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Wo Wünsche wahr werden

Melodie der Liebe

An Glück glaubt Natasha nicht mehr. Stattdessen konzentriert sie sich auf ihren Spielzeugladen und setzt alles daran, die Wünsche ihrer kleinen Kunden zu erfüllen. Als der attraktive Spence in ihr Leben tritt, stürzt sie in ein Gefühlschaos. Einerseits fühlt sie sich zu ihm hingezogen, anderseits sitzt der Schmerz nach einer Enttäuschung in der Vergangenheit tief. Doch Spence umwirbt sie einfühlsam. Kann Natasha lernen, einem Mann wieder zu vertrauen?

Zwischen Sehnsucht und Verlangen

Mit Herzblut betreibt Regan ihr Antiquitätengeschäft und freut sie sich besonders über den Auftrag von Rafe MacKade, ein altes Anwesen mit antiken Möbeln einzurichten. Allerdings reizt sie nicht nur der Job, sondern auch Rafe selbst. Denn er weckt eine ungeahnte Sehnsucht in ihr. Doch Regan weiß: Wenn Rafe liebt, dann heißt es für immer. Und sie muss sich fragen, ob sie tatsächlich bereit ist, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

"Nora Roberts kennt das Rezept für großartige Liebesromane!"

Romantic Times

"Nora Roberts hat bereits 25 Millionen Leser zum Träumen gebracht."

Entertainment Weekly


  • Erscheinungstag: 01.12.2017
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767099
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Natasha marschierte zufrieden in ihr Zimmer zurück, ihre Augen blitzten triumphierend. So, Mikhail und Alexej fanden es also komisch, dem Hund ihren neuen BH und ihr Lieblingstrikot anzuziehen.

Aber die beiden hatten herausfinden müssen, was mit nervtötenden kleinen Brüdern passierte, wenn sie ihre gierigen Grabschhändchen nicht von Dingen ließen, die ihnen nicht gehörten.

Mik würde wahrscheinlich noch den ganzen Tag humpeln.

Und das Beste war, dass Mama ihnen befohlen hatte, Trikot und BH zu waschen. Mit der Hand. Und dann würden sie die Sachen draußen aufhängen müssen. Natashas Genugtuung wuchs. Einige von den Nachbarjungs würden sie bestimmt dabei sehen.

Sie würden vor Scham im Boden versinken.

Mama, so dachte sie jetzt, ist immer gerecht. Das war viel wirkungsvoller als der kräftige Tritt gegen das Schienbein, den sie ihrem Bruder versetzt hatte.

Natasha drehte sich zu dem hohen Spiegel an der Wand um und sank in ein tiefes Plié. Ihr vierzehnjähriger Körper zeigte die ersten Andeutungen von Rundungen an Brust und Hüften, sonst war er ebenso schlank wie der ihrer Brüder.

Ballettstunden hatten diesen Körper gelehrt, sich geschmeidig zu dehnen, die Gelenke darauf trainiert, den Anforderungen zu entsprechen. Hatten ihrem Geist Disziplin beigebracht.

Und ihrem Herzen die größte Freude gemacht.

Sie wusste, wie teuer diese Stunden waren und wie hart ihre Eltern dafür arbeiteten, ihr – und ihren Geschwistern – das zu erfüllen, was sie sich am meisten wünschten.

Dieses Wissen ließ sie härter trainieren als alle anderen in der Klasse.

Eines Tages würde sie eine berühmte Ballerina sein, und jedes Mal, wenn sie tanzte, würde sie in Gedanken ihren Eltern danken.

Ein Bild tauchte vor ihr auf – sie in einem schillernden Kostüm auf der Bühne. Sie konnte die Musik hören. Sie schloss die goldbraunen Augen und hob das fein modellierte Kinn ein wenig höher. Die langen schwarzen Locken schwangen sanft um ihre Schultern, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und eine langsame Pirouette drehte.

Als sie die Augen wieder öffnete, erblickte sie ihre Schwester im Türrahmen.

„Sie sind fast fertig mit dem Waschen“, verkündete Rachel. Sie betrachtete Natasha mit einer Mischung aus Neid und Stolz. Stolz, dass ihre Schwester so schön war, so hübsch aussah, wenn sie tanzte. Neid, weil sie mit ihren acht Jahren das Gefühl hatte, nie vierzehn zu werden, nie so hübsch zu sein, sich nie so anmutig bewegen zu können.

Natasha fielen nie die Spangen aus den Haaren, ihr Haar war immer ordentlich. Und sie bekam auch schon Brüste. Sicher, sie waren noch klein, aber sie waren da, kein Zweifel.

Rachels ganzer Ehrgeiz, ihr ganzes Trachten bestand darin, eines Tages vierzehn zu sein.

Natasha lächelte vor sich hin und drehte noch eine Pirouette. „Und? Beschweren sie sich?“

„Könnte man sagen.“ Rachels Lippen zuckten. „Wenn Mama nicht in der Nähe ist. Mik sagt, du hast ihm das Bein gebrochen.“

„Gut. Er hat es verdient. Weil er meine Sachen genommen hat.“

„Es war schon irgendwie lustig.“ Rachel hüpfte auf dem Bett herum. „Sasha sah so albern aus in dem hübschen weißen BH und dem pinkfarbenen Tutu.“

„Irgendwie, ja“, gab Natasha zu. Sie ging zur Kommode und nahm ihre Haarbürste. „Und als sie dann ‚Schwanensee‘ aufgelegt und mit ihm getanzt haben.“ Sie strich sich durch das lange Haar. „Na ja, es sind eben nur Jungs.“

Rachel rümpfte die Nase. Jungen hatten bei ihr momentan keinen sehr hohen Stellenwert. „Jungs sind doof. Sie sind zu laut, und sie stinken auch immer. Ein Mädchen zu sein ist viel besser.“ Auch wenn sie ausgewaschene Jeans, ein ausgeleiertes T-Shirt und eine Baseballkappe trug – sie war fest davon überzeugt. Ihre Augen, die die gleiche Farbe hatten wie die ihrer Schwester, begannen zu funkeln. „Wir könnten uns an ihnen rächen.“

Natürlich sagte sie sich, dass sie längst über solchen Dingen stand, trotzdem beäugte Natasha ihre Schwester mit wachsendem Interesse. Rachel mochte die Jüngste sein, aber sie war gerissen. „Und wie?“

„Miks Baseballshirt.“ Für das Rachel eine heimliche Schwäche hatte. „Ich denke, es würde Sasha richtig gut stehen. Solange sie draußen sind, können wir es holen.“

„Niemand weiß, wo er es versteckt, wenn er es nicht trägt.“

„Ich weiß es.“ Rachel grinste breit über das ganze hübsche Gesicht. „Ich weiß alles. Ich sage dir, wo es ist, damit du es ihm heimzahlen kannst, wenn …“

Natasha hob eine Augenbraue. Gerissen und raffiniert. Rachel hatte immer einen Hintergedanken. „Wenn was?“

„Wenn ich deine goldenen Ohrringe tragen darf, die kleinen mit den Sternen.“

„Das letzte Mal, als ich dir meine Ohrringe geliehen habe, hast du einen verloren.“

„Ich habe ihn nicht verloren, ich habe ihn nur noch nicht gefunden.“ Zu gern hätte sie jetzt geschmollt, aber das musste warten, bis der Handel perfekt war. „Ich hole das Shirt, helfe dir dabei, es Sasha anzuziehen, und lenke Mama ab. Du lässt mich drei Tage deine Ohrringe tragen.“

„Einen.“

„Zwei.“

Natasha seufzte ergeben. „Na schön.“

Mit einem verschlagenen Lächeln streckte Rachel die offene Hand aus. „Ohrringe zuerst.“

Kopfschüttelnd öffnete Natasha ihr Schmuckkästchen und holte die kleinen Kreolen hervor. „Wie kann man mit acht ein solch gerissener Überredungskünstler sein?“

„Wenn man die Jüngste ist, muss man das können.“ Freudig hüpfte Rachel vom Bett und steckte die feinen Ohrringe vor dem Spiegel an. „Alle kriegen immer die Sachen vor mir. Wenn ich die Älteste wäre, hätte ich die Ohrringe bekommen.“

„Du bist aber nicht die Älteste, und die Ohrringe gehören mir. Verlier sie nicht.“

Rachel verdrehte genervt die Augen, dann betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah älter aus, mindestens wie zehn, da war sie sicher.

„Wenn du schon Ohrringe trägst, solltest du auch etwas mit deinem Haar machen. Lass mich mal.“ Natasha zog ihrer Schwester die Baseballkappe vom Kopf und begann die langen Locken zu brüsten. „Wir binden es zusammen, damit man die Ohrringe auch sehen kann.“

„Ich kann meine Spange nicht finden.“

„Dann nehmen wir eine von meinen.“

„Als du acht warst, hast du da so ausgesehen wie ich?“

„Weiß ich nicht.“ Natasha hielt ihr Gesicht neben Rachels, damit sie sich zusammen im Spiegel betrachten konnten. „Wir haben fast die gleichen Augen, und unsere Lippen sind auch sehr ähnlich. Deine Nase ist hübscher.“

„Wirklich?“ Die Vorstellung, dass etwas an ihr hübscher war als an ihrer großen Schwester, war einfach umwerfend!

„Ja, ich denke schon.“ Und weil sie nur zu gut verstand, legte Natasha ihre Wange an die ihrer Schwester. „Eines Tages, wenn wir erwachsen sind, werden uns die Leute nachsehen, wenn wir zusammen die Straße hinuntergehen, und dann werden sie sagen: ‚Sieh nur, da gehen die Stanislaski-Schwestern. Sind die beiden nicht wunderhübsch anzusehen?‘“

Bei dem Bild musste Rachel kichern. Arm in Arm stolzierten sie durch das Zimmer, das sie sich teilten. „Und wenn sie Mikhail und Alexej zusammen sehen, werden sie sagen: ‚Oh, oh, da kommen die Stanislaski-Brüder. Das gibt Ärger.‘“

„Und damit haben sie völlig recht.“ Die Hintertür schlug, und Natasha sah zum Fenster hinaus. „Da sind sie! Oh Rachel, sieh sie dir nur an! Es ist perfekt!“

Die beiden Jungen, beide mit hängenden Schultern, das Kinn bis auf die Brust gesenkt, schlurften zur Wäscheleine, während der Hund wild bellend um sie herumsprang.

„Sie sehen ja soo verlegen aus“, sagte Natasha voller Schadenfreude. „Sieh dir nur an, wie rot sie sind.“

„Das reicht nicht. Lass uns das Shirt holen!“ Rachel griff ihre Kappe und stürmte aus dem Zimmer.

Nie würde es den Jungen gelingen, eine der Stanislaski-Schwestern unterzukriegen, dachte Natasha und rannte hinter Rachel her.

