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Wo wir Kinder waren

Als Buch hier erhältlich:

Vom Rückblick auf eineglückliche Kindheit

Eva, Iris und Jan sind Erben der ehemals prächtigen Spielzeugfabrik Langbein in Sonneberg. In der Kaiserzeit gegründet, befand sie sich in der Weimarer Republik auf ihrem Höhepunkt, überstand zwei Kriege, deutsche Teilung und Verstaatlichung, nur um nach der Wiedervereinigung kläglich unterzugehen. Nun ist von der ehrbaren Langbein-Tradition nichts mehr übrig. Streit und Verbitterung haben sich auf die Hinterbliebenen übertragen. Doch als bei einer Internetauktion eine der seltenen Langbein-Puppen auftaucht – sorgfältig genäht und von ihrem Großvater persönlich bemalt –, rückt die verblasste Vergangenheit wieder heran und wirft unzählige Fragen auf: nach Schuld und Verlust, aber auch nach Hoffnung und Neubeginn.

Eine mitreißendeFamiliengeschichte über einfast vergessenes Handwerk

»Es ist der Enthusiasmus der Autorin, der einen schließlich mitreißt.«MDR.de, 02.03.2021

»So macht die Verbindung aus mitreißender Familiensaga und historischem Zeugnis für eine vergessene Stadt ›Wo wir Kinder waren‹ zu einem unbedingt empfehlenswerten Lesevergnügen.« Galore.de, 10.02.2021

»›Wo wir Kinder waren‹ ist ein Stück emotionale Zeitgeschichte.« Susanne Fröhlich, Fröhlich lesen, MDR15.04.2021

»Das ist süffiger, teilweise spannender Lesestoff, bei dem man eine ganze Menge lernen kann.« Dirk Kruse,BR, 08.06.2021

»Eine tolle Familienchronik voller Geheimnisse und Missverständnisse, die zum Schmökern einlädt.«Neue Pause, 03.06.2021


  • Erscheinungstag: 26.01.2021
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950003
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Die Spielzeugtesterin

Eva musste wach bleiben. Sie nippte an ihrem Kaffee, der längst bitter schmeckte, und sah auf die Uhr. Halb zwei Uhr nachts. Gleich war es so weit. Die nervöse Vorfreude, die ihren Atem beschleunigte, rief eine verschüttete Erinnerung wach.

Die aufregendste Tätigkeit, die sie jemals ausgeübt hatte, war die einer Spielzeugtesterin gewesen. Ihre Karriere begann, als sie fünf Jahre alt war, und endete mit ungefähr dreizehn. Obwohl das über vier Jahrzehnte her war, konnte sie sich plötzlich wieder überdeutlich an dieses berauschende Gefühl erinnern. Sie hatte es immer in dem winzigen Moment gespürt, der zwischen dem Abstellen des gefüllten Dederonbeutels auf den Tisch und dem Herausholen des zu testenden Gegenstands lag. Nie hatte sie vorher gewusst, was der Beutel verbarg. Nie war sie enttäuscht worden.

Wieder sah Eva auf die Uhr. Sie trat an das weit geöffnete Fenster und lauschte in die Dunkelheit. Das Plätschern in der Nähe ließ sich nur erahnen. Der Fluss führte Niedrigwasser. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb Feuchtigkeit aus dem Wald herunter. Obwohl in der Schwärze der Nacht nichts zu sehen war, fühlte sie vor sich den Stadtberg und hinter sich den Schlossberg aufsteigen. Die Altstadt von Sonneberg schlängelte sich durch das enge Tal der Röthen. Die Häuser lagen darin wie in einem sicheren Schoß.

Eva war hier aufgewachsen, in der Spielzeugstadt der Deutschen Demokratischen Republik, in der sich alles nur um dieses eine Thema gedreht hatte. Aus jeder Familie arbeitete damals jemand in der Spielzeugherstellung, und das seit Generationen. Eva hatte an der Sonneberger Fachschule eine Ausbildung als Spielzeuggestalterin absolviert. Direkt nach ihrem Abschluss brachte sie in aller Seelenruhe ihre beiden obligatorischen Kinder zur Welt. Sie hatte die Gewissheit, dass ein sicherer Arbeitsplatz mit Kinderbetreuung in irgendeiner Außenstelle des Spielzeugkombinats auf sie wartete. Als ihre jüngste Tochter alt genug für die Krippe war, existierten keine volkseigenen Betriebe mehr. Für Eva fühlte es sich an, als hätte sie jahrelang Schwimmen geübt, nur um dann festzustellen, dass es nirgends mehr Wasser gab.

Dabei schien es vorherbestimmt gewesen zu sein. Eva war mit Leidenschaft Spielzeugtesterin. Alles hatte sie mit großer Ernsthaftigkeit geprüft. Standmixer, Lastenkräne mit Kurbel, Puppen, die in die Windel machten, Plüschbären, die laufen konnten, Raketenträger mit abschussbereitem Projektil, Metallbaukästen mit Motoren, Fernlenkautos mit Bowdenzug. Es handelte sich um geheimes Spielzeug in der Entwicklungsphase, von denen die Kinder in den anderen Städten der Republik nichts ahnten, nicht einmal in Berlin, wo es sogar Joghurt und H-Milch gab. Die meisten Spielsachen, die Eva testete, stammten aus dem Volkseigenen Betrieb Sonni. Damals war sich Eva wichtig vorgekommen. Es hatte sich angefühlt, als würde es allein von ihr abhängen, ob es ein Spielzeug in die Läden schaffte. Dabei war sie im Grunde gar nicht geeignet gewesen. Sie behandelte ihre Sachen einfach zu vorsichtig. Kaum jemand wusste besser als sie, wie viele Arbeitsgänge und welche Sorgfalt für die Herstellung nötig gewesen waren. Evas wilder Cousin Jan hingegen schaffte es auf Anhieb, die Federn der Aufziehtiere zu überspannen oder die Achsen der Kunststoffautos zu brechen.

In die Gruppe der Tester waren die Kinder ganz automatisch gerutscht. Ihre Eltern arbeiteten in einem Betriebsteil, der zur Sonni gehörte, und deshalb gingen sie in den Betriebskindergarten. Dort bekamen die Kindergartenkinder Prototypen, um damit ausgiebig zu spielen. Am Ende der Woche wurden sie von den Erzieherinnen eingehend dazu befragt. Es mussten Berichte darüber geschrieben und Fragebögen ausgefüllt werden. Wenn das Spielzeug die größten Rabauken von Sonneberg überlebt hatte, war es reif für die Kinder der DDR und des Ostblocks, und für den Neckermann-Katalog. Das Beste an dieser Sache war, dass die Probanden die Spielsachen nach der Testphase behalten durften.

Nicht ein einziges Stück besaß Eva noch davon. Ihre Mutter hatte alles weggeworfen, ohne sie zu fragen. Nicht um sie zu kränken, sondern aus praktischen Gründen. Sie war in eine kleine Neubauwohnung umgezogen, und das Haus hatte nur ein Flachdach besessen.

Seit Neuestem spürte Eva merkwürdige Anflüge von Sentimentalität, und sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, diese Dinge wieder aufzutreiben. Manche schwatzte sie Bekannten ab, andere fand sie auf Flohmärkten, und einige entdeckte sie, heruntergekommen und abgespielt, im Internet. Oft zahlte sie einen vielfachen Preis dessen, was es damals brandneu gekostet hatte. Das war ein Luxus, den sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Nie wieder war Eva für eine Arbeit so großzügig vergütet worden wie für das Spielzeugtesten.

Sie rückte vom dunklen Fenster ab. Nirgendwo brannte Licht, ihre Nachbarn schliefen längst. Aber in den USA war jetzt die beste Zeit für das Ende einer Internetauktion.

Eigentlich hatte Eva nach einem bestimmten Filztier gesucht, einem Schweinchen im Matrosenanzug, das sie einmal besessen hatte. Stattdessen war sie auf eine Langbein-Puppe gestoßen. Seitdem kontrollierte sie mehrmals stündlich diese Auktion. Sie setzte darauf, ohne Konkurrenz zu bleiben. Langbein-Puppen waren selten, aber weder wertvoll noch sonderlich begehrt.

Eva betrachtete die Fotos der Auktion. Die Puppe hatte einen schmalgliedrigen Körper aus Ziegenbalg, war fest mit Holzfasern ausgestopft, und die Beine besaßen erstaunlich intakte Kniegelenke. In den Augenhöhlen des Porzellankopfs saßen dunkle Schlafaugen. Evas Blick folgte dem Schwung der aufgemalten Augenbrauen. Die linke war ein wenig nach oben verrutscht und verlieh dem kleinen Gesicht etwas Überraschtes. Das Entscheidende aber war die Markung im Nacken. 1910 – A. L., wie Albert Langbein. Eva war eine geborene Langbein. Aber schon als Kind hatte sie diesen traditionsreichen Namen verloren. Sie durfte gar nicht daran denken, wofür ihre Mutter den eingetauscht hatte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich das Feld mit dem aktuellen Preis veränderte und eine höhere Summe anzeigte. Ohne nachzudenken, tippte Eva ein neues Gebot ein und wurde sofort wieder übertrumpft. Sie glaubte zu wissen, wer sich diese Unverschämtheit erlaubte. Es gab nur einen Menschen, der sich einbildete, ein Vorrecht auf die Familiengeschichte zu haben, weil er noch immer den Namen Langbein trug.

Nur zehn Minuten blieben bis zum Ende der Auktion. Ohne zu zögern griff Eva nach dem Telefon. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich jemand meldete.

»Bist du noch gescheit? Weißt du, wie spät es ist?«, erklang die verschlafene Stimme ihres Cousins Jan.

Eva fauchte ihn an: »Tu nicht so! Du willst mir die Puppe wegschnappen!«

»Bist du jetzt völlig verrückt? Das Einzige, was ich will, ist schlafen. Es gibt Leute, die müssen arbeiten.«

Noch immer schaffte es Jan, seine Cousine mit einer einzigen achtlosen Bemerkung zu verletzen. Und doch war es dieser kleine Nadelstich, der wieder die alte Nähe herstellte, die einmal zwischen ihnen bestanden hatte. Damals hatte Eva gewusst, wie Jans Stimme klang, wenn er log. Falls er nicht inzwischen völlig abgebrüht war, hatte sie ihn mit ihrem Anruf tatsächlich geweckt.

»Ich hab grad ganz andere Sorgen«, brummte er noch und legte auf.

Eva sah hektisch zur Uhr. Noch vier Minuten. Sie kannte eine weitere Person, die Interesse an einer Langbein-Puppe haben konnte. Aber die würde sie ganz sicher nicht anrufen.

Stattdessen gab sie eine sehr hohe Summe ein und beobachtete schadenfroh, wie der unsichtbare Bieter auf der anderen Seite mehrmals versuchte, sie zu übertrumpfen, und den Preis dadurch immer weiter in die Höhe trieb. Wenn sie die Puppe schon nicht bekam, sollte ihre Konkurrenz wenigstens so viel dafür zahlen, dass es wehtat. Im nächsten Augenblick endete die Auktion, und Eva erhielt eine automatisierte Nachricht. Ihre Summe war die höchste gewesen. Eva hatte gewonnen. Aber zu welchem Preis!

Im nächsten Moment ließ ihr Telefon ein leises Geräusch erklingen und zeigte eine Nachricht an. Sie stammte von ihrer Cousine Iris. So was nennt man Karma, meine Liebe.

