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Zwischen hier und für immer

Was würdest du ändern, wenn du die Vergangenheit noch einmal erleben könntest?

Weihnachten 2020: Ben steckt in einer Lebenskrise: Seine Karriere als Autor kommt einfach nicht ins Rollen, seine Frau Daphne muss am Weihnachtsabend in ihrer Literaturagentur arbeiten - irgendwie hatte er sich sein Leben mal anders vorgestellt. Leicht angetrunken lässt er sich auf einen Flirt mit einer alten Bekannten ein, die er vor 15 Jahren zeitgleich mit Daphne kennengelernt hat. Wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er statt seiner Frau damals Anna geküsst hätte? Als ihm auf dem Dachboden eine alte Schneekugel in die Hände fällt, kommt er der Antwort auf diese Frage unerwartet nah: Kurze Reisen führen ihn nun in seine Vergangenheit, in sein Leben mit Daphne - und in eine mögliche Zukunft …


  • Erscheinungstag: 23.11.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675925
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Universität York, 5. Dezember 2005

Loszurennen war eine schlechte Idee.

Das wird mir jetzt klar. Es gab keinen Grund dazu. Wir spielen Verstecken und machen keinen olympischen Hundertmeterlauf. Außerdem haben sie noch nicht mal angefangen, nach mir zu suchen. Ich kann sie immer noch hören, draußen vor dem Irrgarten, wo sie unisono bis fünfzig zählen. Es klingt wie aus einer besonders lärmigen Episode der Sesamstraße.

Ich hätte mir in aller Ruhe ein perfektes Versteck suchen können, aber nein, die Logik des Betrunkenen sagte mir, dass fünfzig Sekunden eine extrem kurze Zeitspanne seien und dass es am besten wäre, keine Zeit zu verlieren und augenblicklich loszurennen. Während ich nun in der Dunkelheit meine Schritte verlangsame und beinahe stolpere, spüre ich, wie in meinem Magen die sechs Snakebites, die vier Sambuca und der Döner, den ich mir mit Harv geteilt habe, unheilvoll rumoren.

Ich bleibe stehen, um Atem zu schöpfen. Lege eine Hand an die Wand, um mich abzustützen, und erinnere mich zu spät daran, dass die Wand eigentlich keine Wand ist, sondern eine Hecke. Slapstickartig wie ein junger Buster Keaton stürze ich in sie hinein und schaffe es auf wundersame Weise, mir von den Dornenzweigen nicht die Augen auskratzen oder mich kastrieren zu lassen. Ich versuche mich aufzurappeln, aber scheitere kläglich und beschließe, dass die Hecke eigentlich ein cooles Versteck ist.

Die Zweige, die mich umgeben, kommen zur Ruhe. Das Zählen hat aufgehört, und ich spüre förmlich, wie der Boden unter mir zu vibrieren beginnt, als ein Dutzend betrunkener Leiber losstürmt und ruft: »Wir kommen! Wir finden dich!«

Ich hocke reglos da, versuche meinen trockenen Mund zu befeuchten, lausche meinem Herzklopfen. Ich wische mir über die Stirn, und als ich die Hand runternehme, ist sie mit Grundierung und Kunstblut beschmiert – Überbleibsel unserer Aufführung vorhin.

Sie lief so gut, wie man es von Studenten im ersten Jahr erwarten kann, was bedeutet, dass wir wahrscheinlich für keinen Olivier-Award nominiert werden. Aber niemand hat seinen Text verpatzt oder nervös ins Publikum gekotzt. In der Bar ging es dann anschließend hoch her. Alle redeten wir durcheinander, erzählten uns aufgeregt, was wir als Nächstes schreiben oder inszenieren oder schauspielern wollten. Vielleicht lag es am Adrenalin – oder am Sambuca –, aber plötzlich schien die Welt spannend und lebendig zu sein, voller Möglichkeiten, als könnte ich tatsächlich erkennen, wie meine ungeschriebene Zukunft sich vor mir auftut und mich heranwinkt. Wahnsinn, die Vorstellung, frei entscheiden zu können, was ich mit meinem Leben anfangen möchte.

Aber es ist schon komisch. So ulkig und brillant der Abend auch war, eigentlich dachte ich, es würde der große Abend für Alice und mich werden. Der Abend, oder besser die Nacht, in der wir endlich zueinander finden würden, nachdem wir ein ganzes Semester lang nur herumgeeiert haben. Es ist meine Schuld, wirklich: Ich war noch nie besonders gut darin, »den ersten Schritt zu tun« (in der Tat lässt mich schon die Formulierung »den ersten Schritt tun« so heftig zusammenzucken, dass sich mir die Netzhaut löst). Sobald ich auch nur den leisesten Verdacht hege, dass ein Mädchen an mir interessiert sein könnte, verfalle ich augenblicklich in die Angewohnheit, alle möglichen Gründe aufzulisten, warum sie eigentlich nicht an mir interessiert sein kann.

