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Wovon du nichts ahnst

hier erhältlich:

Als die Ärztin Sarah Havenant von einer alten Freundin kontaktiert und gefragt wird, welches ihr richtiges Facebook-Profil sei, geht sie dem nach. Und tatsächlich findet Sarah zwei Profile mit ihrem Namen: eines hat sie selbst angelegt, das andere hat sie noch nie gesehen. Und doch findet sie dort private Fotos von sich und ihrer Familie. Fotos, die im Inneren ihres Hauses gemacht werden. Als sie es ihrem Mann zeigen will, ist das fremde Profil gelöscht - doch ihr Leben nicht mehr ihr eigenes …


  • Erscheinungstag: 04.01.2019
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678148
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Mum and Dad, von denen ich die magischen Worte gelernt habe:

»Natürlich kannst du das.«

ZEHN JAHRE ZUVOR

Das erste Mal, dass jemand es aussprach, dass Karen endgültig weg wäre, war in der Woche nach ihrem Verschwinden.

Menschen – Mütter – ließen nicht einfach ohne Vorwarnung tagelang ihre Kinder zurück, sofern nicht etwas wirklich Schlimmes passiert war. Etwas sehr Schlimmes.

Vielleicht war sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes depressiv gewesen? Oder unglücklich in ihrer Beziehung? Ihr Freund stammte nicht von hier und war einige Jahre älter als sie. Wer wusste schon, was bei denen zu Hause hinter verschlossenen Türen vor sich ging?

Sarah Havenant jedenfalls wusste es nicht und auch keine ihrer Freundinnen, obwohl die Karen als Letzte gesehen hatten – an dem Tag, als Sarah nach vier Jahren College und weiteren vier Jahren Medizinstudium nach Barrow, Maine, zurückgekehrt war, um hier ihre Stelle als Assistenzärztin anzutreten. Sie und ihre Freundinnen hatten sich in einer Bar verabredet, zum Quatschen, der alten Zeiten wegen, und auch, um darüber zu philosophieren, was die Zukunft wohl bringen würde.

Sarah, Jean, Franny, Luke. Die alte Clique. Zumindest der Teil davon, der noch hier lebte.

Und Karen, die Mutter von zwei Söhnen, einer drei, der andere ein Jahr alt. Karen, die jetzt verschwunden war.

Sarah erinnerte sich nicht, dass Karen die Bar verlassen hatte. Es musste auf jeden Fall vor zwei Uhr morgens gewesen sein, denn um diese Zeit war sie gemeinsam mit Franny und Luke zu einem Taxi getorkelt. Ein Typ, den sie in der Bar kennengelernt hatten, hatte ihnen angeboten, sie nach Hause zu fahren, doch sogar in ihrem betrunkenen Zustand war Sarah klug genug gewesen, sein freundliches Angebot abzulehnen. Auch Franny und Luke konnten sich nicht erinnern, wann Karen die Bar verlassen hatte. Genauso wenig wie Jean, die schon früh nach Hause gegangen war, weil sie den Sommer über auf einer Biofarm arbeitete und fit für den Wochenmarkt am folgenden Tag sein musste.

Doch irgendwann zwischen Jeans frühem Aufbruch und zwei Uhr morgens war wohl auch Karen gegangen.

Wobei »verschwunden« es im Nachhinein besser traf.

Am nächsten Tag war Sarah Karens Freund begegnet. Sie kannten sich nicht besonders gut, hatten sich nur ein- oder zweimal kurz gesehen, wenn Sarah zu Besuch in der Stadt gewesen war.

Er hatte sie gefragt, ob sie wüsste, wo Karen sei.

Sarah hatte den Kopf geschüttelt. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«, hatte sie gefragt.

»Sie ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen«, hatte er erwidert. »Als ich gegen vier Uhr morgens mit diesem jungen Mann hier aufgewacht bin«, er hatte seine Söhne dabei gehabt und den Einjährigen auf den Kopf geküsst, »war sie nicht da. Ich habe es auf ihrem Handy probiert, aber sie ist nicht rangegangen.«

Er hatte herumtelefoniert, es im Krankenhaus versucht, doch nirgendwo gab es eine Spur von ihr.

So unmöglich es auch schien, irgendwann im Lauf der Nacht war Karen verschwunden.

Und nachdem nun beinahe eine Woche vergangen war, sah es auch nicht so aus, als ob sie vorhatte, bald zurückzukommen.

KAPITEL 1

Sarah Havenant warf einen Blick auf ihr Handy, während sie zu Untersuchungsraum drei eilte. Sie wartete auf eine Nachricht von ihrem Ehemann Ben, ob er ihren Sohn Miles – einen gerade mal Siebenjährigen, der sich in letzter Zeit plötzlich und unerwartet in einen rebellischen Teenager verwandelt hatte – vom Ferienlager abholen konnte, wo er eine Woche seiner Sommerferien verbrachte. Falls nicht, würde sie sofort nach Arbeitsende das Barrow Medical Center verlassen müssen, um zu der Ferienfarm zu fahren, was wiederum bedeutete, dass sie auf dem Heimweg nicht am Fitnessstudio halten und trainieren konnte.

Doch gerade heute wollte sie noch mehr als an anderen Tagen sportlich abreagieren, denn sie kam gerade von einer Patientin, der sie hatte sagen müssen, dass die Ergebnisse ihrer Tests nicht gut aussahen. Im Gegenteil, sie waren fürchterlich, und bei der speziellen Krebsform, an der die Patientin erkrankt war, bestand ihre Lebenserwartung nur noch aus Monaten statt aus Jahren.

Die Patientin, Amy, hatte die schlechte Nachricht beinahe wortlos hingenommen. Ihr Ehemann hatte angefangen, Fragen zu stellen, doch Amy war aufgestanden, hatte den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, die Einzelheiten könnten sie später immer noch erfragen, jetzt wolle sie lediglich gehen.

»Ich möchte zu Isla«, hatte sie gesagt.

Isla war ihre neun Monate alte Tochter. Eine Tochter, die in Kürze ohne Mutter sein würde, sofern nicht ein Wunder geschah.

Deshalb brauchte Sarah heute das Fitnessstudio. Und dann würde sie nach Hause gehen, zu Ben, Miles, der fünfjährigen Faye und der zweijährigen Kim, einer warmen Mahlzeit, Gute-Nacht-Geschichten und ins Bett. Und sie würde ein Dankgebet für ihre Familie sprechen, obwohl sie in keiner Weise religiös war.

Allerdings kam keine Nachricht von Ben. Stattdessen entdeckte sie jedoch eine Facebook-Freundschaftsanfrage von jemandem, an den sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte. Mindestens zehn Jahre lang nicht.

Rachel Little.

Bei der es sich nicht wirklich um eine echte Freundin handelte. Sie war gemeinsam mit Sarah zur Barrow Highschool gegangen, aber nicht Teil ihres Freundeskreises gewesen. Genau genommen hatte Rachel zu niemandes Freundeskreis gehört. Sie passte einfach nirgendwo hin. Auf der Highschool gab es streng voneinander getrennte Zirkel: die Sportler, die Cheerleader, den Schachklub. Rachel stand auf Tarotkarten, Okkultes und merkwürdige Nahrungsmittel. Vermutlich entsprach diese Erinnerung nicht ganz der Wahrheit, aber Sarah kam es so vor, als hätte Rachel damals ausschließlich selbst gemachte Gemüsesäfte zu sich genommen, über die sie sich begeistert bei jedem ausließ, der ihr zuhören wollte.

Rachel war groß und langgliedrig gewesen, aber nicht auf eine graziöse Art. Eher so, als hätte sie nicht die volle Kontrolle über ihre Hände und Füße besessen, die sowieso nicht zu übersehen gewesen waren, weil sie niemals Röcke oder Tanktops trug, sondern immer nur Hosen und langärmelige Shirts, die für ihre langen, schlaksigen Beine und Arme viel zu kurz waren.

Trotzdem war sie eigentlich ganz nett gewesen, und es wäre schön zu sehen, was aus ihr geworden war. Das war einer der Vorteile von Facebook: Man konnte auf unverbindliche Weise mit vielen Menschen in Kontakt bleiben. Ben hielt es für Zeitverschwendung und hatte sein Profil vor einigen Monaten gelöscht, aber Sarah gefiel es. Sie mochte Menschen und war an deren Leben interessiert.

An der Tür zum Untersuchungsraum hielt sie inne. Darin befand sich ihr letzter Patient für heute, ein Hypochonder Anfang vierzig, der sich bester Gesundheit erfreute, aber absolut überzeugt davon war, todkrank zu sein. Sarah öffnete die Freundschaftsanfrage.

Hi Sarah! Ich bin’s, Rachel! Ich bin erst seit Kurzem auf Facebook (du kennst mich ja, ich bin nicht gerade eine Trendsetterin …) und habe nach dir gesucht. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich ziehe gerade zurück nach Barrow, vielleicht können wir uns ja mal treffen. Ist das hier dein richtiges Profil oder ist es das andere (mit deinem Namen und Foto)?

