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Wo Himmel und Meer sich berühren

Als Buch hier erhältlich:

Eine Insel der Hoffnung in dunklen Zeiten

Rügen 1945: Der Krieg ist gerade erst vorbei, und nach einer langen, beschwerlichen Flucht aus den Ostgebieten hat Edith die Insel Rügen erreicht. Hier hofft sie, endlich wieder anzukommen und glücklich zu werden. Doch für Edith fühlt sich das unbekannte Eiland an wie ein Gefängnis, umschlossen vom Meer und so fern von ihrer Heimat - bis sie Alma kennenlernt, die auf Rügen geboren ist, und mit der Edith lernt, die Welt mit neuen Augen zu sehen.


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903726
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Elli und Erika. Mit Bewunderung und großem Dank.

Edith

Ende Juni 1945

Vorsichtig setzte Edith einen Fuß vor den anderen. Durch die Lücken im Boden der nur notdürftig reparierten Ziegelgrabenbrücke, die in den letzten Kriegstagen von zerstörungswütigen Wehrmachtsoffizieren gesprengt worden war, konnte sie das Wasser sehen. Beinahe geruhsam floss es an den breiten Betonpfeilern des Rügendamms vorbei. Nur hin und wieder bäumte sich eine vorwitzige Welle auf, kräuselte kurz ihr Haupt, bevor sie mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit ins tiefe Blau zurücktauchte, als wäre nichts gewesen. Dennoch flößte Edith der Anblick des Wassers unter ihren Füßen ein wenig Angst ein, konnte sie doch nicht schwimmen.

Obwohl die Sonne an diesem sommerlichen Tag hell schien, wurde es immer kühler, je weiter sie auf die beinahe endlos erscheinende Brücke trat. Ungeniert kroch der Wind unter Ediths Baumwollkleid, das befleckt und am Saum eingerissen nur noch wie ein alter Feudel an ihrem Körper hing. Kaum zu glauben, dass sie in diesem Kleid noch im letzten Jahr den Sonntagsgottesdienst besucht hatte. Doch den Glauben an Gott hatte sie längst verloren, genauso wie all ihre schönen Kleider, die sie so gemocht hatte. Lediglich einen kleinen Lederkoffer mit ein paar Fotos, Dokumenten, etwas Geld und wenigen Erinnerungsstücken, die sie und ihre Schwester Esther bei ihrem überstürzten Aufbruch in Groß Spiegel schnell noch zusammengepackt hatten, trug sie bei sich. An ein Stück Seife oder gar frische Unterwäsche hatte jedoch in der Eile keine von beiden gedacht, was Edith nun bitter bereute.

Sie sprang über ein besonders großes Loch im Boden. Dabei verlor sie beinahe ihren rechten Schuh, der ihr viel zu groß war. Die schwarzen, klobigen Stiefel hatte Edith noch in Hinterpommern einem Mann ausgezogen, der wie friedlich schlummernd am Straßenrand gelegen hatte, während der endlos wirkende Menschentreck an ihm vorbeigezogen war. Zumindest hatte sie sich eingeredet, dass der Mann sich nur mal eben kurz von der langen Reise ausruhte, als sie ihm das grobe Leder von den kalten Knöcheln gezogen hatte. Ihm waren die Schuhe ebenso zu groß gewesen. Vermutlich weil auch er die Stiefel nur jemandem von den Füßen geklaut hatte, der den Strapazen der Flucht zum Opfer gefallen war.

Jeder Meter, den sie sich in diesen Stiefeln von ihrer Heimat entfernt hatte, hatte nicht nur ihren Füßen Schmerzen bereitet, sondern auch ihrem Herzen. Wie viele Meter oder, besser gesagt, Kilometer es nun waren, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen. Ihr Gefühl für Entfernungen hatte sie bereits kurz hinter der Kreisstadt Dramburg verloren.

Als sie die Hälfte der Brücke passiert hatte, drehte Edith sich noch einmal um. Stralsund war noch gut zu sehen, auch wenn die alte Hansestadt beinahe vollständig in Trümmern lag. Nur die Kirchtürme ragten wie Mahnmale eines an Barbarei seinesgleichen suchenden Krieges empor. Und obwohl so gut wie kein Ziegel mehr über dem anderen lag, platzte die Stadt aus allen Nähten. Flüchtende aus dem Osten, Frontrückkehrer, Überlebende der Konzentrationslager, von denen Edith gehört hatte, und Familien, die ihr Hab und Gut verloren hatten, strömten seit Wochen durch die sowjetisch besetzten Straßen auf der Suche nach einem neuen Zuhause oder wenigstens nach einem Stück Brot und einem halbwegs dichten Dach über dem Kopf.

Auch Edith hatte nach ihrem dreiwöchigen Fußmarsch dort ein paar Wochen in einem Aufnahmelager verbracht. Nun, nachdem sie offiziell als Vertriebene registriert, entlaust und etwas zu Kräften gekommen war, konnte sie weiterziehen. Weiter auf die Insel Rügen, wo sie nicht unbedingt auf einen Neuanfang hoffte. Aber vielleicht auf ein bisschen Frieden und ein kleines Wunder.

Sie wandte sich vom Festland ab und lief weiter, vorsichtig, um nicht doch noch zu stürzen. Am Horizont konnte sie bereits die ersten Häuser der Insel sehen.

Gut einen halben Tag lief Edith auf der Insel über schmale eichengesäumte Landstraßen, wurzeldurchzogene Waldwege und gepflasterte Dorfstraßen. Sie folgte der Wegbeschreibung, die man ihr im Lager auf einen kleinen Zettel gekritzelt hatte.

Während Edith jedoch beinahe stumpf einen Fuß vor den anderen setzte, begann die dicke Wundblase, die sie sich bei der Flucht zugezogen hatte und die im Lager fast verheilt gewesen war, wieder unangenehm unter ihrer linken Ferse zu pochen. Außerdem wurde sie immer hungriger. Die kleinen Pfifferlinge, die sie am Waldrand fand und die sie sich trotz ihres rohen Zustands sogleich hastig in ihren Mund steckte, vermochten das Loch in ihrem Bauch nicht zu stopfen.

Ohnehin wusste sie nicht mehr, wie sich ein gesättigter Magen anfühlte. Dass sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte, war Monate her. Damals war ihre Mutter noch am Leben gewesen, hatte mit Rosinen gefüllte Tollatschen gemacht, die sie mit Buttermilchkartoffeln fast feierlich serviert hatte. Edith hatte die getrockneten Früchte aus den aus Mehl und Schweineblut geformten Klößen herausgepickt. Nun würde sie alles dafür geben, wenn sie wenigstens die klebrig-süßen Schrumpelerbsen, wie ihre Schwester die Rosinen immer genannt hatte, zum Naschen dabeihätte.

