »Ich dachte, wir würden für immer zusammenbleiben.« So wie meine Stimme zittert, überrascht es mich, dass er meine Worte überhaupt versteht. Zugleich wird mir klar, dass ich mit Mike zusammen sein wollte, ohne dass es wirklich um ihn ging, und dass meine Worte mehr über mich verraten, als ich selbst wusste – was der Mann aber nicht zu bemerken scheint.

Er steht auf, und kurz glaube ich, dass er den Raum verlassen wird, aber das tut er nicht. Er ist offenbar nur einfach nicht dazu fähig, länger als ein paar Sekunden still zu sitzen. »Tja, es bleibt dir dann wohl nichts anderes übrig, als ein neues Leben zu beginnen. Herauszufinden, was es außer ihm noch gibt.«

Ich schließe die Augen. »Wir wollten zusammen reisen. Abenteuer erleben. Warum konnte er damit nicht noch ein bisschen warten?«

»Das alles kannst du noch immer machen. Nur eben nicht mit ihm.«

»Du scheinst dir da ziemlich sicher zu sein.« Ich ziehe die Nase hoch, was ich wegen des hässlichen Geräusches sofort bereue. Seine Worte klingen irgendwie überzeugend, und ich frage mich, ob er aus eigener Erfahrung spricht.

»Bin ich mir auch. Ich bin Architekt, und es ist mein Job, über das große Ganze nachzudenken. Ob Gebäude oder das Leben, spielt dabei keine Rolle. Jedes winzige Detail wirkt sich auf ein anderes aus, und das kann manchmal echte Probleme verursachen. Man beginnt damit, ein Gebäude zu zeichnen, findet dabei aber etwas heraus, das ein kleines Detail in dem Plan verändert. Und dann muss sich das Gebäude in etwas anderes verwandeln. Man kann nicht einfach so weitermachen, als ob nichts gewesen wäre.«

»Weil das Gebäude sonst einstürzt.« Ich atme nun ruhiger, meine Tränen versiegen.

»Entweder das, oder das Gebäude wird einfach nicht die beste Version werden, von dem, was man geplant hat. Man muss sich Veränderungen anpassen und etwas anderes bauen.«

»Das leuchtet mir ein«, erwidere ich langsam. »Aber es ist schon ganz schön beängstigend, wenn sich der komplette Plan ändert.«

Er nickt. »Ich weiß. Vor allem, wenn man viel investiert hat. Er jedenfalls macht einen großen Fehler.«

»Du kennst mich doch gar nicht.«

»Ich weiß. Ich spreche auch von Cardiff.«

Ich bringe ein Lächeln zustande, während ich versuche, die nicht langweilige Kath aus meinem Kopf zu verbannen.

»Du musst nicht hierbleiben«, sage ich. »Du wolltest doch eigentlich nach Hause gehen, schließlich bist du hier hereingekommen, um deinen Mantel zu holen.«

»Ich muss morgen zwar arbeiten und wollte mich deswegen auf den Weg machen, aber ich kann noch ein bisschen bleiben. Was hast du vor? Das hier ist Ems Zimmer, glaube ich, und die liegt bewusstlos im Wohnzimmer. Sie wird es kaum ins Bett schaffen, also kannst du dich noch eine Weile hier verkriechen, wenn du willst.«

Ich nicke. Noch kann ich mich dieser Party nicht stellen, den Leuten, die meine verheulten Augen und die verschmierte Wimperntusche sehen und sich fragen werden, was passiert ist. Und wenn ich an meine Wohnung denke, fühlt es sich an, als gehörte sie einer anderen, einer, die weiß, wie das Leben funktioniert, und die alles im Griff hat. Dahin will ich auch nicht zurück. Am liebsten würde ich auf Pause drücken.

»Willst du wirklich nichts trinken?«

Laut seufze ich. »Am Freitag habe ich Geburtstag«, antworte ich, ohne den blassesten Schimmer zu haben, warum.

»Nun, das ist auch eine Antwort«, erwidert er. »Hör zu, ich bleibe noch etwas hier, bringe dir einen Drink, und wenn du ihn nicht willst, trinke ich ihn.« Er ist weg, bevor ich protestieren kann.

Wenige Minuten später kehrt er mit einem Glas Champagner zurück.

»Danke. Ich weiß nicht einmal deinen Namen. Ich heiße Erica. Hier kenne ich eigentlich niemanden. Mike ist mit Kevin befreundet, deshalb sind wir gekommen.«

Er grinst. »Daniel.« Er nippt an seinem Wein, rot, und macht dann ein Gesicht, als wollte er sagen, dass das Zeug besser schmeckt als vermutet. »Ich habe vor Jahren mit Em gearbeitet, und sie wohnt mit Kevin und Sophie zusammen. Ich kenne sonst auch kaum jemanden und wollte eigentlich gar nicht kommen.«

»Ich auch nicht. Aber ich bin froh, dass du es dir anders überlegt hast.« Ich trinke einen Schluck Champagner. »Allerdings habe ich keine Ahnung, ob ich froh bin, hier zu sein. Und ich weiß auch nicht, ob ich Champagner trinken sollte. Ich habe nichts zu feiern.«

»Und ob. Du beginnst schließlich ein neues Leben, vergiss das nicht. Du baust dein neues Gebäude. Das ist ein Anfang.« Er stößt mit mir an, das Geräusch dröhnt in meinen Ohren, und mir wird etwas schwindlig.