Stirnrunzelnd tippte Sarah eine Antwort.

Rachel! Ich würde mich gern mit dir treffen. Bin bei der Arbeit und kann leider nicht mehr schreiben. Und ich habe nur ein Profil – dieses hier!

Sie schickte ihre Antwort ab, betrat den Untersuchungsraum und vergaß die ganze Angelegenheit.

Wie sich herausstellte, konnte Ben Miles abholen. Seine Nachricht: OK AW: Miles war typisch für ihn. Für Ben waren E-Mails und SMS Kommunikationswege für ein Maximum an Information mit einem Minimum an Wörtern. Zwar behauptete er, das läge daran, dass er Brite sei und nichts für überflüssigen Small Talk übrig habe, aber Sarah war davon überzeugt, dass er insgeheim annahm, je mehr man schrieb, desto teurer sei die Nachricht.

Sie hielt also auf dem Heimweg beim Fitnessstudio und nahm mit einigen Minuten Verspätung an einer Spinningstunde teil. Anschließend verließ sie das Gebäude mit Abby, einer Mittzwanzigerin mit einem Abschluss in Marketing. Abby hatte auf dem College Lacrosse gespielt und hatte Sarahs Meinung nach ein viel zu offensichtliches Vergnügen daran, die Moms Ende dreißig und die Seniorinnen, die den Großteil der Mitglieder der Fitnessstudios von Barrow ausmachten, beim Spinning locker hinter sich zu lassen.

»Bäh«, machte Abby. »Das war echt hart. Mir haben die Oberschenkel gebrannt! Sie ist die allerbeste Trainerin.«

Mit sie war Tanya gemeint, eine Frau, die nur wenige Jahre älter war als Sarah, aber einen Körper besaß, den die Ärztin in Sarah als Wunderwerk bezeichnen würde. Tanya leitete die anspruchsvollen Kurse und gab lauthals völlig ungerührt Anweisungen, während die Teilnehmer beinahe in ihrem Schweiß ertranken.

Obwohl es für Sarah als achtunddreißigjährige Mutter von drei Kindern und mit einem Ehemann, mit dem sie ein immer noch aktives (und nicht gerade einfallsloses) Sexleben führte, beinahe ein wenig lächerlich war, schwärmte sie ein wenig für Tanya. Nicht in sexueller Hinsicht, so glaubte sie zumindest. Eher auf eine So-wäre-ich-auch-gern-Art. Sie schaute zu Tanya auf und wollte sie mit ihren Spinningfähigkeiten beeindrucken, was vermutlich nur dazu führte, dass Tanya sich wundern würde, warum Sarah so schnell außer Puste geriet und feuerrot im Gesicht wäre.

»Sie ist wirklich fabelhaft«, bestätigte Sarah. »Ich habe keine Ahnung, wie sie das macht.«

»Mit viel hartem Training«, erwiderte Abby, die Sarahs Frage mit der für jüngere Menschen typischen Wortwörtlichkeit auslegte. »Es gibt kein Geheimrezept, durch das man in Form kommt.«

»Vermutlich nicht«, musste Sarah zugeben, wobei sie sich insgeheim wünschte, es wäre anders. Sie kramte in ihrer Tasche und holte das Handy und den Autoschlüssel heraus. »Wir sehen uns hoffentlich beim nächsten Mal.«

»Ich komme zum Kurs am Donnerstag«, versprach Abby.

Sarah nickte und öffnete ihre Autotür. Dann steckte sie den Schlüssel in die Zündung und ließ den Motor an. Während sie darauf wartete, dass die Klimaanlage ansprang, blickte sie auf ihr Handy.

Sie hatte eine neue Nachricht von Rachel.

Super! Ich sag dir Bescheid, wenn ich zurück in Barrow bin. Und hier ist das andere Profil unter deinem Namen. Das bist definitiv du!

Rachel hatte einen Link geschickt. Sarah tippte ihn an und öffnete eine Facebook-Seite.

Dann runzelte sie die Stirn. Da stand ihr Name: Sarah Havenant. Sie überflog die Informationen. Verheiratet mit Ben. Mutter von drei Kindern.

Auch auf dem Profilfoto war sie abgebildet. Lächelnd blickte sie direkt in die Kamera, neben einer Schlittschuhbahn, auf der sie im vergangenen Winter häufig gefahren waren. An diesen speziellen Tag konnte sie sich genau erinnern: Sie trug die Jacke, die sie in einem Outlet-Shop in Freeport gekauft hatte. Die Jacke bestand aus irgendeinem neuen Material, federleicht, aber unglaublich warm, und Sarah hatte ständig daran denken müssen, wie gern sie solche Kleidung als Kind gehabt hätte. Während der meisten Winter war sie damals in so viele Schichten Kleidung eingewickelt gewesen, dass es beinahe unmöglich gewesen war, sich damit zu bewegen.

Doch das war jetzt unwichtig. Die eigentliche Frage war nämlich: Warum zum Teufel gab es ein Facebookprofil, auf dem jemand so tat, als wäre er sie?! Und wichtiger noch, wer hatte es erstellt?

Sie scrollte nach unten. Und erstarrte.

Der aktuellste Post stammte vom heutigen Vormittag. Es war ein Foto von Miles, Faye und Kim, die auf einem Strandtuch saßen und Erdnussbuttersandwiches aßen. Darunter stand:

Wie sich herausgestellt hat, mag Kim Sandsandwiches. Vielen Dank an ihre älteren Geschwister, die ihr den Sand ins Sandwich gesteckt haben, damit wir das herausfinden konnten!

Sarah starrte auf das Display. Das hier war kein beliebiges, sechs Monate altes Foto von ihr an einer Schlittschuhbahn. Das hier war erst gestern passiert.

Sie waren am Strand gewesen, und gegen Mittag hatten Miles und vor allem Faye ihrer jüngsten Schwester weisgemacht, dass Sandwiches so hießen, weil sich Sand darin befand. Gierig nach Aufmerksamkeit hatte Kim zustimmend genickt. Also hatten sie ihr lächelnd Mayonnaise aufs Brot gestrichen, eine großzügige Dosis frischen, warmen Sand darüber verteilt und ihr das Sandwich gereicht.

»Mmm«, hatte Kim gemacht, nachdem sie sie ermuntert hatten, hineinzubeißen. »Ich liebe Sandwiches!«

Sie waren erst spätnachmittags nach Hause gekommen, und sobald die Kinder im Bett waren, hatte Sarah den Rest des Abends damit verbracht, sich auf die Arbeit vorzubereiten. Es konnte also niemand sonst von den Sandwiches wissen.

KAPITEL 2

Langsam scrollte sie durch den Rest der Seite. Was sie sah, konnte sie kaum glauben.

Der nächste Post war ein Foto von ihr und Ben vor einigen Wochen in einem japanischen Restaurant. Sie hatten sich eine Sushi-Platte und eine Flasche Weißwein geteilt; das Foto war hinter Ben aufgenommen worden. Sie hörte ihm zu, die rechte Hand ans Glas gelegt. Darunter stand:

Kinderfreier Abend mit meinem wunderbaren Ehemann. Das müssten wir viel öfter machen!

Das war, stellte sie fest, genau die Art von banalem Post, die sie geschrieben hätte. Allerdings hatte sie das nicht getan, sondern jemand anderes. Und dazu noch viele, viele andere Posts.

Ein Foto von ihr in einer griechischen Weinbar in Portland mit Toni und Anne, ihren beiden besten Freundinnen vom College, an einem Frühlingsabend. Bildunterschrift: Yay! Mädelsabend!

Ein Foto von ihr und Jean, einer Erzieherin aus dem örtlichen Kindergarten, die Sarah schon ihr ganzes Leben lang kannte, nach einem gemeinsam bestrittenen Zehn-Kilometer-Lauf im April. Es hatte die ganze Zeit über wie aus Eimern gegossen, und auf dem Bild waren sie tropfnass und grinsten. Beschriftung: Ein bisschen feucht, aber kein Problem. Bevor wir losliefen, sagte mein reizender britischer Gatte: ›Kein Grund zur Sorge. Bei mir zu Hause ist das nur ein Nieseln‹, und holte einen Golfschirm, Handwärmer und eine Thermoskanne raus.

Das hatte Ben tatsächlich gesagt und dann an der Ziellinie teeschlürfend unter seinem Schirm gewartet.

Verdammte Scheiße. Was war das hier? Und wer steckte dahinter?

Aber es kam noch schlimmer.

Ein Foto von Fayes Vorschulaufführung von Die Rübe. Faye stand links auf der Bühne, als Möhre verkleidet.

Ein Foto der Kinder, wie sie auf dem Marktplatz einen Schneemann bauen.