Die Sonne hatte ihren Zenit bereits weit überschritten, als sie Wrede an der östlichen Küste der Insel endlich erreichte. Sie war noch nie hier gewesen, und doch kam es ihr so vor, als kannte sie diesen Ort. Als Kind hatte ihre Mutter hier mehrere Sommer verbracht. Abends vor dem Zubettgehen hatte sie ihren Töchtern oft von ebendiesen Ferien erzählt. Und von der Insel. Von dem nach Sehnsucht duftenden Meer, den einfachen, aber freundlichen Menschen und der Landschaft, die so ebenmäßig und friedlich und doch gleichzeitig so rau, kantig und ungestüm war. Sie hatte immer versprochen, ihren Töchtern eines Tages den kleinen Küstenort sowie die Insel zu zeigen. Doch dann kam der Krieg und ohnehin alles anders.

Edith trat auf die grob gepflasterte Straße, die sich wie eine pulsierende Lebensader durch das Dorf zog. Sie war überrascht, wie belebt der kleine Ort war. Und wie unbeschwert die Menschen wirkten.

Auf den Gehweg waren mit weißer Kreide Hickelkästchen gemalt. Leichtfüßig hopsten Kinder von Feld zu Feld und lachten ausgelassen, wenn eines von ihnen auf einen Strich oder gar auf das zuvor mit einem Kieselstein markierte Feld trat. Ein paar Halbwüchsige kickten einen Lederball, der zwar nicht mehr ganz rund und prall war, aber dennoch mit Karacho quer über die Straße flog und beinahe eine Gruppe tratschender Frauen traf. Diese zogen wütend ihre mit Kopftüchern halb verdeckten Stirnen kraus und schimpften lautstark in Richtung der Flegel. Aus den Häusern lehnten sich die Alten auf den mit einem Kissen gepolsterten Fenstersimsen hinaus und schauten dem Treiben zu. Der ein oder andere paffte dabei sogar eine Pfeife, wie Edith verblüfft feststellte.

Der Krieg, dessen Ende gerade erst vor gut sieben Wochen durch die Kapitulation der Deutschen vor den vier Siegermächten besiegelt worden war, schien in Wrede kein allzu großes Unheil angerichtet zu haben. Zwar hatte der grau-braune Putz an den Fassaden der Häuser sicherlich schon bessere Tage gesehen, die Auslage des kleinen Kaufmannsladens war mehr als spärlich bestückt, und es waren so gut wie keine jungen Männer unterwegs. Doch von den Narben der Bombenangriffe und Frontbewegungen, die die Städte und Gemeinden andernorts zutiefst erschüttert hatten, war hier nichts zu sehen. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Zumindest auf den ersten Blick.

Edith sah sich aufmerksam um, während sie die Straße weiterging. Sie lief an einem Wirtshaus vorbei, einer Bäckerei, vor deren Tür einige Leute anstanden, einem Schusterladen und der kleinen Dorfschule, die noch geschlossen war. Edith passierte auch das Rathaus, aus dessen Fenstern die roten Sowjetfahnen mit dem Hammer, der Sichel und dem gelben Stern wehten.

Als Edith an einem kleinen gepflasterten Platz vorbeikam, fiel ihr Blick auf einen Springbrunnen, durch dessen entenförmigen Speier jedoch schon lange kein Wasser mehr gesprudelt war. Ein paar Kinder warfen Steine ins Wasserbecken, in dem nur noch eine grünlich getrübte Pfütze schwamm.

Auf den Stufen vor dem Brunnen saßen drei junge Frauen. Zwei von ihnen hatten blonde Haare, die dritte war dunkelhaarig und hatte auffällig grüne Augen. Ihre Kleider waren schlicht, aber sauber, die praktischen Flechtfrisuren ordentlich zurechtgemacht. Ihre Wangen hatten einen zarten roséfarbenen Ton.

Ediths Haut hingegen fühlte sich von der Sonne und vom Wetter ganz trocken an. In einen Spiegel hatte sie seit geraumer Zeit nicht mehr geblickt. Aber vermutlich wies sie keine so gesunde Gesichtsfarbe auf. Zudem waren die Hüften der Mädchen wesentlich properer als die ihrige. Ganz unwillkürlich strich Edith sich über ihr beschmutztes Kleid, das auch einmal enger gesessen hatte.

Sie spürte, wie die drei Augenpaare auf ihr ruhten, als sie am Brunnen vorbeiging. Das Gespräch verstummte kurz. Für einen Moment sah Edith auf. Die Blicke waren getränkt von Skepsis und Argwohn. Doch auch eine gewisse Spur schamlose Neugier war darin zu finden, was Edith als noch unangenehmer empfand.

Nur die Frau mit den grünen Augen wirkte irgendwie abwesend, folgte der Inaugenscheinnahme der Fremden nur halbherzig. Zügig ging Edith an ihnen vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Edith verließ den Ort und folgte der Dorfstraße noch ein gutes Stück, als hinter einer schmalen Biegung ein Haus auftauchte, das größer war als alle anderen Gebäude in Wrede. Die Mauern waren weiß verputzt, dunkle Holzbalken umrahmten die Fenster. An der linken Ecke des Hauses kletterte der Efeu hinauf, streckte seine langen, immergrünen Zweige aus. Das Dach war reetgedeckt. Flechten und grünliche Moosbällchen hatten sich auf dem geschnürten Schilf abgesetzt und strahlten in satten Grüntönen in der Sonne. Wilde Rosen und Brombeersträucher umsäumten das Gebäude, das auf Edith eine gewisse Erhabenheit ausstrahlte. Es wirkte, als trotzte es seit mehr als einem Jahrhundert Wind, Wetter und anderweitigen Unwägbarkeiten.

Edith blickte sich etwas unsicher um, weit und breit war niemand zu sehen. Sie zog den kleinen Zettel mit der Wegbeschreibung aus ihrer Tasche. Die krakelige Schrift war nur schwer lesbar. War sie hier wirklich richtig? Nervös trat sie vor die Eingangstür und klopfte gegen das schwere Holz. Sie wartete einige Sekunden und lauschte. Doch weder Schritte noch Stimmen waren aus dem Inneren des Hauses zu hören. Edith klopfte erneut, doch niemand öffnete.