Wieso wusste Iris immer alles? Ein ungutes Gefühl breitete sich in Eva aus. Sie glaubte nicht an Ahnungen und Vorzeichen wie ihre Cousine. Vielmehr beschäftigte sie die praktische Frage, ob man von einer Auktion zurücktreten konnte. Sie hatten schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Und schon gar nicht im Guten. Dennoch beschloss sie, ihren Stolz herunterzuschlucken und Iris anzurufen.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich ausgerechnet gegen dich biete«, eröffnete Eva das Gespräch.

Auf der anderen Seite war nur ein spöttisches Lachen zu hören.

»Selbstverständlich trete ich vom Kauf zurück und lasse dir den Vortritt«, erklärte Eva und versuchte, ihrer Stimme einen großzügigen Unterton zu verleihen.

»Aber nein«, gab Iris scheinheilig zurück. »Du hast die Puppe rechtmäßig gewonnen. Ich gebe mich geschlagen.« Nach einer lauernden Pause setzte sie hinzu: »Es sei denn, du kannst sie dir nicht leisten. Dann würde ich dir natürlich aushelfen.«

Da war sie wieder, diese mit Nettigkeit übertünchte Arroganz von Iris, die Evas Puls schon immer in die Höhe getrieben hatte. Entrüstet wies sie diesen Verdacht zurück.

»Also wirklich«, stellte Iris fest. »Du kannst noch immer nicht besonders gut lügen.«

»Da hast du recht«, bemerkte Eva kühl. »Vielleicht sollte ich bei dir Unterricht nehmen.«

Ohne ein weiteres Wort legte sie auf und musste an Jan denken. Auch er konnte nicht gut lügen. Das kurze Gespräch mit ihm kam ihr wieder in den Sinn, und ihr wurde klar, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

Jan und Eva hatten in einem Haus gewohnt, waren in denselben Kindergarten und in dieselbe Schulklasse gegangen. Jan hatte sich für sie geprügelt, wenn er es für nötig befand, und sie hatte mit verstellter Handschrift seine Hausaufgaben erledigt, weil er sich manchmal ein wenig schwerfällig anstellte. Es hatte sich damals angefühlt, als wären sie Geschwister, nur besser. Sie mussten sich weder die Eltern noch das Spielzeug teilen. Und dann kam ihre Cousine Iris aus dem Westen, nachdem die Passierscheinpflicht für Sonneberg aufgehoben worden war. Eva, Jan und Iris verbrachten einen endlos scheinenden Sommer in der Fabrik ihrer Großeltern. Evas Mutter behauptete zwar, drei wären einer zu viel, aber sie hatte unrecht. Iris wurde zu der Schwester, die sich Eva immer gewünscht hatte. Nachts schliefen sie auf dem Dachboden, unter sich weiche Säcke mit Schaumstoffflocken für die Plüschtiere. Eva und Jan nahmen Iris in die Mitte, damit sie beide ganz nah an diesem Duft nach Waschmittel und Apfelseife lagen, den Iris bei jeder Bewegung verströmte. Sie kauten sogar die Kaugummis weiter, die Iris ausspucken wollte und die ihnen selbst in diesem Zustand begehrenswerter erschienen als alles, was man im Konsum kaufen konnte. Als der Sommer vorbei war und Iris zurück auf die andere Seite der Mauer musste, wusste Eva, zwei waren einer zu wenig.

Eva war nicht sicher, wann sie sich voneinander entfernt hatten. War es, als Jan aus Sonneberg wegzog? Oder als Eva spürte, dass Iris auf sie herabsah? War es, als ihre Eltern die Firma in den Sand setzten? Oder lag es an dieser furchtbaren Erbengemeinschaft, in der sie alle gefangen waren? Je länger Eva darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass es schon früher gewesen sein musste. Es hatte begonnen, als das Gerede anfing.

2

Der Aufstieg

April 1910 – Otto Langbein sprang ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die ungewohnten Schuhe drückten, aber er musste es aushalten. Wenn er jetzt seinen Platz verließ, würde er das Wunder verpassen.

Vor der Herzog-Georg-Schule in der unteren Stadt hatte sich eine lange Schlange von Schaulustigen gebildet, und es ging nur schleppend vorwärts. Sie waren alle gekommen, um die prächtige Figurengruppe zu bestaunen. Noch stand sie für jedermann zugänglich in der Turnhalle, aber schon in der kommenden Woche würde sie nach Brüssel zur Weltausstellung verschickt werden. Die ganze Stadt wollte sie sehen, aus Neugierde und aus Fachinteresse.

Albert Langbein strich sich den Schnauzbart glatt und wies seine Kinder zurecht. »Hört auf zu zappeln. Das ist kein Vergnügungsausflug. Stellt euch der Reihe nach auf.«

Es bedeutete, dass Fritz, als der Größte und Älteste, bei seinem Vater stehen musste, vor ihm Else, dann kam Hilda, und der Platz vorn bei der Mutter war für den kleinsten der Geschwister bestimmt, Otto. Seine Mutter Mine spuckte auf ihren Rockzipfel und wischte ihm das Gesicht sauber. Dann untersuchte sie ihn gründlich und richtete die Pflaster. Jeden Morgen klebte sie ihm damit die Segelohren an den Kopf.

Anschließend warf sie einen nervösen Blick zu der kleinen Turmuhr über dem Schuldach. »Ich hab so eine Ahnung, dass wir die Mittagszeit versäumen«, klagte sie.

Mine lag mit ihren Ahnungen immer richtig, aber in diesem Fall musste man kein Prophet sein, um zu wissen, dass sie zur Mittagsstunde sicher noch nicht an der Reihe sein würden.

»Das hier hat Vorrang«, bestimmte Albert.

Else und Hilda tauschten einen überraschten Blick. Noch nie hatte irgendetwas in der Familie Langbein Vorrang vor der heiligen Mittagszeit gehabt.

»Wenn ihr das seht«, erklärte Albert, »dann werdet ihr verstehen, wer wir sind.«

Es ging schon auf ein Uhr zu, als sie endlich den Eingang der Turnhalle erreichten. Mine machte sich immer größere Sorgen um das Essen, wagte es aber nicht, noch einmal darauf hinzuweisen.

Die Halle lag im Dämmerlicht, und auch im Inneren ging es nur schleppend vorwärts. Schon seit zehn Minuten standen sie auf der Stelle. Die Luft war stickig und verbraucht, und die Leute unterhielten sich lauthals.

Viele von ihnen waren an diesem Wunderwerk beteiligt gewesen. Jeder, der auch nur ein Schräubchen eingedreht hatte, prahlte damit. Nach Entwürfen und Modellen des Direktors der Industrieschule hatten die Sonneberger Fabrikanten mithilfe ihrer Arbeiter und Zulieferer siebenundsechzig Figuren für die Szenerie einer thüringisch-fränkischen Kirmes gebaut.

»Das muss ja Wunder was sein«, bemerkte Else schnippisch, »wenn die Leut so lang davor stehen bleiben.«

Otto hüpfte auf Zehenspitzen herum, und Hilda nahm ihn hoch, damit er Ausschau halten sollte.

»Ich seh was!«, rief er plötzlich ganz aufgeregt. »Da sind glänzende Glasspitzen, wie vom Weihnachtsbaum! Vielleicht ist dort das Christkind!«

Aber mehr hatte er auch nicht entdecken können, und Albert, der bereits wusste, was sie erwartete, verriet seinen Kindern kein Sterbenswörtchen.

Dann endlich durften sie nach vorn rücken. Die Leute vor ihnen gingen zur Seite, und im Dämmerlicht tat sich die Schaufläche auf. Ottos Mund öffnete sich, er riss die Augen auf, und selbst der abgeklärten Else entfuhr ein Aufschrei des Glücks. Es schien, als hätte ein Zauberer die Kirchweih besucht und sie eingefroren. Vor ihnen breitete sich die Illusion eines Jahrmarkts aus, mit lebensechten Figuren, Häusern und Kulissen, die nach hinten anstiegen und sich perspektivisch verkürzten.

Die Kinder wussten gar nicht, wohin sie zuerst blicken sollten. Am Rand drehte sich ein mehrstöckiges, voll besetztes Karussell mit Lauschaer Glasschmuck auf dem Baldachin. Sie entdeckten eine Schießbude, in der man Holzfiguren gewinnen konnte. Eine Hökerfrau verkaufte Obstattrappen an staunende Besucher, ein Puppendoktor reparierte Spielzeug, in der Gastwirtschaft wurde ausgeschenkt, eine Postkutsche hielt auf dem Marktplatz, und ein Wanderzirkus traf gerade ein.

»Was ist das?«, rief Otto. »Was ist das da für ein seltsames Wesen?«

»Das ist ein Kamel«, bemerkte Else mit abgeklärtem Blick, dabei kannte sie dieses fremde Tier auch nur von Bildern. Otto erschauerte. Dieses Kamel sah so lebensecht aus, dass er jeden Moment erwartete, es könnte sich zu ihm hinüberdrehen. Auf dem Rücken des Kamels tobten zwei Äffchen in Kostümen herum. Auf einem Pony saß eine wunderschöne Zirkustänzerin mit so ungebührlich kurzem Rock, dass Otto es kaum wagte hinzusehen. Ein Dompteur mit einem Fez auf dem schwarzen Haar führte einen Bären herum. Es gab Clowns und Hunde, aber das Aufregendste war ein afrikanischer Trommler mit Schmuck aus Gold und Muscheln. Otto wartete auf den Klang des Instruments, aber der Schlegel verharrte kurz vor dem Resonanzfell.

Bis ins kleinste Detail war alles lebensecht ausgeführt. Otto entdeckte einen Ausrufer in Uniform, der eine Glocke in der Hand hielt. Fast meinte er, das Pulsieren des Blutes unter der faltigen Haut zu sehen.

»Da!«, rief Albert plötzlich, und in der Stimme des stets gelassenen Fabrikanten war ein Zittern zu hören. »Seht doch! Dort ist unsere Puppe!«

Sie saß in der obersten Etage des Karussells, und immer, wenn Otto glaubte, sie entdeckt zu haben, war sie schon wieder vorbeigehuscht.

»Seht es euch gründlich an«, sagte Albert feierlich. »Genau darum ist Sonneberg die größte Spielzeugmetropole. Und wir sind ein Teil davon. Unsere Puppe wird nach Brüssel reisen und der Welt zeigen, was die Langbeins können.«

Otto starrte auf die prächtige Szenerie und fühlte plötzlich eine Ergriffenheit, die er bisher nicht gekannt hatte. Zum ersten Mal glaubte er, die Begeisterung seines Vaters für das Spielzeughandwerk zu verstehen. Es ging ja gar nicht um Zahlen und Aufträge. In Wahrheit ging es doch um Schönheit und Freude!

Die Kinder konnten sich gar nicht losreißen. Immer wieder entdeckten sie neue Details, Glassterne am Dach des Karussells, Hampelmänner in der Schießbude, einen Dackel, einen Mops, einen Pudel, und über allem flatterten Fahnen in Rot und Weiß.

Dann aber drängten die Leute hinter ihnen so stürmisch, dass sie doch weitergehen mussten. Völlig benommen taumelten sie aus der Turnhalle und blinzelten erstaunt ins milchig trübe Tageslicht. Von all der Pracht und dem Glanz blieb hier draußen nichts übrig.