»Dann Prost«, sage ich. Neue Tränen drohen aufzusteigen, deswegen stürze ich hastig das Getränk hinunter. Daniel nimmt mir das Glas ab und verschwindet wieder in die Küche. Nachdem er mehr Champagner gebracht hat, sagt er, dass er gleich wieder zurückkehrt, um zu sehen, wie es mir geht. Ich trinke und schließe die Augen, aber wieder wird mir schwindlig, deswegen setze ich mich auf und gehe in die Küche, wo ich mir Limonade nehme, die ich so lange trinke, bis mein Mund von lauter Zucker ganz klebrig ist. Hier ist kaum noch jemand wach: zusammengedrängte Körper, ineinander verwickelte Gliedmaßen, schweres und gleichmäßiges Atmen. Ich gehe zurück in das Zimmer, das Em gehört, einer Frau, die ich nicht einmal kenne, die eine lilafarbene Bettdecke besitzt und ihr Bett nicht macht, und lege mich hin.

Da passiert es. Ich verliere die Kontrolle. Ich bin nicht stark genug, es aufzuhalten, zumal es mir seit so vielen Jahren nicht mehr passiert ist, dass es mich vollkommen überrascht. Die Bettdecke fällt unter mir weg, die violetten Wände stürzen ein, und die Welt, wie ich sie kenne, wirbelt um mich herum.

Kapitel 2

Ich werde so heftig in die andere Welt geschleudert, dass ich spüren kann, wie mein Inneres gegen meine Haut prallt. Es ist wie in einer Achterbahn, nur eine Million Mal schlimmer. Mein Atem geht scharf, hastig und schmerzhaft.

Kaum angekommen, bin ich wie festgefroren. Ich zwinge meine Sinne, zum Rest von mir aufzuschließen, damit ich herausfinden kann, wo ich bin. Hochglanzbroschüren reihen sich in Regalen aneinander, es duftet süßlich nach künstlicher Kokosnuss, und an den Wänden hängen Plakate mit goldenem Sand und grünen Palmen und Flugzeugen, die an blauen Himmeln schweben.

Ich wurde schon viele Jahre nicht mehr in eine andere Zeit und an einen anderen Ort geschleudert. Zum ersten Mal passierte es in meiner Kindheit, es war ein Furcht einflößender Besuch in einer Vergangenheit, in der ich Menschen reden hörte und ihr Parfüm roch, sie mich allerdings nicht sehen konnten. Damals versuchte ich mir einzureden, dass es nur ein Traum war, wurde aber eines Besseren belehrt, weil meine Mum stinksauer wegen meines Verschwindens war. Deswegen weiß ich jetzt, dass ich mich nicht länger in diesem Schlafzimmer befinde und das violette Bett so wirken muss, als hätte ich niemals darauf gesessen. Der starke Schwindel, den ich gespürt hatte, hätte mir eine Warnung sein sollen, denn so fing es damals immer an, aber die Trennung von Mike, der Alkohol und die Angst vor einem Leben ohne Partner hatten dieses ganz besondere Gefühl, das ich früher binnen Sekunden zu erkennen pflegte, vollständig überdeckt.

Doch nun ist es auch irgendwie anders als früher. Damals als Kind beobachtete ich immer Szenen, die in der Vergangenheit lagen. Die Menschen sahen anders aus, sie trugen Kleider und Farben, die ich nur von Fotos kannte. Alles wirkte wie in ein schwaches Licht getaucht, als würde ich einen Film sehen, der nicht richtig belichtet war. Jetzt allerdings ist die Umgebung hell, modern und klar. Sollte ich mich tatsächlich erneut in der Vergangenheit befinden, dann diesmal in einer, die noch nicht lange zurückliegt.

Die Frau am Schreibtisch direkt vor mir tippt seufzend auf einer Tastatur herum. Ihre Acrylnägel klacken auf den Tasten. Sie blickt auf das silberne Mobiltelefon, das neben ihr auf dem Schreibtisch liegt. Mich kann sie offensichtlich nicht sehen. Ich überlege, wer sie sein könnte und warum ich hier bin und sie beobachte, doch mein Verstand spielt nicht mit: Er ist klebrig und langsam wegen des Schocks, hier zu sein und weil Mike mich verlassen hat.

Ich konnte mich schon früher nie bewegen oder die Menschen berühren, und auch jetzt stecke ich fest, aber es gelingt mir zumindest, den Kopf leicht zu drehen und aus dem Fenster des Reisebüros auf eine gepflasterte Straße zu blicken. Das sieht nicht nach Blackpool aus, was mir allerdings lediglich sagt, wo ich mich nicht befinde.

Und dann sehe ich noch jemanden, und mir bleibt schier das Herz stehen.

Sie lehnt an etwas, das wie der Schalter einer Bank aussieht, sie blättert durch eine Broschüre, ihr Blick huscht über die Worte und konzentriert sich dann auf glänzende Fotos von cremefarbenen Stränden und fluoreszierend blauen Ozeanen.

Das bin ich. Oder jemand, der genauso aussieht wie ich.