1. Kapitel

„Woher kommt es bloß, dass alle wirklich gut aussehenden Männer verheiratet sind?“

„Soll das eine Fangfrage sein?“ Natasha drapierte das wallende Samtkleidchen um die Beine der Puppe, die sie gerade in den kindgroßen Schaukelstuhl aus Bugholz gesetzt hatte. Dann drehte sie sich zu ihrer Mitarbeiterin um. „Okay, Annie. Reden wir über einen ganz bestimmten gut aussehenden Mann?“

„Allerdings. Über den großen blonden und einfach tollen Mann, der gerade mit seiner flotten Frau und dem süßen kleinen Mädchen vor unserem Schaufenster steht.“ Annie schob sich ein Kaugummi in den Mund und seufzte dramatisch. „Die drei sehen aus wie eine Bilderbuchfamilie.“

„Dann kommen sie ja vielleicht herein und kaufen ein Bilderbuchspielzeug.“

Natasha trat einen Schritt zurück und musterte zufrieden die Dekoration aus viktorianischen Puppen und passenden Accessoires. Es sah genau so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ansprechend, elegant und richtig schön altmodisch. Sie überprüfte noch einmal das gesamte Arrangement, bis hin zum Sitz der Quaste an dem Fächer, den eine der Puppen in der winzigen Porzellanhand hielt.

Der Spielzeugladen war für sie nicht nur ein Broterwerb, sondern auch ihr größtes Vergnügen. Sie achtete auf jedes Detail und beste Qualität und suchte alles, von der kleinsten Rassel bis zum größten Plüschbären, selbst aus. Für ihren Laden und ihre Kunden war ihr das Beste gerade gut genug, ob es sich nun um eine Fünfhundert-Dollar-Puppe mit eigener Pelzstola handelte oder um einen handflächengroßen Modell-Rennwagen für zwei Dollar. Sie freute sich über jedes Stück, das sie verkaufte. Hauptsache, es bereitete dem kleinen Kunden Freude.

Vor drei Jahren hatte sie zum ersten Mal die Ladentür geöffnet und damit das Glockenspiel über dem Rahmen zum Klingen gebracht. Seitdem hatte Natasha „The Fun House“ zu einem der florierendsten Geschäfte des College-Städtchens am Rande West Virginias gemacht. Es hatte viel Energie und Durchhaltevermögen gebraucht, aber den Erfolg verdankte sie in erster Linie ihrem instinktiven Verständnis für kindliche Wünsche und Bedürfnisse. Sie wollte nicht, dass die Kunden mit irgendeinem Spielzeug davongingen. Sie wollte, dass sie mit genau dem richtigen Spielzeug den Laden verließen.

Sie ließ ihren Blick über die ausgestellten Miniaturautos wandern und ging hinüber, um das Arrangement noch etwas zu verbessern.

„Ich glaube, die kommen jetzt herein“, sagte Annie und fuhr sich mit der flachen Hand über das kurz geschnittene rotbraune Haar. „Das kleine Mädchen zappelt schon die ganze Zeit vor Aufregung. Soll ich die Ladentür aufschließen?“

Natasha nahm alles sehr genau und sah zu der Uhr mit dem lachenden Clownsgesicht hinauf. „Wir haben noch fünf Minuten.“

„Was sind schon fünf Minuten? Tash, ich sage dir, der Typ ist einfach unglaublich.“ Annie ging zwischen zwei Regalen hindurch zu dem kleinen Stapel Brettspiele und stapelte sie um, während sie möglichst unauffällig nach draußen spähte. „Oh ja! Eins siebenundachtzig, dreiundsiebzig Kilo. Die stattlichsten Schultern, die je ein Anzug-Sakko ausgefüllt haben. Mensch, das ist ja Tweed. Wusste gar nicht, dass mir bei einem Typen in Tweed das Wasser im Munde zusammenlaufen kann.“

„Selbst wenn er etwas aus Pappe anhätte, würde dir das Wasser im Munde zusammenlaufen.“

„Die meisten Typen, die ich kenne, sind aus Pappe.“ Annie lächelte verschmitzt, und neben ihrem Mundwinkel bildete sich ein Grübchen. Vorsichtig sah sie um den Tresen mit Holzspielzeugen herum auf die Straße. „Der muss in diesem Sommer eine Menge Zeit am Strand verbracht haben. Sein Haar ist richtig hell von der Sonne, und die Haut ist tief gebräunt. Jetzt lächelt er dem kleinen Mädchen zu. Ich glaube, ich habe mich gerade verliebt.“

Natasha vollendete den Ministau, zu dem sie die Modellautos arrangiert hatte, und sah zu Annie hinüber. „Du glaubst doch dauernd, dass du verliebt bist.“

„Ich weiß.“ Annie seufzte. „Wenn ich doch nur erkennen könnte, welche Augenfarbe er hat. Sein Gesicht ist jedenfalls eins von diesen schmalen mit markanten Wangenknochen. Ich wette, er ist unglaublich intelligent und hat im Leben viel durchgemacht.“

Natasha warf ihr einen raschen amüsierten Blick zu. Die hoch gewachsene und eher magere Annie hatte ein Herz weich wie Marshmallow-Creme. „Ich bin sicher, seine Frau wäre von deiner Fantasie entzückt.“

„Es ist das Recht einer Frau, nein, geradezu die Pflicht, bei einem solchen Mann ins Schwärmen zu geraten.“

Obwohl sie da völlig anderer Meinung war, gab Natasha nach und tat Annie den Gefallen. „Also gut. Mach schon auf.“

„Eine Puppe“, sagte Spence und zupfte seine Tochter zärtlich am Ohr. „Wenn ich gewusst hätte, dass eine halbe Meile vom Haus entfernt ein Spielzeugladen liegt, hätte ich mir das mit dem Umzug vielleicht doch noch anders überlegt.“

„Wenn’s nach dir ginge, würdest du ihr doch gleich den ganzen Laden kaufen.“

„Fang nicht schon wieder an, Nina“, sagte er mit einem Seitenblick auf die Frau neben ihm.

Die schlanke Blondine zuckte nur mit den Schultern, sodass sich der Leinenstoff ihrer gepflegten roséfarbenen Kostümjacke kräuselte. Dann blickte sie zu dem kleinen Mädchen hinunter. „Ich meinte bloß, dass dein Daddy dich immer so sehr verwöhnt, weil er dich sehr lieb hat. Außerdem hast du dir wirklich ein Geschenk verdient, weil du mit dem Umzug einverstanden warst, uns sogar dabei geholfen hast.“

Die kleine Frederica Kimball schob die Unterlippe vor. „Ich mag mein neues Haus.“ Sie schob ihrem Vater die winzige Hand zwischen die Finger, als wolle sie das Bündnis bekräftigen, das sie mit ihm gegen den Rest der Welt eingegangen war. „Ich habe jetzt einen Hof und eine Schaukel ganz für mich allein.“

Nina musterte die beiden, den hoch gewachsenen, langgliedrigen Mann und das elfenhafte kleine Mädchen. Die Kleine hatte das gleiche trotzige Kinn wie ihr Vater. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatten die beiden bei jeder Auseinandersetzung das letzte Wort gehabt.

„Offenbar bin ich die Einzige, die darin keinen Fortschritt gegenüber dem Leben in New York sieht.“ Ninas Tonfall wurde hörbar müder, als sie dem Mädchen übers Haar strich. „Ich kann nicht anders, ich mache mir ein wenig Sorgen um dich. Du sollst doch nur glücklich sein, mein Liebling. Du und dein Daddy.“

„Das sind wir.“ Um die Atmosphäre zu entschärfen, hob Spence Freddie mit Schwung auf den Arm. „Stimmt’s, Funny Face?“

„Sie wird gleich noch glücklicher sein“, lenkte Nina ein und drückte Spence aufmunternd die Hand. „Der Laden wird geöffnet.“ Schmunzelnd folgte sie den beiden durch die Tür.

„Guten Morgen.“ Sie waren grau, stellte Annie fest und unterdrückte ein gedehntes, träumerisches Seufzen. Ein fantastisches Grau. Entschlossen verbannte sie das Schwärmen in einen hinteren Winkel ihrer Gedankenwelt und bat die ersten Kunden des Tages herein. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Meine Tochter interessiert sich für eine Puppe.“ Spence stellte Freddie wieder auf die Füße.

„Nun, dann sind Sie hier genau richtig.“ Pflichtgetreu wandte Annie ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu. Es war wirklich eine süße kleine Person, mit denselben grauen Augen und dem gleichen kaum zu bändigenden Blondschopf. „Was für eine Puppe möchtest du denn?“

„Eine hübsche“, entgegnete Freddie sofort. „Eine hübsche mit rotem Haar und blauen Augen.“ Sie sah zu ihrem Vater hoch, und als der nickte, spazierte sie an Annies Hand davon.

Nina drückte ihm zum zweiten Mal die Hand. „Spence …“

„Ich versuche mir immer einzureden, dass es ihr nichts mehr ausmacht. Dass sie sich nicht einmal daran erinnert“, sagte er leise.

„Dass sie eine Puppe mit rotem Haar und blauen Augen möchte, muss doch nichts bedeuten.“

„Rotes Haar und blaue Augen“, wiederholte er mit tonloser Stimme, als die Trauer einmal mehr in ihm aufstieg. „Wie Angela. Sie erinnert sich, Nina. Und es macht ihr etwas aus.“ Er schob die Hände in die Taschen und ging weiter in den Laden hinein.

Drei Jahre, dachte er. Es war jetzt drei Jahre her. Freddie hatte noch in den Windeln gelegen. Aber sie erinnerte sich an Angela. Die wunderschöne, sorglose Angela. Selbst bei aller Toleranz hätte man Angela nicht als Mutter bezeichnen können. Nie hatte sie ihre Tochter auf den Knien geschaukelt, mit ihr geschmust, sie getröstet oder ihr ein Schlaflied gesungen.

Er musterte eine kleine, blau gekleidete Puppe mit einem engelhaften Porzellangesicht. Schmale, zarte Figur und riesige, verträumte Augen. So war auch Angela gewesen. Von fast überirdischer Schönheit. Und so kalt und glatt wie Glas.

Er hatte sie geliebt, wie ein Mann ein Kunstwerk liebt. Aus der Distanz, voller Bewunderung für das perfekt gestaltete Äußere und stets auf der Suche nach der inneren Bedeutung. Irgendwie war aus ihrer Beziehung ein warmherziges, lebenslustiges Kind hervorgegangen. Ein kleines Mädchen, das in seinen ersten Lebensjahren fast ohne die Hilfe der Eltern seinen Weg hatte finden müssen.

Aber er würde es wieder gutmachen. Spence schloss einen Moment lang die Augen. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um seiner Tochter die Liebe, die Geborgenheit und die Sicherheit zu geben, die sie verdiente. Die Echtheit. Das Wort klang banal, aber es beschrieb am besten, was er für seine Tochter wollte. Die Echtheit, Ehrlichkeit und Stabilität einer richtigen Familie.

Sie liebte ihn. Seine Schultern entkrampften sich etwas, als er daran dachte, wie sehr Freddies große Augen leuchteten, wenn er ihr abends gute Nacht sagte, wie sie die Arme um ihn schlang, wenn er sie festhielt. Vielleicht würde er sich nie völlig verzeihen, dass er sie als Baby wegen eigener Probleme vernachlässigt hatte. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Selbst diesen Umzug hatte er mit Blick auf Freddies Wohlergehen geplant.