Die Figurengruppe der Sonneberger auf der Weltausstellung in Brüssel blieb nicht nur Stadtgespräch. Auch auf der Leipziger Messe im Mai wurde davon geschwärmt. Als die neue Saison der Spielzeughersteller begann, waren die Auftragsbücher der Firma Albert Langbein bestens gefüllt.

Die erste Arbeitswoche nach der Winterpause neigte sich dem Ende zu. Über die schlammigen Straßen schlurften Liefermädchen mit voll beladenen Huckelkörben. Sie hatten weite Wege hinter sich, brachten Ware aus Heinersdorf, Neustadt, Lauscha und dem ganzen westlichen Hinterland und holten Material und Teile für die Weiterverarbeitung ab. Ihre Körbe mit den riesigen, hochaufgebundenen Aufbauten verbargen mechanisches Blechspielzeug, Lärminstrumente, Kastenteufel, hölzerne Schiffe und Eisenbahnen, mit Fell überzogene Tiere, bewegliches Spielzeug, das von einem Uhrwerk angetrieben wurde, Handpuppen und Einzelteile für die Puppenherstellung. Sie eilten in die Werkstätten, lieferten Ware beim Verleger ab, holten neues Material und trugen Tratsch weiter.

Es war Floras allererster Arbeitstag als Liefermädchen, und ihr Lohn dafür sollte ein Bonbon sein. Davon angespornt führte sie den nahezu blinden Rottweiler, der den Korbwagen mit der Lieferung zog, die Steinersgasse entlang. Am Hang wurden sie beide von der schweren Last nahezu hinuntergeschoben. Flora kam von oben aus Richtung Neufang. Das letzte Stück des Wegs führte sie an den schiefen, unregelmäßigen Häusern vorbei, die sich an den Stadtberg quetschten. Als sie das kleine Straßendreieck erreichte, an dem die Gasse in die Obere Marktstraße mündete, erschien ihr die Welt so weit und großzügig. Die Hochdruckwetterlage hielt den Rauch der Feuerungen am Boden, sodass die Sonne über den Fachwerkhäusern nur als ein verschwommener heller Fleck zu ahnen war. Geheizt wurde hier zu jeder Jahreszeit, damit die Puppenglieder aus feuchter, stinkender Papiermasse trocknen konnten.

In nahezu allen Häusern in der Gegend wurde für die Puppenherstellung gearbeitet, und die Hauswerkstätten hatten sich alle auf einen bestimmten Arbeitsgang spezialisiert. Es gab Augeneinsetzer, Perückenmacher, Puppenfriseure, Hutmacher, Schuhmacher, Gelenkmacher, Stimmenmacher, Kleidernäherinnen. Floras Vater war Drücker. Er drückte aus Papiermasse Puppenbeine. Und diese Beinchen sollte Flora nun immer zum Ende der Woche ausliefern.

Flora hielt vor dem Haus des Puppenfabrikanten Langbein. Sie kannte die Familie, Mine Langbein war ihre Patentante. Flora legte den Kopf zurück und blickte sehnlich zu den Fenstern über ihr. Sie hielt Ausschau nach Otto. Flora liebte Otto, mit der ganzen Hingabe ihrer vier Jahre. Otto hingegen sah über Flora hinweg, denn er war schon neun und damit nahezu erwachsen.

Ihre Väter waren beide Gesellen beim Metzger Müller in der Breiten Straße, und sie besserten ihren schmalen Lohn mit Heimarbeit auf. Doch während Floras Vater den Zusatzverdienst in die Bierstube trug, legte Albert Langbein das Geld an und investierte gleich wieder. Viele Sonneberger Fabrikanten gaben das Spielzeug, das sie in den heimischen Werkstätten herstellten, an die großen Verleger, damit es überall auf der Welt verkauft wurde. Aber Albert Langbein wollte sich von keinem abhängig machen. Er exportierte lieber selbst.

Deshalb hing an der Fassade des Hauses ein neuer Schriftzug, aus dem der ganze Stolz eines jungen Unternehmers sprach: Puppenfabrikant Albert Langbein. Dabei war das Haus keine prächtige Villa, wie die des Verlegers Lindner, der in seinem ganzen Leben nicht eine Puppe produziert hatte und doch durch sie reich geworden war. Die sogenannte Fabrik der Langbeins war Werkstätte und Wohnhaus in einem.

Flora band ihren Hund an dem kleinen Eisenzaun fest, der den Vorgarten von der Straße trennte. Aus dem verfilzten Fell stieg Hitze auf, und Flora wärmte sich kurz. Es wollte in diesem Jahr nicht so recht Frühling werden. Sie zerrte den Saum ihrer Kleiderschürze nach unten. Im letzten halben Jahr war sie schneller in die Höhe geschossen, als ihre nächstgrößere Schwester die Kleider verwachsen konnte.

Flora trug die mit Tüchern überspannten Schanzen hinein. Das waren große, aus Holzspänen geflochtene Tabletts, auf denen die grauen Puppenbeine säuberlich aufgeschichtet lagen.

Sie lief am verschlossenen Musterzimmer vorbei zum Treppenaufgang und stieg die Holztreppe nach oben. Im ersten Stock befand sich die Werkstatt, die gleichzeitig Küche war. Als Flora die Tür öffnete, quoll ihr Hitze entgegen. Auf den eisernen Platten des Ofens kochten Knochenleim und eine saure Gemüsesuppe. Überall standen Bretter mit Stöcken, auf die Puppenglieder zum Trocknen gesteckt worden waren. In Körben lagen Schichten von Mohairperücken, Puppenkleidern und Schuhen. Hier war der Ort, an dem die ganzen Einzelteile aus den verschiedenen Werkstätten zusammenkamen und sich in wirkliche Puppen verwandelten.

Floras Patentante Mine zählte die Beinlieferung ab und notierte die Stückzahlen. Floras Vater würde sich am Abend ausbezahlen lassen.

Mine befragte ihr Patenkind nach Neuigkeiten: »Ich hab geträumt, dass der Klapperstorch heut Nacht dein neues Geschwisterchen aus dem Scherfenteich gebracht hat?«

Flora nickte wenig begeistert und berichtete, es sei ein Junge geworden. »Da gratulier ich recht herzlich!«, sagte Mine, der es gefiel, dass sie wieder einmal recht gehabt hatte mit ihrer Ahnung. »Du freust dich bestimmt sehr über dein neues Brüderchen?«

Flora zuckte mit den Schultern. »Ach, Gott nää. Bei andern Leuten sterben die Kinder. Bloß wir kriegen immer mehr.«

Flora hatte eine ganze Reihe von Geschwistern, und die meisten halfen mit bei der Herstellung der Puppenbeine. Das Kinderschutzgesetz untersagte es zwar, aber keiner konnte es sich leisten, auf diese lebenswichtige Hilfe zu verzichten.

Mine holte ein kleines Tütchen aus einem der Küchenschubfächer und drückte es Flora in die Hand. »Gib das deinen Eltern, Flora. Und richt ihnen meine Gratulation aus.«

Flora linste in die Tüte. Es steckten ein frommer Spruch darin und ein Fünfmarkstück. Sie schob den Schatz rasch in ihre Schürzentasche und presste die Hand darauf. Flora war stolz, dass ihr ein so wichtiger Botendienst übergeben wurde. Den eigenen Töchtern konnte die Patentante sicher kein Geld anvertrauen. Die würden sich gleich beim Kaufmann Zuckerzeug dafür holen. Aber Flora wollte ihre Patin nicht enttäuschen. Sie wusste, dass sie fleißiger, ordentlicher und bescheidener als die Langbein-Kinder sein musste, wenn die Patin ihr gewogen bleiben sollte.

Mine wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Flora stand verlegen herum und wartete darauf, dass jemand sie auffordern würde, sich zu setzen. Es roch so gut nach Gemüse und Essig, bei ihr zu Hause würde es nur wieder dünne Mehlsuppe geben. Aber alle waren beschäftigt, niemand beachtete sie mehr.

Der große niedrige Arbeitstisch nahm den ganzen Raum ein. Vorn hockte Fritz auf einem Holzschemel, und Flora musste aufpassen, dass sie ihm nicht in die Quere kam. Mit einer genau dosierten Mischung aus roher Gewalt und Behutsamkeit stopfte er die Bälge aus Ziegenleder mit Flachs-Acheln, so lange, bis sie straff gefüllt waren und die Form eines kleinen Wanstes besaßen. Am anderen Ende hockte Otto und tauchte graue Rohlinge aus Pappmasse in rosa Farbe. Er murmelte dabei Zahlen vor sich hin, denn der Vater hatte ihnen Stückmengen vorgeschrieben. Erst wenn sie die fertig hatten, durften sie hinter dem Haus spielen. Ihre Mutter Mine nähte Tressen aus Mohair und klebte die fertigen Perücken mit Knochenleim auf. Die Gesichter auf den teuren Porzellanköpfen aus der Fabrik von Armand Marseille bemalte Albert Langbein immer höchstpersönlich in den Abendstunden. Die Töchter kleideten die fertigen Puppen, frisierten sie, banden Schleifen und nähten sie zum Schluss mit ein paar Stichen in Kartons ein, damit sie auf ihrer Reise gut geschützt wurden.

Flora besaß selbst keine Puppe. Sie kannte bisher nur die Einzelteile, die bei ihnen zu Hause gedrückt wurden. Entzückt betrachtete sie das fertige Spielzeug und klatschte vor Freude darüber in die Hände.

Nun erst bemerkte Mine, dass die Kleine immer noch in der Küche herumstand.

»Hock dich doch her«, schlug sie vor. »Du kannst zum Essen bleiben.«

Flora gehorchte, setzte sich neben Otto und starrte auf seine geschickten Finger, die blitzschnell winzige Fußnägelchen aufmalten.

Jeden Mittag, wenn die Glocke von der alten Schule zwölf Uhr schlug, kam Albert Langbein aus der Fleischerei in der Breiten Straße herauf, um mit ihnen zu essen.

Die Frauen sortierten vorsorglich die Teller und Löffel und kümmerten sich um die Suppe.

Die Jungen schoben die Werkzeuge beiseite und räumten einen Teil des Arbeitstisches frei. Flora saß neben Otto und betrachtete die kostbaren Porzellanköpfe, die in einer Kiste auf der Bank lagen. Ein Teil von ihnen war schon bemalt, andere warteten noch darauf, ein Lächeln zu bekommen.

Flora frage Otto: »Kannst du so schöne Gesichter malen?«

Otto wusste, dass er es konnte. Und schließlich hatte sie nicht gefragt, ob er es durfte. Also sagte er: »Ja.«

»Zeigst du es mir?«, bat Flora.

Otto sah Flora erstaunt an. Bisher hatte er die Kleine nur als eine Art Schoßhündchen seiner Mutter betrachtet. Er stellte fest, dass sie aus der Nähe merkwürdig winzige Zähne und einen leichten Silberblick hatte. Aber das Auge, das nicht an ihm vorbeisah, strahlte ihn mit einer solchen Bewunderung an, dass er sich plötzlich für einen großen Künstler hielt.

Beflügelt von Floras Hingabe griff er nach einem Porzellankopf. Er stippte den Pinsel ins Zinnoberrot und malte mit sicheren Strichen die Lippen an. Ein wenig davon tupfte er an einen Lappen und rieb die Wangen ab, bis sie rosig glänzten. Dann wechselte er zum braunen Pinsel und zeichnete geschwungene Wimpern. Flora neben ihm sagte nichts, aber er spürte ihren aufgeregten Atem im Nacken, während sie ihm über die Schulter schaute. Dann begann er die Augenbrauen zu ziehen. In diesem Moment betrat sein Vater die Küche. Vor Schreck verrutschte Otto der Strich, und das Puppengesicht bekam einen erstaunten Ausdruck.