Schließlich ging sie vorsichtigen Schrittes an der Hauswand entlang. Durch ein großes offen stehendes Holztor, das in eine längs am Bauernhaus entlangführende Mauer eingefasst war, betrat sie den Hof, der trotz der groben Pflasterung mit lehmig-feuchter Erde überzogen war. Bei jedem Schritt sammelte sich dunkler Matsch unter ihren Stiefeln, der das Schuhwerk nur noch schwerer werden ließ.

Der Hof, in dessen Mitte ein alter, verknöcherter Walnussbaum emporragte, war nicht sonderlich groß. Das Bauernhaus und die Mauer wurden zu beiden Seiten von zwei niedrigeren, barackenähnlichen Gebäuden begrenzt, während sich die vierte Seite zu den Feldern hin öffnete. Die Baracken waren aus rotem Backstein, die Dächer mit einfachen schwarzen Tonziegeln gedeckt. Nur ein kleiner Teil des linken Barackendaches hatte rote Ziegel, die erst vor wenigen Jahren erneuert worden zu sein schienen.

Edith vermutete, dass sich in den Baracken die Ställe befanden. Zumindest deuteten die Strohreste darauf hin, die noch vor den halb geöffneten Holztüren herumlagen, von denen es mehrere entlang der Baracken gab. Vorsichtig stieß Edith ein paar Türen auf. Die Ställe waren allesamt leer. Nur ein paar alte Milchkannen, die sich an einer Wand stapelten, leere Schweinetröge sowie Pferdegeschirre, die offensichtlich lange nicht mehr benutzt wurden, waren zu sehen. Zudem war der Boden mit einer Schicht Stroh bedeckt, das inzwischen etwas schmuddelig wirkte.

Etwas abseits hinter der rechten Baracke entdeckte Edith schließlich doch noch ein paar Tiere. Durch einen scheinbar schon oft geflickten Maschendrahtzaun eines Verschlags konnte Edith ein gutes Dutzend Hühner sowie einen Hahn zählen. Auf einer Wiese daneben grasten mit einem langen Seil an einem Holzpflock angeleint zwei Ziegen. Das Geschnatter von Gänsen konnte Edith ebenso vernehmen.

Gegenüber dem Hühnerstall auf der linken Seite des Hofes stand ein weiteres, höheres Gebäude, das nicht aus Backstein gebaut worden war, sondern gänzlich aus Holz. Es hatte ein großes Tor. Die schweren Flügeltüren standen weit offen und gaben den Blick in eine Halle frei, die wie leer geräumt wirkte. Lediglich ein Fahrrad sowie ein alter Leiterwagen, der per Hand oder Ochsen gezogen werden konnte, standen darin. An einigen Holzrädern des Wagens fehlten schon ein paar Speichen, die Ladefläche war mit kleinen Löchern durchzogen. Weder einen Traktor noch andere landwirtschaftliche Gerätschaften wie Pflüge, Dresch- und Sämaschinen konnte Edith in der Scheune entdecken.

Edith trat wieder in die Mitte des Hofes und blickte noch einmal zum Bauernhaus. Neben einer weiteren Eingangstür, die auf den Hof führte, entdeckte sie auf einer Fensterbank etwas, das ihre Neugier weckte. Und ihren Hunger. Ein ganzes Blech Mohnkuchen stand dort, vermutlich zum Abkühlen. Der Dampf stieg noch aus dem Hefeteig und verströmte einen köstlichen Duft, als sie sich dem Kuchen näherte. Die feinen schwarzen Mohnperlen glitzerten in der Sonne. Wie auf Kommando knurrte Ediths Magen erneut laut auf. Er brüllte beinahe, zumindest kam es ihr so vor.

Edith versuchte sich noch gegen ihren Hunger zu wehren. Doch schließlich stürzte sie sich auf den Kuchen, riss mit den Händen ein gutes Stück aus dem heißen Gebäck heraus und stopfte es sich in den Mund. Beinahe ohne zu kauen, verschlang sie die großen Kuchenteile, die sie hastig abbiss.

»Jeronje, was machen Sie denn da?«, hörte sie hinter sich plötzlich aufgebracht rufen. Edith erschrak zutiefst und drehte sich ertappt um. Von dem herausgerissenen Kuchenstück waren nicht mehr als ein paar Krümel übrig geblieben, die nun zu Boden fielen, als sie sich ertappt ihre Hände am Kleid abwischte. Edith wäre am liebsten ebenso in der Erde versunken.

Eine Frau, vermutlich um die sechzig, kam von der offenen Seite des Hofes in schweren Galoschen auf sie zu gestiefelt. Ihr Haar war zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Nicht eine graue Strähne fiel ihr ins Gesicht. Über ihrem weiten blauen Kleid trug sie eine Schürze, auf der ein paar frische Flecken zu sehen waren. Edith vermutete, dass sie vom Backen stammten. Ihr Rücken, den die Frau sich mit einer Hand hielt, war gekrümmt von der Arbeit. In der anderen Hand hielt sie einen Korb mit Eiern.

»Ich steh doch nicht den ganzen Tag in der Küche, damit du mir wie ein Schwein alles wegfutterst! Der Kuchen war für die Frau Katharina und das Fräulein Alma gedacht. Als Aufmunterung.«

Edith fiel es schwer, den brodelnden Worten der Frau zu folgen. Nicht nur, weil sich ihre Stimme vor Wut beinahe überschlug, sondern auch weil sie einen starken schlesischen Akzent sprach.

Wenige Meter vor Edith blieb die Frau dann plötzlich stehen und sah sie verdutzt an. »Madla, wer bist denn du überhaupt? Was suchst du hier?«, fragte sie, während sie den Eindringling forsch musterte.

Edith zögerte. Sie überlegte, ob sie einfach wegrennen sollte. In den letzten Monaten hatte sich ihr Fluchtreflex stark ausgeprägt und ihr ein ums andere Mal das Leben gerettet. Doch dieses Mal entschied sie sich, zu bleiben. Wohl auch deshalb, weil sie überhaupt nicht wusste, wohin sie stattdessen hätte gehen sollen.

Sie schluckte schließlich, zog aus ihrem Lederkoffer einen Briefumschlag und reichte ihn der Frau. Diese stellte ihren Korb vor sich auf dem Boden ab und nahm Edith das Kuvert aus der Hand. Mit wenig Fingerspitzengefühl riss sie den Umschlag auf und zog ein Stück Papier heraus. Aufmerksam las sie das offizielle Schreiben. Dann blickte sie wieder hoch. Edith glaubte dabei ein leises, genervtes Stöhnen zu hören.

»Soso! Also noch eine!«, sagte sie. Dann musterte sie die junge Fremde erneut. Ihr Blick blieb skeptisch.