Eine andere Erica, die den gleichen Knochenbau hat, das gleiche feine dunkle Haar mit dem langen Pony, der ihr ins Gesicht fällt, sie hat wie ich grüne Augen und eine einzige verirrte Sommersprosse auf der linken Wange. Wobei in das Haar dieser Erica ein farbiger Zopf geflochten ist, was auf eine noch nicht lange zurückliegende Auslandsreise hindeutet und auf den Drang, sein Aussehen zu verändern, um zu demonstrieren, wie viel Spaß man hatte. Ihr Gesicht ist entspannt, ihre Haut leuchtet. Ihre Nasenspitze ist leicht rosa, als ob sie, genau wie ich immer, vergisst, diese Stelle einzucremen.

»Suchst du dir schon die nächste Reise aus, Erica?«, fragt die Frau, die noch immer auf ihrem Computer herumtippt. Zu hören, wie jemand meinen Namen sagt, lässt mich zusammenzucken. Ich möchte rufen, etwas sagen, doch kein Ton dringt aus meinem Mund. Ich bin stumm, nicht wirklich hier.

Die andere Erica schaut ihre Kollegin an und zuckt, ein schiefes Lächeln auf den Lippen, mit den Schultern. Lächle ich auch so? Unbehaglich registriere ich ihre Eigenheiten, die auch meine sein müssen. Es ist schwer zu ertragen, mich selbst so von außen betrachten zu können, aber gleichzeitig kann ich nicht damit aufhören. Wie kommt es, dass man sich selbst so genau und doch so wenig kennt?

»Vielleicht«, antwortet sie ihrer Kollegin, und ihre Stimme lässt mich mit einer so intensiven Selbstwahrnehmung erschauern, dass ich es fast nicht aushalte. Der Klang ist mir so fremd und so vertraut zugleich. »Vielleicht Australien. Oder Thailand. Nur ich und mein Rucksack.«

»Du bist doch gerade erst nach Yorkshire zurückgekommen.« Die Frau schüttelt den Kopf und schaut wieder auf ihr Handy.

Yorkshire. Die Erwähnung der Stadt, die ich vor so langer Zeit verlassen habe, lässt meinen Puls schneller schlagen, ich atme tief durch. Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe, aber Erica sagt wieder etwas, und ich darf nichts verpassen.

»Na und? Nächste Woche ist mein achtundzwanzigster Geburtstag.« Erica kräuselt die Nase, woraufhin ich meine eigene etwas befangen berühre. »Und das schenke ich mir selbst. Darauf habe ich jahrelang gespart. Ich habe mir geschworen, bis ich dreißig bin, so viel wie möglich von der Welt gesehen zu haben. Das bin ich mir selbst schuldig.« Beim Sprechen schaut sie mich direkt an, als wüsste sie, dass ich sie beobachte, als wüsste sie, dass ich keine dieser Reisen gemacht habe, die alle anderen für so wichtig erachten. Ich versuche zurückzuweichen, erschrocken bei der Vorstellung, dass sich unsere Blicke treffen könnten. Mein Körper wird sich nicht bewegen, das weiß ich aus Erfahrung, dennoch versuche ich es, kneife die Augen fest zu und konzentriere all meine Energie darauf, rückwärts zu gehen, und in diesem Moment zieht mich ein überwältigender Schwindel nach unten und ich falle. Während ich durch verschiedene Welten tauche, bemüht, mit den Füßen irgendwo festen Tritt zu finden, blitzt eine andere Szene vor mir auf. Eine Straße. Ein Autobahnschild.

Und dann werde ich zurück in Ems Schlafzimmer geschleudert, auf das weiche Gewirr aus Violett, das ich vorhin zurückgelassen habe.

Ich setze mich auf und drücke eine Hand an meine Brust, um meine Atmung zu beruhigen. Mir ist schlecht, ich stolpere zum Fenster und schiebe die schweren, gemusterten Vorhänge zur Seite. Es ist zwar noch immer dunkel, doch das hilft mir nicht weiter: Ich kann Stunden weg gewesen sein oder Minuten, denn von früheren Ausflügen weiß ich, dass aus Sekunden der einen Welt Stunden in der anderen werden können.

Ich lasse meinen Blick über den Hinterhof und die vielen Reihen viktorianischer Häuser, Mülltonnen, Tore, Kinderrutschen und Autos schweifen – alles in blaue Dunkelheit getaucht – und denke über das nach, was ich gerade gesehen habe. Wieder und wieder höre ich die Worte, die gesprochen wurden, bis sie eine ganz eigene Form und Bedeutung annehmen.

Aus Yorkshire sind wir weggezogen, als ich zwölf war, und ich bin nie wieder zurückgekehrt, doch die andere Erica, die dort lebt, sagte, dass sie nächste Woche ihren achtundzwanzigsten Geburtstag feiert. Und das bedeutet, ich war, ganz gleich, welche Welt ich eben gesehen, in welches Paralleluniversum ich mich verirrt habe, nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Sondern im Jetzt.

Ich kneife die Augen zusammen, um mein Spiegelbild in dem Schiebefenster zu mustern, sehe meine geschwollenen Augen und meine blasse Haut. Die Verzweiflung darüber, dass Mike mit mir Schluss gemacht hat, hat sich irgendwie in meine Gesichtszüge eingegraben. Ich dachte, die Zeiten, in denen ich, zumindest, wenn ich allein bin, jederzeit verschwinden kann, lägen hinter mir, ebenso die hämmernden Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, gefolgt von dem panischen Gefühl, dass der Boden unter mir wegbricht. Das letzte Mal ist Jahre her, und meine Erinnerungen sind vage geworden, sie haben keinen Anfang und kein Ende, und es gibt auch keine Beweise dafür. Von heißer Furcht gepackt, frage ich mich, warum es jetzt auf einmal wieder passiert. Zugleich frage ich mich, wann das Leben der anderen Erica endete und dieses Leben, das ich lebe, begann.