Albert Langbein erfasste sofort die Situation.

»Ich hab es dir verboten!«, schimpfte er erbost. »Das ist kein Spielzeug! Nicht für uns!«

Flora wurde kreidebleich. Mine versuchte, Albert zu beschwichtigen. »Er hat ja nur helfen wollen. Und so schlecht ist es nicht geworden.«

»Aber ich hab es verboten«, beharrte Albert verärgert. »Und wer Verbote übertritt, der endet in der Fronfestung.«

Otto rann ein Schauer über den Rücken. Wann immer er von der Mutter für eine Besorgung den Gerichtssteig hinaufgeschickt wurde, sauste er hastig am Gefängnis vorbei, vor lauter Angst, dass jemand einen Arm durch eins der vergitterten Fenster schieben und nach ihm greifen würde. In die Fronfestung kamen nur die schlimmsten Verbrecher, und jedes Kind in Sonneberg wusste, dass es dort sonntags eiserne Klöße mit Stecknadelsbrühe gab.

Otto begann zu schwitzen. Die Pflaster zu beiden Seiten seines Kopfes lösten sich und ließen die Segelohren vorschnellen. Da musste sein Vater lachen und konnte nicht mehr recht böse sein. Er nahm Otto lediglich das Versprechen ab, nie wieder ein Porzellangesicht zu bemalen.

Vor lauter Erleichterung begann Flora zu schluchzen. Otto sah sie verwundert an, und Albert brummte verlegen: »Na, na. So schlimm hab ich doch gar nicht geschimpft. Oder doch?«

Alle beeilten sich zu versichern, dass er ein sehr gerechter Mann sei. Mine tröstete Flora, putzte ihr das Gesicht mit dem Rockzipfel, und dann teilte sie die Suppe aus.

Zuerst an den Herrn Fabrikanten, dann an Fritz, denn das Stopfen war eine schwere Männerarbeit, anschließend nahm sie sich selbst, und als die kleineren Kinder an der Reihe waren, bekamen sie nur noch Brühe. Aber auf der schwammen ein paar Fettaugen, und es gab dazu für jeden einen Kanten Brot. Flora kaute ausgiebig darauf herum.

Während des Essens durfte nicht gesprochen werden, und wenn sich die Schwestern doch einmal etwas zuflüsterten, schlug Albert warnend den Löffel an seinen Teller. Nur die Uhr tickte, und der Ofen summte. Als Albert Langbein aufgegessen hatte, zündete er sich ein Pfeifchen an, und es konnte wieder geschwatzt werden.

Flora versuchte, die Rauchwölkchen mit dem Mund einzusaugen. Dadurch fiel Albert auf, dass sie immer noch mit am Tisch saß. »Musst du nicht längst heim?«, erkundigte er sich. »Dein Vater wartet bestimmt schon auf die neuen Formen. Schick dich!«

Erschrocken sprang Flora auf. Mit ihrem Vater war nicht zu spaßen.

Mine brachte die neuen Formen aus Schwefel und Gips. Jede bestand aus zwei ovalen Zylindern, in denen vertieft die Form der Puppenbeine eingeprägt war. Die Formen nutzten sich nach einiger Zeit ab und mussten dann ausgetauscht werden.

»Schaff die Ausrangierten auf den Dachboden«, trug Albert dem Mädchen auf.

Er wollte dort eine neue Zwischenwand für das Lager einziehen. Da kamen ihm die Formenblöcke als Baumaterial gerade recht.

Nachdem Flora gegangen war, stiegen Fritz und Otto nach oben, um Material zu holen. Albert sah gemeinsam mit Mine die Geschäftsbücher durch. Bevor er etwas dazu sagte, stand er auf und steckte einen Stöpsel in den Metalltrichter, der aus der Wand ragte. Er gehörte zu einem Sprachrohr, das zur Abstimmung mit dem Lager von oben nach unten in die Küche führte. An dem Sprachrohr hing eine Pfeife, damit Albert jemanden heranrufen konnte, und eben ein Stöpsel. Denn nicht immer wollte er, dass man oben alles hörte, was unten besprochen wurde.

»Wir hinken hinterher«, stellte er fest.

»Wenn wir die Kinder in der nächsten Woche wieder ein paar Tage zu Hause lassen, könnten wir es schaffen«, schlug Mine vor.

An diesem Morgen hatte sie dem Lehrer erzählt, dass die Kinder Bauchweh hätten und daheim bleiben müssten. In Wirklichkeit hatten sie bei der Produktion geholfen. So machten es die meisten Familien, wenn sie überleben wollten.

Mine zog die Stirn kraus. »Das sind die Puppenkleider, die uns so aufhalten.«

»Es ist eben eine rastlose Zeit heute«, sagte Albert nachdenklich. »Die modernen Mütter wollen gebrauchsfertige Waren erhalten.«

Noch vor Kurzem waren Täuflinge gewünscht gewesen. Puppen, die nur ein Taufhemd trugen und dann von feinsinnigen Müttern das gleiche Kleidchen wie die Puppenmama geschneidert bekamen. Nun aber musste Mine Puppenkleider entwerfen, und das, wo sie nicht allzu viel von Mode hielt und nur ein einziges gutes Kleid besaß.

Albert gab seiner Frau und den Töchtern einen Kuss aufs Haar. Er musste wieder hinunter zu seiner zweiten Arbeitsstelle. Bevor er ging, sagte er: »Sobald der Anbau steht, geh ich nicht mehr in die Metzgerei und kümmer mich nur noch um die Fabrik. Und ich stell Arbeiter ein. Die neuen Fabrikräume müssen ja gefüllt werden.«

»Und was ist mit uns?«, wollte Else wissen.

»Ihr müsst dann nicht mehr mitarbeiten. Ihr braucht nur noch fleißig zu lernen.«

Sein höchstes Ziel war es, dass seine Kinder eine gute Ausbildung bekamen, ein sorgenfreies Leben führten und irgendwann seinen Platz in der Fabrik einnahmen.

Am Abend, als die Langbein-Kinder ihre Stückzahlen geschafft hatten, durften sie hinaus zum Spielen. Else und Hilda warfen sich tuschelnd ins Gras und blätterten in einer alten Ausgabe der illustrierten Gartenlaube. Fritz und Otto dagegen beobachteten interessiert die Bauarbeiten.

Neben dem Haus wuchs die rote Backsteinwand des Anbaus in die Höhe. Bald würde die neue Mauer das Stammhaus überragen. Nach der Fertigstellung sollte die gesamte Puppenproduktion dorthin verlagert werden.

Als die Mädchen zur Schaukel im hinteren Teil des Gartens schlenderten, machten sich Otto und Fritz über die Illustrierte her. Sie falteten aus den großen Seiten Helme und suchten sich Stöcke, die sie zu Gewehren umfunktionierten. Den Rest des Abends spielten sie Soldaten und schossen Luftkugeln auf einen Zilpzalp, der unsichtbar über ihnen im Baum sang.

Mit der Dämmerung stieg Feuchtigkeit von den Wiesen auf. Wie eine weiße Wand stand sie zwischen den Bäumen und versperrte die Sicht auf den Oberen Graben.

Mine rief die Kinder ins Haus: »Rein mit euch! Sonst fressen euch die Nachtraben!«

Flora stand zu dieser Zeit in ihrer Küche oben in Neufang und wickelte ihren Bruder. Den Inhalt seiner Windel schüttelte sie in das Plumpsklo draußen, dann wusch sie die Rückstände in einer Schüssel aus.

Als der Vater heimkehrte, fiel Flora wieder das Tütchen ein, das sie von ihrer Patentante Mine bekommen hatte. Sie holte es aus der Schürzentasche und richtete die Glückwünsche aus.

Erfreut untersuchte ihr Vater das Geschenk und sagte zu Flora: »Jetzt pass einmal auf, wie ich aus einem Geldstück zwei mach!«

Er warf die fünf Mark in die Luft, fing sie geschickt auf und lief damit in die Wirtschaft. Flora wartete gespannt und voller Vorfreude auf seine Rückkehr.

Als der Vater wiederkam, war er übellaunig und einsilbig. Er hatte die fünf Mark beim Kartenspiel auf wundersame Weise vermehren wollen und verloren.

Und so bekam Floras neuer Bruder nur einen frommen Spruch.

3

Die Heimkehr

Eva erwachte mit einem unangenehmen Gefühl. Es war nicht nur der überteuerte Kauf, der ihr einen schweren Kopf bescherte. Dieser Unterton, den sie in Jans Stimme gehört hatte, beunruhigte sie. Sie beschloss, sich noch einmal bei ihm zu melden, unter dem Vorwand, sich für den nächtlichen Anruf zu entschuldigen.

Diesmal ging er zügig ans Telefon, strahlte aber dieselbe abweisende Laune aus.

»Stör ich dich bei der Arbeit?«, fragte Eva verunsichert.

»Nein«, antwortete Jan knapp.

»Ich wollte mich entschuldigen«, begann sie, wurde aber unterbrochen.

»Musst du nicht. Ich hab wirklich keine Zeit für so was.«

»Kann ich irgendwie helfen?«, wollte Eva wissen. »Soll ich bei dir vorbeikommen? Ich war schon lang nicht mehr in Gera.«

»Ich bin nebenan. In Sonneberg«, gab er zurück. »Ich hab mir eine Woche freigenommen. Ich muss das Haus meiner Eltern ausräumen.«

Eva schluckte die Bemerkung hinunter, dass es auch das Haus ihrer Mutter war, und sagte stattdessen sachlich: »Eine Woche? Da brauchst du ein Jahr und bist immer noch nicht fertig.«

Sie dachte an das schlichte Fachwerkhaus, in das sie nicht mehr hineingehen wollte. Es war bescheidener als die prächtigen Fabrikantenvillen am Schönberg, aber nicht weniger geräumig. Es besaß mehrere zweckdienliche Anbauten und war vom Keller bis zum Dachboden voll Gerümpel. Das Haus war immer nur notdürftig geflickt worden und mittlerweile in einem erbarmungswürdigen Zustand. Zuerst hatte es am sozialistischen Wohnungswesen gelegen und später an der gesamtdeutschen Erbengemeinschaft, die jeden Versuch, etwas zu retten, im Keim erstickte.

In diesem Haus waren Dinge geschehen, die Eva nicht vergessen hatte. Die Atmosphäre darin schien am Ende vergiftet zu sein, und dann gab es diesen alles verändernden Streit. In Anbetracht der vorangegangenen war er nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von einem Tag auf den anderen waren sie alle ausgezogen. Nur Jans Eltern blieben, wie Sieger, als hätten sie ein größeres Recht auf das Haus.

Eva fand eine Wohnung in der Nähe, ihre Mutter mietete sich ein Stück weiter stadtabwärts ein. Iris ging zurück nach Coburg, und auch Jan verließ Sonneberg ganz.

Inzwischen war Jans Vater verwitwet und lebte seit einiger Zeit in einem Pflegeheim am Wolkenrasen. Bisher hatte Eva ihn nicht ein einziges Mal dort besucht.