»Normalerweise werden uns die Flüchtlinge von der sowjetischen Administration hier in Wrede zugeteilt«, sagte sie nun. »Die arbeiten mit Blatter, dem neuen Bürgermeister, zusammen. Den alten Gemeindevorsteher haben sie ja abgeholt. Genauso wie unseren Hausherren. Na jedenfalls weiß Blatter eigentlich, wo im Ort noch Platz für Flüchtlinge ist und welche Häuser schon vollkommen überfüllt sind.«

»Mein Großonkel hat in Wrede gelebt. Deshalb hab ich schon im Lager darum gebeten, mich hier unterzubringen«, erklärte Edith. Dass sie ihren Großonkel nie persönlich kennengelernt hatte, verschwieg sie jedoch lieber.

»Soso, warum bist du denn nicht bei deiner Verwandtschaft untergekommen?«

»Er hat keine Nachkommen hinterlassen.«

Die Frau hob die Augenbrauen.

»Es ist ja nur vorübergehend«, fügte Edith hinzu.

»Vorübergehend, ja? Das sagen sie alle!«, antwortete ihr Gegenüber jedoch nur.

»Ich bin allein …«, sagte Edith und fügte fast flüsternd hinzu, sodass die Frau es nicht hören konnte: »… zumindest noch!« Edith hielt kurz inne und sprach dann in normaler Lautstärke weiter. »Ich brauche also nur einen Schlafplatz, eine Beschäftigung und … etwas zu essen.«

»Scheint mir, als wenn du Letzteres wirklich gut gebrauchen könntest«, antwortete sie mit Blick auf den angeknabberten Blechkuchen auf der Fensterbank. »Hast du denn schon einmal in der Landwirtschaft gearbeitet?«

Edith zögerte kurz, schüttelte dann schließlich ehrlich den Kopf. »Aber ich lerne schnell. Und ich kann gut mit Tieren umgehen«, antwortete sie.

»Nutztiere haben wir hier nicht mehr viele. Die Schweine, Kühe und Pferde haben uns die Russen genommen. Aber auf dem Feld können wir jede helfende Hand gebrauchen.«

Edith nickte schnell. Sie würde alles tun, Hauptsache, es würde ihr fürs Erste ein Dach über dem Kopf und einen trockenen Schlafplatz bescheren und etwas Brot einbringen.

»Nun gut!«, fügte die Frau schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit hinzu. Ihr Gesicht hellte sich langsam auf. Offenbar ahnte sie, dass sie den Neuankömmling ohnehin nicht loswerden würde. »Ich bin übrigens Magda. Ich zeige dir, wo du schlafen kannst.« Damit hob sie den Korb vom Boden auf und ging an den Ställen vorbei. Edith folgte ihr.

Vor einer Backsteinhütte, die etwas versteckt hinter der großen Scheune stand, blieben sie stehen. Die Hütte war wesentlich kleiner und verfallener als die übrigen Gebäude. Die schmalen Fenster unterhalb der Dachrinne waren mit Tüchern abgehängt, wohl um die frühsommerliche Hitze nicht allzu sehr hineinzulassen.

»Im Bauernhaus wohnen bereits zwei Großfamilien aus dem Sudetenland. Deshalb muss ich dich auch hier unterbringen. Deine neuen Mitbewohner sind gerade auf den Feldern arbeiten.«

Edith nickte verstehend.

»Aber komm erst mal rein in die gute Stube«, sagte Magda nun schon freundlicher und betrat das kleine Gebäude. Edith folgte ihr. Die Hütte bestand nur aus einem Raum. In der Mitte war ein kleiner Kohleofen als Kochstelle eingerichtet. Pfannen und Töpfe hingen an Haken von der Decke baumelnd über der kleinen Kochplatte. In einem Regal daneben standen Teller, Tassen und Schüsseln, die augenscheinlich zusammengesucht waren, passte doch keine Form und keine Keramikverzierung zur anderen. Ein kleiner Holztisch diente als Essbereich. Ein paar Schemel standen drum herum.

»Das Plumpsklo ist drüben auf der anderen Seite des Hofes. Frisches Wasser kannst du dir aus dem Brunnen holen. Strom gibt es nur im Haupthaus. Der wird aber auch ab sechs abgestellt«, erklärte Magda.

Edith nickte nur und ließ schweigend weiter ihren Blick schweifen. An Wäscheleinen unter der Decke befestigte Laken teilten an den Seiten des Raumes mehrere Schlafbereiche ab.

Im vorderen Bereich standen eine Wiege sowie ein schmales Bett, auf dem brav zugedeckt eine Puppe lag.

Magda deutete mit einem Kopfnicken auf die Betten. »Simone, das kleine Mädchen, ist sehr lieb. Manchmal etwas forsch.« Magda blickte Edith von der Seite an. »Ihr werdet euch sicher verstehen«, fügte sie schmunzelnd hinzu. Doch bevor Edith auf den kleinen, wohl nicht ganz ernst gemeinten Seitenhieb eingehen konnte, sprach Magda schon weiter. »Das Baby, Marie, ist keine sechs Monate alt. Die arme Hertha ist ganz allein mit den beiden Bälgern hergekommen. Ihr Mann war ein SS-Offizier aus Pommern und ist nun wohl unauffindbar.«

Edith nickte nur und blickte sich weiter um. Ein weiterer Schlafbereich lag gleich daneben. Hier gab es nicht einmal ein Bettgestell. Die Matratze lag auf dem nackten Betonfußboden. Dafür war unter dem Fenster ein hoher Bücherstapel zu sehen.

Magda schüttelte den Kopf, als auch sie auf die Bücher blickte. »Dass der die den ganzen Weg aus Westpreußen mitgeschleppt hat, verstehe ich bis heute nicht. Ne Geige hat er auch noch dabeigehabt.«

Edith ließ kurz ihren Blick schweifen. Einen Geigenkasten konnte sie in dem provisorischen Nachtquartier nicht entdecken. Dann blickte sie wieder zu Magda.

»Wer?«, fragte sie.

»Alfons. Aber nimm dich in Acht vor dem. Der hat nicht nur ein Holzbein, sondern auch nur Stroh im Kopf.«

Edith blickte Magda irritiert an. Sie hatte keine Ahnung, was die Ältere damit meinte, schließlich ließen die Bücher sowie die erwähnte Geige Edith doch das genaue Gegenteil vermuten. Doch auch darauf ging Magda nicht weiter ein und zeigte stattdessen auf einen Schlafbereich, der nicht einsehbar war. Die Laken waren vollständig zugezogen. »Hier wohnen die Koslowskis, ein älteres Ehepaar. Die beiden reden nicht viel und halten sich auch sonst aus allem raus. Aber sie sind fleißig und immer höflich.«

»Und wo kann ich schlafen?«, fragte Edith nun etwas vorsichtig, da sie kein weiteres Bett sah.