Kapitel 3

Am nächsten Tag werde ich von der Türklingel geweckt. Mein Kopf ist schwer, mein Mund trocken. Kurz überkommt mich das Gefühl, dass dieses seltsame andere Ich und die Art und Weise, wie Mike unsere Beziehung beendet hat, nur ein Traum waren. Ein Albtraum, genauer gesagt. Langsam schlurfe ich den kurzen Weg von meinem Schlafzimmer zur Haustür. Meine Augen tun vom Weinen weh, und langsam breiten sich wieder Angst und Schmerz in meinem Bauch aus. Mir wird klar, dass das mit Mike tatsächlich geschehen ist.

Wohingegen mein Verschwinden nicht real gewesen sein kann. Es ist einfach nicht möglich, dass ich das alles noch einmal erlebe. Ich bin dem Ganzen längst entwachsen. Hastig schiebe ich die Bilder der anderen Erica im Reisebüro, die immer noch in meinem Kopf herumschweben, zur Seite. Um mich von ihrem gebräunten Gesicht abzulenken, dessen vereinzelte Falten und Linien mir so vertraut sind, versuche ich mir Schritt für Schritt zu erklären, was passiert sein muss. Wahrscheinlich habe ich einfach ein paar Stunden geschlafen, denn Daniel kam in Ems Zimmer zurück, als ich am Fenster stand. Das war ungefähr um drei Uhr morgens, und er rief ein Taxi, das mich nach Hause brachte. Ich fiel vollständig bekleidet aufs Bett, zerrte mir die Stiefel herunter und schleuderte sie quer durch den Raum. Dann schlief ich noch ein wenig, wodurch die Ereignisse der vergangenen Nacht noch surrealer wirkten. Und während ich jetzt den silbernen Türriegel zur Seite schiebe, erscheint es mir ziemlich wahrscheinlich, dass ich auf der Party einfach zu viel getrunken und einen seltsamen Traum gehabt habe. Mehr ist nicht geschehen.

»Lange Nacht?«, fragt meine Freundin Zoe und schiebt sich an mir vorbei in die Wohnung. Da ich nur reglos dastehe, anstatt ihr zu folgen, dreht sie sich zu mir um, die Stirn gerunzelt. »Warum hast du dasselbe an wie gestern?« Jetzt mustert sie mich genauer: das zerknitterte schwarze Kleid, mein altes, von Tränen verschmiertes Make-up.

»Lieber Gott, Erica. Was ist passiert?«

Mein Körper wird von schmerzhaftem Schluchzen geschüttelt, als ich grob umreiße, was Mike gesagt hat. Dass ich ihn gehen lassen muss. Dass er es schon eine Weile weiß. Kath.

Zoe wird bleich. Niemand hätte mit so etwas gerechnet. Ich weiß jetzt schon, dass jeder wie Zoe überrascht nach Luft schnappen wird, die Augen geweitet und das Gesicht aschfahl, wenn ich erzähle, was ich jetzt ihr erzählt habe: Mike hat beschlossen, ohne mich zu leben, er hat sich in eine andere verliebt, die ihn nicht damit langweilen wird, zu lange an einem Ort bleiben zu wollen.

Zoe macht sich daran, Tee zu kochen. »Ich hätte wirklich niemals gedacht, dass er zu so etwas fähig ist. Was für ein Mistkerl.« Sie schüttelt den Kopf. »Gut, betrachte es mal so: Jetzt kannst du dich auf deine Arbeit konzentrieren. Und vielleicht findest du noch einmal einen ähnlichen Job, wenn dein Vertrag ausläuft. Du musst nicht weg. Es war Mike, der dich immer dazu gedrängt hat.«

Mir kommt meine andere Version in den Sinn, die ich entweder gesehen oder geträumt habe – bestimmt geträumt –, und was sie über das Reisen sagte, und ich versuche, die Übelkeit zu ignorieren, die mit der Erinnerung einhergeht. Ich habe mir geschworen, bis ich dreißig bin so viel wie möglich von der Welt gesehen zu haben. Das bin ich mir selbst schuldig. Dann fällt mir Daniel ein, der Mann von der Party, der mit mir auf meine neue Zukunft angestoßen hat … Gestern Abend ist so viel passiert, dass vieles davon verschwommen ist, doch seine Worte über Gebäude und Planänderungen habe ich nicht vergessen.

»Nun, vielleicht reise ich ein bisschen herum, vielleicht wollte ich das nämlich nicht nur Mike zuliebe. Ich kann es auch allein machen.«

Zoe, die nicht überzeugt wirkt, trinkt einen Schluck. »Glaubst du wirklich, das ist das Richtige für dich? Nichts für ungut, Erica, aber du bist erst vor wenigen Jahren bei deiner Mum ausgezogen. Du kommst mir nicht wie jemand vor, der allein verreist. Du hast Mike einfach nur zugestimmt, oder nicht?«

»Vielleicht. Um ganz ehrlich zu sein …« Ich starre in meine Tasse, weil ich das Gefühl habe, nie vollkommen ehrlich zu Zoe zu sein. »Ich habe immer vermieden, umzuziehen, weil ich es als Kind so schrecklich fand.« Und weil ich mich unsicher fühle, wenn ich allein an einem fremden Ort bin, füge ich stumm hinzu.