»Die Nürnberger wollen, dass die Wohnung vom Vater wieder vermietet wird«, erzählte Jan.

»Das ist nicht dein Ernst«, gab Eva zurück.

»Ich werd einen Container bestellen und alles reinschmeißen«, erklärte er.

»Das kannst du nicht machen!«, empörte sich Eva. »Das ist das ganze Zeug von unseren Großeltern.«

Jan schnaufte abwehrend. »Räumst du das Haus aus? Nein. Also kein Mitspracherecht.«

Eva warf sich eine Jacke über und eilte die Straße hinunter. Erleichtert stellte sie fest, dass kein Container auf dem kleinen gepflasterten Dreieck stand. Unschlüssig legte sie den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade des alten Fachwerkhauses hinauf. Obwohl die Buchstaben schon vor einem halben Jahrhundert abgenommen worden waren, zeichnete sich noch immer der Schatten der Schrift ab. Puppenfabrikant Albert Langbein.

Der niedrige Eisenzaun, der den Vorgarten begrenzte, lehnte sich kraftlos zur Seite, Rost bröselte herunter. Dahinter wuchs Gestrüpp, von der Sonne verbrannt.

Eva legte ihre Hand auf die gusseiserne Klinke und drückte sie herunter. Die Haustür stand unter Spannung und sprang mit einem Knacken auf. Ein merkwürdiger Dunst schlug ihr entgegen, eine Mischung aus feuchtem Keller, Bohnerwachs, Leder und Leim. Es war der Geruch ihrer Kindheit.

Bevor sie eintreten konnte, preschte ein alter Golf die Straße herauf, stoppte, setzte ein paarmal unschlüssig vor und zurück, bis er endgültig hielt und Iris ausstieg.

Überrascht sah Eva zu ihr hinüber.

»Jan hat mir Bescheid gesagt«, behauptete Iris.

Eva fragte sich, ob das vor oder nach ihrem Anruf bei ihm gewesen war, und ärgerte sich im gleichen Moment über sich selbst. Sie würde doch nicht eifersüchtig werden?

»Ich hab in der Kammer noch einen Koffer stehen«, erklärte Iris. »Von damals. Den soll ich holen, bevor hier alles aus dem Fenster fliegt. Da wird unser Cousin noch viel Spaß haben. Was bin ich froh, dass ich das schon hinter mir hab.«

Eva fand, dass man die kleine Wohnung, die ihr Onkel drüben in Coburg bewohnt hatte, kaum mit dem großen Fabrikanten-Stammhaus in Sonneberg vergleichen konnte.

»Ich denke, wir sollten ihm helfen«, überlegte sie.

»Wer wir?« Iris blickte sie irritiert an.

»Wir beide«, erklärte Eva. Im selben Moment fiel ihr auf, dass es zwischen ihnen schon seit Ewigkeiten kein Wir mehr gegeben hatte. »Jan ist überfordert. Er wirft sonst alles weg.«

»Ja und? Das ist mir egal«, gab Iris kühl zurück.

»Es ist dir nicht egal«, widersprach Eva sanft. »Sonst würdest du die Langbein-Puppe nicht haben wollen.«

Iris schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Wir streiten uns bloß wieder. Wir streiten uns jedes Mal, wenn wir aufeinandertreffen. Nicht, dass es mir was ausmacht …«

»Wir müssen uns gar nicht in die Quere kommen. Jeder nimmt sich einen Raum vor. Und wir reden nicht über die wunden Punkte.«

Iris schien nachzudenken, dann sagte sie: »Also gut. Vielleicht finden wir ja ein paar Wertsachen. Außerdem will ich die Puppe.«

Eva schlug vor: »Wir könnten uns den Kaufpreis teilen. Und die Puppe dann natürlich auch.«

Skeptisch zog Iris die Augenbrauen nach oben. »Wie soll das funktionieren? Wie bei einem Scheidungskind?«

Während sie sich unterhielten, gingen sie den dunklen Flur entlang und auf die Treppe zu. In dem Moment, als sie das Geländer berührte, merkte Eva überrascht, wie die Erinnerung an die letzten Jahre verdrängt wurde durch weiter zurückliegende Bilder. Sie fühlte unter ihren Fingerkuppen die vertrauten Unebenheiten des Holzes. Oben hörte sie etwas klappern, und für einen trügerischen Moment glaubte sie, es wäre ihre Großmutter Flora, die in der Küche am Herd hantierte.

»Jan?«, rief Iris.

»Hier! In der hinteren Schlafstube. Erster Stock«, kam seine Antwort aus der Tiefe des Hauses. Er klang verzweifelt.

Sie stiegen die knackende Treppe nach oben. Das Haus beherbergte ein Labyrinth aus Räumen. Iris folgte Eva, die sich besser auskannte. Auf beiden Etagen gab es eine Wohnung, die im Kreis um das Treppenhaus angeordnet war. Die untere war halbherzig modernisiert, in der oberen waren nur die nötigsten Veränderungen vorgenommen worden. Man gelangte von einem Raum in den nächsten, vom sogenannten Blumenzimmer ging es in die Küche, die führte wiederum in das Schlafzimmer, dahinter kam eine abgedunkelte Kammer, von dort gelangte man in das Kinderzimmer, danach in die gute Stube, und dann ging es wieder ins Blumenzimmer und hinaus zur Treppe.

Das Schlafzimmer war ein kalter, spartanisch eingerichteter Raum, mit einem breiten Bett aus Nussbaum und einem hohen Kleiderschrank, auf dem ein knorriger Zweig mit ausgestopften Singvögeln stand. Ihr Gefieder war blassrot, mottenzerfressen und verstaubt. Zwischen den Fenstern befand sich ein Waschtisch mit Marmorplatte, und darüber hing ein Hochzeitsbild. In diesem Zimmer hatten früher ihre Großeltern geschlafen, Flora und Otto.

Jan hatte auf den Holzdielen mehrere Haufen und Stapel mit Bettwäsche und Tischtüchern aufgeschichtet und betrachtete sie hilflos. Als seine Cousinen das Zimmer betraten, ließ er sofort alles fallen, was er in den Händen hielt.

Eva musste lachen. Wenn sie auftauchte, hatte Jan schon immer sämtliche Arbeiten eingestellt und sich auf sie verlassen.

»Ich habe keine Ahnung, wie man hier Ordnung reinkriegen soll«, erklärte er. »Guckt euch das an.«

Er angelte die ausgestopften Vögel vom Schrank. Der Ast rutschte ihm aus der Hand und fegte beim Herunterfallen eine Vase mit, die Eva geistesgegenwärtig auffing. Eine Staubwolke erhob sich.

»Damit wäre dieser Fall schon mal geklärt«, bemerkte Iris.

Eva stellte die gerettete Vase zurück und sagte: »Besser die Zuckerdose als das Leben.«

»Diesen Spruch hab ich nie verstanden.«

»Keiner von uns«, versicherte Jan. »Und trotzdem sag ich das auch immer, wenn es hätte schlimmer kommen können.«

»Wir müssen planmäßig vorgehen«, schlug Eva vor. »Wir fangen auf dem Boden an und arbeiten uns bis zum Keller vor.«

Iris nickte. »Wir sortieren in zwei Kategorien. Kann weg. Wird verkauft.«

»Nein«, widersprach Eva. »Wir brauchen noch eine dritte Gruppe. Für die Sachen, die wir aufheben wollen.«

Jan sah sich um und stöhnte. »Gott, bin ich froh, dass ihr da seid. Ich muss erst mal Pause machen. Ich räume schon den ganzen Tag.«

Eva warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor zehn Uhr am Vormittag.

»Ich mach uns Kaffee!«, rief Iris erleichtert.

Eva sah den beiden nach, die von einem Zimmer zum nächsten eilten, um in die Küche zu gelangen.

»Übrigens«, hörte sie Jan noch fragen. »Was sollte der Quatsch von wegen Karma? Deine SMS meine ich, von heut Nacht?«

Sofort ärgerte sich Eva über ihre Leichtgläubigkeit. Iris tat immer so, als hätte sie eine Gabe. Sie hielt sich für die Reinkarnation von Urgroßmutter Mine. Die hatte vorher gewusst, wie das Duell zwischen ihrem Verlobten und seinem Freund ausgehen würde, und den großen Brand der Porzellanfabrik in Köppelsdorf hatte sie auch vorausgeahnt. Iris dagegen riet einfach nur und traf manchmal zufällig ins Schwarze.

Sie lief den beiden nach und forderte: »Jetzt wird nicht gleich Pause gemacht, lasst uns doch wenigstens anfangen.«

»Du kannst ja schon mal auf den Boden vorgehen«, schlug Iris vor. »Wir kommen mit dem Kaffee nach.«

Jan versicherte: »Bei der trockenen Luft da oben werden wir was zu trinken brauchen.« Er war schon immer gut darin gewesen, Ausreden zu erfinden.

Eva griff sich ein paar Müllsäcke und stieg die Treppe hinauf, wobei sie demonstrativ kräftig auftrat.

Die Tür zum Dachboden war nur mit einem Haken verschlossen. Eva schob sie auf. Der Luftzug ließ Millionen Staubpartikel in einem Lichtstrahl tanzen, der durch die Bodenluke hereinfiel. Es roch nach chemischen Rückständen und Nitrolack. Hier oben war das Lager gewesen. In kleinen, durch halbhohe Wände voneinander getrennten Abteilen stapelten sich Dosen und Fässer, Berge mit Füllmaterial, Sackleinen, riesige Stoffballen, Säcke mit Plastikgranulat und Holzwolle, Kisten mit Knöpfen, Stimmen und Gelenken. Eva bückte sich und befühlte ein graues Stück Kunstpelz. Das war der Stoff für die Esel und Nilpferde gewesen.

Der Klang von Lachen und klapperndem Geschirr wurde lauter. Iris kam zuerst die Stiege herauf und balancierte ein voll beladenes Tablett auf ihrem Kopf.

»Wo soll ich das abstellen?«, fragte sie.

Eva deutete auf einen hölzernen Arbeitstisch, der an einer Trennwand lehnte.

»Was habt ihr hier eigentlich für merkwürdige Ziegel?«, wollte Iris wissen.

Die Trennwände bestanden aus weißen, zylindrischen Steinen, die mit Lehm verbunden waren. Eva strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Auf ihren Fingerkuppen zeigte sich weißer Abrieb.

Jan zuckte mit den Schultern. »Ist nichts Besonderes. Alle Zwischenwände im Haus sind daraus gebaut.«

Iris griff nach einem Sprachrohr, das aus der tragenden Wand ragte. »Der Trichter ist ja immer noch da«, sagte sie erfreut und pustete hinein. Staub wirbelte auf.

Jan winkte ab. »Der endet im Nichts. Mein Vater hat die Leitung unterbrochen.«

Eva begann einzuschenken. Iris zog sich einen Sack mit Füllwatte heran, faltete geschickt die Beine und ließ sich im Lotossitz darauf nieder. Dann kredenzte sie Jan seinen Kaffee, indem sie die Tasse über das Handgelenk hinweg einmal um sich selbst drehte. Sie war in der Lage, die kleinsten Handreichungen so theatralisch zu verkaufen, dass es sich anfühlte, als hätte sie ein außerordentliches Kunststück vollbracht.

»Ich hab nur Malzkaffee gefunden«, erklärte sie dabei vorwurfsvoll und brachte Eva dazu, sich dafür zu entschuldigen.