Ein Foto von Sarah, die im Little Cat Café eine heiße Schokolade schlürft, einen Stapel Papiere vor sich auf dem Tisch. Sie hatte damals einen Artikel recherchiert und war ins Café gegangen, um ihre Gedanken zu sortieren.

Ein Foto ihrer neuen Küche, die über die Wintermonate eingebaut worden war. Gepostet im Februar. Bildunterschrift: Fertig! Ich finde es toll!

Und dieses Foto war in ihrem Haus aufgenommen worden.

Inzwischen lief die Klimaanlage im Auto auf vollen Touren. Kalte Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen über sie hinweg, doch Sarah bemerkte es kaum. Die Gänsehaut an ihren Armen und Beinen kam nicht von der Luft, und die Kälte, die sie beschlich, hatte nichts mit dem Ventilationssystem zu tun.

Es waren die Fotos. Von ihr, von Ben, ihrem Haus. Von ihren Kindern.

Wer hatte das getan? Es musste jemand sein, der überall dabei gewesen war, gestern am Strand, bei dem Abend mit ihrem Mann und dem mit ihren Freundinnen. Und bei Fayes Auftritt mit der Vorschulklasse.

Das war unmöglich. Nicht mal Ben war überall dabei gewesen.

Und warum tat jemand so etwas? War das eine Art Scherz? Vielleicht waren ja alle ihre Freunde eingeweiht. Das würde die vielen Fotos erklären. Aber wozu? Was hätten sie davon? Und warum sollten sie das sechs Monate lang betreiben, ohne ihr davon zu erzählen? Warum würden sie so was überhaupt machen?

Das ergab keinerlei Sinn.

Das Schlimmste ist, dachte sie, dass ein grausamer Scherz meiner Freunde die beste Erklärung ist, auf die ich hoffen kann. Keine Ahnung, was die Alternativen sind, aber garantiert ist keine davon gut.

Sie scrollte noch einmal durch die Fotos. Das hier war nicht das Werk ihrer Freunde. Einen Witz auf ihre Kosten, ein falsches Facebook-Profil unter ihrem Namen, in dem sie unanständige Witze postete oder freizügige Einblicke in ihr Sexualleben gab – vielleicht. Aber das hier sicher nicht.

Toni war zu Collegezeiten ein Scherzbold gewesen, hatte unter dem Namen von Wildfremden Pizza an deren Adresse liefern lassen. Inzwischen hatte sie das größtenteils abgelegt, obwohl manchmal noch ein Teil ihres leicht kindischen Wesens durchschimmerte. Das würde auch immer so bleiben: Ihr Vater und ihre beiden älteren Brüder hatten nie aufgehört, sich, Toni und ihrer leidgeprüften Mutter Streiche zu spielen.

Als Sarah zum ersten Mal in dem Haus auf Cape Cod übernachtete, im Sommer nach ihrem ersten gemeinsamen Collegejahr, hatte Marty, Tonis Dad, ihnen gekochte Eier zum Frühstück serviert, und zwar in zarten Porzellanbechern mit gleichmäßig geschnittenen und mit glitzernder Butter bestrichenen Toaststücken daneben.

»Esst«, hatte er gesagt. »Das ist meine Spezialität.«

»Gekochte Eier sind keine besondere Spezialität, Dad«, hatte Toni schlaftrunken widersprochen.

»Doch. Das sind Martys gekochte Überraschungseier«, hatte er erklärt. »Haut rein.«

Sarah hatte mit dem Löffel an die Schale geklopft und sie dann abgezogen. Eine Sekunde lang verstand sie gar nichts, dann hatte sie zu Marty aufgesehen – der darauf bestand, dass sie ihn mit dem Vornamen ansprach und nicht mit »Mr. Gorchoff«, wodurch sie sich gleichzeitig erwachsen und unangenehm berührt fühlte. Sie hatte ihm erklärt, dass ihr Ei leer war. Auf dem Tisch stand nur die hohle Schale.

»Das ist die Überraschung!«, hatte er gerufen. »Eure Eier sind nicht da.« Daraufhin hatte er ihr eine Tasse Kaffee gereicht. Dankbar hatte sie einen Schluck genommen und dann noch einen. Es war eine wunderbare, vollmundige Sorte gewesen. Doch dann hatte sie plötzlich einen Farbhauch inmitten des schlammfarbenen Kaffees erspäht, der verschwand, sobald sie die Tasse gerade hielt.

Als sie die Tasse wieder ein wenig geneigt hatte, hatte sie es erkannt. Ein Eigelb. »Mr. Gor… Marty«, hatte sie gesagt. »Hier drin ist ein Ei!«

»Das ist der zweite Teil der Überraschung«, hatte er erwidert. »Aber keine Sorge, das sind Bioeier.«

Den Rest des Wochenendes hatte sie sich ständig vor der nächsten kleinen »Überraschung« gefürchtet, war aber dankenswerter Weise verschont geblieben.

Toni jedoch war mit dieser Art von Streichen aufgewachsen, die grenzwertig gemein und ziemlich unverantwortlich waren, daher war es nicht undenkbar, dass sie ein falsches Facebook-Profil unter dem Namen ihrer Freundin angelegt hatte.

Aber niemals eins, auf dem man Sarahs Kinder sah.

Genau wie die meisten Mütter, mit denen sie befreundet war, veröffentlichte Sarah nur sehr zögerlich Fotos ihrer Kinder im Internet, ganz egal, was Facebook über seine Datenschutzrichtlinien behauptete. Daher hatte sie den Zugriff auf ihr Profil nur ihren Freunden gestattet, und auch dann achtete sie sorgfältig darauf, was sie online stellte.

Dieses Facebook-Profil war jedoch öffentlich. Alle Welt konnte sich die Fotos ansehen. Nicht mal Toni wäre für einen Scherz so weit gegangen.

Doch wer dann? Ben? Er hätte zwar Zugriff auf die Fotos von ihrem Handy, aber sie konnte sich das nicht vorstellen. Dafür hätte er das Profil auf seinem Arbeitsrechner einrichten und sichergehen müssen, dass sie keine der Benachrichtigungen und E-Mails dazu sah. Sie benutzte häufig sein Handy und überflog dann immer auch rasch seine E-Mails und Nachrichten. Darauf war sie zwar nicht besonders stolz, aber es war so. Alle davon waren beruhigend langweilig: Informationen von seinen Kollegen zu Präsentationen und juristischen Prüfungen, Anträge auf Absegnung durch den Aufsichtsrat und SMS von seinen Freunden, wo sie sich ein Spiel ansehen wollten und ob die Frauen ihnen erlaubt hatten, hinzugehen.

Nein, hätte Ben das getan, hätte er dafür eine enorme Täuschung inszenieren müssen, zu der er ihrer Meinung nach gar nicht fähig war. Unter anderem, weil er dann über einen wirklich langen Zeitraum hätte vortäuschen müssen, von Computern keine Ahnung zu haben, und das hätte ein Maß an Schauspieltalent erfordert, das Sarah ihm eigentlich nicht zutraute.

Eigentlich. Genau wusste man das natürlich nie. Unter Eheleuten waren schon merkwürdigere Dinge vorgekommen …

Kopfschüttelnd verwarf sie den Gedanken. Ben war es keinesfalls gewesen.

Aber wer dann? Wer zum Teufel hatte das getan?

KAPITEL 3

Sie hat es also endlich entdeckt. Hat ja lang genug gedauert. Seit sechs Monaten hängt der Köder nun im Wasser, doch bisher hat sie nicht angebissen. Sie war sich nicht mal bewusst, dass dieses Profil existiert. Die Aufmerksamste ist sie nicht gerade – überraschend für eine Ärztin. Klarer Nachteil für sie. Das macht es einfacher, solche Sachen abzuziehen.

Ganz offensichtlich googelt sie nicht nach sich selbst. Das ist ein Fehler. Es ist immer gut zu wissen, was über einen geschrieben wird, alle verfügbaren Informationen zu besitzen, zu wissen, was dein Feind weiß. Wenn du allerdings nicht mal von deinem Feind weißt – warum solltest du dir dann die Mühe machen?

Sie wird sich fragen, wer das getan hat, und sich wundern, warum. Aber sie wird es nicht herausbekommen. So funktioniert ihr Kopf nicht. Sie kann keinen Grund erkennen, warum ihr jemand das antun sollte. Sie weiß nicht mal, wie, wobei das Wer und das Wie eng zusammenhängen. Versteht man das eine, versteht man auch das andere.

Aber sie wird keins von beiden begreifen. Zumindest nicht, bevor es zu spät ist.

Denn das hier ist erst der Anfang. Das Facebook-Profil ist lediglich der Haken, der sich im Maul des Fisches verfängt. Der Fisch wird glauben, dass der Haken sein einziges Problem ist. Dass alles gut wird, wenn er den Haken nur wieder loswird.

Doch da irrt er sich. Denn der Haken ist an einer Schnur befestigt, und die wiederum an einer Angel, die von einer Hand gehalten wird. Und die Hand wird von einem Hirn kontrolliert, das gewartet, beobachtet und geplant hat, wie, wo und wann es den Fisch am besten fängt.