Magda hob den Kopf und deutete mit einem Nicken auf eine schmale Leiter, die auf den Dachboden führte. Vorsichtig nahm Edith eine Sprosse nach der anderen und steckte ihren Kopf durch die Luke. Der Dachboden war sehr niedrig. Ein kleines Fenster auf der Giebelseite ließ etwas Licht herein. Doch viel zu sehen gab es nicht. Lediglich eine Matratze lag auf dem staubigen Holzfußboden sowie ein kleiner Tisch, der mehr einem niedrigen Hocker glich.

»Ein frisch bezogenes Deckbett, Waschlappen, ein Stück Kernseife und Handtücher bringe ich dir nachher noch«, rief Magda ihr von unten zu. Edith blickte hinab. »Vielen Dank!«

»Geräumig ist es da oben nicht gerade. Aber fürs Erste wird es sicherlich gehen.«

»Es ist gut«, antwortete Edith schnell, während sie die Treppe wieder hinabstieg, und meinte es ehrlich. In den letzten Wochen hatte sie viel schlimmere Schlafplätze beziehen müssen.

Als Edith wieder am Fuß der Leiter stand, sah sie sich noch einmal unsicher um. Magda beobachtete sie dabei. Sie legte ihren Kopf schief und blickte die junge Frau mitfühlend an. »Anfangs ist es schwer. Das war es für jeden von uns. Aber du musst die Vergangenheit loslassen, wenn du neu anfangen willst.«

Edith blickte sie überrascht an. Die Vergangenheit loszulassen, war das Letzte, was sie wollte.

»Nun, Madla, ich muss wieder zurück, ruh du dich erst einmal etwas aus«, sagte Magda dann, ohne weiter auf ihre soeben ausgesprochenen Worte einzugehen, und fügte augenzwinkernd hinzu: »Ich muss ja nun noch einen zweiten Kuchen backen.«

Mit diesen Worten verließ sie die Hütte, während Edith zurück auf den Dachboden kletterte. Sie legte sich auf die Matratze, die einen seltsam muffigen Geruch verströmte, und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, und sie glitt müde und geschafft von dem langen Fußmarsch in einen unruhigen Schlaf.

Edith

Einige Monate zuvor

Edith spürte plötzlich eine nasse Kälte um ihre Wangen. Dumpf drang ein Lachen in ihre Ohren. Es war ausgelassen und fröhlich. Und beinahe ansteckend. Doch Edith bekam nicht einmal Luft. Reflexhaft zog sie ihren Kopf hoch, aus dem Wasser heraus. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie Esther vor sich, die sich prustend den Bauch hielt. Edith selbst hockte vor einer Schüssel mit klarem Wasser, in dem ein grüner Apfel schwamm. Leichte Bissspuren waren auf der Schale zu sehen. Edith versuchte wieder zu Atem zu kommen, während ihre Schwester sich zu ihr vorbeugte.

»Schwesterchen, du nagst ja an dem Apfel wie eine Maus. Du musst herzhafter zubeißen. Wie eine Bärin, die ihr Junges verteidigt. Dann kriegst du ihn auch heraus«, erklärte sie noch lachend.

Sie saßen in ihrem Garten in Groß Spiegel. Das Laub der Obstbäume strahlte in satten Gelb- und Rottönen. Vereinzelt hingen noch ein paar Äpfel, Pflaumen und sogar Kirschen an den knorrigen Ästen, an denen sich die Stare nun satt aßen. Die Beete, die sich daneben erstreckten, waren bereits abgeerntet und für den Winter vorbereitet. Nur die Kartoffeln schlummerten noch unter der Erde. Ein paar Wildgänse flogen in Formation über ihre mit geflochtenen Zöpfen frisierten Köpfe hinweg gen Süden.

Die Sonne, die bald hinter dem kleinen Haus mit dem roten Dach und der blau gestrichenen Tür verschwand, vermochte nicht mehr so stark zu wärmen wie noch vor wenigen Wochen. Schon ein kleiner Windhauch genügte inzwischen, damit sich die feinen Härchen auf Ediths Haut aufstellten.

Mit ihrem Ärmel wischte sie sich übers Gesicht, um es zu trocknen. Ein paar Wassertropfen fielen dabei auf ihr Kleid und hinterließen kleine dunkle Flecke auf dem weiß geblümten Stoff.

Bevor Edith antworten konnte, hörten sie, wie sich die Gartenpforte öffnete. Ein Mann trat herein. Es war ihr Nachbar Doktor Ewald. Edith erkannte ihn sofort an seinem akkurat gestutzten Schnurrbart, in dem noch ein wenig Pomade klebte.

Im Vorbeigehen nickte er den Schwestern nur kurz zu, was Edith sofort stutzig machte. Normalerweise hatte er für die Nachbarsmädchen stets ein Wangenküsschen zur Begrüßung übrig. Esther hasste es. Sie wischte sich jedes Mal danach mit der Hand durchs Gesicht. Edith hingegen hatte nichts dagegen einzuwenden, sie mochte ihn. Nahm er sie doch hin und wieder mit zu seinen Patienten.

Ohne ein Wort zu viel verschwand er im Haus. Esther sprang auf und folgte ihm. Wie eine Detektivin aus einem der Romane, die Edith so gerne las, schlich ihre Schwester durch das hohe Gras zum Küchenfenster. Edith tat es ihr gleich, auch wenn sie nicht wusste, was die Geheimnistuerei sollte.

Durch das geschlossene Fenster sahen die Schwestern hinein. Dort saß ihre Mutter am Küchentisch. Ihren Blick hatte sie stur geradeaus gerichtet. Doktor Ewald stand vor ihr, mit den Händen in den Hüften leicht vorgebeugt. Edith musste sich konzentrieren und genau hinhören, um die Worte zu verstehen, die im Inneren des Hauses gewechselt wurden.

»Ihr müsst mitkommen!«, forderte Doktor Ewald seine Nachbarin auf.