»Wer braucht Zucker? Wer will Salz?«, wollte Iris wissen. In jeder Hand hielt sie eine kleine silberne Streudose wie Opfergaben in die Höhe.

Überrascht sahen Eva und Jan sie an.

»Oh«, machte Iris und ließ den Salzstreuer mit der gleichen schlangenartigen Bewegung zurück auf das Tablett gleiten. »Ich dachte, ihr trinkt hier alle den Kaffee so.«

Eva musste lachen. »Nein, das war nur der Opa. Er hatte ja so einige Marotten. Bei ihm war immer alles versalzen. Das lag vermutlich am Krieg.«

»Und ich hab immer geglaubt, es lag am Osten«, sagte Iris verlegen. »Ich dachte, ihr habt hier nichts außer Salz.«

Jan grinste. »Wir hatten auch Schnaps. Ich denke aber eher, bei den Großeltern waren die Geschmacksnerven schon ein wenig abgestumpft. Oma Flora trank den Kaffee so süß, dass der Löffel drin stehen blieb. Und Opa Otto hat eben alles versalzen.«

»Wie Yin und Yang«, sagte Iris, und Eva wechselte einen schnellen Blick mit Jan.

»So was gibt es heute nicht mehr«, stellte er fest.

Eva murmelte: »Die beiden waren füreinander bestimmt.«

Sie schwiegen. Eva hatte das Gefühl, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit bei etwas einig waren.

Den Malzkaffee tranken sie übertrieben langsam. Er schmeckte scheußlich, und außerdem brachte jeder Schluck das Ende der Pause näher.

Als sie keine Ausrede mehr fanden, standen sie auf. Eva bemerkte, wie sich Iris unauffällig an der Tischkante aus ihrer Sitzposition nach oben zog.

Bevor sie sich an die Arbeit machten, überprüfte Eva nur schnell die Mails auf ihrem Telefon. Eine Nachricht vom Auktionshaus vermeldete, dass ihre Zahlung eingegangen wäre. Die Langbein-Puppe sei bereits verpackt und vom Spediteur abgeholt worden.

Sie war auf dem Weg nach Hause.

4

Im Paradies

September 1912 – Oben auf den Bergen, an den Rändern des Talkessels rings um die Stadt, loderten überall gewaltige Feuer und erhellten die Nacht.

Den ganzen Sedantag hatte die Jugend auf den umliegenden Höhen riesige Holzstöße und Stämme aufgeschichtet. Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie entzündet worden, zur Feier der gewonnenen Schlacht vor über vierzig Jahren.

Es war ein schaurig-schöner Anblick. Albert und Mine Langbein standen hinter ihrem Haus und konnten den Blick nicht abwenden. Der Garten sah fremd aus mit dem neuen, hoch aufragenden Fabrikanbau, der alles verdüsterte.

Sie lauschten in die Nacht, bis die Feuer herunterbrannten. Endlich näherte sich aus der Ferne das Klappern harter Absätze. Seit die Obere Marktstraße gepflastert worden war, konnte man jeden Spaziergänger deutlich hören. Vorausgesetzt er trug Schuhe.

Atemlos kamen die jungen Langbeins angestürmt, die Gesichter erhitzt, in den Kleidern hingen Rauch und Fichtenharz.

»Ihr Rumtreiber!«, schimpfte Mine, aber Albert lächelte begütigend. »Die Jugend will nun einmal feiern!«

Mine rieb die klebrigen Stellen an den Jacken gleich mit Butter aus. Dabei beklagte sie sich über die Verschwendung: »Das hätt’ eine gute Buttersupp’ gegeben!«

Als sie sich kurz darauf alle anschickten, ins Bett zu gehen, mussten sie sich erst mal neu orientieren. Sämtliche Werkzeuge und Rohstoffe waren vor Kurzem aus dem Stammhaus in den Anbau geschafft worden und hatten Lücken hinterlassen. Die wurden mittlerweile von neuen Möbeln und Zwischenwänden ausgefüllt. Seit die Fabrik stand, hatte sich alles verändert.

Im Morgengrauen sammelten sich die Arbeiter hinter dem Haus, am neuen Eingang der Fabrik. Ihr Atem dampfte, die kahlen Zweige am Hang des Stadtbergs waren von Raureif umhüllt. Die Arbeit begann kurz nach Sonnenaufgang, um das Tageslicht vollständig auszunutzen.

Albert Langbein öffnete von innen. Es gab eine Verbindungstür zwischen Fabrikanbau und Wohnhaus. Siebenundzwanzig Arbeiter hatten bei ihm eine Anstellung gefunden. Albert kannte jeden von ihnen, und zwar nicht nur dem Namen nach. In Sonneberg gab es keine Geheimnisse. Mine erzählte ihm abends im Bett immer brühwarm, welche der Arbeiterinnen zum Beispiel eine Verschwenderin gewesen war, weil sie Butter an die Bratkartoffeln gegeben hatte, die ja wohl nicht ohne Grund trockene Schnietla hießen. Sie wusste auch, welcher Lagerarbeiter wieder seinen ganzen Wochenlohn am Biertisch in der Dachshöhle gelassen hatte. Dem würde er am Zahltag die Lohntüte als Allerletzten aushändigen, um dessen Ehefrau genug Zeit zu verschaffen, ihn am Fabriktor abzufangen.

Gleich neben dem Eingang der neuen Fabrik gab es ein Direktionsbüro, das anscheinend nur für den Panzerschrank eingerichtet worden war. Der Direktor selbst packte lieber in der Fertigung mit an. Den ganzen Tag war er zwischen den Werkbänken unterwegs, kontrollierte und besprach mit den Arbeitern Probleme, die ihn statt Herr Direktor einfach Meister nannten.

Der Anbau war nicht so verwinkelt und dunkel wie das Haupthaus. Die Fabrik besaß eine moderne Arbeitsorganisation. Die Räume waren perfekt angeordnet in der Reihenfolge der einzelnen Fertigungsschritte, und die Arbeitsplätze befanden sich an langen Tischreihen. Im oberen Stockwerk arbeiteten die Zuschneider, die Näherinnen und die Stopfer, darunter saßen die Spielwarenmaler und die Tressiererinnen mit den Perücken. Zu ebener Erde arbeiteten die Schachtelmacher und die Packer. An der Nordseite gab es einen Stall für das Pferd. Mäxle zog die Kisten mit den fertigen Puppen hinab in die untere Stadt zum Güterbahnhof.

Wenn die Arbeiterinnen in der Mittagspause nach Hause eilten, um ein schnelles Essen für die Familie auf den Tisch zu bringen, erkannte man die Näherinnen an ihrem schaukelnden Gang. Ihre Füße schienen noch immer die Trittbretter der Maschinen in Schwung halten zu wollen.

Die Liefermädchen gaben ihre Halbfabrikate nun nicht mehr vorn im Stammhaus ab, sondern hinten an der Warenannahme der Fabrik.

Auch Flora musste die Puppenbeine dort abliefern. Sie war inzwischen sieben Jahre alt und zählte genau mit, als der Schreiber die Stückzahlen aufnahm. Seit Kurzem besuchte sie die Bürgerschule. Allerdings nur in der Theorie. In der Wirklichkeit half sie ihren Eltern in der Werkstatt.

Noch nie hatte sie sich im Inneren eines so großen Gebäudes befunden. Flora war die niedrigen Decken ihres Hauses in Neufang gewohnt, und als sie nun einen schüchternen Blick nach oben warf, wurde ihr schwindelig.

Albert kam über den Gang, bückte sich zu ihr hinunter und hob den Finger. »Hörst du das?«

Durch die Wände drang das Rattern und Klopfen der Nähmaschinen. »Die Fabrik ist das Herz«, erklärte Albert. »Vielleicht bin ich der Kopf, und ihr seid die Hände, aber die Fabrik ist das Herz, das uns alle am Leben erhält.«

Im Stockwerk über ihnen rief jemand nach dem Meister. Albert richtete sich auf und eilte davon.

Flora trödelte auf dem Gang herum, bis sich die Lagerarbeiter belästigt fühlten und sie verjagten. Draußen sah sie an der Backsteinfassade hoch. Der Blick auf das Stammhaus war versperrt. Wenn sie Otto wiedersehen wollte, musste sie auf eine Einladung ihrer Patentante hoffen.

Seit die jungen Langbeins nicht mehr an der Fabrikation beteiligt waren, hatten sie viel Zeit zum Lernen und für Vergnügungen. Otto verbrachte seine freien Nachmittage am liebsten auf dem Dachboden, der noch als Lager genutzt wurde.

Versteckt hinter einer Kiste mit Gelenken und Unterlegscheiben malte er alles, was er aus den Dachluken heraus entdecken konnte. Zur Straßenseite hin erhob sich über dem Schlossberg die Silhouette der Turmspitze mit dem wehenden Doppelstander des Kaisers. Auf der Gartenseite sah er den Stadtberg aufragen und davor die Backsteinmauern der neuen Fabrik. An dieser Stelle in der oberen Stadt gab es nur Platz für eine Straße, die sich durch das Tal wand.

Unten fuhr ein Pferdefuhrwerk entlang. Otto hörte das Klappern der Hufe, das Mahlen der Räder und vor allem das laute Geschrei des Kutschers, der die Leute verjagte. Obwohl die Obere Marktstraße inzwischen ein Trottoir besaß, liefen die Passanten wie selbstverständlich immer noch mitten auf der Straße herum.

Das Fuhrwerk entfernte sich, und es wurde still auf dem Dachboden. Nur durch das nicht mehr genutzte Sprachrohr drangen die Küchengeräusche herauf. Das verlockte Otto zu einem Streich. Er griff nach der Pfeife, die am Rohr hing, holte ordentlich Luft und pfiff kräftig in den Trichter.

Sofort setzte unten großes Gezeter ein, und Otto konnte seine Mutter schimpfen hören. »Wenn ich den Schuft erwisch’! Kinder! Sofort alle zu mir!«

Otto schlich nach unten.

Seine Mutter stand in der Küche am Grudeherd. Anklagend hielt sie ein leeres Salzfässchen in die Höhe. Den Inhalt hatte sie vor Schreck in die Krautsuppe verschüttet, die seit dem Morgen in der Glut simmerte. »Das gute Essen ist verdorben! Das teure Salz verschwendet!«

Jedes der Kinder schwor hoch und heilig, völlig unschuldig an dieser Sache zu sein. Daraufhin zitierte sie Albert aus der Fabrik herüber.

Albert verwandelte die gute Stube kurzerhand in einen Gerichtssaal. Der Raum mit den Plüschmöbeln, den schweren Gardinen und dem Sekretär aus dunklem Tropenholz durfte nur zu besonderen Anlässen betreten werden. Wenn Besuch kam, an hohen Feiertagen oder für peinliche Befragungen.

Mit gesenkten Köpfen standen die Kinder vor der Inquisition. »Der Schuldige soll hervortreten«, befahl Albert streng.

Keines der Kinder rührte sich.

»Ich warte!«

Otto spürte, wie er zu schwitzen begann und sich am linken Ohr langsam das Pflaster löste. Mit einem tiefen Seufzer schob er seinen Fuß nach vorn. Da drängte sich sein Bruder an ihm vorbei und gestand.