Während der Fisch also darum kämpft, sich zu befreien, treibt er sich den Haken nur noch tiefer ins Fleisch. Und dabei verschwendet er seine ganze Energie, bis er zu erschöpft ist, um weiterzumachen. Und dann hört er auf zu kämpfen.

Die Hand wird das spüren und anfangen, die Schnur einzuholen …

Bisher hat Sarah lediglich das Stechen des Hakens in ihrer Wange gespürt. Der ganze Rest – das Ringen, der Kampf, ihre endgültige Zerstörung – liegt noch vor ihr.

Spaß. Das hier wird Spaß machen. Angeln macht immer Spaß.

Genau wie Rache.

KAPITEL 4

Sarah parkte neben Bens Auto, einer dunkelblauen Familienlimousine (beziehungsweise »mitternachts-saphirblau« laut dem Verkäufer, von dem sie das Auto erworben hatten, als Miles noch ein Baby gewesen war). Amerikas Liebling: ein Toyota Camry. Vernünftig, zuverlässig, verbrauchsarm, hoher Wiederverkaufswert. Außerdem musste er in Kürze ersetzt werden.

Vor einigen Wochen hatte Ben darüber gesprochen, sich stattdessen ein Cabriolet kaufen zu wollen.

»Na gut, aber eins mit fünf Sitzen«, hatte sie gesagt.

»Es gibt keine Cabrios mit fünf Sitzen«, hatte er erwidert. »Das Dach wird im Wageninnern zusammengefaltet. Normalerweise haben Cabrios hinten höchstens zwei Sitze.«

Sie hatte ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Ungläubigkeit angesehen. »Aber wir haben drei Kinder, Ben. Wie stellst du dir das vor? Soll Miles auf seinem Fahrrad neben uns herfahren?«

»Wir haben doch immer noch dein Auto, wenn wir alle zusammen irgendwohin fahren«, hatte er entgegnet. »Ich fahre damit nur zur Arbeit. Und im Sommer wäre es schön, das Dach herunterlassen zu können.«

»Aber was, wenn du mit allen dreien irgendwohin musst? Was, wenn ich übers Wochenende weg bin, und es passiert etwas?«

»Dann würde ich ein Taxi rufen«, hatte er geantwortet. »Dir werden immer Gründe einfallen, warum wir zwei große Autos brauchen. Aber meistens ist das gar nicht der Fall.«

»Na schön«, hatte sie gemeint. »Wenn das deine Priorität ist.«

»Das ist keine Frage der Priorität«, hatte er gegengehalten. »Ich hätte einfach gern ein Cabrio. Aber egal. Vielleicht ist es eine dumme Idee. Frühe Midlife-Crisis.«

Und damit war das Thema erledigt gewesen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm seinen Traum verwehrte; genau genommen war sie nicht mal sicher, warum sie sich so dagegen sträubte, dass er ein Cabriolet kaufte. Sie wäre eigentlich auch gern damit gefahren. Es war einfach … Es roch tatsächlich geradezu nach Midlife-Crisis. Auf diffuse Weise fühlte sie sich durch seinen Wunsch bedroht, als ob er ein Zeichen dafür wäre, dass er seine Entscheidungen nach seinen eigenen Bedürfnissen traf, statt nach denen seiner Familie. Jedenfalls hatte sie sich entschlossen, ihn das Cabrio kaufen zu lassen. Sie würde sich für ihn freuen. Oder es zumindest versuchen.

Doch dieses Thema musste warten. Momentan war sie einfach nur froh, dass sein aktuelles Auto in der Einfahrt stand. Es bedeutete, dass er zu Hause war.

Ben saß auf der Couch, Kim auf dem Schoß. Er las ihr das aktuelle Lieblingsbuch vor, Hairy Scary Monster, von dem Kim einfach nicht genug kriegen konnte. Ben war ein sehr geduldiger Vater. Das war eine der Eigenschaften, die Sarah so an ihm liebte. Doch sogar er sperrte sich dagegen, dasselbe Kinderbuch sieben oder acht Mal hintereinander beim Zubettgehen vorzulesen.

»Du liest ihr Hairy Scary Monster vor«, stellte Sarah fest. »Wer hätte das gedacht.«

»Erst zum zweiten Mal heute«, erklärte Ben. »Daher strahlt es immer noch diese Zeitlosigkeit aus, die große Literatur ausmacht.«

»Lies weiter, Daddy«, verlangte Kim. Sie erfüllte das Anforderungsprofil des dritten Kindes haargenau: Mit zwei älteren Geschwistern hatte sie gelernt, um ihren Anteil dessen zu kämpfen, was gerade verteilt wurde – Aufmerksamkeit, Kuchen, Zeit auf dem Trampolin. Sie rang verzweifelt darum, Teil der Gruppe zu sein, egal um welchen Preis, was zu der Sandsandwichepisode am Strand geführt hatte.

»Hey«, begann Sarah. »Mir ist heute etwas echt Merkwürdiges passiert.«

»In der Praxis?«

»Nein. Ich habe eine Freundschaftsanfrage von jemandem erhalten, mit dem ich zur Highschool gegangen bin. Sie zieht zurück nach Barrow.«

»Was ist daran merkwürdig? Viele Menschen ziehen hierher. Ich zum Beispiel aus London.« Grinsend blickte er sie an. »Allerdings hatte ich dafür auch einen guten Grund.«

»Das ist nicht der merkwürdige Teil.«

»Daddy!«, machte sich Kim bemerkbar. »Lies weiter!«

»Einen Moment, Schätzchen«, antwortete Ben. »Ich unterhalte mich gerade mit Mummy. Also, was war so merkwürdig?«

Kim nahm die Hand ihres Dads und legte sie auf das Buch. »Lies weiter!«, verlangte sie. »Lies mir Hairy Scary Monster vor.«

Ben verdrehte die Augen. »Können wir später darüber reden? Ich glaube, Kim ist nicht so begeistert, dass wir ihre Geschichte unterbrechen.«

Es war beinahe neun Uhr, bis sie endlich dazu kamen. Während Sarah Miles ins Bett brachte, erzählte er ihr vom Ferienlager auf der Farm. Dort hatten sie heute ein Schwein mit einem Schlauch abgewaschen, und er fragte, ob sie vielleicht ein Schwein als Haustier halten könnten. Sarah erklärte ihm, dass Schweine nicht wirklich Haustiere waren und sie keine Zeit hatten, sich um eins zu kümmern. Miles protestierte: Selbstverständlich würde er sich um das Schwein kümmern. Und außerdem würde er nicht nur Tag und Nacht auf das Schwein aufpassen, sondern auch noch viele kleine Aushilfsjobs annehmen, damit er Geld für lustiges Schweinespielzeug verdienen konnte.

»Lass uns mit einem Haustier anfangen, dass ein bisschen weniger arbeitsaufwendig ist«, schlug Sarah vor. »Einem Goldfisch zum Beispiel.«

»Oder Nacktratten«, erwiderte Miles. »Anthony hat Nacktratten.«

Sarah schüttelte den Kopf. Sie hatte diese Viecher gesehen. Ganz sicher war sie nicht zart besaitet, immerhin war sie Ärztin, aber die waren nicht gerade … die schönsten Bewohner der Tierwelt.

»Goldfisch«, beharrte sie. »Und wenn du dich um den gut kümmerst, vielleicht einen Hamster.«

»Und dann ein Schwein?«, wollte Miles wissen.

»Dann vielleicht ein Schwein«, bestätigte Sarah, die sich sicher war, dass sie nie an diesen Punkt gelangen würden.

Zurück im Wohnzimmer schenkte sie zwei Gläser Wein ein. Ben saß auf der Couch, sein Laptop auf den Knien.

Sie reichte ihm ein Glas. »Arbeit?«, erkundigte sie sich.

»Ich räume nur meinen Posteingang auf«, erklärte Ben. »Nichts Wichtiges.«

Ben machte nie viel Wind um eine Sache. Er war Anwalt, und sie wusste, dass er einige stressige Fälle betreute, aber das ließ er sich zu Hause nicht anmerken.

»Es hat keinen Sinn, sich wegen der Arbeit Sorgen zu machen«, sagte er immer, gefolgt von seinem Lieblingszitat: »Sorgen sind Zinsen einer Katastrophe, die noch gar nicht fällig sind. Du verbringst deine Zeit damit, über Dinge nachzudenken, die vielleicht nie passieren werden. Das ist sinnlos. Falls etwas passiert, kannst du dir immer noch Gedanken darum machen. Falls nicht, mach dir keine.«

Und genauso hielt er es. Was auch etwas war, das Sarah, die sich immer Sorgen machte, es schon immer getan hatte, an ihm liebte.