Er hörte ihr helles Lachen, und sofort löste sich die Anspannung in einer Welle von Freude auf. Keine Musik klang in seinen Ohren so schön wie das Lachen seines kleinen Mädchens. Es wäre wert gewesen, von einem kompletten Symphonieorchester begleitet zu werden. Stör sie jetzt nicht, dachte Spence. Lass sie mit all den bunten Puppen allein, bevor du sie daran erinnern musst, dass nur eine davon ihr gehören kann.

Wieder entspannt, sah er sich in dem Geschäft um. Wie die Puppe, die er sich für seine Tochter vorstellte, war das Ladeninnere schön anzusehen. Ein Fest für die Augen. Es war zwar nicht sehr geräumig, aber von Wand zu Wand voll der Dinge, die ein Kinderherz begehrte. Von der Decke hingen eine große Giraffe mit goldenem Fell und ein roter Hund mit traurigem Blick. Hölzerne Eisenbahnzüge, Autos und Flugzeuge in leuchtenden Farben drängten sich neben eleganten Miniaturmöbeln auf einem langen Tisch. Neben dem aufwendigen Modell einer Raumstation saß ein altmodischer Hampelmann. Es gab viele Puppen, manche wunderschön, manche auf charmante Weise hausbacken, Kästen mit Bauklötzen und ein herrlich verspieltes Teegeschirr für Kinder.

Gerade weil alles so ungezwungen, fast beiläufig arrangiert worden war, wirkte es ungemein verlockend. Dies war ein Ort der Fantasien und Wünsche, eine mit Schätzen gefüllte Aladin-Höhle, in der Kinderaugen vor Staunen leuchteten. Spence hörte, wie seine Tochter fröhlich lachte, und ahnte, dass Freddie bald zu den regelmäßigen Besuchern des „Fun House“ zählen würde.

Das war einer der Gründe, warum er mit ihr in eine Kleinstadt gezogen war. Er wollte, dass sie voller Neugier durch die Geschäfte streifen konnte und dabei von den Inhabern mit Namen begrüßt werden würde. Sie sollte von einem Ende der Stadt ans andere spazieren können, ohne dass er wie in der Großstadt Angst vor Überfällen, Entführungen oder Drogen haben musste. Sie würden keine Spezialschlösser und Alarmanlagen mehr brauchen, keine aufwendige Technik, um mit akustischen Tricks den permanenten Verkehrslärm herauszufiltern. Selbst ein so kleines Mädchen wie seine Freddie würde hier nicht verloren gehen können.

Und vielleicht würde er selbst ohne die Hetze und den Druck endlich Frieden mit sich schließen können.

Seine Hand griff fast wie von selbst nach einer Spieluhr. Sie war aus sorgfältig modelliertem Porzellan und mit der Figur einer schwarzhaarigen Zigeunerin in einem Rüschenkleid verziert. An den Ohren trug sie winzige goldene Ringe, und in den Händen hielt sie ein Tamburin mit bunten Bändern. Er war sicher, dass er selbst an der Fifth Avenue keinen so kunstvoll hergestellten Gegenstand gefunden hätte.

Er fragte sich, warum die Ladeninhaberin die Spieluhr dorthin gestellt hatte, wo kleine, neugierige Finger danach greifen und sie zerbrechen konnten. Fasziniert zog er die Uhr auf und beobachtete, wie die zierliche Figur sich um das Miniaturfeuer aus Porzellan drehte.

Tschaikowsky. Er erkannte den Satz sofort, und sein geschultes Gehör registrierte den sauberen Klang. Ein melancholisches, fast leidenschaftliches Stück, dachte er und war erstaunt, ausgerechnet in einem Spielzeugladen ein so exquisites Exemplar zu entdecken. Dann blickte er auf und sah Natasha.

Er starrte sie an. Er konnte nicht anders. Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt, den erhobenen Kopf ein wenig geneigt, und musterte ihn. Ihr Haar war so dunkel wie das der Tänzerin. Die Locken ringelten sich wie Korkenzieher um ihr Gesicht, an dessen Seiten ihr die Haarpracht über die Schultern fiel. Ihre Haut war zart gebräunt, schimmerte wie Gold vor dem Kontrast, den das einfache rote Kleid abgab.

Aber diese Frau ist alles andere als zerbrechlich, ging es ihm durch den Sinn. Obwohl sie klein war, strahlte sie so etwas wie Macht aus. Vielleicht lag es an dem Gesicht mit dem vollen, von keinem Lippenstift betonten Mund und den hohen, markanten Wangenknochen. Ihre Augen waren nicht so dunkel wie das Haar, eher goldbraun, mit breiten Lidern und langen Wimpern. Selbst über die zwei, drei Meter hinweg spürte er es. Diese Frau umgab eine berauschende, durch nichts getrübte Erotik, so wie andere Frauen sich in Parfümwolken hüllten.

Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er in sich die Hitze reinen Begehrens, die jeden seiner Muskeln zu lähmen schien.

Natasha registrierte es, und es gefiel ihr gar nicht. Was für ein Mann, so fragte sie sich, kommt mit Frau und Kind hereinspaziert, um eine andere Frau mit Augen anzusehen, in denen die nackte Begierde stand?

Nicht ihre Art von Mann.

Entschlossen ignorierte sie seinen Blick, so wie sie es bei anderen Männern in der Vergangenheit bereits getan hatte, und ging zu ihm hinüber. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Hilfe? Sauerstoff brauche ich, dachte Spence nun. Er hatte nicht gewusst, dass eine Frau einem Mann buchstäblich den Atem rauben konnte. „Wer sind Sie?“

„Natasha Stanislaski.“ Sie bot ihm ihr kühlstes Lächeln. „Mir gehört der Laden.“

Ihre Stimme schien in der Luft zu hängen, heiser, voller Leben und mit einer Spur ihrer slawischen Herkunft. Die erotische Atmosphäre wurde dadurch noch gesteigert, und er fühlte es so konkret, wie er die Musik aus der Spieluhr hinter sich hörte. Sie duftete nach Seife, nach sonst nichts, und dennoch fand er den Duft so verführerisch wie kaum etwas zuvor.

Als er nicht antwortete, zog sie eine Braue hoch. Vielleicht war es ganz amüsant, einem Mann den Kopf zu verdrehen, aber sie hatte zu tun. Außerdem war dieser Mann verheiratet. „Ihre Tochter schwankt noch zwischen drei Puppen. Vielleicht möchten Sie ihr bei der endgültigen Entscheidung helfen?“

„Gleich. Ihr Akzent, ist der russisch?“

„Ja.“ Sie fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass seine Frau schon gelangweilt und ungeduldig an der Ladentür stand.

„Seit wann sind Sie in Amerika?“

„Seit meinem sechsten Lebensjahr.“ Sie warf ihm einen besonders eisigen Blick zu. „Damals war ich ungefähr so alt wie Ihre Tochter jetzt. Entschuldigen Sie mich, ich muss mich um die Kundschaft kümmern.“

Seine Hand lag auf ihren Arm, bevor er sich zurückhalten konnte. Obwohl er ahnte, dass das kein sehr kluger Schachzug gewesen war, überraschte ihn die Intensität der Abneigung in ihren Augen. „Tut mir leid. Ich wollte Sie nach der Spieluhr fragen.“

Natasha folgte seinem Blick. Die Melodie wurde gerade leiser. „Es ist eine unserer besten, hier in den Staaten hergestellt. Sind Sie an einem Kauf interessiert?“

„Ich bin mir noch nicht sicher. Ist Ihnen klar, wo sie steht?“

„Wie bitte?“

„Nun, es ist nicht gerade das, was man in einem Spielzeugladen zu finden erwartet. Bei Ihrer Kundschaft könnte sie leicht zu Bruch gehen.“

Natasha schob sie ein Stück weiter nach hinten aufs Regal. „Und sie kann repariert werden.“ Die rasche Bewegung, die sie mit den Schultern machte, war eindeutig, gewohnheitsmäßig. Sie verriet eher Arroganz als Sorglosigkeit. „Ich finde, man sollte Kindern die Freuden der Musik nicht vorenthalten, meinen Sie nicht auch?“

„Ja.“ Erstmals huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Es war wirklich eindrucksvoll, da hatte Annie recht gehabt. Natasha gab es widerstrebend zu und spürte hinter ihrer Verärgerung einen Hauch von Neugier, vielleicht sogar von Gemeinsamkeit mit diesem Fremden.

„In der Tat, das meine ich auch“, sagte er. „Vielleicht könnten wir uns einmal beim Essen darüber unterhalten.“

Natasha musste sich zusammenreißen, um ihn nicht zornig in die Schranken zu verweisen. Bei ihrem heißen, oft turbulenten Temperament war das nicht einfach, aber sie dachte daran, dass der Mann nicht nur seine Frau, sondern auch seine kleine Tochter dabeihatte.

Sie schluckte die Beschimpfungen, die ihr auf der Zunge lagen, wieder hinunter, aber Spence las sie ihr an den Augen ab.

„Nein.“ Mehr erwiderte sie nicht und drehte sich dabei um.

„Miss …“, begann Spence, doch da kam Freddie auch schon den Gang heruntergetobt.

„Ist sie nicht schön, Daddy?“, fragte sie mit leuchtenden Augen und streckte ihm die große, schlaksige Raggedy-Ann-Puppe entgegen.

Sie ist rothaarig, dachte Spence. Aber schön konnte man sie beim besten Willen nicht nennen. Und an Angela erinnert sie auch nicht, stellte er erleichtert fest. Weil er wusste, dass Freddie es von ihm erwartete, nahm er sich die Zeit, die Puppe ihrer Wahl gründlich zu mustern. „Dies ist“, sagte er nach einer Weile, „die allerbeste Puppe, die ich heute gesehen habe.“

„Wirklich?“

Er ging in die Hocke, um Freddie direkt in die Augen schauen zu können. „Ganz bestimmt. Du hast einen exzellenten Geschmack, Funny Face.“

Freddie streckte die Arme aus und quetschte die Puppe zwischen ihnen beiden ein, während sie ihren Vater fest umarmte. „Kann ich sie haben?“

„Ich dachte, sie wäre für mich.“ Als Freddie fröhlich kicherte, hob er sie zusammen mit der Puppe auf den Arm.

„Ich packe sie Ihnen ein.“ Natashas Tonfall war diesmal wärmer. Er mochte ein unverschämter Kerl sein, aber er liebte seine Tochter, das spürte sie.

„Ich kann sie tragen.“ Freddie presste ihre neue Freundin an sich.

„Tu das. Aber dann gebe ich dir ein Band für ihr Haar. Möchtest du das?“

„Ein blaues.“

„Du bekommst ein blaues.“ Natasha ging voran zur Kasse.

Nina warf nur einen Blick auf die Puppe und verdrehte die Augen. „Darling, eine schönere hast du nicht gefunden?“

„Daddy gefällt sie“, murmelte Freddie mit gesenktem Kopf.

„Allerdings. Sehr sogar“, fügte er hinzu und warf Nina dabei einen vielsagenden Blick zu. Dann stellte er Freddie wieder auf die Füße und zog die Brieftasche heraus.