»Fritz! Du?«, rief Albert und setzte seinen Zwicker auf, um den Jungen genauer zu betrachten. »Das hätt ich dir net zugetraut. Wenn du einmal die Fabrik leiten willst, musst du ein anständiger Mann sein. Ein anständiger Mann darf sich nicht vor seiner Verantwortung drücken. Ich werde dich deshalb besonders streng bestrafen.«

Er entschied, dass der Übeltäter einen ganzen Teller von der Salzsuppe essen sollte.

Mit Todesverachtung schaufelte Fritz die Suppe in sich hinein. Immer wenn Otto den Mund öffnete, um den Justizirrtum aufzuklären, schüttelte Fritz den Kopf und Albert sagte: »Der Teller ist noch nicht leer.«

Das ging Mine zu weit. Sie jammerte: »Du bringst den Jungen ja noch um!«

Erst als Fritz anfing, sich zu übergeben, ließ Albert es gut sein und verbannte den Jungen in die Schlafstube.

Die Salzsuppe verschwand in den unergründlichen Tiefen des Aborts. Mine sah ihr hinterher und klagte: »Was für a Sünd’!«

Otto schlich seinem Bruder nach. Der hing quer über dem Federbett und quälte sich. »Mein Wanst! Und Durst hab ich, wie eine Ziege!«

Otto rannte in die Küche und holte ein randvolles Wasserglas, das Fritz in einem Zug leerte. Dann verlangte er nach mehr und Otto brachte den Waschkrug.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte er seinen großen Bruder, während dieser gierig trank.

Fritz zog ein Märtyrergesicht. »Ich beschütz dich doch immer, Otto. Und außerdem dacht ich, mich bestraft der Vater bestimmt net, weil ich einen guten Stand bei ihm hab. Ich konnt ja net ahnen, dass es so ernst wird. Meinst, er schickt mich jetzt noch nach Amerika?« Seine Stimme klang heiser vom Salz.

Fritz sollte seine Ausbildung in New York machen und lernte deshalb seit einiger Zeit die englische Sprache.

»Sie müssen dich nach Amerika schicken«, versicherte Otto. »Und wenn nicht, dann gesteh ich doch noch die Wahrheit.«

Fritz angelte einen Nachttopf unter dem Bett hervor. Das viele Trinken forderte seinen Tribut. Nach ihm ergriff Otto die Gelegenheit. Auf den zugigen Abtritt draußen im Flur gingen sie nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

»Meinst du, ich muss auch irgendwann das Geschäftemachen lernen?«, fragte Otto, während er auf dem Topf hockte und drückte.

Sein Bruder lachte. »Das kannst du doch schon!«

Otto verzog das Gesicht. »Das ganze Verhandeln ist mir so fremd.« Er schüttete den Inhalt des Topfs aus dem Fenster hinunter in den Fluss.

»Das Verhandeln und Rechnen übernehm ich, Otto. Da kannst du unbesorgt sein.« Fritz begann aufzustoßen. »Wir machen das später so: Ich kümmer mich um die Bücher, und du schaffst in der Modellierstube.«

»Der Vater hält nix von meinen famosen Ideen«, gestand Otto kleinlaut. »Immer heißt es nur, denk an das Fiasko mit den sprechenden Puppen bei Kämmer & Reinhardt!«

Fritz nickte. »Damit bei uns so was net passiert, setzt der Vater eben lieber auf das Gängige.«

Sobald ein Produkt der Konkurrenz gut ankam, versuchte Albert es zu kopieren, und zur nächsten Messe stand etwas Gleichwertiges im Musterzimmer der Langbeins. Er war sehr stolz darauf, dass sich seine Schöpfungen nur durch den niedrigeren Preis vom Original unterschieden.

»Aber du kannst unbesorgt sein«, versicherte Fritz. »Ich soll doch später einmal das Geschäft führen. Und dann bin ich es ja, der entscheidet.«

Otto warf sich neben Fritz auf das Bett. Die Matratze war so weich, dass er einsank und halb auf den Bruder rutschte. Fritz stieß noch einmal auf. Diesmal so laut, dass die Schwestern im Nebenzimmer laut kreischten.

»Jetzt ist mir besser«, stellte Fritz fest.

Die Sonne tauchte die Blätter des weit ausladenden Kaiserbaums in Goldbronze. Die Schaukel zwischen den Zweigen hing reglos herab, so still stand die Luft. Das Hausmädchen deckte im offenen Pavillon den Gartentisch.

Der Garten mutete wie ein Park an und war die vollkommene Mischung aus Schönheit und Nutzen. Ein kleiner Kiesweg führte um ein Rondell herum, das von niedrig in Form geschnittenem Buchsbaum begrenzt wurde. In der Mitte wuchsen gestaffelte Stauden. Mine hatte sie so angepflanzt, dass keine die andere verdeckte und zu jeder Jahreszeit etwas blühte. Die filigranen Glöckchen der Prachtkerzen schaukelten im Windhauch, vor ihnen reckte sich Ehrenpreis in die Höhe, und unten drängte sich blaublütiger Storchschnabel. Kleine Wege führten zu den Sträuchern mit den Johannisbeeren und zum knorrigen Kirschbaum. Dahinter begannen die Gemüsebeete mit Kartoffeln, Rüben und Kohl, dann stieg der Garten zum Oberen Graben hin an, und es folgten der Holzverschlag und die Komposthaufen. Auf der nördlichen Seite wurde der Garten von der Fabrik begrenzt. Von dort konnte man das Rattern der Nähmaschinen hören.

Mine hatte Schmalzkringel und Natronplätzchen gebacken und trug sie in einer Schüssel nach draußen.

»Ja, bist du denn noch gescheit?«, rief sie plötzlich entrüstet. Sie hatte auf dem Gartentisch das gute Rosenthaler Donatello-Geschirr entdeckt. »Das können wir doch net benutzen«, erklärte sie dem Hausmädchen, das neu war und von nichts eine Ahnung hatte.

Mine trug persönlich das Porzellan mit den blaugoldenen Art-Nouveau-Ornamenten Stück für Stück wie rohe Eier zurück ins Haus. In der guten Stube ordnete sie es in der Vitrine so an, dass die einzelnen Teile nicht aneinanderstießen. Dann holte sie aus der Küche das einfache Rauensteiner Geschirr.

Als der Arbeitstag in der Fabrik endete, rief Mine die Kinder. Sie wollten noch einmal alle beisammensitzen, bevor Albert zu einer Geschäftsreise nach Amerika aufbrechen musste.

Mine hatte für diesen besonderen Anlass im Kolonialwarenladen am Unteren Markt Schokolade, Kaffee und Zucker besorgt. Auch wenn es ihnen jetzt gut ging, kaufte sie nach wie vor mit großer Bescheidenheit ein. Aus hart gewordenem Brot kochte sie Brotsuppe, und sich selbst gönnte sie gar nichts.

»Müssen die großen Reisen denn sein?«, fragte Mine und schnäuzte sich. »In Amerika geht es drunter und drüber.«

»Da gibt es Banditen!«, behauptete Otto.

»Ich hab vorsorglich eine Pistole gekauft«, versuchte Albert alle zu beschwichtigen.

Auf Drängen der Kinder holte er sie aus dem Panzerschrank der Fabrik. Es war ein siebenschüssiger Selbstlader. Albert nahm die Patronen heraus und erlaubte Otto, damit zu spielen. Der Junge zielte auf die Amseln in den Bäumen und rief: »Peng! Peng!«

»Und was ist, wenn das Schiff untergeht?«, jammerte Mine. »Denk nur an das große Schiffsunglück mit der Titanic im April!«

Tagelang hatte die Frankfurter Zeitung darüber berichtet, und seitdem sorgte sich Mine noch mehr um Albert.

»Ich fahre ja mit der Prinzess Irene«, beruhigte Albert sie. »Die geht nicht unter.«

»Ich hab gehört, in Amerika tragen sie jetzt kurzes Haar und tiefe Rückenausschnitte«, behauptete Else. Mit ihren sechzehn Jahren war sie an den neuesten Galanteriewaren interessiert. Zusammen mit ihrer Schwester Hilda besuchte sie seit Kurzem eine Privatschule für höhere Töchter, was sie bei jeder Gelegenheit durchblitzen ließ. »Das ist très chic«, bemerkte sie. »Kannst du ein paar Modezeitschriften mitbringen?«

»Für solchen Firlefanz wird euer Vater gewiss kein Geld ausgeben«, bestimmte Mine.

»Aber es ist doch nur wegen der Puppenmode!«, protestierte Else.

»Rückenausschnitte und kurzes Haar? So was wär mir für unsere Puppen net recht!«, erklärte Mine.

»Wir müssen auf die neuesten Moden eingehen, Mama«, hielt Else dagegen. »Niemand will mehr diese überladenen Kleider mit Rüschen und Schleifen haben.«

»Else hat recht«, musste der Vater ihr zustimmen. »Die Kunden in Amerika verlangen bei den Puppen nach Kinderkleidung.«

»Und wir sparen gleich noch Material mit den Reformkleidchen. Die sind auch viel einfacher zu nähen«, warf Hilda schüchtern ein. Sie war zurückhaltender und nicht annähernd so hübsch wie ihre Schwester.

Der Hinweis auf die Stoffersparnis überzeugte Mine.

»In der Industrieschule haben sie eine Käthe-Kruse-Puppe gezeigt«, erzählte Fritz. »Das ist wie eine andere Welt. Ganz lebensecht. Der Otto hat ein paar Köpfe gezeichnet, zeig die doch mal dem Vater«

Otto legte die Pistole auf den Tisch und rannte ins Haus.

»Wir müssen auch so etwas herstellen«, forderte Fritz. »In kleinen Stückzahlen. Damit jedes Mädchen sein unverwechselbares Puppenkind hat.«

Otto kam mit einer Mappe voller Zeichnungen und Studien zurück. Albert holte den Zwicker aus seiner Brusttasche, um besser sehen zu können, blätterte darin und schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nicht. Wir müssen in großen Mengen produzieren und möglichst preiswert. Die Amerikaner wollen Dollarpuppen kaufen, keine Künstlerpuppen.«

Enttäuscht gab Otto seiner Mappe einen Stoß.

Albert sah seinen jüngsten Sohn aufmerksam an. »Hör zu, mein Junge«, sagte er. »Der Fritz besitzt Interesse für unser Geschäft. Und vielleicht wirst du später unsere Muster entwerfen. Aber ich glaube, du hast ein anderes, größeres Talent. Ich denke, du solltest einmal zur Kunstschule gehen und Malerei studieren.«

Mine zog eines der Blätter heran und betrachtete es genau.

»Das hast du wirklich schön gemalt, Otto«, fand sie. »Du könntest ja auch einmal mein Patenkind, die kleine Flora, als Modell nehmen!«

Entrüstet verzog Otto das Gesicht. »Nää! Für so was muss man ein hübsches Kind nehmen!«

Wochenlang harrte Flora geduldig aus, aber sie erhielt keine Einladung ihrer Patentante. Also beschloss sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie überlegte sich eine kleine Ausrede und ging, nachdem sie die Lieferung in der Fabrik abgegeben hatte, zur Wohnung der Langbeins. Wie immer klopfte sie anstandshalber kurz und öffnete dabei gleichzeitig die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.

Für einen winzigen Moment glaubte Flora, sie wäre gestorben und hätte das Tor zum Himmelreich aufgestoßen.

Statt der erwarteten Wohnküche lag vor ihr ein Dschungel aus blühenden Orchideen, Monstera, Dattelpalmen, Bananenstauden, Papyrusgras und Alokasien. Der süße Duft von Passionsblumen hing zwischen den Blättern. Erschrocken sprang Flora einen Schritt zurück und schlug hastig die Tür wieder zu.