»Und was ist mit Heinrich?«, fragte sie zurück

Doktor Ewald schwieg kurz, dann blickte er Ediths Mutter ernst an. »Wann hast du die letzte Feldpost von deinem Mann bekommen?«

»Vor zwei Jahren«, antwortete sie und schob schnell hinterher: »Aber das hat gar nichts zu bedeuten. Es herrscht zunehmend Chaos in diesem Krieg. Die rechte Hand weiß nicht mehr, was die linke tut. Das hast du mir letztens selbst erzählt.«

»Paris ist gefallen. Und auch im Osten rückt die Front immer näher. Wenn die Russen kommen, sind wir hier nicht mehr sicher. Ich hab’ schreckliche Geschichten aus Ostpreußen gehört. Die Soldaten sollen dort geplündert haben, Frauen vergewaltigt, Männer getötet und ganze Dörfer in Brand gesetzt. Bitte, Liesel, sieh es ein. Heinrich ist vermutlich tot, und ich will nicht, dass ihr ihm ins Grab folgt. Kommt mit uns mit!«

Edith musste schlucken, auch wenn sie noch nicht einmal annähernd dazu bereit war, diesen schrecklichen Worten wirklich Glauben zu schenken. Sie blickte ihre Schwester an. Esther war ganz bleich geworden. Von der Fröhlichkeit, die sie eben beim Apfelspiel noch ausgestrahlt hatte, war nichts mehr zu sehen. Nun lief über ihre Wange eine kleine Träne.

Dann sah Edith wieder in die Küche hinein zu ihrer Mutter, die weiterhin wie angewurzelt dasaß und nichts tat, außer den Kopf zu schütteln. Erst ganz sachte und dann immer entschiedener.

Edith

Ende Juni 1945

Schweißgebadet erwachte Edith. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann sah sie das kleine Giebelfenster, durch das noch ausreichend Licht einfiel. Dem Stand der Sonne nach hatte sie nicht mehr als zwei Stunden geschlafen. Viel ausgeruhter fühlte sie sich jedoch nicht. Schon seit Wochen schlief sie schlecht, träumte immer wieder von den letzten Monaten in Groß Spiegel, von ihrer Schwester Esther und der übereilten Flucht. Wie lästige Gespenster hatten sich die Erinnerungen in ihrem Kopf eingenistet, versteckten sich bei Tag, huschten nur hin und wieder durch ihre Gedanken, um zu zeigen, dass sie noch da waren. Doch in der Nacht oder wenn sie schlief, krochen sie hervor und spukten und polterten durch all ihre Träume.

Langsam ließ Edith ihren Blick weiter über den kleinen Dachboden schweifen. Als sie zu der Luke sah, die hinabführte, erschrak sie kurz. Neben der Leiter saß ein Mädchen und wühlte in ihrem Koffer, den Edith neben dem Hocker abgestellt hatte. Die Kleine hielt die wenigen Fotos, die Edith in der Eile eingepackt hatte, in den Händen und sah sie sich neugierig an. Ganz oben war das Bild ihrer Schwester zu sehen. Edith erkannte den Blumenkranz in ihrem Haar, den sie Esther extra für den Termin mit dem Fotografen geflochten hatte.

Als Edith sich leise räusperte, blickte das Mädchen auf. Es blieb stumm, regte sich nicht und starrte Edith nur an. Erst als von unten ein kurzer Pfiff ertönte, ließ das Mädchen die Fotos fallen, kletterte flink die Leiter hinunter und verschwand aus Ediths Sichtfeld.

Edith stand nun ebenfalls auf, lief etwas gebückt zur Leiter und stieg ebenso hinab, nachdem sie die Fotos sorgsam wieder im Koffer verstaut und ihn zugeklappt hatte.

Die Hütte war leer, doch von draußen drangen Stimmen herein. Sie folgte den Geräuschen und trat durch die Tür vors Haus. Ein kleines Feuer brannte, drum herum saßen im Gras oder auf einer Bank eine Handvoll Menschen und unterhielten sich. Das Mädchen entdeckte sie auf dem Schoß einer jungen Frau, die nicht älter als ihre Schwester Esther zu sein schien. Beide trugen das gleiche Kopftuch. Doch während ein paar Blümchen aus weißer Spitze den Rock des Mädchens zierten, war das Kleid der Mutter schlicht gehalten und augenscheinlich schon viel getragen worden. Edith vermutete, dass dies die Mutter und ihre ältere Tochter waren, die laut Magda ebenso in der Hütte wohnten.

Edith blickte sich kurz suchend um. Etwas abseits des Feuers im Schatten einer jungen Kastanie entdeckte sie auf einer leicht verschlissenen Wolldecke nun auch das Baby. Trotz der noch warmen Temperaturen lag es dick eingemummelt da und schlief.

Neben der Frau und dem Mädchen saß ein junger Mann im Gras. Das eine Bein hatte er gerade ausgestreckt. Zwischen dem Hosensaum und dem Strumpfband lugte statt eines Knöchels etwas Hölzernes hervor. Das musste Alfons sein, von dem Magda nicht gerade in den höchsten Tönen gesprochen hatte. Das strohblonde Haar fiel ihm in sein schmales, markantes Gesicht. Spitzbübisch kitzelte er Simone, die deshalb auf dem Schoß ihrer Mutter hin und her zappelte. Doch trotz seines Lächelns, das er dabei auf den Lippen trug, lag in seinem Blick eine Nachdenklichkeit, die Edith sofort auffiel.

Das ältere Pärchen, das ebenso in der Hütte leben sollte, konnte Edith nicht in der Gruppe ausmachen. Dafür saßen zwei junge Mädchen auf der Bank. Edith vermutete, dass sie ebenso Vertriebene waren und zu den sudetendeutschen Familien gehörten, die im Haupthaus wohnten. Zu guter Letzt stand da noch ein Mann mittleren Alters vor dem Feuer. Mit einem großen Löffel wendete er in der Pfanne Fisch, der einen Duft nach Meer, Salz und knuspriger Mehlpanade verströmte.

Als die ums Feuer Sitzenden Edith entdeckten, verstummten sie kurz. Dann hellte sich Alfons’ Gesicht auf.

»Na, von den Toten auferstanden?«, fragte er sie schelmisch grinsend. Er blickte sie dabei an, als würden sie sich schon ewig kennen, was Edith ein wenig irritierte. Doch augenscheinlich erwartete er gar keine Antwort, denn schon sprach er einfach weiter. »Edith, stimmts? Magda hat uns schon alles über dich verraten. Na ja, zumindest das, was sie wusste. Du bist aus Hinterpommern, nicht wahr?«

»Alfons«, unterbrach die Mutter. »Nun sabbel doch nicht so viel. Siehst du nicht, dass du sie ganz verschreckst?« Sie wandte sich Edith zu. »Ignoriere ihn einfach. Ich bin Hertha. Und das ist meine Tochter …«

»Simone. Wir haben schon Bekanntschaft gemacht«, unterbrach Edith. Das Kind guckte Edith ein wenig erschrocken an, nickte dann aber schnell, als sie ihr schließlich mit einem leichten Lächeln zuzwinkerte.