Die Mutter ist alles andere als ein Glückstreffer, dachte Natasha. Aber das gibt dem Mann noch lange nicht das Recht, einer Verkäuferin in einem Spielzeugladen so zu kommen. Sie zählte das Wechselgeld und reichte ihm den Kaufbeleg, bevor sie das versprochene Band hervorholte.

„Vielen Dank“, sagte sie zu Freddie. „Ich glaube, sie wird sich bei dir sehr wohlfühlen.“

„Ich werde gut auf sie aufpassen“, versicherte Freddie, während sie sich damit abmühte, das Band durch das wuschelige Haar der Puppe zu ziehen. „Können die Leute sich die Sachen hier einfach nur anschauen, oder müssen sie etwas kaufen?“

Natasha lächelte, griff nach einem zweiten Band und machte dem Kind eine kecke Schleife ins Haar. „Du kannst jederzeit kommen und dich hier umsehen.“

„Spence, wir müssen jetzt wirklich gehen.“ Nina hielt die Ladentür auf.

„Richtig.“ Er zögerte. Es ist eine Kleinstadt, sagte er sich. Und wenn Freddie jederzeit willkommen ist, dann bin ich es auch. „Es war nett, Sie kennenzulernen, Miss Stanislaski.“

„Auf Wiedersehen.“ Sie wartete, bis das Glockenspiel ertönte und die Tür ins Schloss fiel, und murmelte dann eine Reihe von Verwünschungen vor sich hin.

Annie streckte den Kopf um einen Turm aus Bauklötzen. „Wie bitte?“

„Dieser Mann!“

„Ja.“ Mit einem leisen Seufzer kam Annie den Gang entlanggeschwebt. „Dieser Mann.“

„Bringt Frau und Kind in einen Laden wie diesen und starrt mich an, als wollte er mir an den Zehen knabbern.“

„Tash.“ Mit gequältem Gesichtsausdruck presste Annie sich eine Hand aufs Herz. „Bitte sag nicht so etwas Erregendes.“

„Ich finde es beleidigend.“ Natasha umrundete den Verkaufstresen und hieb mit der Faust gegen einen Sandsack, der in der Ecke baumelte. „Er hat mich zum Essen eingeladen.“

„Er hat was?“ Annies Augen leuchteten vor Begeisterung auf, bis ein scharfer Blick von Natasha sie wieder abkühlte. „Du hast recht. Es ist beleidigend, schließlich ist er verheiratet. Auch wenn seine Frau mir ziemlich steif und langweilig vorkam. Wie ein gefrorener Fisch.“

„Seine Eheprobleme interessieren mich nicht.“

„Nein …“ In Annie kämpften der Sinn für Realität und die ausgeprägte Fantasie miteinander. „Schätze, du hast ihn abblitzen lassen.“

Natasha schluckte hörbar, als sie herumfuhr. „Natürlich habe ich ihn abblitzen lassen.“

„Natürlich“, bestätigte Annie hastig.

„Der Mann hat vielleicht Nerven“, fuhr Natasha fort. Ihr juckten die Finger. Sie sah sich nach etwas um, auf das sie einschlagen konnte. „Kommt in mein Geschäft und macht mich regelrecht an!“

„Das hat er nicht!“ Schockiert und fasziniert zugleich ergriff Annie Natashas Arm. „Tash, er hat dich doch nicht wirklich angemacht? Hier im Laden?“

„Mit den Augen. Die Botschaft war deutlich.“ Es machte sie wütend, wie oft Männer sie betrachteten und nur das Körperliche sahen. Nur das Körperliche sehen wollten. Es war abstoßend. Noch bevor sie richtig verstand, um was es eigentlich ging, hatte sie Anzüglichkeiten und Angebote ertragen müssen. Aber jetzt wusste sie, was man von ihr wollte, und ließ sich nichts mehr bieten.

„Wenn er dieses süße kleine Mädchen nicht bei sich gehabt hätte, hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst!“ Die Vorstellung gefiel ihr so sehr, dass sie ihren Zorn wieder an dem imaginären Sandsack ausließ.

Annie hatte derartige Ausbrüche oft genug erlebt, um zu wissen, wie sie ihre Chefin besänftigen konnte. „Sie war wirklich süß, nicht wahr? Sie heißt Freddie. Ist das nicht niedlich?“

Noch während sie sich die geballte Faust rieb, holte Natasha tief Luft. Es wirkte. „Ja“, erwiderte sie einfach.

„Die Kleine hat mir erzählt, dass sie gerade erst von New York nach Shepherdstown gezogen sind. Die Puppe soll ihre erste neue Freundin sein.“

„Armes kleines Ding.“ Natasha wusste nur zu gut, welche Sorgen und Ängste ein Kind in einer fremden Stadt empfand. Vergiss den Vater, befahl sie sich und warf den Kopf zurück. „Sie müsste ungefähr im Alter von JoBeth Riley sein.“ Ihr Zorn war verraucht. Sie ging hinter den Tresen und griff nach dem Hörer. Es würde nichts schaden, wenn sie Mrs. Riley anrief.

Spence stand am Fenster des Musikzimmers und starrte auf ein Beet mit Sommerblumen hinaus. Blumen vor dem Fenster zu haben und eine nicht gerade ebene Rasenfläche, die viel Pflege brauchte, das war für ihn eine völlig neue Erfahrung. Noch nie im Leben hatte er einen Rasen gemäht. Lächelnd überlegte er, wann er sich daran versuchen könnte.

Dann gab es da noch einen großen, ausladenden Ahorn mit dunkelgrünen Blättern. Er malte sich aus, wie aus dem Grün in wenigen Wochen ein leuchtendes Rot werden würde, bevor die Blätter sich von den Zweigen lösten. Er hatte den Blick von seiner Wohnung am Central Park West immer genossen, sich daran erfreut, wie sich die Bäume mit den Jahreszeiten veränderten. Aber hier war das anders.

Hier gehörten ihm das Gras, die Bäume, die Blumen vor dem Fenster. Sie würden ihm Vergnügen bereiten, und er würde sich dafür um sie kümmern müssen. Hier würde er Freddie hinauslassen können, damit sie mit ihren Puppen eine Teeparty am Nachmittag arrangierte. Und zwar ohne dass er sich um sie Sorgen machen musste, sobald er sie auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ.

Sie würden ein angenehmes Leben führen, ein solides Leben für sie beide. Das hatte er gefühlt, als er hergeflogen war, um mit dem Dekan über seine Anstellung zu verhandeln. Und er hatte es wieder gefühlt, während er mit der nervösen Immobilienmaklerin auf den Fersen durch dieses große, geräumige Haus gewandert war.

Sie brauchte es mir gar nicht aufzudrängen, dachte Spence. Ich war dem Haus verfallen, kaum dass ich es betreten hatte.

Vor seinen Augen schwebte ein Kolibri mit unsichtbarem Flügelschlag über der Blüte einer hellroten Petunie. In diesem Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass die Entscheidung, aus der Großstadt fortzuziehen, richtig gewesen war.

Eine Kostprobe des ländlichen Lebens nehmen, so hatte Nina es ein wenig von oben herab bezeichnet. Ihre Worte gingen ihm durch den Kopf, während die Flügel des winzigen Vogels im Sonnenschein zu flimmern schienen. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, schließlich hatte er sein Leben freiwillig dort verbracht, wo stets etwas los war. Sicher, er hatte all die glitzernden Partys genossen, die bis zum Morgengrauen dauerten. Oder die eleganten Mitternachtssoupers nach einem Konzert oder Ballett.

Er war in eine Welt von Glamour, Prestige und Reichtum hineingeboren worden und hatte sein Leben dort verbracht, wo das Beste gerade gut genug war. Natürlich hatte er es ausgekostet. Die Sommer in Monte Carlo, die Winter in Nizza oder Cannes. Die Wochenenden in Aruba oder Cancun.

Er wollte diese Erfahrungen nicht missen, aber er wünschte sich, dass er die Verantwortung für sein eigenes Leben früher übernommen hätte.

Jetzt hatte er es getan. Spence sah dem Kolibri nach, der wie ein saphirblauer Pfeil davonsurrte. Und zu seiner eigenen Überraschung wie zu der Überraschung der Menschen, die ihn kannten, genoss er es, diese Verantwortung zu tragen. Er wusste, woran das lag. An Freddie. Allein an Freddie.

Er dachte an sie, und schon kam sie über den Rasen gelaufen, die neue Puppe unter den Arm geklemmt. Wie erwartet eilte sie schnurstracks auf die Schaukel zu. Das Gestell war so neu, dass die blaue und weiße Farbe in der Sonne glänzte und die harten Plastiksitze wie Leder schimmerten. Mit der Puppe auf dem Schoß stieß Freddie sich ab, das Gesicht auf den Himmel gerichtet, ein selbst komponiertes Lied auf den weichen Lippen.

Die Liebe durchzuckte ihn wie der Hieb einer Samtfaust, kraftvoll, fast schmerzhaft. In seinem ganzen Leben hatte er nichts so Verzehrendes, nichts so Klares empfunden wie das Gefühl, das seine Tochter in ihm hervorrief. Mühelos, einfach nur, indem sie da war.

Während sie durch die Luft glitt, drückte sie die Puppe an sich, um ihr Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Es gefiel ihm, wie glücklich sie mit der simplen Stoffpuppe war. Sie hätte auch eine aus Samt oder Porzellan nehmen können, aber sie hatte sich für eine entschieden, die aussah, als brauche sie Liebe.

Den gesamten Vormittag hindurch hatte sie ihm von dem Spielzeugladen vorgeschwärmt, und er wusste, dass sie sich danach sehnte, noch einmal hinzugehen. Natürlich würde sie keinen Wunsch äußern. Jedenfalls nicht direkt. Nur ihre Augen würden Bände sprechen. Es amüsierte und erstaunte ihn zugleich, wie sein kleines Mädchen schon mit fünf diesen äußerst wirksamen Trick der Frauen beherrschte.

Er selbst hatte auch an den Spielzeugladen denken müssen – und an die Inhaberin. Da war von weiblichen Tricks keine Rede gewesen, nur von der puren Verachtung, die eine Frau für einen Mann empfand. Als er sich erinnerte, wie unbeholfen er sich benommen hatte, verzog er das Gesicht. Ich bin aus der Übung, sagte er sich mit reumütigem Lächeln und rieb sich den Nacken. Noch nie hatte er eine so starke sexuelle Anziehungskraft gespürt. Wie ein Blitz hatte es ihn getroffen. Und ein Mann, der so unter Strom gesetzt wurde, durfte sich schon etwas ungeschickt benehmen.

Aber ihre Reaktion … Stirnrunzelnd ließ Spence die Szene noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen. Sie war wütend gewesen, hatte schon vor Zorn gezittert, noch bevor er den Mund geöffnet und sich gründlich blamiert hatte.

Sie hatte gar nicht erst versucht, ihre Abfuhr in höfliche Worte zu kleiden. Ein schlichtes Nein – eine hart klingende, an den Rändern mit Eis überzogene Silbe. Und dabei hatte er sie doch nicht gefragt, ob sie mit ihm ins Bett gehen würde.