»Also«, begann sie. »Miles möchte ein Schwein.«

»Sein Wunsch nach einem Schwein ist vermutlich nicht die merkwürdige Sache, von der du vorhin gesprochen hast? Denn das klingt exakt nach Miles.«

»Nein. Ich zeig es dir.« Sie öffnete das falsche Facebook-Profil auf ihrem Handy und reichte es ihm. »Schau dir das an.«

Er scrollte über das Display. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Was ist daran merkwürdig? Ich weiß, dass ich es nicht benutze, aber ist Facebook nicht genau für so etwas da? Dass man Fotos postet? Den Leuten erzählt, dass man Alfalfasprossen im Smoothie trinkt?«

»Doch, das ist es. Und ich bin überrascht, dass du weißt, was Alfalfasprossen sind.« Sie hielt inne. »Aber das hier ist nicht mein Profil.«

Ben runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Die Fotos sind von dir. Und den Kindern.«

»Ich weiß. Aber ich wusste von diesem Profil bis heute nichts. Rachel, die mir die Freundschaftsanfrage geschickt hat, hat sich erkundigt, welches der beiden Profile mir gehört. Vorher habe ich das hier noch nie gesehen.« Sie nahm das Handy und rief ihre Seite auf. »Das bin ich. Mein richtiges Profil.«

Ben betrachtete einige Sekunden lang das Display und legte das Handy dann neben sich auf die Couch. »Wer hat es dann eingerichtet?«, wollte er wissen.

»Genau das wüsste ich auch gern«, erwiderte Sarah. »Ich hab keine Ahnung.«

»Das ist wirklich komisch«, gab Ben zu. »Lass uns mal logisch an die Sache rangehen. Wer hätte es einrichten können

»Keine Ahnung. Niemand.«

»Es müsste jemand sein, der überall an diesen Orten dabei war. Und es sind gar nicht so viele Fotos. Insgesamt ungefähr acht? Also wäre es nicht allzu schwierig gewesen.«

»Aber niemand war überall dabei.«

»Vielleicht jemand, der Zugriff auf dein Handy hat«, vermutete Ben.

»Aber ich habe gar nicht alle diese Fotos gemacht. Zum Beispiel das von dir und mir in dem japanischen Restaurant. Es sieht aber aus, als wäre es innen aufgenommen worden, allerdings nicht von mir.«

»Dann war es also entweder jemand, der zufällig überall dort war, aber einen guten Grund dafür hatte, sodass dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen ist, oder es ist jemand, der genau wusste, dass du dort sein würdest, und der dann absichtlich hingegangen ist, um heimlich diese Fotos zu machen.« Er hob in gespielter Angst die Hände. »Was bedeuten würde, du hättest eine Art Stalker.«

»Ben!«, empörte sich Sarah. »Mach darüber keine Witze! Es ist nicht lustig!«

»Sarah«, beruhigte er sie. »Ich glaube nicht, dass du einen Stalker hast.«

»Vielleicht nicht. Aber es ist trotzdem nicht witzig.«

»Okay«, gab er nach. »Keine Scherze. Lass uns mal schauen, ob wir es eingrenzen können. Fangen wir mit dem aktuellsten Foto an. Daran erinnern wir uns am besten. Wer war gestern am Strand?«

»Viele Menschen. Es war ein heißer Sommertag in Maine. Da zieht es jeden ans Wasser.«

»Zählen wir sie mal auf.«

»Mel war mit Anthony und James da. Ich glaube, ihren Mann Bill habe ich auch gesehen. Dann noch Jean mit den beiden Kindern. Lizzie und Toby auch, mit ihren Mädchen. Und ich habe Miles’ Kindergärtnerin gesehen. Sie saß auf der anderen Seite des Strands.« Sarah zuckte mit den Schultern. »Viele Leute waren da.«

Ben blies nachdenklich die Wangen auf. »Ich kann mir nur vorstellen, dass das eine Art Scherz sein soll. Jemand will dich ärgern.«

»Die Möglichkeit besteht«, räumte Sarah ein. »Aber dann bleibt die Frage, wer so etwas tun würde. Wer auch immer es war, er muss überall an diesen Orten gewesen sein.«

»Nicht unbedingt. Möglicherweise stecken ja mehrere deiner Freunde dahinter. Sie könnten die Fotos untereinander ausgetauscht haben.«

»Vielleicht«, gab Sarah zu. »Aber das klingt nach einem sehr aufwendigen Scherz.«

»Nun ja«, begann Ben. »Ich würde mir keine Sorgen …«

Sarahs Handy vibrierte. Sie sah aufs Display und hielt eine Hand hoch, um ihn zu unterbrechen.

Sie hatte eine Benachrichtigung. Von Facebook.

Als sie sie öffnete, musste sie blinzeln. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah.

»Ach du Scheiße.«

»Was?«

»Es ist eine Freundschaftsanfrage.« Sie blickte zu ihrem Ehemann. »Von mir. Von Sarah Havenant. Von dem falschen Profil.«

KAPITEL 5

Freundschaftsanfrage: Sarah Havenant. Bestätigen/Anfrage löschen.

Sarah wusste, dass es sich hier ausschließlich um digitale Informationen handelte, die von einer Software in Text umgewandelt worden waren, aber das änderte nichts an ihrer Verwirrung. Es ist bizarr, wenn jemand mit dem eigenen Namen und einem Foto von dir darum bittet, mit dir befreundet zu sein.

Ich bin Sarah Havenant, dachte sie. Nicht du. Nicht du, wer auch immer du bist.

»Darf ich mal sehen?« Ben streckte ihr die Hand hin, damit sie ihm das Handy gab. »Das ist komisch«, gab er zu. »Echt merkwürdig. Das muss eine Art Scherz sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«

In seinem Ton lag eine Sicherheit, die Sarah tröstlich fand. Ben analysierte Situationen schnell – einen Fall, eine Freundschaft, ein Problem im Verhalten der Kinder. Und genauso schnell erkannte er, was wichtig war, was ihm eine gewisse Klarheit verschaffte, bevor die Fakten ins Spiel kamen. Das hatte zu ihrer Hochzeit geführt. Sie waren einander in einem Klub in London begegnet, als Sarah wegen einer Konferenz in England war. Sie hatten sich geküsst. An diesem Abend war nichts weiter passiert, aber sie hatten sich für ein weiteres Treffen vor Sarahs Abreise verabredet. Wie sich herausstellte, bedeutete »vor Sarahs Abreise« am nächsten Abend, am Abend darauf und dem danach.

An ihrem letzten Abend in England hatte Ben verkündet, dass sie heiraten würden.

Sie hatte gelacht. »Ist es nicht ein bisschen früh für eine Hochzeit?«

»Das ist kein Antrag, sondern eine Prophezeiung. Ich bin mir sicher. Bei der Arbeit überkommt mich häufig dasselbe Gefühl. Manchmal bekommen wir Fälle herein, wo die Meinungen auseinandergehen, und ich blicke dem Mann in die Augen und weiß, ob er ein Gauner ist. Was eigentlich alles ist, was ich wissen muss. Bei dir ist es genauso. Das einzig Wichtige ist, dass ich bereits weiß: Wir werden heiraten. Der Rest sind lediglich Feinheiten.«

»Aber ich lebe in Maine. Ich beginne eine Assistenzarztzeit in einem Krankenhaus in meiner Heimatstadt. Und ich bin nur noch bis morgen hier.«

»Wie gesagt«, hatte er erwidert. »Das sind nur Details. Die klären sich.«

Und genauso war es gewesen. Am nächsten Tag hatte sie beschlossen, ihren Flug umzubuchen und noch eine Weile zu bleiben. Sie waren nach Stonehenge, Edinburgh, Durham und zum Hadrianswall gefahren, bis sie letztendlich wirklich nach Hause musste.

Nach ihrer Rückkehr nach Maine hatten sie eine Fernbeziehung geführt, von der Sarah früher immer fest überzeugt war, sie könne nicht funktionieren. In diesem Fall tat sie es jedoch, und zwar wegen Ben und seiner Gewissheit. Er hatte sie beinahe täglich angerufen, sie einmal pro Monat besucht, und dann, neun Monate nach ihrem Kennenlernen, um ihre Hand angehalten.

»Bist du dir sicher?«, hatte sie gefragt, wohlwissend, dass dies nicht die übliche Antwort auf einen Antrag war.

»Ja«, hatte er bestätigt. »Ich bin mir immer sicher.«

Und es war diese Gewissheit, die dazu geführt hatte, dass er sie geheiratet und seine juristische Karriere in London aufgegeben hatte, nach Maine gezogen war und Kinder mit ihr bekommen hatte.

Diese Sicherheit war eine kraftvolle Macht, und ehrlich gesagt, fand Sarah sie ein wenig beängstigend. Es war in Ordnung, solange sie mit Sarahs Weg übereinstimmte, aber sie hatte sich mehr als einmal gefragt, was passieren würde, sollte sie einmal in eine andere Richtung führen. Vielleicht würde er eines Tages beschließen, dass ihre Ehe vorbei war, ihre Situation analysieren und sie für hoffnungslos erklären. Dann würde diese Gewissheit ihn unerbittlich von ihr wegführen.