Bevor ich Mike kennenlernte, verschwand ich viel zu oft, und dieses Verschwinden war so unberechenbar und beängstigend, dass ich niemals allein sein wollte. Solange mich jemand sah, verschwand ich nämlich nicht. Doch als es dann immer seltener passierte und schließlich überhaupt nicht mehr, traute ich mich, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen. Ich schlucke die Furcht hinunter. Es war nur ein Traum. »Aber jetzt«, fahre ich schnell fort, »habe ich das Gefühl, mein Leben zu verpassen. Ich glaube, es ist an der Zeit, mutiger zu sein. Das bin ich mir selbst schuldig.« Mir ist klar, dass ich meiner anderen Version nachplappere und befürchte, dass unsere beiden Welten aufeinanderprallen und einen Stromstoß, einen Ruck oder einen Energieschwall verursachen könnten. Aber das passiert nicht. Zoe, die nichts bemerkt hat, beugt sich vor und knallt ihre Tasse auf den Kaffeetisch.

»Du musst dich nicht verändern, nur weil Mike es wollte. Ihr zwei wart sehr verschieden.«

»Das hat er auch gesagt. Und ich dachte immer, das sei eine gute Sache.«

»Nun, ganz egal, du bist in Ordnung, so wie du bist.«

Ich lächle. »Danke. Aber es liegt nicht an Mike, dass ich darüber nachdenke, zu reisen. Es geht um mich. Ich glaube, in gewisser Weise bin ich dazu bestimmt, woanders zu sein.«

Zoe verdreht die Augen. »Oh nein, jetzt fang bloß nicht mit dem Sinn des Lebens an. Aber wenn du dir wirklich sicher bist …« Sie überlegt kurz, zieht dann ihr Telefon aus der Tasche und tippt kurz darauf herum, bevor sie es mir reicht. »Bitte schön. Das ist Ninas Nummer.«

»Nina?«

»Ja, Nina. Du weißt schon, die Freundin meiner Cousine Jen?«

Ich durchforste meinen schmerzenden Kopf nach einer Erinnerung an Nina: weißblondes Haar, noch weißere Zähne, irgendwelche Piercings.

»Sie geht demnächst nach Thailand. Jen erzählte neulich, dass Nina sie überreden will, ihre Ausbildung zur Krankenschwester ein Jahr lang aufzuschieben, weil sie nicht allein verreisen will. Aber Jen wird hierbleiben. Vielleicht kannst du dich Nina ja anschließen, wenn es das ist, was du wirklich willst.«

Ich nicke und drücke auf Anruf.

Das Gespräch mit Nina verläuft anfangs leicht gestelzt, eine unangenehme Mischung aus Schweigen und Momenten, in denen wir beide gleichzeitig losreden, sodass wir kein einziges Wort verstehen.

»Ich habe gehört, dass du gern eine Reisegefährtin …«

»Wie läuft’s im Museu…«

»Oh, tut mir leid!«

»Sorry, sag du.«

So geht es einige Minuten lang weiter, bis Nina von unserem Small Talk gelangweilt ist.

»Hast du ihre Reise erwähnt?«, mischt sich Zoe ein.

»Zoe ist gerade bei mir, und sie sagt, du suchst jemanden, um zusammen auf Reisen zu gehen?«

»Jepp«, antwortet sie nur.

»Okay, die Vorstellung, allein zu verreisen, macht mir ehrlich gesagt auch ein bisschen Angst. Bisher habe ich mich allerdings noch nicht allzu sehr damit beschäftigt. Ich wollte mit, äh, Mike gehen, meinem, ähm … Na ja, jedenfalls bin ich jetzt nicht mehr mit ihm zusammen und weiß daher nicht so recht, wo ich anfangen soll.«

»Ihr habt euch getrennt? Das tut mir leid. Warum?«

»Ach.« Ich gestikuliere überflüssigerweise mit der Hand durch die Luft. »Lange Geschichte. Lass uns lieber darüber reden, wohin du willst, ob du schon einen Job gefunden hast und solche Sachen.«

»Ja, okay. Nächste Woche arbeite ich meine letzte Schicht in der Coffee Mansion, und an seinem letzten Arbeitstag darf man kostenlos Kaffee an seine Freunde ausschenken. Wenn du willst, sage ich dir Bescheid, sobald ich den Dienstplan habe, und du kannst vorbeikommen.«

»Okay, so machen wir das.«

Es ist Freitag. Mein Geburtstag.

»Ich glaube, ich bleibe heute Abend lieber zu Hause«, erkläre ich meinem Bruder Nicholas, der anruft, um mir zu gratulieren. Nicholas und seine Frau Amelia wollen zwar extra aus Oxford anreisen, damit wir gemeinsam zu Abend essen können, doch die letzten Tage haben mich so erschüttert, dass ich mich am liebsten vergraben und niemanden sehen möchte. Mich erschreckt die Vorstellung, vielleicht auf jemanden zu treffen, der wissen will, warum Mike an meinem Geburtstag nicht da ist.