Aber genau das wollte er. Vom ersten Moment an hatte er sich ausgemalt, wie er sie davontrug, zu irgendeinem dunklen, abgelegenen Ort mitten im Wald, wo der Moosboden unter ihnen federte und die Baumkronen sich vor den Himmel schoben. Dort würde er die Hitze fühlen, die ihre vollen, ein wenig trotzigen Lippen ausstrahlten. Dort würde er die wilde Leidenschaft auskosten, die ihr Gesicht versprach. Ungestüm, zügellos, ohne an Raum und Zeit, an richtig oder falsch zu denken.

Das darf doch nicht wahr sein. Verwirrt riss er sich zusammen. Er träumte wie ein Teenager. Nein, verbesserte Spence sich und schob die Hände in die Taschen, ich träume wie ein Mann, wie einer, der seit vier Jahren auf eine Frau verzichtet hat. Er war sich nicht sicher, ob er Natasha Stanislaski dafür dankbar sein sollte, dass sie in ihm all die vergrabenen Sehnsüchte erweckt hatte.

Aber er war sicher, dass er sie wiedersehen würde.

„Ich bin reisefertig.“ Nina wartete in der Tür. Sie seufzte tadelnd. Spence war offensichtlich mal wieder in Gedanken vertieft. „Spence“, sagte sie lauter als zuvor und durchquerte den Raum. „Ich sagte, ich bin reisefertig.“

„Wie? Ach so.“ Er lächelte blinzelnd und zwang sich, die Schultern sinken zu lassen. „Wir werden dich vermissen, Nina.“

„Ihr werdet froh sein, mich loszuwerden“, korrigierte sie ihn und küsste ihn kurz auf die Wange.

„Nein.“ Sein Lächeln kam jetzt ungezwungener, das sah sie und wischte ihm fürsorglich den Lippenstift von der Haut. „Ich weiß zu schätzen, was du für uns getan hast“, fuhr er fort. „Du hast uns den Anfang hier leichter gemacht. Ich weiß, wie beschäftigt du bist.“

„Ich kann doch meinen Bruder nicht allein in der freien Wildbahn von West Virginia aussetzen.“ In einer bei ihr seltenen Gefühlsregung griff sie nach seiner Hand. „Bist du dir wirklich sicher, Spence? Vergiss alles, was ich gesagt habe, und denke nach, denke es noch einmal durch. Es ist ein gewaltiger Wechsel, für euch beide. Was willst du zum Beispiel hier mit deiner Freizeit anfangen?“

„Den Rasen mähen.“ Ihre verblüffte Miene ließ ihn grinsen. „Oder auf der Veranda sitzen. Vielleicht komponiere ich sogar wieder etwas.“

„Das könntest du in New York auch.“

„Ich habe seit fast vier Jahren keinen einzigen Takt mehr geschrieben“, erinnerte er sie.

„Na schön.“ Sie ging zum Flügel hinüber und wedelte mit der Hand. „Aber wenn es dir nur um eine Ortsveränderung geht, hättest du dir auch ein Haus auf Long Island oder von mir aus in Connecticut suchen können. Du hättest nicht gleich aufs Land ziehen müssen.“

„Es gefällt mir hier, Nina. Glaub’ mir, ich hätte für Freddie nichts Besseres tun können. Und für mich selbst auch nicht.“

„Ich hoffe, du hast recht.“ Weil sie ihn liebte, lächelte sie erneut. „Ich wette immer noch, dass du spätestens in sechs Monaten wieder in New York bist. In der Zwischenzeit erwarte ich, dass du mich als Tante dieses Mädchens über ihre Entwicklung auf dem Laufenden hältst.“ Sie sah auf ihre Hand hinab und stellte verärgert fest, dass ihr Nagellack bereits gelitten hatte. „Allein die Idee, sie auf eine öffentliche Schule zu schicken …“

„Nina.“

„Schon gut!“ Sie hob die Hand. „Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Ich muss mein Flugzeug noch bekommen. Außerdem bin ich mir durchaus der Tatsache bewusst, dass sie dein Kind ist.“

„Ja, das ist sie.“

Nina klopfte mit der Fingerspitze auf die glänzende Oberfläche des Instruments, das nicht ganz so groß wie ein Konzertflügel war. „Spence, ich weiß, dass du wegen Angela noch Schuldgefühle hast. Das gefällt mir gar nicht.“

Sein ungezwungenes Lächeln verschwand. „Manche Fehler brauchen lange, bis man sie verarbeitet hat.“

„Sie hat dir das Leben zur Hölle gemacht“, sagte Nina kategorisch. „Ihr wart kaum verheiratet, da begannen die Probleme bereits. Du warst nicht sehr auskunftsfreudig“, fuhr sie fort, als er nicht reagierte. „Aber es gab andere, die sich nur zu gern bei mir oder jedem, der es hören wollte, über eure Ehe ausließen. Es war kein Geheimnis, dass sie kein Kind wollte.“

„Und war ich so viel besser? Ich wollte das Baby doch nur, um damit die Lücken in meiner Ehe zu füllen. Damit bürdet man einem Kind eine schwere Last auf.“

„Du hast Fehler gemacht. Du hast die Fehler eingesehen und sie korrigiert. Angela hat in ihrem ganzen Leben nicht die Spur von Schuld gefühlt. Wenn sie nicht gestorben wäre, hättest du dich scheiden lassen und das Sorgerecht für Freddie übernommen. Es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Ich weiß, es klingt hart. Aber das ist die Wahrheit oft. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du hierher gezogen bist und dein Leben so dramatisch veränderst, nur um etwas wiedergutzumachen, das längst vergangen ist.“

„Vielleicht spielt das eine Rolle. Aber da ist noch etwas.“ Er hob den Arm, wartete, bis Nina sich neben ihn stellte. „Sieh sie dir an.“ Er wies durchs Fenster auf Freddie, die strahlend auf der Schaukel saß und frei wie ein Kolibri durch die Luft sauste. „Sie ist glücklich. Und das bin ich auch.“

2. Kapitel

„Ich habe keine Angst.“

„Natürlich nicht.“ Spence sah in den Spiegel, vor dem er ihr das Haar band. Sie hatte eine tapfere Miene aufgesetzt. Aber auch ohne dass er das Zittern in ihrer Stimme hörte, wusste er, wie groß die Angst seiner Tochter war. Schließlich fühlte er in seinem eigenen Magen einen faustgroßen Klumpen.

„Andere Kinder würden jetzt vielleicht weinen.“ Ihren großen Augen war anzusehen, dass auch Freddie den Tränen nahe war. „Aber ich nicht.“

„Du wirst viel Spaß haben.“ Er war sich da ebenso wenig sicher wie sein nervöses Kind. Das Schwierige daran, ein Vater zu sein, bestand darin, sich bei allem Möglichen sicher sein zu müssen – oder wenigstens so zu klingen. „Der erste Schultag ist immer etwas schwierig, aber wenn du erst einmal dort bist und die anderen Kinder getroffen hast, wirst du es toll finden.“

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn mit festem, durchdringendem Blick an. „Wirklich?“

„Im Kindergarten hat es dir doch auch gefallen, nicht?“ Er wich aus, das gestand er sich ein. Aber er durfte nichts versprechen, was er vielleicht nicht würde halten können.

„Meistens.“ Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und spielte mit dem gelben, wie ein Seepferdchen geformten Kamm auf der Kommode. „Aber Amy und Pam werden nicht da sein.“

„Du wirst neue Freunde finden. JoBeth hast du schon kennengelernt.“ Er dachte an den braunhaarigen kleinen Kobold, der vor einigen Tagen mit der Mutter am Haus vorbeispaziert war.

„Werde ich wohl. JoBeth ist nett, aber …“ Wie sollte sie ihrem Vater erklären, dass JoBeth ja schon all die anderen Mädchen kannte? „Vielleicht warte ich lieber bis morgen.“

Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. Er zog sie an sich. Sie duftete nach der blassgrünen Seife, die sie so liebte, weil die Stücke wie Dinosaurier geformt waren. Ihr Gesicht war seinem sehr ähnlich, nur viel weicher, sanfter, und in seinen Augen unendlich schön.

„Das könntest du natürlich. Aber dann wäre morgen dein erster Unterrichtstag. Du hättest trotzdem Schmetterlinge.“

„Schmetterlinge?“

„Genau hier.“ Er klopfte ihr auf den Bauch. „Fühlt es sich nicht so an, als tanzten dir dort Schmetterlinge herum?“

Sie musste kichern. „Irgendwie schon.“

„Bei mir auch.“

„Wirklich?“ Ihre Augen weiteten sich.

„Wirklich. Ich muss heute Morgen auch zur Schule, genau wie du.“

Sie zupfte an den pinkfarbenen Schleifen, die er ihr an die Zöpfe gebunden hatte. Sie wusste, dass es für ihn nicht dasselbe sein würde, aber das sagte sie ihm nicht. Sonst würde er wieder so traurig schauen. Freddie hatte einmal gehört, wie er mit Tante Nina redete. Und er war ärgerlich geworden, als sie etwas davon sagte, dass er ihre Nichte ausgerechnet in den entscheidenden Jahren aus der gewohnten Umgebung reiße.

Freddie wusste nicht genau, was mit den entscheidenden Jahren gemeint war, aber sie wusste, dass ihr Daddy sich aufgeregt hatte. Und dass er auch noch traurig ausgesehen hatte, als Tante Nina längst fort war. Sie wollte ihn nicht wieder traurig machen. Er sollte nicht denken, dass Tante Nina recht hatte. Wenn sie nach New York zurückkehrten, würde es Schaukeln nur im Park geben.

Außerdem mochte sie das große Haus und ihr neues Zimmer. Und was noch besser war, ihr Vater arbeitete ganz in der Nähe, und deshalb würde er abends lange vor dem Essen nach Hause kommen. Sie zog die Lippen ein, um keinen Schmollmund zu machen. Da sie gern hierbleiben wollte, würde sie wohl zur Schule müssen.

„Wirst du da sein, wenn ich zurückkomme?“

„Ich glaube schon. Wenn nicht, hast du ja Vera“, sagte er und wusste, dass er sich auf ihre langjährige Haushälterin verlassen konnte. „Du musst mir nachher genau erzählen, wie es dir ergangen ist.“ Er küsste sie auf den Kopf und stellte sie auf den Boden.

In ihrem pink-weißen Spielanzug wirkte sie herzzerreißend klein und zierlich. Ihre grauen Augen waren ernst, die Unterlippe vibrierte. Er unterdrückte den Drang, sie auf den Arm zu nehmen und ihr zu versprechen, dass sie nirgendwohin müsse, wo sie Angst haben würde. „Lass uns nachsehen, was Vera dir in die neue Lunchbox gepackt hat.“

Zwanzig Minuten später stand er am Straßenrand, Freddies winzige Hand in seiner. Fast so angsterfüllt wie seine Tochter sah er dem großen gelben Schulbus entgegen, der gerade über den Hügel kam.

Ich hätte sie selbst zur Schule fahren sollen, schoss es ihm in plötzlicher Panik durch den Kopf. Jedenfalls die ersten Tage. Stattdessen setze ich sie zu all diesen fremden Kindern in den Bus. Aber es war besser so. Er wollte, dass ihr alles ganz normal vorkam, dass sie sich in die Gruppe integrierte und von Anfang an dazugehörte.