Doch momentan war sie froh, dass er beschlossen hatte, in diesem Facebook-Profil nichts weiter als einen Scherz zu sehen. Hoffentlich stimmte das.

»Hast du mit noch jemandem darüber gesprochen?«, wollte er wissen. Sein Blick war nachdenklich, als wäre ihm gerade etwas eingefallen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Mit niemandem? Niemand weiß, dass du es entdeckt hast?«

»Nein, mit niemandem. Warum fragst du? Worauf willst du hinaus?«

»Der Zeitpunkt«, erklärt er. »Das Timing ist ein bisschen … merkwürdig, findest du nicht?«

»Welches Timing?«

»Die Freundschaftsanfrage der anderen Sarah Havenant. Ist doch komisch, dass die genau an dem Tag kommt, an dem du das andere Profil findest. Ich meine, es existiert doch schon eine Weile. Warum also heute? Das ist ein ziemlich großer Zufall, falls es überhaupt ein Zufall ist.«

Sarahs Magen zog sich zusammen. »Du glaubst, es ist keiner? Jemand weiß, dass ich es entdeckt habe, und hat mir die Anfrage deshalb geschickt?«

»Möglicherweise«, antwortet Ben. »Aber das könnte uns dabei helfen, herauszufinden, von wem sie stammt. Wer wusste von dem anderen Profil?«

»Niemand«, beharrte Sarah. »Woher auch?«

»Was ist mit der Frau, die dir von dieser anderen Facebook-Seite unter deinem Namen erzählt hat? Wie hieß sie noch mal?«

»Rachel«, erwiderte sie. »Rachel Little.«

»Vielleicht war sie es. Sie wusste, dass du die Seite entdeckt hast, weil sie dich darauf gestoßen hat.«

»Nein«, widersprach Sarah. »Sie kann es nicht gewesen sein. Sie war seit Jahren nicht mehr in Barrow.«

Ben zuckte mit den Schultern. »Frag sie.«

»Vielleicht werde ich das. Aber zuerst muss ich mit Jean reden.«

KAPITEL 6

Jean wohnte eine Straße weiter. Über die Straße war ihr Haus ungefähr eine halbe Meile entfernt, aber es gab einen Weg durch die Bäume, der die beiden Gärten miteinander verband.

Sarah öffnete die Hintertür von Jeans Haus und betrat die Küche.

»Hi«, wurde sie von Jean begrüßt, die gerade Pausenbrote für den nächsten Tag schmierte.

Glücklicherweise war Jean noch wach. Obwohl es erst halb zehn war, war das nicht selbstverständlich. Jean war alleinerziehend mit zwei Adoptivkindern, daher ging sie meistens früh ins Bett. Ihr Mann Jack – der Vater der Kinder, die sie adoptiert hatte – war vor drei Jahren bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen. Den Fahrer hatte man nie gefunden, nur einige Meilen entfernt ein verlassenes, gestohlenes Auto mit einer Delle in der Motorhaube, einem spinnennetzartigen Riss in der Windschutzscheibe und einer leeren Whiskyflasche im Fußraum. Auf der Beifahrerseite hatte außerdem eine Spritze gelegen.

Der Wagen war vom Parkplatz einer Drogerie in Barrow gestohlen worden; die Polizei hatte zwar Videoaufnahmen davon, wie das Auto den Parkplatz verließ, jedoch den Fahrer nicht identifizieren können, weil der eine Kapuzenjacke getragen hatte. Man war davon ausgegangen, dass es sich bei ihm um einen Kleinkriminellen auf der Suche nach ein paar Dollar für seinen nächsten Schuss Heroin gehandelt hatte – die Droge der Wahl in Maine für all diejenigen, die keinen Zugriff auf verschreibungspflichtige Opiate hatten.

Für Jean war das eine schwere Zeit gewesen, doch sie gehörte zu den Menschen, die irgendwie weitermachten. Sogar nach Jacks Tod hatte sie versucht, sich auf das Positive zu konzentrieren. Wenigstens blieben ihr die Kinder, fand Jean. Sie würden für den Rest ihres Lebens ihre Familie sein.

»Sie haben Glück, dass du ihre Mom bist«, hatte Sarah erwidert. »Und ich, weil ich dich als Freundin habe.«

Nun blickte Jean von ihren Broten auf und zog die Augenbrauen hoch. »Was ist los?«

»Ach«, erwiderte Sarah. »Heute war einfach ein merkwürdiger Tag.«

»Inwiefern?«

»Hast du das von Rachel Little gehört?«

»Dass sie nach Barrow zurückkehrt?« Jean nickte. »Sie hat mir eine Freundschaftsanfrage geschickt.«

»Mir auch. War an deiner irgendwas komisch?«

»Nein«, antwortete Jean. »Was meinst du mit komisch?«

»Sie hat mich gefragt, welches mein richtiges Facebook-Profil ist.«

Jean runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«

Sarah schob Jean ihr Handy hin. »Damit hat sie das hier gemeint.«

Jean legte das Messer weg und wischte mit einem Finger über das Display. Dann betrachtete sie es einige Sekunden lang. »Ach du Scheiße«, sagte sie schließlich. »Was zum Teufel ist das?«

»Genau das frage ich mich auch. Und vor zehn Minuten habe ich eine Freundschaftsanfrage erhalten. Von diesem falschen Profil. Also weiß jemand, dass ich es gerade entdeckt habe.«

»Oh mein Gott. Wer konnte das wissen? Und wer war überall, wo diese Fotos aufgenommen wurden?«

»Mir fällt niemand ein«, musste Sarah zugeben. »Außer mir selbst.«

»Und du warst es nicht.«

Sarah zögerte. »Ben glaubt, es könnte Rachel sein. Sie wusste, dass ich die Seite gefunden habe, weil sie mich darauf hingewiesen hat.«

»Möglich«, erwiderte Jean. »Aber ich wüsste nicht, wie sie das angestellt haben sollte. Woher hätte sie die Fotos gehabt? Dafür müsste sie mindestens ein halbes Jahr lang in Barrow gewesen sein. Das schließt sie aus. Sie war an der Westküste.«

Zur Sicherheit riefen sie Rachels Facebook-Seite auf. Sie hatte als Psychologin in San Diego gearbeitet und sich auf Trauerbewältigung und posttraumatische Belastungsstörungen spezialisiert. Das ergab Sinn: In San Diego waren viele Militärkräfte stationiert. Mehr gab es auf ihrer Seite nicht zu entdecken, allerdings war die auch erst wenige Wochen alt.

»Sie ist ganz neu bei Facebook«, gab Sarah zu bedenken. »Die Angaben auf ihrem Profil könnten also totaler Blödsinn sein, während sie die ganze Zeit über viel näher an zu Hause gelebt hat.«

»Vielleicht«, gab Jean zu, wirkte jedoch nicht überzeugt. »Aber das scheint mir recht weit hergeholt. Außerdem bliebe da immer noch die Frage, warum sie das tun sollte. Ihr habt euch doch auf der Highschool eigentlich gut vertragen, nicht wahr?«

»Mehr oder weniger. Sie war ziemlich ruhig. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun.« Sarah hielt inne. »Obwohl wir uns einmal in die Wolle bekommen haben. Wegen dieses Typen, Jeremy.«

Jean nickte langsam. »Ich glaube, daran erinnere ich mich. Aber das war keine große Sache, oder?«

Jeremy war in der zehnten Klasse neu an ihre Highschool gekommen. Er stammte aus irgendeinem Ort in Kalifornien und war dadurch als exotische Erscheinung in ihrer aller Leben getreten. Er surfte – zumindest hatte er das behauptet –, sprach in authentischem Westküstenslang über all die Klubs, die er in Seattle besucht hatte, und trug Klamotten, die Sarah und die meisten ihrer Freunde nur von MTV kannten.

Ungefähr eine Woche nach Beginn des Schuljahres hatte er Sarah auf einen Kaffee eingeladen. Sie hatte zugestimmt; er war witzig und charmant, aber ihr war schnell klargeworden, dass unter all den coolen Klamotten und dem Gehabe ein schrecklich unreifer Junge steckte. Bei einem Großteil seiner Geschichten hatte sie den Wahrheitsgehalt angezweifelt und ihm nach einigen weiteren Verabredungen erklärt, dass sie nicht länger interessiert war.

Zuvor war es jedoch zu einer merkwürdigen Begegnung mit Rachel gekommen. Nach der Schule hatte Rachel eines Tages Sarah beim Ellbogen gepackt und sie in einen Klassenraum gezogen. Sie hatte erschöpft und gereizt gewirkt und Sarah gefragt, was da mit Jeremy lief.