»Keine Chance«, entgegnet Nicholas. »Ich habe Amelia eine Kneipentour durch die feinsten Bars von Blackpool versprochen. Und Phoebe freut sich auf eine Nacht mit Mum.«

Sofort werde ich weich und lächle. Ich habe meine Nichte seit ihrer Geburt im letzten Jahr nur wenige Male gesehen, und der Gedanke an ihre süße, pralle Haut und ihr federleichtes blondes Haar richtet mich auf, ich fühle mich sofort viel besser.

»Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.«

»Na toll. Das höre ich jetzt ständig. Es geht nur noch um Phoebe. Vielleicht sollte ich sie in ein Taxi nach Blackpool setzen und selbst ein paar Tage im Bett verbringen. Schlaf nachholen.«

Ich lache. »Nein, tu das nicht. Dich will ich auch sehen.« Ungebeten taucht die andere Erica vor meinem geistigen Auge auf, und am liebsten würde ich Nicholas von ihr erzählen. Doch das tue ich nicht, weil er womöglich versuchen würde, mich davon zu überzeugen, dass sie echt war, und das könnte ich im Moment einfach nicht aushalten. Die Möglichkeit, dass das alles wieder von vorn losgeht, will ich gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich will mich nicht von Reiseplänen abbringen lassen, die ich schon vor langer Zeit hätte machen sollen, vor denen ich aber zu viel Angst hatte.

»Gut«, sagt er, »wir müssen nur noch ein paar Milliarden Sachen für Phoebe einpacken, und dann machen wir uns auf den Weg. Wir treffen uns bei Mum, okay? Sie ruft dich an, wenn wir da sind.«

Nachdem wir uns verabschiedet haben, gehe ich ins Schlafzimmer und mache mein Bett. Es ist zehn Uhr morgens. Nicholas wird nicht vor achtzehn Uhr hier sein. Ich habe mir die ganze Woche freigenommen, und die Tage dehnen sich schon jetzt endlos vor mir aus. Ich greife nach meinem Mobiltelefon, weil wie ein Blatt im Wind der Gedanke durch meinen Kopf flattert, Mike eine SMS zu schicken. Aber nein, das werde ich nicht tun. Und ich lasse mir auch nicht diesen Tag verderben. Heute ist mein Geburtstag. Ein Tag zum Feiern, nicht zum Herumjammern.

Ich werde über die Promenade spazieren, denn das Rauschen des Meeres und die salzige Luft helfen mir immer, mich besser zu fühlen. Deswegen wohne ich schließlich in diesem winzigen, kastenförmigen Apartment mit roséfarbenen Wänden und Teppichen und einem Baby in der Wohnung über mir, das manchmal einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang schreit: weil ich in der Nähe des Meeres sein will. Mit zwölf, als wir hierherzogen, hatte ich es ursprünglich gar nicht wahrgenommen, weil ich viel zu wütend war. Mum und Dad hatten sich gerade getrennt, weshalb Blackpool für mich eine erzwungene Veränderung darstellte, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Doch Mum ist hier aufgewachsen, und als sie eine neue Bleibe für uns suchte, wollte sie zurück in ihre Heimatstadt. Jetzt aber genieße ich es, am Meer zu leben, genieße den steten Wechsel von Ebbe und Flut, seine Kraft und das damit einhergehende Freiheitsgefühl. Ich habe mir alle möglichen Wohnungen angeschaut, doch nur diese hier, mit dem grasbewachsenen Gehweg und dem Blick auf die grauen Wellen des North Shore Beach, hat mir gefallen.

Als ich gerade meine schwarzen Turnschuhe anziehe, summt das Handy in meiner Hand. Ständig werde ich per SMS gefragt, ob Mike mich ausreichend verwöhnt und ob er mir etwas Schönes geschenkt hat. Sie können natürlich nicht wissen, dass sie das nicht fragen sollten, denn ich habe kaum jemandem von unserer Trennung erzählt, und er hat es offensichtlich auch nicht getan. Nicht dass er mir jemals etwas Schönes geschenkt hätte. Er ist eher der Typ für Scherzgeschenke.

Ich warte noch eine Weile, bevor ich die SMS lese. Sie ist von Daniel. Vage erinnere ich mich daran, ihm von meinem Geburtstag erzählt zu haben. Meine Nummer hat er, weil ich ihm neulich, als er mich ins Taxi setzte, versprechen musste, ihm zu schreiben, wenn ich gut zu Hause angekommen wäre.

Alles Gute zum Geburtstag. Daniel x

Ich bin mir nicht sicher, warum ich in den letzten Tagen so viel an Daniel gedacht habe. Die Erinnerung an seine Worte und seine Freundlichkeit haben mich jedenfalls immer von dem Trennungsschmerz abgelenkt. Ein paarmal habe ich überlegt, mich bei ihm zu melden, wollte ihn aber, nachdem ich ihm schon diese Party verdorben hatte, nicht weiter belästigen. Nach kurzem Zögern drücke ich die Anruf-Taste über seiner Nachricht. Er klingt überrascht, als er rangeht.

»Danke für sie SMS«, sage ich.