»Setz dich doch zu uns!«, sagte Hertha und deutete auf einen noch freien Platz. Edith zögerte, schließlich nahm sie etwas abseits des Feuers im hohen Gras Platz.

»Hast du Hunger?«, fragte Hertha. »Max brät gerade Fisch.«

»Blöde Frage, natürlich hat sie Hunger«, unterbrach Alfons sie. »Jeder, der 300 Kilometer gelaufen ist, hat Hunger.«

»Schon gut«, mischte Edith sich schließlich in den kleinen Zank ein. »Ich habe schon etwas gegessen. Mehr, als mir zustand«, fügte sie in Gedanken an den Mohnkuchen etwas reumütig hinzu.

Hertha nickte verstehend. Ohne weiter nachzuhaken, sagte sie nur: »Morgen nehme ich dich mit aufs Feld. Dann kannst du für dein Essen arbeiten und brauchst kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.«

Edith nickte dankbar, während sie schweigend ins Feuer blickte.

Nach einer kurzen Weile stand Simone plötzlich vor ihr. Edith hatte nicht bemerkt, wie das Mädchen vom Schoß ihrer Mutter gehüpft und auf sie zugekommen war. Erst jetzt stellte Edith fest, wie klein sie doch noch war. Vier oder fünf Jahre alt, schätzte sie. Mit etwas Schwung ließ sich das Mädchen neben Edith ins Gras plumpsen. Sie pflückte einen Halm, steckte sich das eine Ende in den Mund und kaute darauf herum. Dabei ließ sie Edith nicht aus den Augen.

»Bist du allein?«, fragte sie dann unumwunden.

Edith erschrak kurz ob der direkten Frage, nickte dann aber.

»Wo sind deine Eltern?«, bohrte sie weiter nach.

Edith überlegte kurz, bevor sie antwortete. »Mein Vater hat in Stalingrad gekämpft. Er ist nicht zurückgekehrt.«

»So wie mein Onkel. Der ist jetzt im Himmel. Ist dein Papa dort jetzt auch?«

Edith schluckte, blickte sich kurz hilfesuchend um. Doch die anderen waren bereits wieder in ihre Gespräche vertieft. Hertha war aufgestanden, um nach Marie zu sehen.

Edith blickte wieder zu Simone und seufzte schließlich. »Vielleicht!«, antwortete sie knapp. Die Gedanken an den Himmel und die Hölle, an Gott und Versöhnung waren für Edith so weit weg wie ihre Heimat. Doch das allein war es nicht, was sie zögern ließ. Sie wusste einfach nicht, was mit ihrem Vater passiert war. Vielleicht war er tatsächlich gefallen. Möglich war es aber auch, dass er noch lebte und versuchte, nach Hause zu finden. Einem Zuhause, das jedoch nicht mehr existierte.

»Und deine Mama?«

»Sie war krank. Typhus. Kennst du das?«

Simone schüttelte den Kopf.

»Keine schöne Krankheit«, antwortete Edith.

»Gibt es denn schöne Krankheiten?«, fragte Simone etwas irritiert.

Edith musste ob der erfrischenden Unbedarftheit kurz schmunzeln. Dann antwortete sie: »Vermutlich nicht. Aber es gibt Krankheiten, die nicht ganz so schmerzhaft sind und an denen man nicht unbedingt stirbt.«

Simone nickte, obwohl Edith sich nicht sicher war, ob das Mädchen wirklich verstand, was sie meinte.

Dann sah Simone sie wieder an. Ihre Kinderaugen strahlten eine Unschuld aus, um die Edith sie ein wenig beneidete. »Und sonst hast du niemanden mehr?«, bohrte sie weiter nach.

Edith überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Sie konnte nicht über Esther sprechen. Nicht mit Simone und auch sonst mit niemandem.

»Wie schade«, antwortete Simone da schon. »Ich hab ja noch meine Schwester. Obwohl die noch ein Baby ist. Mehr als schreien und pupsen kann sie noch nicht.«

Dann ließ sie ihren Grashalm plötzlich sinken und sah Edith an, als hätte sie die beste Idee seit Langem. »Wenn du willst, kann ich deine Freundin sein. Dann hast du mich.«

Ein kleines Lächeln huschte über Ediths Gesicht. »Ja, das wäre schön!«, antwortete sie dabei.

Simone lächelte zufrieden und steckte sich den Halm wieder in den Mund. Edith zupfte nun auch einen Grashalm ab und tat es ihrer neuen Freundin gleich.

Später am Tag, als die Sonne sich langsam dem Horizont zuneigte und die ersten Wipfel des Kiefernwaldes kitzelte, ließ sie das Bauernhaus und die Hütte hinter sich, um ein wenig spazieren zu gehen. Sie wollte noch etwas allein sein.

Während der Flucht waren immer Menschen um sie herum gewesen. Mit Dutzend anderen hatte sie in kleinen Scheunen geschlafen, sich das Strohbett mit Alt und Jung, Fremden und Bekannten geteilt. Als ihre Ferse angeschwollen war und jeder Schritt geschmerzt hatte, hatte sie sich zwischen Alten und Gebrechlichen auf einen Pferdewagen gequetscht. Und im Auffanglager in Stralsund hatte sie in einem ehemaligen Tanzsaal geschlafen, der bis aufs letzte Feldbett belegt gewesen war.

Auf der Flucht war es wichtig gewesen, zusammenzubleiben, sich gegenseitig Schutz zu bieten und aufeinander achtzugeben. Jetzt endlich konnte sie auch einmal allein sein. Und sie war froh um jede einsame Minute, auch wenn sie aufpassen musste, dass ihre Gedanken nicht allzu trübe wurden.

Edith ließ ihren Blick schweifen. Hinter dem Bauernhaus taten sich goldgelbe Getreidefelder auf, Äcker, deren Grün in der Sonne spross, sowie ein lang gezogenes Waldstück, aus dem das Klopfen der Spechte zu hören war. Noch am Feuer hatte Hertha ihr erzählt, dass die Ländereien – fast sechzig Hektar insgesamt – zum Gehöft gehörten und seit mehreren Generationen in Besitz der Familie Gerber waren.

Edith sog die frische spätabendliche Luft mit tiefen Atemzügen ein. Es roch nach Erde, Weizen, Kiefern und auch ein wenig nach Fisch, wie Edith überrascht feststellte. Das Meer konnte also nicht mehr weit sein. Sie nahm einen kleinen Pfad, der durch die Felder in den Wald hineinführte, und folgte ihrer Nase und dem Geschrei der Möwen, das aus einiger Entfernung schon zu hören war.