»Nicht viel«, hatte Sarah erklärt. »Er ist nett, aber der Funke springt nicht über.«

Mit Tränen in den Augen hatte Rachel geantwortet. »Dann lass ihn mir. Lass ihn jemandem, der sich etwas aus ihm macht.«

Bevor Sarah hatte reagieren können, hatte sich die Tür geöffnet, die Englischlehrerin war hereingekommen, und Rachel hatte sich aus dem Staub gemacht.

Soweit Sarah wusste, waren Rachel und Jeremy nie zusammengekommen, aber ein halbes Jahr später war Jeremy weg, weil sein Dad zurück an die Westküste versetzt worden war. Sarah hatte seither keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet.

Doch all das hatte nichts mit der gegenwärtigen Situation zu tun. Es war lange her und schon damals irrelevant gewesen.

»Ich halte das alles für einen Zufall«, behauptete Sarah.

»Wer auch immer dahintersteckt, hat die Anfrage also rein zufällig heute geschickt?«, vergewisserte sich Jean. »Kommt mir seltsam vor.«

»Ich hoffe es«, sagte Sarah. »Denn die Alternative wäre, dass mich jemand beobachtet.« Sie schenkte sich ein Glas Rotwein ein, starrte auf die rote Flüssigkeit und betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild. Es war lächerlich. Entweder handelte es sich hier um einen ausgeklügelten Scherz, oder Rachel Little steckte dahinter, oder da draußen lief ein irrer Stalker herum. Doch was auch immer zutraf, es war verrückt. Und es lief bereits seit einem halben Jahr. Seit sechs Monaten tat jemand auf Facebook so, als wäre er sie. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Angst bekam sie.

»Mit wem ist sie befreundet?«, wollte Jean wissen. »Die falsche Sarah? Wer hat ihre Posts gesehen?«

»Das hab ich schon nachgeschaut. Einige Leute, die wir nicht kennen. Du weißt ja, wie das auf Facebook ist.« Sarah schüttelte den Kopf. »Was bedeutet, das Ganze richtet sich ausschließlich an mich.«

Jean lächelte, doch sie war lange genug mit Sarah befreundet, dass diese das gezwungene Lächeln sofort erkannte. »Alles wird gut«, sagte sie. »Bald wird das nur noch irgendeine verrückte Sache aus der Vergangenheit sein, über die wir zusammen lachen.«

»Das hoffe ich«, erwiderte Sarah. »Das hoffe ich wirklich.«

KAPITEL 7

Es ist alles Teil des Plans. Sie ist verwirrt. Verständlicherweise. Sie fängt an, Dinge zu hinterfragen. Menschen. Freunde. Ereignisse. Sie fragt sich, was geschehen ist. Sie will wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Freundschaftsanfrage und der Tatsache gibt, dass die am selben Tag eintrifft, als sie das falsche Profil entdeckt. Sie glaubt, dass es einen geben muss. Aber welchen? Und warum? Und wer? Weil sie es nicht deuten kann, wird sie an einen Zufall glauben. Dieser Gedanke ist schön und tröstlich und wird daher allmählich zu ihrer Erklärung werden.

Ein Zufall. Ja, natürlich, es ist ein Zufall. Die Alternative – ein Stalker, der sie beobachtet und sich im Schatten herumdrückt – wäre ein zu furchtbarer Gedanke, also ist es ein Zufall. Punkt.

Doch sie irrt sich. Sie wird schon lange beobachtet.

Beobachtet, bis sie das Facebook-Profil gefunden hat.

Endlich. Denn jetzt, nach all dem Planen und Warten und Beobachten, geht es richtig los. Das dichte Netz wird schon lange gesponnen. Und nun hat sie einen Faden davon in die Hand bekommen und wird daran ziehen. Und wenn sie es tut, wird sich das Netz auf eine Art und Weise auftrennen, die sie sich bisher überhaupt nicht vorstellen kann. Es gibt viele Fäden darin. Und wenn sie glaubt, endlich Fortschritte zu machen, allmählich alles zu verstehen, wird sie die Wahrheit entdecken.

Durch den Versuch des Entwirrens verwickelt sie sich lediglich. Sie steckt fest. Ist gefangen.

Ein Fisch in einem Netz. Und je mehr sie dagegen ankämpft, desto fester wird es sie umschließen.

Bis es keinen Ausweg mehr gibt.

KAPITEL 8

Sarah lag mit offenen Augen im Bett. Gegen elf war sie von Jean zurückgekehrt und hatte Mühe gehabt, einzuschlafen.

Nach kaum mehr als vier Stunden unruhigem Schlaf war sie nun wach. Hellwach. Vom Wein hatte sie Kopfschmerzen, und obwohl Ibuprofen den Schmerz gelindert hatte, konnte es nicht viel dazu beitragen, das andere Problem in ihrem Kopf zu lösen, nämlich die Fragen, die ihr auf der ergebnislosen Suche nach Antworten immer wieder darin herumgingen. Sie wollte wissen, wer hinter dieser Sache steckte, und warum.

Und sie wollte wissen, ob sie in Gefahr schwebte. Denn es fühlte sich auf jeden Fall so an, als wäre das möglich. Wer auch immer das getan hatte, war in der Vorschule ihrer Tochter gewesen. Im Restaurant mit ihr und Ben.

In ihrem Haus.

Sie spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog und holte tief Luft, hielt den Atem an, stieß ihn langsam wieder aus.

Bitte nicht, dachte sie. Bloß nicht. Bitte.

Ihre letzte Panikattacke war bereits einige Jahre her, seit ihre Gedanken zum letzten Mal einfach fortgelaufen waren, ihr Kampf-oder-Flucht-Reflex verrückt gespielt und sie kurzatmig, schwindelig, mit rasendem Herzen und massivem Brechreiz zurückgelassen hatte. Es hatte sich angefühlt wie ein Herzinfarkt, manchmal sogar schlimmer: Als ob sie stürbe.

Manchmal hatte sie sich bei dem Gedanken erwischt, dass sie tot vielleicht besser dran wäre. Die Panik hatte jederzeit ausbrechen können, im Auto, im Supermarkt, bei der Arbeit. Sie hatte in lähmender Angst gelebt und war nicht sicher gewesen, wie lange sie das noch würde aushalten können.

Besorgt war sie immer schon gewesen. Doch was die Panikattacken noch schwerer gemacht hatte, war die Tatsache gewesen, dass sie erst nach Miles’ Geburt so richtig begonnen hatten, daher standen sie für Sarah mit ihm in Verbindung. Das wiederum hatte ihr Schuldgefühle verursacht, die ihrerseits die Panik auslösten.

Ben hatte sich große Sorgen gemacht, und schon allein das hatte ihre Unruhe nur noch verstärkt. Er hatte mit einigen anderen Ärzten über mögliche Behandlungen gesprochen. Letztendlich hatte Sarah einen Kollegen aufgesucht, der ihr einige Bewältigungsstrategien beigebracht hatte: Tiefenatmung, positive Gedanken, Bewegung. Und anfangs Medikamente. Glücklicherweise konnte sie auf die mittlerweile verzichten. Doch im Hintergrund hatte immer die Furcht geschwelt, dass die Anfälle zurückkommen könnten.

Und wie aufs Stichwort waren sie das. Mit zitternden Händen und einem außer Kontrolle geratenen Herzschlag setzte Sarah sich auf, den Kopf an die kühle Wand gelegt. Neben ihr schnarchte Ben leise.

Es war sinnlos, wieder einschlafen zu wollen. Sie schwang die Beine über die Bettkante und ging nach unten.

Sie schaute gerade die lokalen Nachrichten, als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete.

Es war Ben, mit zerzausten Haaren und in Boxershorts. »Du bist aber früh auf«, stellte er fest.

»Du auch«, erwiderte sie. »Leg dich wieder hin.«

»Ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass du hier unten sitzt.« Er ließ sich neben sie auf die Couch fallen und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse, ehe er ihre Schultern zu massieren begann. »Alles okay bei dir?«

»Ja, schon. Aber diese Facebooksache macht mich wahnsinnig. Ich muss dauernd daran denken und stand kurz vor einer … Panikattacke. Du weißt schon, so wie früher.«

»Hmm. Das ist nicht gut.« Der Druck seiner Finger verstärkte sich. Es fühlte sich herrlich an, daher lehnte sie sich an ihn. Ben ließ die linke Hand über die Schulter hinweg zu ihrer Brust gleiten.

»Hey«, protestierte sie. »Ich dachte, das wird eine Rückenmassage?«

»Das hab ich nie behauptet. Und ich glaube, du brauchst etwas, um dich von diesem Facebookblödsinn abzulenken.«

»Eine Rückenmassage könnte das«, sagte Sarah. Dann lehnte sie sich zurück und küsste ihn. »Aber etwas anderes wäre vielleicht auch gut.«

Der Sex brachte sie auf andere Gedanken, aber während sie mit Miles, Faye und Kim am Frühstückstisch saß – Ben war schon zur Arbeit gegangen –, kamen die Fragen zurück: Wer steckte dahinter? Warum? Und mit den Fragen kam die Angst. Diese alles durchdringende Furcht vor einem bevorstehenden schlimmen Ende war schrecklich und beanspruchte den Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Alles andere erledigte sie beinahe mechanisch nebenbei. Sie fühlte sich innerlich distanziert von ihren Kindern, ihrem Zuhause, einfach allem.