Wie konnte er sie allein davonlassen? Sie war noch ein Baby. Sein Baby. Und wenn er es falsch machte? Es ging nicht nur darum, ihr das richtige Kleid auszusuchen. Es ging darum, dass er seiner Tochter sagte, sie solle allein in den Bus einsteigen, und sie sich selbst überließ. Nur weil dies der vorgesehene Tag und die vorgesehene Uhrzeit war.

Wenn der Fahrer nun sorglos war und einen Abhang hinunterfuhr? Wie konnte er sicher sein, dass jemand Freddie am Nachmittag wieder in den richtigen Bus setzte?

Der Bus rollte rumpelnd aus, und seine Finger legten sich fester um Freddies Hand. Als die Tür mit einem Zischen aufging, war er so weit, dass er fast davongelaufen wäre.

„Hallo, ihr zwei.“ Die wohlbeleibte Frau hinter dem Lenkrad nickte ihnen mit breitem Lächeln zu. Hinter ihr tobten die Kinder auf den Sitzen herum. „Sie müssen Professor Kimball sein.“

„Ja.“ Ihm lag eine ganze Reihe von Entschuldigungen auf der Zunge, warum er Freddie nicht in den Bus setzen konnte.

„Ich bin Dorothy Mansfield. Die Kids nennen mich einfach Miss D. Und du bist bestimmt Frederica.“

„Ja, Ma’am.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich nicht einfach umzudrehen und das Gesicht an ihrem Daddy zu vergraben. „Sagen Sie einfach Freddie zu mir.“

„Puh.“ Miss D. strahlte sie an. „Bin froh, das zu hören. Frederica ist doch ein ziemlich gewichtiger Name. Also, hüpf an Bord, Freddie. Dein großer Tag hat begonnen. Und du, John Harman, gib Mikey sofort das Buch zurück. Es sei denn, du willst den Rest der Woche auf dem heißen Platz direkt hinter mir verbringen.“

Mit feuchten Augen setzte Freddie den Fuß auf die erste Stufe. Sie schluckte, bevor sie die zweite Stufe meisterte.

„Warum setzt du dich nicht zu JoBeth und Lisa?“, schlug Miss D. freundlich vor. Dann drehte sie sich wieder zu Spence um und winkte ihm augenzwinkernd zu. „Machen Sie sich keine Sorgen, Professor. Wir werden gut auf sie aufpassen.“

Fauchend schloss sich die Tür, und der Bus rumpelte davon. Spence sah ihm nach, wie er sein kleines Mädchen davontrug.

Untätig war Spence an diesem Tag nicht. Seine Zeit war von dem Moment an verplant, an dem er das College betrat. Termine waren zu arrangieren, Mitarbeiter zu treffen, Instrumente und Notenblätter in Augenschein zu nehmen. Dann kamen eine Fakultätssitzung, ein hastiger Lunch in der Cafeteria und schließlich die Papiere, Dutzende von Papieren, die er lesen und bearbeiten musste.

Es war ein gewohnter Tagesablauf, einer, mit dem er erstmals begonnen hatte, als er drei Jahre zuvor die Stelle an der Juilliard School angetreten hatte. Aber wie Freddie, so war auch er der Neuling und musste sich anpassen.

Er machte sich Sorgen um sie. Beim Lunch stellte er sich vor, wie sie in der Schul-Cafeteria saß, einem Raum, der nach Erdnussbutter und Milchkartons roch. Vermutlich saß sie am Ende eines mit Krümeln übersäten Tischs, allein und traurig, während die anderen Kinder mit ihren Freunden lachten und herumalberten. Er sah sie, wie sie in der Pause abseits stand und sehnsüchtig hinüberschaute, während die anderen rannten und lachten und auf den Klettergeräten tobten. Das traumatische Erlebnis würde sie für den Rest des Lebens unsicher und unglücklich machen.

Und alles nur, weil er sie in den verdammten gelben Bus gesetzt hatte.

Am Ende des Tages fühlte er sich schuldig, als hätte er sie geschlagen. Er war sicher, dass sein kleines Mädchen in Tränen aufgelöst heimkommen würde, völlig verstört von den Problemen des ersten Schultags.

Mehr als einmal fragte er sich, ob Nina nicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht hätte er alles so lassen sollen, wie es war, vielleicht hätte er doch in New York bleiben sollen, wo Freddie wenigstens ihre Freunde und die bekannte Umgebung besaß.

Die Aktentasche in der Hand, das Sakko über die Schulter geworfen, machte er sich nachdenklich auf den Heimweg. Der war kaum eine Meile lang, und das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Das wollte er ausnutzen und zu Fuß zum Campus gehen, bis der Winter hereinbrach.

Er hatte sich bereits in die kleine Stadt verliebt. Entlang der von Bäumen gesäumten Hauptstraße gab es hübsche Geschäfte und großzügige alte Häuser. Shepherdstown war eine College-Stadt und stolz darauf. Aber man war auch stolz auf das Alter und die Würde. Die Straße stieg leicht an, und hier und dort wies der Gehweg Risse auf, wo Baumwurzeln ihn untergraben hatten. Obwohl Autos fuhren, war es still genug, um Hunde bellen oder ein Radio spielen zu hören. Eine Frau jätete ein Tagetes-Beet neben ihrem Fußweg, sah auf und winkte ihm zu. Spence freute sich und erwiderte den Gruß.

Sie kennt mich doch gar nicht, dachte er. Trotzdem hat sie mir zugewinkt. Er freute sich darauf, sie bald wiederzusehen, vielleicht wenn sie gerade Blumenzwiebeln setzte oder Schnee von der Veranda fegte. Es duftete nach Chrysanthemen. Aus irgendeinem Grund reichte das schon aus, ihn ein Glücksgefühl spüren zu lassen.

Nein, er hatte keinen Fehler gemacht. Er und Freddie gehörten hierher. In weniger als einer Woche war dies zu ihrer Heimat geworden.

Er blieb am Bordstein stehen, um eine Limousine passieren zu lassen, die sich die Steigung hinaufquälte. Auf der anderen Straßenseite erkannte er das Ladenschild des „Fun House“. Perfekt, dachte Spence. Der perfekte Name. Einer, der an Gelächter und lustige Überraschungen denken ließ. Genau wie das Schaufenster mit den Bauklötzen, den pausbäckigen Puppen und den glänzenden roten Autos den Kindern eine Schatzgrube versprach. In diesem Moment beherrschte ihn nur noch ein Gedanke. Er wollte etwas besorgen, das seiner Tochter ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

Du verwöhnst sie, hörte er Ninas Stimme im Ohr.

Und wenn schon. Er sah sich auf der Straße um und überquerte sie. Sein kleines Mädchen war so tapfer in den Bus marschiert wie ein Soldat in die Schlacht. Sie hatte sich einen kleinen Orden verdient.

Das Glockenspiel erklang, als er den Laden betrat. In der Luft lag ein Duft, so fröhlich wie die Töne der Glocke. Pfefferminz, dachte er und musste lächeln. Aus dem hinteren Teil des Ladens ertönten die blechernen Klänge von „The Merry-Go-Round Broke Down“.

„Ich komme gleich zu Ihnen.“

Spence bemerkte, dass er vergessen hatte, wie ihre Stimme in der Luft schweben und nachhallen konnte.

Diesmal würde er sich nicht lächerlich machen. Diesmal war er darauf vorbereitet, wie sie aussah, wie sie klang und wie sie duftete. Er war hier, um seiner Tochter ein Geschenk zu kaufen, nicht um mit der Inhaberin zu flirten. Grinsend sah er einem einsamen Pandabären ins Gesicht. Kein Gesetz hinderte ihn daran, beides gleichzeitig zu tun.

„Ich bin sicher, Bonnie wird sich riesig freuen“, sagte Natasha und nahm der Kundin das Miniatur-Karussell ab. „Es ist ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk.“

„Sie hat es vor einigen Wochen hier entdeckt und redet seitdem von nichts anderem mehr.“ Bonnies Großmutter versuchte keine Miene zu verziehen, als sie den Preis las. „Ich nehme an, sie ist groß genug, um vorsichtig damit umzugehen.“

„Bonnie ist ein sehr verantwortungsbewusstes Mädchen“, beruhigte Natasha sie. Dann sah sie Spence am Tresen stehen. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagte sie in seine Richtung. Die Temperatur ihrer Stimme fiel um einige Grade ab. Bis in den Minusbereich.

„Lassen Sie sich Zeit.“ Er ärgerte sich, dass er so intensiv auf ihre Gegenwart reagierte, während sie ihn geradezu frostig begrüßte. Offenbar hatte sie beschlossen, ihn nicht zu mögen. Könnte interessant werden, dachte Spence, während er zusah, wie sie mit geschickten schlanken Fingern das Karussell einpackte. Welche Gründe mochte sie für ihre Abneigung haben?

Vielleicht schaffte er es, sie zu einem Meinungsaustausch zu bewegen.

„Das wären fünfundfünfzig Dollar siebenundzwanzig, Mrs. Mortimer.“

„Aber nein, meine Liebe, auf dem Preisschild stand siebenundsechzig Dollar.“

Natasha wusste, dass Mrs. Mortimer mit jedem Cent rechnen musste, und lächelte nur. „Tut mir leid. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass es ein Sonderangebot ist?“

„Nein.“ Mrs. Mortimer atmete erleichtert auf, während sie die Geldscheine zählte. „Nun, dann ist heute wohl mein Glückstag.“

„Und der von Bonnie.“ Natasha krönte das Geschenk mit einer hübschen Glückwunschschleife. Eine in Pink, denn das war Bonnies Lieblingsfarbe. „Vergessen Sie nicht, ihr von mir zu gratulieren.“

„Bestimmt nicht.“ Die stolze Großmutter griff nach dem Paket. „Ich kann es gar nicht abwarten, bis sie es auswickelt. Wiedersehen, Natasha.“

Natasha wartete, bis die Ladentür sich schloss. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Das war eben sehr freundlich von Ihnen.“

Sie hob eine Braue. „Was meinen Sie?“

„Sie wissen, was ich meine.“ Plötzlich spürte er das absurde Verlangen, ihr die Hand zu küssen. Unglaublich, dachte er. Er war fast fünfunddreißig und ließ sich auf eine Schwärmerei für eine Frau ein, die er so gut wie gar nicht kannte. „Ich wollte schon früher kommen.“

„So? War Ihre Tochter mit der Puppe unzufrieden?“

„Nein, sie liebt sie. Es ist nur so, dass …“ Um Himmels willen, jetzt stotterte er schon wieder. Keine fünf Minuten in ihrer Nähe, und er fühlte sich so unsicher wie ein Teenager auf dem ersten Ball. „Ich dachte nur, irgendwie war unsere erste Begegnung etwas … missglückt. Sollte ich mich besser entschuldigen?“

„Wenn Sie möchten.“ Nur weil er attraktiv aussah und etwas verlegen wirkte, gab es noch lange keinen Grund, es ihm leichter als nötig zu machen. „Sind Sie deshalb gekommen?“

„Nein.“ Seine Augen verdunkelten sich, kaum merklich allerdings.