Nach ein paar Hundert Metern öffnete sich plötzlich der Wald und gab den Blick auf den wolkenlosen Horizont frei. Die Kiefern standen Spalier vor einem niedrigen Schutzwall, der aus heller Erde und einigen windverwehten Grasbüscheln und Sträuchern bestand. Ein kleiner Weg führte über die Dünen hinweg und endete in einem Meer aus feinstem Sand. Dahinter erstreckte sich das blaue Wasser, so weit Edith blicken konnte.

Im ersten Moment war sie von dem Anblick überwältigt. In ihrer Heimat gab es unzählige Flüsse und Bachläufe, die sich in den schönsten Blau- und Grüntönen mal reißend und mal geruhsam ihren Weg durch die pommerische Landschaft bahnten. Doch das Meer hatte sie noch nie zuvor gesehen. Die Kraft, die es ausstrahlte, zog Edith an. Gleichzeitig flößte es ihr aber auch tiefen Respekt ein und stimmte sie melancholisch. Es schien unergründlich und vor allen Dingen unüberwindbar. Während die Gewässer ihrer Heimat im fortlaufenden Fluss waren, sie weitertrugen, Veränderung schafften, umschloss das Meer diese Insel wie eine Grenze. Eine Grenze, die Edith von ihrem früheren Leben trennte.

Einem Impuls folgend zog Edith ihre schweren Stiefel sowie die Strümpfe aus, steckte ihre nackten Füße in den noch warmen Sand und ging ein paar Schritte auf das Ufer zu. Sie setzte sich auf einen angeschwemmten Baumstamm, der von den Wellen ganz glatt geschliffen war, und blickte nachdenklich aufs Meer hinaus.

Da erspähte Edith plötzlich etwas im Wasser, das dort nicht hinzugehören schien. Etwas Dunkles, das im Takt der Wellen hin- und herschwappte. Dann tauchte es unter und war nicht mehr zu sehen. Edith sprang auf, suchte das unruhige Wasser ab. Doch es schien nicht mehr da zu sein. Sie lief den Strand entlang, näher zu der Stelle im Wasser, wo sie das dunkle, schwimmende Etwas gesehen hatte. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, die Wasseroberfläche abzusuchen, dass sie beinahe über ein paar Schuhe und ein Kleid gestolpert wäre. Die Sachen lagen im Sand, achtlos hingeworfen, so als hätte die Trägerin sich ihrer in aller Eile entledigt. Das Muster des Kleides kam Edith irgendwie bekannt vor, auch wenn sie nicht wusste, woher.

Sie blieb stehen und starrte erneut aufs Wasser hinaus. Dann endlich sah sie wieder das Dunkle aufblitzen und erkannte nun auch, was es war: ein pudelnasser Haarschopf, der dem Spiel der Wellen ausgesetzt schien. Edith erschrak zutiefst und schrie gegen die brandenden Wellen: »Hallo! Brauchen Sie Hilfe?«

Doch die Person, die dort im Wasser trieb, hatte den Rücken zum Ufer gewandt und hörte Ediths Ruf nicht.

Edith drehte sich um, ihr Herz raste vor Aufregung. Hastig suchte sie den Strand ab, schaute nach links und rechts und ließ ihre Augen über die Dünen schweifen. Doch außer ein paar Möwen, die unbeeindruckt im Sand umherwatschelten, war weit und breit niemand zu sehen.

Da erfasste eine Welle den Haarschopf und zog die Person erneut unter Wasser. Edith konnte sie nicht mehr sehen. Panik stieg in ihr auf. Angestrengt versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen, überlegte, was sie nun tun sollte. Was in so einer Situation vernünftig und angemessen wäre. Doch in Ediths Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander, überschlugen sich, bis sie schließlich einen vollkommen verrückten Entschluss fasste.

Sie stapfte ins Wasser, auf die Stelle zu, an der sie die Frau eben zuletzt gesehen hatte – dabei konnte sie doch nicht einmal schwimmen.

Die Wellen schlugen erst gegen ihre Knöchel, dann gegen die Waden und Schenkel. Ihr Kleid sog sich sofort mit Wasser voll und hinterließ an ihrem ganzen Körper eine Gänsehaut. Ihre Zähne begannen schon jetzt zu klappern. Doch sie riss sich zusammen und ging weiter durch das kühle Nass immer tiefer ins Meer hinein. Als ihr das Wasser bereits bis zur Brust stand, hatte sie Probleme, ihre Füße auf dem sandigen Boden zu behalten. Sie rutschte immer wieder weg, spürte, wie das Wasser ihr den Untergrund wegzog, tauchte beinahe unter, bevor sie wieder Halt fand. Mit ihren Armen versuchte sie das Wasser beiseitezuschieben, obwohl sie doch wusste, dass das unnütz war.

Suchend ließ sie ihren Blick schweifen. »Hallo! Hallo! Wo sind Sie?«, rief sie erneut so laut und kräftig, wie sie konnte. Wellen schwappten ihr dabei immer wieder ins Gesicht. Ungewollt schluckte sie auch Wasser, das zu Ediths Überraschung salzig schmeckte und einen schier ekelhaften Geschmack auf der Zunge hinterließ. Sie hustete stark.

Plötzlich erfasste Edith eine große Welle und drückte sie vollständig unter Wasser. Gleichzeitig verlor sie den Boden unter den Füßen. Wie wild strampelte sie, versuchte an die Oberfläche zu kommen oder wenigstens wieder Fuß zu fassen. Doch das Wasser zog mit ungeahnter Kraft an ihrem Körper und riss sie mit der Welle mit.

Da spürte sie plötzlich einen Arm, der ihren Brustkorb umschloss und sie nach oben zog. Als sie wieder an der Oberfläche war, japste sie nach Luft. Sie spürte erneut den Boden unter ihren Füßen, brauchte aber noch eine Weile, um sich zu orientieren. Dann drehte sie sich um.

Zu ihrer Überraschung blickte sie in die grünen Augen der jungen Frau, die sie Stunden zuvor am Brunnen in Wrede gesehen hatte. Jetzt erkannte Edith auch, dass sie es gewesen war, die sie im Wasser gesehen hatte. Nun zog sie sie Richtung Land. Edith wusste nun, woher ihr das Kleid am Ufer bekannt vorgekommen war.

Stapfend und noch immer nach Luft ringend erreichten sie das Ufer und ließen sich kurz hinter dem Spülsaum mit dem Hintern in den Sand plumpsen.

»Was wolltest du im Wasser?«, fragte Edith schließlich noch etwas aus der Puste.

»Was wolltest du da?«, fragte die andere jedoch nur zurück.

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