»Kein Thema.«

»Die meisten Leute wollen wissen, was Mike mir geschenkt hat. Es war schön, einmal etwas anderes zu lesen.«

»Warum, was hat er dir denn geschenkt?«

Es ist ein schlechter Witz, aber ich lächle trotzdem. »Das weißt du nur zu gut. Du hast es schließlich ausbaden müssen.«

»Eigentlich nicht. Ich bin sogar froh, dass ich da war. Was machst du heute?«

Ich lege mich aufs Bett und starre zur Decke, betrachte die Risse in der Tapete und den hässlichen grünen Lampenschirm, den ich nicht gegen einen anderen ausgetauscht habe, weil ich mit Mike nie auch nur in die Nähe eines Baumarktes kam.

Heimwerken? Echt jetzt? hätte Mike auf so einen Vorschlag hin gefragt. Und mich dann dazu überredet, stattdessen in eine Kneipe zu gehen. Was ja eine gute Sache war, oder nicht? So schnell mir Mike in den Kopf kommt, so schnell verschwindet er auch wieder, als mir klar wird, dass Daniel auf eine Antwort wartet.

»Mein Bruder kommt später mit seiner Frau vorbei. Wir gehen essen.«

»Klingt gut. Wohin geht ihr?«

»Keine Ahnung. Ich hätte eigentlich irgendwo einen Tisch reservieren sollen.« Doch alle Restaurants, die ich kenne, kommen mir jetzt irgendwie ein bisschen befleckt vor, weil sie mich an Mike erinnern.

»Ich habe letzte Woche einen netten neuen Italiener ausprobiert. Er ist direkt im Stadtzentrum, gegenüber von Winter Gardens.«

»Ein neues Restaurant klingt perfekt.«

»Ich glaube, es heißt Luigi’s

»Danke, Daniel. Ich werde es mir ansehen.« Schweigend lausche ich dem statischen Rauschen, denn ich möchte unser Gespräch noch nicht beenden. »Musstest du am Sonntag nach der Party wirklich arbeiten? Es war schon spät, als ich dich gebeten habe, mir was zu trinken und Taschentücher zu holen. Und in den frühen Morgenstunden warst du immer noch da und hast mir ein Taxi gerufen. Ich hoffe, du hast den nächsten Tag gut überstanden.«

»Oh, kein Problem. Ich musste nur ein paar Pläne fertigstellen und konnte von zu Hause arbeiten. Und den Drink und die Taschentücher habe ich gern besorgt. Wobei du nächstes Mal, wenn wir uns treffen, hoffentlich weniger weinen wirst.«

»Ich werde mich bemühen.« Bei dem Gedanken, Daniel wiederzusehen, durchläuft mich ein Kribbeln, das sich sofort verflüchtigt, weil ich wieder an Mike denken muss. »Wie auch immer«, sage ich, »ich will dich nicht länger bei der Arbeit stören.«

»Ich bin schon fertig und nehme mir den Rest des Tages frei. Wann kommt dein Bruder?«

»Er wohnt in Oxford und hat eine Einjährige dabei, da wird er sicher einige Mal anhalten müssen.«

»Also, ich wollte später eigentlich in Manchester Fußball spielen gehen, aber ich bin furchtbar schlecht. Und ganz unter uns, in Wahrheit macht es mir auch keinen Spaß. Falls du Lust hast, etwas mit mir zu unternehmen, jederzeit. Wie du magst.«

»Im Ernst?«

»Ja, ich habe noch nie ein Tor geschossen.«

»Ich meine, dass wir etwas zusammen unternehmen.«

»Ja, ganz im Ernst.«

Ich stehe auf, gehe zum Fenster und blicke über die grasbewachsenen Spazierwege hinweg zu den wogenden Wellen in der Ferne. Die Sonne steht hoch, das Blau des Himmels ist nur von wenigen Wolkenfetzen getrübt. Ich liebe den September, denn mir gefällt die Vorstellung, dass an einem Tag Sommer und am nächsten schon Herbst sein kann. Heute ist einer jener Tage, aus dem sich alles entwickeln könnte. Und so werde ich gleich nur ein einziges Wort sagen. Es wird nur einen Augenblick dauern. Doch während ich es ausspreche, kann ich all die unterschwelligen Möglichkeiten spüren – das Wort ist wie ein winziger Samen, der zu etwas Buntem erblühen und meine Landschaft für immer verändern wird.

»Ja.«

Kapitel 4

»Ist er in dich verliebt?« Amelia beäugt mich über den Rand ihres Weinglases hinweg.

Es ist fast einundzwanzig Uhr. Seit etwa einer Stunde sind wir im Luigi’s, wir essen langsam und genüsslich: angenehm öliges Knoblauchbrot, seidige Pasta und knackigen Salat. Nach zwei Gläsern Rotwein fühle ich mich seltsam losgelöst, als hätte die letzten Tage jemand anders erlebt als ich.

Heute Abend ist es schon wieder passiert. Als ich auf Nicholas wartete und mich mit meinem Lieblingsparfüm einsprühte, fiel mir der Flakon aus der Hand auf den Teppich, mein Kopf fühlte sich an, als würde er vor Druck und Schmerz gleich platzen. Ich sah einen Straßenabschnitt, auf dem Trümmer verstreut lagen. Und schon war ich zurück, in eine auf einmal unerträglich süßliche Parfümwolke gehüllt, die mir in den Augen brannte und mich würgen ließ. Zwar war ich nur für ein paar Sekunden weg, verpasste unterdessen aber so viel von dem Lied im Radio, dass ich das, was neulich auf der Party passiert ist, nicht mehr länger als Traum abtun kann. Es ist eine Sache, so etwas als Kind zu erleben, obwohl es damals schon nicht leicht war, denn es wirkte sich auf meine Freundschaften aus. Ich wollte niemanden richtig nahe an mich heranlassen, damit mein Geheimnis nicht herauskam. Doch jetzt bin ich ganz allein und frage mich, was dieses erneute Verschwinden für mich bedeutet, für meinen Job und überhaupt mein ganzes restliches Leben. Der Gedanke beschäftigt mich schon den ganzen Abend.