Natasha fragte sich, ob der erste Eindruck getrogen hatte. Vielleicht war er doch nicht so harmlos. In seinen Augen war noch etwas Tiefsinnigeres, etwas, das stärker und gefährlicher war. Am meisten überraschte sie jedoch, dass sie das erregend fand.

Über sich selbst verärgert, schenkte sie ihm ein höfliches Lächeln. „Es gibt also noch einen anderen Grund für Ihren Besuch?“

„Ich brauche etwas für meine Tochter.“ Zur Hölle mit dieser atemberaubenden russischen Prinzessin, dachte er. Er hatte sich um wichtigere Dinge zu kümmern.

„Was hatten Sie sich denn vorgestellt?“

„Ich weiß nicht genau.“ Das stimmte. Er stellte seine Aktentasche ab und sah sich suchend um.

Ein wenig besänftigt kam Natasha um den Tresen herum. „Hat sie Geburtstag?“

„Nein.“ Plötzlich kam er sich kindisch vor und zuckte mit den Schultern. „Es ist ihr erster Schultag, und sie sah so … so tapfer aus, als sie heute Morgen in den Bus kletterte.“

Diesmal fiel Natashas Lächeln spontan aus und war voller Wärme. Ihm blieb fast das Herz stehen. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte sie tröstend. „Wenn sie nach Hause kommt, wird sie vor Geschichten über alles und jeden platzen. Der erste Tag ist, glaube ich, für die Eltern viel schwerer als für das Kind.“

„Es war der längste Tag meines Lebens.“

Sie lachte, ein wohltönender, rauchiger Klang, der in dem Raum voller Clowns und Plüschbären unglaublich erotisch an seine Ohren drang. „Mir scheint, nicht nur Ihre Tochter hat sich ein Geschenk verdient. Bei Ihrem letzten Besuch haben Sie sich eine Spieluhr angesehen. Ich habe da noch eine andere, die Ihnen gefallen könnte.“

Mit diesen Worten führte sie ihn nach hinten. Spence gab sich alle Mühe, den subtilen Schwung ihrer Hüften und den milden, frischen Duft ihrer Haut zu ignorieren. Die Spieluhr, die sie ihm zeigte, war aus Holz geschnitzt. Den Sockel zierten eine Katze und eine Geige, eine Kuh und eine Mondsichel. Als die Spieluhr sich zu „Stardust“ drehte, kamen der lachende Hund und der Napf mit dem Löffel in Sicht.

„Sie ist bezaubernd.“

„Eine meiner Lieblingsuhren.“ Sie war zu dem Urteil gekommen, dass ein Mann, der seine Tochter so vergötterte, nicht gar so übel sein konnte. „Ich könnte mir vorstellen, dass es ein schönes Erinnerungsstück ist, etwas, mit dem sie an ihrem ersten College-Tag daran erinnert wird, dass ihr Vater damals an sie gedacht hat.“

„Vorausgesetzt, er überlebt das erste Schuljahr.“ Er wandte den Kopf, um sie anzusehen. „Vielen Dank. Dies ist das ideale Geschenk.“

Als er den Kopf bewegte, hatte sein Arm ihre Schulter gestreift. Nur kurz und flüchtig. Dennoch war es ihr durch und durch gegangen. Sekundenlang vergaß sie, dass er ein Kunde war, ein Vater, ein Ehemann. Die Farbe seiner Augen glich der eines Flusses in der Dämmerung. Seine Lippen, zur leisesten Andeutung eines Lächelns verzogen, waren unglaublich anziehend und verführerisch. Unwillkürlich überlegte sie, wie es wohl wäre, sie zu spüren. Ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er sie küsste, und sich in seinen Augen zu spiegeln.

Über sich selbst entsetzt, trat sie zurück. Ihre Stimme wurde kälter. „Ich lege sie Ihnen in eine Schachtel.“

Er wunderte sich über den plötzlichen Wechsel des Tonfalls und folgte ihr langsam zum Tresen. War da nicht etwas in ihren Augen gewesen? Oder hatte er es sich nur eingebildet, weil er es zu sehen hoffte? Es war schnell wieder vorbei gewesen, wie eine Flamme im Eisregen.

„Natasha.“ Er legte seine Hand auf ihre, als sie die Spieluhr einzupacken begann.

Langsam hob sie den Blick. Sie hasste sich bereits dafür, dass sie bemerkt hatte, wie schmal und lang seine Finger waren. Und in seiner Stimme registrierte sie jenen duldsamen Unterton, der sie noch nervöser machte, als sie ohnehin schon war.

„Ja?“

„Warum bekomme ich nur immer das Gefühl, dass Sie mich am liebsten in kochendem Öl sieden möchten?“

„Sie irren sich“, erwiderte sie ruhig. „Ich glaube nicht, dass ich das möchte.“

„Das klingt nicht überzeugt.“ Er spürte, wie ihre Hand sich streckte, weich und doch kräftig. Das Bild samtverkleideten Stahls schien ihm besonders passend. „Irgendwie will mir nicht einfallen, womit ich Sie verärgert habe.“

„Dann sollten Sie darüber nachdenken. Bar oder Kreditkarte?“

Mit Abfuhren hatte er wenig Erfahrung. Diese jedenfalls stach ihm wie eine Wespe ins Ego. Egal wie hübsch sie war, er hatte wenig Lust, sich den Kopf an immer derselben Wand einzuhauen.

„Bar.“ Hinter ihnen ertönte das Glockenspiel, und er ließ ihre Hand los. Drei Kinder, offenbar gerade aus der Schule gekommen, betraten kichernd das Geschäft. Ein kleiner Junge mit rotem Haar und einem Meer von Sommersprossen stellte sich vor dem Tresen auf die Zehenspitzen.

„Ich hab drei Dollar“, verkündete er.

Natasha unterdrückte ein Lächeln. „Heute sind Sie aber sehr reich, Mr. Jensen.“

Er grinste stolz und entblößte dabei seine neueste Zahnlücke. „Ich habe gespart. Ich möchte den Rennwagen.“

Natasha zog eine Augenbraue hoch, während sie Spences Wechselgeld abzählte. „Weiß deine Mutter, wofür du deine Ersparnisse ausgibst?“ Ihr neuer Kunde antwortete nicht. „Scott?“

Er trat von einem Fuß auf den anderen. „Sie hat nicht gesagt, ich darf nicht.“

„Und sie hat nicht gesagt, dass du darfst“, folgerte Natasha. Sie beugte sich vor und zog an seiner Tolle. „Du gehst jetzt nach Hause und fragst sie. Dann kommst du zurück. Der Rennwagen wird noch hier sein.“

„Aber …“

„Du möchtest doch sicher nicht, dass deine Mutter böse auf mich ist, oder?“

Scott blickte einen Moment lang nachdenklich drein, und Natasha sah, wie schwer ihm die Entscheidung fiel. „Ich schätze, nicht.“

„Dann geh fragen, und ich hebe dir einen auf.“

Hoffnung keimte in ihm auf. „Versprochen?“

Natasha legte die Hand aufs Herz. „Großes Ehrenwort.“ Sie sah wieder zu Spence hinüber, und der belustigte Ausdruck wich aus ihren Augen. „Ich hoffe, Freddie hat viel Freude an ihrem Geschenk.“

„Das wird sie sicher.“ Er ging hinaus und ärgerte sich über sich selbst. Wie kam er dazu, sich zu wünschen, er wäre ein zehnjähriger Junge mit einer Zahnlücke?

Um sechs schloss Natasha den Laden. Die Sonne schien noch hell, die Luft war noch dunstig. Die Atmosphäre ließ sie an ein Picknick unter einem schattigen Baum denken. Eine angenehmere Vorstellung als das Mikrowellengericht auf meinem Speiseplan, ging es ihr durch den Kopf, wenn auch im Moment etwas unrealistisch.

Auf dem Heimweg sah sie ein Paar Hand in Hand in das Restaurant auf der anderen Straßenseite schlendern. Aus einem vorbeifahrenden Auto rief ihr jemand etwas zu, und sie winkte zurück. Sie hätte in die örtliche Kneipe einkehren können, um bei einem Glas Wein mit den Gästen, die sie kannte, eine Stunde beim Plaudern zu verbringen. Einen Gesprächs- oder Dinnerpartner zu finden war kein Problem. Dazu brauchte sie nur den Kopf durch eine von einem Dutzend Türen zu stecken und den Vorschlag zu machen.

Aber sie war nicht in der Stimmung. Selbst ihre eigene Gesellschaft war ihr heute lästig.

Es ist die Hitze, sagte sie sich, als sie um die Ecke bog. Die Hitze, die den ganzen Sommer hindurch erbarmungslos in der Luft gehangen hatte und keinerlei Anstalten machte, dem Herbst zu weichen. Sie machte sie rastlos. Sie rief Erinnerungen in ihr wach.

Selbst jetzt noch, nach Jahren, schmerzte es sie, Rosen in voller Blüte zu sehen oder Bienen eifrig summen zu hören.

Es war Sommer gewesen, als ihr Leben sich unwiederbringlich änderte. Häufig fragte sie sich, wie ihr Leben aussehen würde, wenn … Die Frage widerte sie an, und sie verachtete sich dafür, dass sie sie sich immer wieder stellte.

Auch jetzt gab es wieder Rosen, zerbrechliche, pinkfarbene, die trotz der Hitze und des Regenmangels gediehen. Sie hatte sie selbst in dem kleinen Streifen Gras vor ihrem Apartment gepflanzt. Sich um sie zu kümmern bereitete ihr Vergnügen und Schmerz zugleich. Was wäre das Leben, wenn es in ihm nicht beides gäbe? Sie strich mit der Fingerspitze über die Blüte. Der warme Duft der Rosen folgte ihr bis vor die Wohnungstür.

In ihren Zimmern herrschte Stille. Sie hatte überlegt, ob sie sich ein Kätzchen oder ein Hundebaby anschaffen sollte, damit sie abends irgendjemand begrüßte, irgendein Wesen, das sie liebte und sich auf sie verließ. Aber dann fand sie es unfair, ein Tier allein in der Wohnung zu lassen, während sie im Laden war.

Also blieb ihr nur die Musik. Sie streifte die Schuhe ab und schaltete die Stereoanlage ein. Selbst das war wie eine Prüfung. Tschaikowskys „Romeo und Julia“. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie zu den schwermütigen, romantischen Takten getanzt hatte, umgeben von den heißen Lichtern, den Rhythmus der Musik im Blut, mit flüssigen Bewegungen, beherrscht, aber ganz natürlich wirkend. Eine dreifache Pirouette, graziös, scheinbar mühelos.

Das ist jetzt Vergangenheit, sagte Natasha sich. Nur die Schwachen trauerten ihr nach.

Was kam, war Routine. Sie tauschte ihre Arbeitskleidung gegen einen locker sitzenden, ärmellosen Overall und hing Rock und Bluse sorgfältig weg, so wie man es ihr beigebracht hatte. Aus reiner Gewohnheit prüfte sie den Rock auf Abnutzungsspuren.

Im Kühlschrank war Eistee. Und natürlich eines jener Fertiggerichte für die Mikrowelle, die sie hasste, aber regelmäßig aß. Sie lachte über sich selbst, als sie das Gerät einschaltete.