Im nächsten Augenblick erschien ihr alles wieder normal und vertraut, das dunkle Treppenhaus, der beißende Gestank des Aborts und das Rauschen der Röthen hinter dem Haus.

Vorsichtig öffnete Flora noch einmal die Tür. Kühle Luft zog hinein, und aus dem Urwald drang ein empörtes Zwitschern.

Otto steckte den Kopf aus der Küchentür.

»Ist das nicht eine Pracht?«, erkundigte er sich. »Der Vater hat einen Teil von der Küche abgetrennt und ein Blumenzimmer draus gemacht. Von Übersee hat er die erstaunlichsten Pflanzen geholt! Das beeindruckt die Vertreter, hat er gesagt. Die kommen viel lieber zu uns, wenn es was zu staunen gibt. Die Mama findet es überkandidelt. Aber mir gefällt’s. Hast du die Vögel gesehn? Die haben uns die Lieferanten aus dem Hinterland mitgebracht.«

Jetzt entdeckte Flora den hängenden Drahtkäfig, in dem ein leuchtend rotes Dompfaffpärchen auf einem knorrigen Ast hockte. Otto griff in seine Hosentasche und holte ein paar Bucheckern heraus. Die Vögel hüpften heran, und der Käfig begann sanft zu schaukeln.

In der Küche richtete Flora erfundene Grüße von der Mutter an ihre Patentante aus. Ottos Geschwister hoben kaum den Kopf. Fritz stellte komplizierte Berechnungen für eine Hausarbeit der Industrieschule an. Die Mädchen waren mit Handarbeiten beschäftigt. Auf einem Probestreifen aus Leinen setzten sie einen mikroskopisch kleinen Kreuzstich neben den anderen, bis sich ein verschnörkelter Buchstabe ergab.

»Es hat sich recht viel verändert bei uns«, erklärte Mine verlegen, als müsste sie sich dafür entschuldigen. »Wir haben jetzt ein Dienstmädchen und ein Küchenkanapee.«

Flora entdeckte ein rotes Sofa mit geschwungenen Lehnen.

»Auf dem Kanapee kann sich der Albert nun immer ausruhen nach dem Essen«, berichtete Mine und setzte verschämt hinzu: »Ich weiß, es ist ein wenig pompös.«

Sie suchte in einer Küchenschublade herum und gab Flora einen bunten Bogen Papier. »Möchtest du gern ein paar Reklamemarken? Wir haben welche drucken lassen.«

»Für mich?«, fragte Flora beglückt und sah auf die briefmarkengroßen Bildchen. Sie trugen die Aufschrift der Puppenfabrik Langbein und zeigten bunte Spielzeugmotive.

»Wir haben jetzt sogar eigene Zimmer!«, behauptete Otto.

Flora schüttelte ungläubig den Kopf. Sie selbst schlief im Bett ihrer Eltern, zusammen mit dem kleinen Bruder und einer Schwester. Die anderen Geschwister waren auf zwei weitere Betten verteilt. Ihre Mutter zählte vor der Nachtruhe nur kurz die Köpfe auf den Kissen durch und merkte nicht einmal, wenn ein fremder Junge mit einem ihrer Brüder den Platz getauscht hatte.

»Wie sieht denn ein Kinderzimmer aus?«, erkundigte sich Flora.

»Darf ich es einmal zeigen?«, fragte Otto, und Mine erlaubte es.

Die Kinder verließen die Küche auf der anderen Seite. Die Wohnung der Langbeins war wie ein Schneckenhaus angeordnet, und durch die gute Stube, die sich an das Blumenzimmer anschloss, durften sie nicht gehen. Die Kammern lagen hinter der Schlafstube der Eltern. Von dort ging es zuerst in das Knabenzimmer und dann in das der Mädchen. Eigentlich wäre es nach dem Mädchenzimmer wieder in die gute Stube gegangen und der Ring hätte sich geschlossen. Aber Mine hatte darauf bestanden, dass diese Tür mit einem Bücherregal zugestellt wurde.

Die Wände des Knabenzimmers waren mit einer blass gemusterten Tapete beklebt. Ein Bett aus dunklem Eichenholz stand darin, in dem beide Jungen schlafen konnten. Es gab einen Stuhl zum Ablegen der Kleider, ein Nachtschränkchen, und an der Wand hing eine Gasleuchte mit Messingschirm. Darunter war ein kleines Regal angebracht, auf dem ein paar Bücher und ein Globus standen. In der Ecke lehnte ein roter Papierdrachen, den die Brüder selbst gebaut hatten.

»So etwas Schönes hab ich noch nie gesehen!«, flüsterte Flora ergriffen.

Otto beachtete sie gar nicht mehr. Er holte Papier aus dem Nachtschränkchen und setzte sich mit angezogenen Beinen aufs Bett. Selbstvergessen begann er mit einem Kohlestück zu zeichnen.

Eine Zeit lang blieb sie neben ihm stehen und beobachtete, wie er Linien malte und sie dann mit den Fingern verwischte, um weiche Konturen herzustellen. Vor Aufregung bekam sie einen Schluckauf. Otto runzelte die Stirn. Sie versuchte, den Atem anzuhalten. Als das keine Besserung brachte, schlich sie auf Zehenspitzen hinaus, um ihn nicht zu stören.

Auf dem Heimweg presste Flora die Reklamemarken an ihr Herz und dachte immerzu an das wunderbare Haus der Langbeins. Sie wollte sich beim abendlichen Bittgebet wünschen, auch irgendwann dort wohnen zu dürfen. Schöner, da war sie sicher, konnte es im Himmel wirklich nicht sein.

Zu Hause schimpfte ihre Mutter, weil es so spät geworden war. Flora begriff, dass es diesmal kein Bonbon für den Botendienst geben würde. Sie nahm ihrer Mutter das Baby ab.

Die Luft in dem winzigen Raum war überhitzt und verdorben. Es stank nach Petroleum, mit dem die schwefelhaltigen Formen eingestrichen wurden, damit die Drückermasse nicht darin kleben blieb. Auf dem Ofen kochte ein Kessel mit Papierabfällen, Kreide, Lehm und Leimwasser.

Die Kinder kratzten die Grate von den Massebeinen ab, damit sie die Stückzahlen schafften, die der Vater vorgegeben hatte. Sie schliffen die grauen Beinchen, bis sie seidenglatt waren. Der feine, giftige Staub machte die Luft trüb. Er setzte sich auf alles, kroch überallhin und bereitete der Schwindsucht einen guten Nährboden.

Mit dem Bruder auf der Hüfte ging Flora zum Herd und fischte die Kartoffeln heraus, die seit Stunden in der Glut lagen. Etwas anderes gab es nicht. Immer nur Kartoffeln, Brot und Malzkaffee.

Beim Essen sinnierte Floras Vater: »An allen Enden der Welt ist Krieg. Der italienisch-türkische Krieg, der Balkankrieg, und in Mexiko brodelt es auch gewaltig.«

Flora stellte sich den Krieg so vor, dass Soldaten durch die Gegend stromerten und Freudenschüsse in die Luft abgaben. So wie Otto, wenn er mit einem Zeitungshut und selbst gebasteltem Holzgewehr auf Amseln zielte.

»Ich denk«, überlegte Floras Vater laut, »bei uns müsste es endlich auch einmal wieder Krieg geben. Dann würd sich was ändern.«

5

Der Dachboden

Die Fenster auf dem Dachboden waren schmal wie Schießscharten. Mit einem alten Stofffetzen wischte Eva den Schmutz von einer Scheibe, damit etwas mehr Licht hereinfiel. Sie warf einen flüchtigen Blick in die Tiefe. Von dem verwilderten Blumenrondell leuchteten lilablaue Flecken herauf.

»Hier ist noch eine Kiste mit Nieten«, verkündete Jan hinter ihr. Er schüttelte den Karton. »Ich schätze mal, es sind eine Million!«

Iris versuchte ein Foto zu schießen, dann ein weiteres mit Blitz. »Man erkennt nichts mehr«, beschwerte sie sich.

Eva beschriftete den Pappdeckel. In jeder Ecke stapelten sich Kisten, Säcke und Stoffballen. Sie hatten alles aufgelistet und fotografiert, um es im Internet verkaufen zu können.

Iris setzte sich auf eine Kiste und massierte ihre Füße. »Sind wir dann hier fertig?«

Eva schüttelte den Kopf und zeigte in eine Ecke. »Wir haben die Akten da drüben noch nicht durchgesehen.«

Jan ging zu dem Regal und stieß sich an dem tief hängenden Dachbalken.

»Früher hab ich mich hier nie gestoßen«, wunderte er sich und rieb seinen Kopf.

Eva musste lachen. »Da warst du auch noch nicht so groß. Auf unserem Jugendweihebild bist du einen Kopf kleiner als ich.«

»Höchstens einen halben«, berichtige Jan sie. Willkürlich zog er Hefter und Mappen aus dem Regal und las Jahreszahlen vor: »1971, 1953, 1947

»Kann alles weg. So was muss man nur zehn Jahre aufheben, wegen der Steuer«, behauptete Iris.

Im untersten Fach lagen schwere Folianten mit Lederrücken, eingebunden in marmoriertes Papier. Eva nahm einen Band heraus und schlug ihn auf. Steile Buchstaben aus blauschwarzer Tinte drängten sich in Spalten aneinander.

»Ein altes Hauptbuch«, stellte sie überrascht fest. »Von 1914. Guckt euch das an.«

Iris sah ihr über die Schulter und las vor: »American Wholesale Company, New York. Achtzehntausendfünfhundertsiebzig Goldmark im Haben. Nicht schlecht.«

»Ich meinte diese Handschrift«, sagte Eva. »Wie gestochen. Das muss der Urgroßvater geschrieben haben.«

Jan stellte das Buch zurück und stieß sich schon wieder. »Verdammte Dachschräge«, schimpfte er und schlug mit der Faust dagegen. Irritiert sah er seine Cousinen an. »Habt ihr das gemerkt?« Er hämmerte noch einmal an das Holz. »Da ist ein Hohlraum drunter.« Er begann die unsichtbare Schräge oberhalb des Balkens mit den Fingern abzutasten. »Hier ist irgendwas.«

»Lass mich sehen«, rief Iris und drängte Eva zur Seite.

»Ich kann einen Spalt fühlen.« Jan zog sein Klappmesser aus der Hosentasche. Er begann in die Furchen zu stechen und hebelte ein kleines Brett aus. Klappernd fiel es zu Boden. Iris sprang zur Seite.

Sie schoben eine Kiste heran und stiegen alle drei nacheinander darauf, um in eine schwarze Öffnung zu spähen, aus der kalte Luft hereinzog.

»Wer will reinfassen?«, fragte Jan.

Sie ließen ihm den Vortritt. Er schaltete die Lampe seines Telefons an und griff hinein.

»Ich hab so eine Ahnung, dass dich gleich eine Tarantel sticht«, prophezeite Iris.

Jan holte triumphierend ein Blechkästchen heraus. »Ich glaub, wir haben den Familienschmuck entdeckt!«

Aufgeregt liefen sie zum Fenster, um den Fund im schwindenden Licht zu betrachten. Es war eine alte Kaffeedose, groß wie ein Ziegelstein. Jan öffnete den Blechdeckel. Ein undefinierbares dunkles Pulver lag darin.

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