»Wer, Mike?« Ich reiße ein Stück Knoblauchbrot ab und tunke es in meine Nudelsauce. »Also, er hat heute einen seiner Freunde vorbeigeschickt, damit der eine Oasis-CD, ein Waffeleisen und ein paar Socken abholt. Seit unserer Trennung haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Es sieht also nicht so aus, als wäre er in mich verliebt, oder?«

»Doch nicht Mike. Vergiss Mike. Ich meine Daniel. Er scheint sich heute sehr viel Mühe gegeben zu haben.«

Ich lege das Knoblauchbrot weg, wische mir das Öl von den Fingern und fächle mir mit der Serviette Luft zu, weil mir plötzlich zu warm ist. Amelia hat recht. Daniel hat mich kurz nach unserem Telefonat abgeholt, um mit mir nach Lake Windermere zu fahren. Die ganze Fahrt über haben wir uns unterhalten, über die Party, über das, was wir von Kevin und Sophie wussten, über unsere Arbeit, unsere Freunde und unser Leben. Daniel parkte etwas außerhalb des Zentrums, und auf dem Weg zum See kauften wir uns ein Eis. In der Spätsommerhitze roch die Luft salzig nach Pommes frites und süß nach frisch frittierten Donuts. Daniel war voller Energie, ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Irgendwann bat ich ihn atemlos, langsamer zu gehen, woraufhin er meine Hand nahm und meinte, dass ich ihn einfach festhalten soll, wenn er wieder zu schnell geht.

Später setzten wir uns auf eine Bank, schauten auf den glitzernden See und aßen unser Eis. »Ich bin froh, dass wir uns noch mal getroffen haben«, sagte ich. »Sonst hättest du mich immer als die seltsame heulende Frau von der Party in Erinnerung. Und wer will schon dauerhaft diese Frau sein?«

Daniel wischte sich mit dem Handrücken etwas Vanilleeis von den Lippen. »Das kennen wir doch alle irgendwie. Ich habe auch schon eine üble Trennung erlebt, nur nicht auf einer Party, weshalb mich auch niemand in meinem schlimmsten Zustand zu sehen bekam. Du hattest einfach nur Pech.«

»Ich weiß nicht. Natürlich macht es mich unglücklich, verlassen worden zu sein. Doch letztendlich bin ich froh, dass er es auf der Party gemacht hat, denn du hast mich getröstet. Ich wette, du konntest dich damals bei niemandem ausheulen.«

Daniel schüttelte den Kopf und kramte einen Schokoriegel hervor, den er in zwei Hälften biss. »Nein, konnte ich nicht.«

»Also, mir hat es jedenfalls geholfen. Ich würde mich einerseits eines Tages gern revanchieren, aber ich hoffe natürlich, dass das nicht nötig sein wird.« Ich schaute aufs Wasser, zu den Booten und den Kindern, die Körner für die Enten auf die glatten Kieselsteine schnippten, dann warf ich Daniel einen Seitenblick zu.

»Das hoffe ich auch. Ich bilde mir ein, dass ich aus dem, was mit meiner Ex passiert ist, etwas gelernt habe und es beim nächsten Mal besser mache. Andererseits kann man sich da nie ganz sicher sein, oder?«

»Absolut nicht. Bist du darüber hinweg?«, fragte ich.

»Über die Trennung? Ja. Ganz und gar. Und es hat auch nicht so lange gedauert, wie ich dachte. Sie hat es wegen eines Typs beendet, den sie im Supermarkt kennengelernt hat.«

»Das ist ein Scherz, oder? Ich habe nie daran geglaubt, dass sich die Leute tatsächlich in Supermärkten kennenlernen.«

»Ging mir genauso. Ich habe mich immer in Sicherheit gewiegt, wenn sie Milch kaufen ging.« Er lachte. »Aber das mit uns stimmte sowieso nicht, was ich erst merkte, nachdem sie weg war und ich mich plötzlich wieder wie ich selbst fühlte, falls das einen Sinn ergibt.«

»Und ob«, erwiderte ich. Wir saßen eine Weile stumm auf der von der Sonne erwämten Bank. »In welchem Gang?«, fragte ich nach ein paar Minuten.

Er lachte. »Das wollte ich auch von ihr wissen. Sie sagte, bei den Zeitschriften.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das ist wirklich schrecklich. Wenn ich mit jemandem wie dir zusammen wäre, würde ich mich gewiss nicht bei den Zeitschriften anbaggern lassen. Oder sonst wo, um genau zu sein.« Mein Gesicht war plötzlich zu heiß und kribbelte vor Überraschung, weil ich Daniel und mir selbst gegenüber so offen war.

Lächelnd sprang er von der Bank auf und streckte eine Hand aus. »Das kann man nie wissen. Wer weiß, wem man bei den Strickzeitschriften begegnet.«

Ich lachte. »Ich kaufe keine Strickzeitschriften!«

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