So langsam werde ich eine alte Frau, dachte Natasha. Griesgrämig und reizbar von der Hitze. Seufzend rieb sie sich mit dem kalten Glas über die Stirn.

Es musste an diesem Mann liegen. Heute im Geschäft hatte sie ihn einige Momente lang sogar gemocht. Dass er sich um sein kleines Mädchen solche Sorgen machte, es für ihre Tapferkeit am ersten Schultag belohnen wollte, das machte ihn sympathisch. Der Klang seiner Stimme hatte ihr gefallen und die Art, wie seine Augen lächelten. In diesen kurzen Momenten war er ihr wie jemand vorgekommen, mit dem sie lachen und reden könnte.

Dann war plötzlich alles anders geworden. Sicher, zum Teil lag es an ihr. Sie hatte etwas gefühlt, das sie seit Langem nicht mehr hatte fühlen wollen. Das Frösteln von Erregung. Den Druck des Verlangens. Es machte sie wütend, und sie schämte sich über sich selbst. Es machte sie zornig auf ihn.

Was fällt ihm bloß ein? Mit einem ungeduldigen Ruck zog sie das Essen aus der Mikrowelle. Flirtet mit mir, als wäre ich irgendein naives Dummerchen, und geht dann nach Hause zu Frau und Kind.

Mit ihm essen? Von wegen. Sie rammte ihre Gabel in die dampfenden Nudeln mit Meeresfrüchten. Die Sorte Mann erwartete für ein Essen die volle Gegenleistung. Der Kerzenlicht-und-Wein-Typ, dachte sie verächtlich. Sanfte Stimme, geduldige Augen, geschickte Hände. Und kein Herz.

Genau wie Anthony. Ruhelos schob sie das Essen zur Seite und griff nach dem Glas, das bereits beschlagen war. Aber jetzt war sie klüger als mit achtzehn. Viel klüger. Viel stärker. Sie war keine Frau mehr, die man mit Charme und schönen Worten verführen konnte. Nicht dass dieser Mann etwa charmant wäre. Sie lächelte. Im Gegenteil, dieser – sie wusste nicht einmal seinen Namen – dieser Typ war eher ungeschickt, stets ein wenig verlegen. Aber eigentlich lag genau darin so etwas wie Charme.

Dennoch war er Anthony sehr ähnlich. Groß, blond und auf diese typisch amerikanische Weise gut aussehend. Ein Äußeres, hinter dem sich eine lockere Moral und ein rücksichtsloses Herz verbargen.

Was Anthony sie gekostet hatte, war nicht wiedergutzumachen. Seit jener Zeit hatte Natasha aufgepasst, dass kein Mann ihr je wieder einen so hohen Preis abverlangte.

Aber sie hatte überlebt. Sie hob ihr Glas und prostete sich zu. Sie hatte nicht nur überlebt, sie war sogar glücklich, jedenfalls dann, wenn die Erinnerungen sie in Ruhe ließen. Sie liebte ihren Laden. Er gab ihr die Möglichkeit, Kinder um sich zu haben und ihnen eine Freude zu machen. In den drei Jahren, die sie ihn besaß, hatte sie sie wachsen sehen. In Annie hatte sie eine wunderbare, lustige Freundin gefunden. In den Geschäftsbüchern schrieb sie schwarze Zahlen. Und ihre Wohnung gefiel ihr.

Über ihrem Kopf rumste es. Lächelnd sah sie zur Decke hoch. Die Jorgensons bereiteten das Abendessen zu. Sie konnte sich vorstellen, wie Don seiner Marilyn jeden Handgriff abnahm, weil sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. Natasha freute sich, dass die beiden über ihr wohnten, glücklich, verliebt und voller Zukunftshoffnung.

Das war es, was für sie eine Familie bedeutete. Das hatte sie in der Kindheit gehabt, das hatte sie sich als Erwachsene erwartet. Sie sah noch immer, wie Papa Mama umsorgte, wenn es wieder so weit war. Jedes Mal, erinnerte sie sich und dachte an ihre drei jüngeren Geschwister. Daran, wie er vor Glück geweint hatte, wenn seine Frau und das Baby wohlauf waren.

Er vergötterte seine Nadia. Auch jetzt noch brachte er Blumen mit in das kleine Haus in Brooklyn. Wenn er nach einem langen Arbeitstag heimkam, küsste er seine Frau. Nicht flüchtig, auf die Wange, sondern richtig, voller Wiedersehensfreude. Ein Mann, der auch nach dreißig Jahren noch in seine Frau verliebt war.

Es war ihr Vater, der sie davon abgehalten hatte, alle Männer in einen Topf zu werfen, in den Anthony als Erster gewandert war. Die glückliche Ehe ihrer Eltern hatte in ihr die winzige Hoffnung wachgehalten, eines Tages doch noch jemanden zu finden, der sie so ehrlich liebte wie ihr Vater ihre Mutter.

Eines Tages, dachte sie schulterzuckend. Vorläufig hatte sie ihren eigenen Laden, ihre eigene Wohnung und ihr eigenes Leben. Kein Mann würde ihr Schiff ins Schlingern bringen, mochten seine Hände auch noch so attraktiv aussehen und sein Blick noch so klar sein. Insgeheim hoffte sie, dass die Frau ihres neuesten Kunden ihm nichts als Sorgen und Probleme bereitete.

„Nur noch eine Geschichte, Daddy.“ Ihr fielen fast die Augen zu, und ihr Gesicht glänzte vom Bad, aber Freddie setzte ihr überzeugendstes Lächeln ein. An Spence gekuschelt, lag sie in ihrem großen weißen Himmelbett.

„Du schläfst doch schon.“

„Nein, tue ich nicht.“ Sie sah zu ihm hoch, kämpfte gegen die Müdigkeit. Es war der schönste Tag ihres Lebens gewesen, und sie wollte nicht, dass er schon zu Ende ging. „Habe ich dir erzählt, dass JoBeths Katze Junge bekommen hat? Sechs Stück.“

„Zweimal.“ Spence strich ihr über die Nase. Er wusste genau, was seine Tochter bezweckte, und gab einen väterlichen Standardspruch von sich. „Mal sehen.“

Freddie lächelte schläfrig. Sein Tonfall zeigte ihr, dass er bereits schwach wurde. „Mrs. Patterson ist richtig nett. Alle Kinder mögen sie. Sie lässt uns jeden Freitag ein Ratespiel machen.“

„Das hast du schon gesagt.“ Und ich habe mir Sorgen gemacht, dachte Spence erleichtert. „Ich habe das Gefühl, dir gefällt die Schule.“

„Sie ist ganz gut.“ Sie gähnte ausgiebig. „Hast du all die Zettel ausgefüllt?“

„Du kannst sie morgen wieder mitnehmen.“ Die ganzen fünfhundert Bögen. Was für eine Bürokratie! „Es ist Zeit, das Licht auszuknipsen, Funny Face.“

„Eine Geschichte noch. Eine von denen, die du dir immer ausdenkst.“ Sie gähnte erneut und genoss das wohlige Gefühl seines Baumwollhemds an ihrer Wange und den gewohnten Duft seines Aftershave.

Er gab nach, wissend, dass sie längst eingeschlafen sein würde, bevor er zum „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ kam. Seine Geschichte rankte sich um eine wunderschöne, dunkelhaarige Prinzessin aus einem fremden Land und den Ritter, der sie aus ihrem Elfenbeinturm befreien wollte.

Während er noch einen Zauberer und einen Drachen mit zwei Köpfen hinzudichtete, kam er sich wie ein Trottel vor. Er wusste genau, wohin seine Gedanken abschweiften. Zu Natasha. Sie war wunderschön, kein Zweifel, aber er hatte noch nie eine Frau getroffen, die es so wenig wie sie nötig hatte, sich retten zu lassen.

Es war reines Pech, dass er auf seinem täglichen Weg zum Campus an ihrem Laden vorbeikam.

Er würde sie einfach ignorieren. Wenn überhaupt, dann würde er ihr gegenüber Dankbarkeit empfinden. Sie hatte dafür gesorgt, dass er Verlangen spürte, dass er Dinge in sich fühlte, die er schon nicht mehr für möglich gehalten hatte. Vielleicht würde er mehr unter Menschen gehen, jetzt wo Freddie und er sich hier heimisch fühlten. Im College gab es genügend attraktive Singles. Aber die Vorstellung, mit einer von ihnen auszugehen, erfreute ihn nicht. Eine Verabredung, das war etwas für Teenager, weckte Erinnerungen an Autokinos, Pizzas und feuchte Hände.

Er sah auf Freddies Hand hinunter, die zusammengeballt auf seinen ausgestreckten Fingern ruhte.

Was würdest du denken, wenn ich eine Frau zum Abendessen mit nach Hause bringe? Die lautlose Frage ließ ihn einmal mehr an ihre großen Augen denken – und an den verletzten Blick, mit denen sie ihren Eltern nachgesehen hatte, wenn er und Angela ins Theater oder in die Oper aufbrachen.

So wird es nie wieder sein, versprach er Freddie in Gedanken, als er ihren Kopf behutsam von seiner Brust hob und aufs Kissen legte. Die lächelnde Raggedy Ann erhielt ihren Stammplatz neben Freddie, bevor er die Decke bis zu ihrem Kinn hochzog. Mit der Hand auf dem Bettpfosten sah er sich im Zimmer um.

Es trug bereits Freddies Handschrift. Die Puppen thronten auf den Regalen, unter ihnen gestapelte Bilderbücher. Neben ihren Lieblingsschuhen standen die eleganten pinkfarbenen Plüschpantoffeln. Das Kinderzimmer duftete nach der für seine Bewohnerin typischen Mischung aus Shampoo und Wachsmalstiften. Eine wie ein Einhorn geformte Nachtlampe sorgte dafür, dass sie nicht im Dunkeln aufwachte und sich fürchtete.

Er blieb noch einen Moment, stellte fest, dass das sanfte Licht ihn ebenso beruhigte wie sie. Leise ging er hinaus und ließ die Tür einen Spaltbreit auf.

Unten begegnete er Vera mit einem Tablett, auf dem Kaffee und eine Tasse standen. Die mexikanische Haushälterin war von den Schultern bis zu den Hüften breit gebaut und wirkte auf ihn wie ein kleiner kompakter Güterzug, wenn sie von Zimmer zu Zimmer eilte. Seit Freddies Geburt hatte sie sich nicht nur als hilfreich, sondern als geradezu unverzichtbar erwiesen. Spence wusste, dass man sich die Loyalität einer Angestellten mit einem Gehaltsscheck erkaufen konnte. Aber nicht die Liebe. Und genau die hatte Freddie von Vera bekommen, seit sie in ihrer seidenverzierten Babydecke aus der Klinik gekommen war.

Jetzt warf Vera einen Blick die Treppe hinauf. Ihr von den Jahren gezeichnetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Das war ein großer Tag für sie, was?“

„Ja, und zwar einer, um dessen Dauer sie gekämpft hat, bis ihr die Augen zufielen. Sie hätten sich keine Umstände zu machen brauchen, Vera.“

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