Die Arbeit half ein wenig. Wenn sie bei Patienten war, konzentrierte sich Sarah auf sie – aber bei jedem Blick auf ihr Handy durchzuckte sie Sorge und Angst, dass da eine weitere Nachricht, eine weitere Freundschaftsanfrage oder eine andere unerwünschte Form der Kontaktaufnahme von der anderen Sarah Havenant wäre. Doch es kam nichts.

Um Viertel vor zwölf war der letzte Patient vor der Mittagspause dran. Sarah blickte in den Terminkalender: Derek Davies. Er war bereits zum vierten Mal innerhalb von wenigen Monaten bei ihr, jedes Mal mit anderen Beschwerden, und jedes Mal hatte sie nichts Beunruhigendes feststellen können. Beim letzten Mal vor knapp vier Wochen hatte er über Rückenschmerzen geklagt.

Sie betrat den Untersuchungsraum. »Mr. Davies«, begrüßte sie ihn. »Wie geht es Ihnen? Haben Sie wieder Rückenschmerzen?«

Er schüttelte den Kopf. Er war Mitte fünfzig und auf dem besten Weg zur Fettleibigkeit. Sein zerknittertes Hemd hatte Fettflecken am Kragen. »Es ist mein Bein«, erklärte er. »Ich habe im ganzen Bein Schmerzen.« Er drückte sich seitlich auf die linke Gesäßhälfte. »Von hier strahlt es aus.«

Sarah nickte. »Wie lange haben Sie diese Beschwerden schon?«

»Seit zwei Wochen. Es tut richtig weh. Ich hatte wegen eines Termins angerufen, aber es war nichts mehr frei.«

»Wirklich? Normalerweise können wir Schmerzpatienten früher reinquetschen.«

»Ich wollte zu Ihnen. Und bei Ihnen war nichts mehr frei.« Mit seinen leicht gelb verfärbten Zähnen lächelte er sie an. »Wie es aussieht, sind Sie sehr beliebt.«

»Das höre ich natürlich gern«, sagte Sarah. »Aber alle Ärzte hier sind genauso qualifiziert wie ich. Wenn es eilt, sollten Sie zu einem meiner Kollegen gehen.«

»Ich möchte aber zu Ihnen. Ich mag keine Veränderungen.«

»Also«, brachte Sarah das Gespräch wieder auf seine Beschwerden. »Der Schmerz. Ist der zu bestimmten Tageszeiten stärker? Oder bei manchen Aktivitäten?«

»Wenn ich Auto fahre«, bestätigte er. »Oder längere Zeit sitze.«

»Sitzen Sie denn über einen längeren Zeitraum?«

»Manchmal.«

»Arbeiten Sie, Mr. Davies?«

»Derek«, sagte er. »Nennen Sie mich Derek. Früher habe ich als Finanzangestellter gearbeitet, aber Weihnachten habe ich meine Stelle verloren.« Er schüttelte den Kopf. »Können Sie sich das vorstellen? Die haben mich zu Weihnachten entlassen. Bisher habe ich keine neue Stelle finden können. Niemand will heutzutage jemanden in meinem Alter. Die wollen alle nur Kinder einstellen.«

Das erklärte seine zahlreichen Arztbesuche, dachte sie. Er hatte viel zu viel Zeit und brauchte eine Beschäftigung. Sie warf einen Blick auf seine Hand – kein Ehering. Möglicherweise fehlte ihm auch einfach Gesellschaft.

»Nun, das klingt nach Ischiasschmerzen. Der Nervus ischiadicus verläuft an Ihrem Bein entlang und kann gereizt sein, wenn die Muskeln in Hüfte und Bein ein wenig steif werden. Ich verschreibe Ihnen Physiotherapie. Die Therapeutin wird einige Dehnübungen mit Ihnen machen, das sollte helfen. Bewegen Sie sich viel, Mr. D… Derek?«

Er schüttelte den Kopf.

»Haben Sie irgendwelche Hobbys?«

»Ich sitze hauptsächlich am Computer. Einige Spiele sind echt gut. Kennen Sie Minecraft?«

»Davon hab ich gehört«, behauptete Sarah, obwohl das nicht stimmte. »Aber ich kenne es nicht wirklich.«

»Man baut Welten«, erklärte Mr. Davies. »Die man dann kontrolliert.«

»Das klingt faszinierend. Spielen Sie das häufig?«

»Es ist nicht wirklich ein Spiel. Es geht hauptsächlich um die Welt, die man erschafft und in der man die Strippen zieht. Wie ein Puppenspieler.«

Sarah sah bildlich vor sich, wie er im Dunkeln vor seinem Computer saß, das Gesicht nur durch den Schein des Monitors erleuchtet, seine imaginäre Welt erschuf und kontrollierte.

»Nun ja, vielleicht sollten Sie weniger sitzen. Sie könnten ja jeden Tag eine halbe Stunde spazieren gehen. Vielleicht sogar zwei Mal täglich.«

Er runzelte die Stirn. »Das ist alles?«, fragte er. »Sie wollen sich das nicht mal ansehen?«

»Ich weiß nicht genau, was ich da sehen würde«, erwiderte sie lächelnd. »Die Rezeptionistin gibt Ihnen einen Physiotherapietermin.«

* * *

Während der Mittagspause fuhr sie zum Zooladen. Der Mann hinter der Verkaufstheke führte sie zu einem großen Aquarium mit Hunderten von Goldfischen.

»Fünfzig Cent pro Stück«, erklärte er. »Sie brauchen ein Aquarium und Futter, außerdem eine Flasche von dem Antichlor-Zeug. Im Leitungswasser befindet sich Chlor, das muss neutralisiert werden, damit es die Fische nicht umbringt. Wir können das Zeug trinken, aber die Fische nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Das soll einer verstehen.«

Insgesamt bezahlte sie knapp zwanzig Dollar. Ein Fünfzig-Cent-Fisch mit einem neunzehn Dollar teuren Aquarium. Als sie diesen Gedanken laut äußerte, lachte der Mann.

»Ja«, bestätigte er. »Aber wenn der Fisch stirbt, kostet es nur einen halben Dollar, ihn zu ersetzen.«

»Und die sehen alle gleich aus«, bemerkte Sarah. »Die Kinder werden also nicht mal merken, dass es ein neuer ist.«

Der Mann lächelte wissend. »Das glauben Sie vielleicht. Aber die Kinder merken das immer. Meiner Erfahrung nach achten Kinder viel mehr auf Details als wir. Sie können die Fische ziemlich gut voneinander unterscheiden. Sollte der Fisch sterben, ist es am besten, Sie sagen ihnen die Wahrheit und lassen sie einen neuen aussuchen.«

»Nun ja«, erwiderte Sarah. »So oder so kostet der neue Fisch nur fünfzig Cent.«

»Das haben Sie recht, Ma’am«, antwortete der Mann. »Viel Spaß mit Ihrem Fisch.«

Beim Verlassen des Ladens erklärte er ihr noch, sie solle das Aquarium mit Wasser füllen und den Fisch dann in der Plastiktüte voller Wasser, in die er ihn gesteckt hatte, ins Aquarium legen, damit sich die Wassertemperaturen des Wassers angleichen konnten. Einige Stunden später könne sie dann den Fisch in sein neues Zuhause setzen.

Weil sie das nicht an ihrem Arbeitsplatz machen wollte, hielt sie kurz zu Hause an und befolgte seine Anweisungen. Auf dem Weg nach draußen winkte sie dem Fisch zu. Er gehörte praktisch schon zur Familie. Die Kinder würden ihn lieben.

Bevor sie am Abend die Praxis verließ, erhielt sie eine Benachrichtigung auf ihrem Handy, dass sie auf Facebook markiert worden war. Sie tippte auf den Link.

Es handelte sich um einen Post von Sarah Havenant. Diesmal gab es kein Foto, nur ihren Namen als Teil des neuen Beitrags. Darin stand: Hab mir einen Goldfisch gekauft! Ist er nicht hübsch?

Sarah blieb vor dem Eingang der Gemeinschaftspraxis stehen. Ihr war schwindlig, und sie stand kurz vor einer Ohnmacht. Rasch setzte sie sich auf eine der Bänke neben der Tür. Bevor das Rauchen auf dem gesamten Grundstück verboten worden war, hatten hier die Raucher gesessen, und man roch immer noch den schwachen, bitteren Duft der Zigaretten.

June, eine der Arzthelferinnen, tippte ihr auf die Schulter. »Geht es Ihnen gut, Dr. Havenant?«

Sarah nickte. »Ja. Danke.«

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