Aber mit Alice wird die Erstellung einer solchen Liste zunehmend schwieriger. In den letzten zehn Wochen – zehn Wochen voller Insiderwitze und nächtlicher Gespräche und gemeinsamer Mikrowellenmahlzeiten – wurde ziemlich offenkundig, dass sie mich tatsächlich mag. Und ich mag sie auch, glaube ich. Sie ist lustig und hübsch, und wir verstehen uns wirklich gut, und ich dachte wohl, dass es heute Abend – am Abend der Aufführung, am letzten Abend vor den Weihnachtsferien – genug Alkohol, Drama und Emotionen geben würde, um uns den nötigen Schub zu versetzen.

Aber dann tauchte diese Daphne hinter der Bühne auf und brachte mich aus dem Konzept.

Aus irgendeinem Grund gefällt mir die Formulierung »wir lagen auf einer Wellenlänge« nicht besonders, aber mir fällt nichts Besseres ein. Wie soll man es anders ausdrücken, wenn man sich eine Stunde lang völlig zwanglos mit einer Fremden unterhält und aus dem Lachen gar nicht mehr rauskommt? Und was ist mit dem Kribbeln, das ich jedes Mal, wenn ich Daphne zum Lachen brachte, im Bauch spürte?

Also läuft heute Nacht vielleicht doch nichts mit Alice und mir. Mal sehen.

Irgendwie aber kommt es mir so vor, als würde zumindest irgendetwas laufen.

Irgendwo in der Nähe vernehme ich aufgeregtes Geflüster – zwei Leute, die in der Dunkelheit gegeneinander prallen und auf der Suche nach mir eine kurzzeitige Allianz schmieden. Und dann ertönt das seltsame robbenartige Lachen, das einen der beiden Häscher als Harv entlarvt.

Ich krieche tiefer in die Hecke hinein, aber irgendwie weiß ich, dass er mich nicht finden wird. Es mag Intuition sein, eine Art sechster Sinn oder einfach nur meine Trunkenheit und Erregung, aber ich weiß, dass mich entweder Daphne oder Alice finden wird und niemand sonst.

Als wir nach Mareks Ausruf »Es wird Zeit für das Versteckspiel!« aus der Bar strömten, schaute ich mich um und sah, wie die beiden mich angrinsten. »Ich finde, Ben sollte anfangen«, sagte Alice, und Daphne nickte beipflichtend. »Genau. Ben ist der geeignetste Kandidat.« Ich nahm mir vor, ihre Bemerkung einer näheren Betrachtung zu unterziehen, sobald ich wieder nüchtern war, und stürmte augenblicklich in den Irrgarten hinein.

Der bloße Gedanke, mit einem der beiden Mädchen in dieser Hecke zu hocken, erscheint mir im Moment extrem verlockend.

Während ich mit pochendem Herzen am Boden kauere, kann ich mich allerdings nicht entscheiden, von welcher der beiden ich mich lieber entdecken lassen würde.

1. KAPITEL

London, 24. Dezember 2020

»Also, kommst du nun mit oder nicht?«

»Natürlich kann ich mitkommen. Wenn du es wirklich möchtest …«

Daphne atmet schwer aus, verweigert aber jeden Blickkontakt. »Willst du mitkommen?«, fragt sie ihr Ebenbild im Wandspiegel.

Ich bücke mich gelangweilt vor dem ungeschmückten Weihnachtsbaum und hebe ein paar abgefallene Nadeln auf. »Wenn du meinst, dass ich mitkommen soll, dann vielleicht. Eventuell.«

Mit beeindruckender Vehemenz rammt sie die Bürste in ihr Mascarafläschchen zurück. »Ben, im Ernst. Allmählich komme ich mir wie ein Quizmaster vor. Kannst du nicht einfach Ja oder Nein sagen?«

»Nun, ich bin mir eben nicht sicher. Letztes Jahr bin ich mitgekommen.«

»Ja, und was für ein Riesenerfolg das war«, sagt sie in Richtung Zimmerdecke, und es folgt eine Pause, während der wir uns beide die letztjährige Weihnachtsfeier bei ihrem Chef ins Gedächtnis rufen.

»Hör zu …«, sagt sie und kneift sich in die Nasenwurzel, »es ist eine kleine Feier, es gibt ein paar Drinks. Ich habe selbst keine große Lust hinzugehen, warum sollte ich dich also drängen, mitzukommen?«

»Wie gesagt, wenn du möchtest, begleite ich dich gern.« Sie ignoriert meine Worte völlig, weshalb ich anfüge: »Aber darauf scheinst du ja keine Lust zu haben, verdammt noch mal.«

Schließlich wendet sie sich um und funkelt mich an. »Ich möchte, dass du mitkommst, falls du dich tatsächlich mit den Leuten unterhältst und versuchst, einen netten Abend zu verleben. Falls du nur wie ein mürrisches Arschloch in der Ecke rumstehst, möchte ich dich nicht dabeihaben. Okay …?«

Sie schnappt sich ihre Handtasche und geht in den Flur.

Daff ist der Meinung, dass es einer Beziehung guttut, wenn man sich hin und wieder streitet. Dass es gesund ist. Oder zumindest war sie dieser Meinung, als unsere Streite noch keine richtigen Streite waren, sondern dumme kleine Scharmützel wegen nichts. Manchmal wurde ich stinkig, weil sie so lange brauchte, um sich fertig zu machen, oder sie wurde sauer, weil ich gefurzt oder die Bettdecke nicht perfekt gefaltet hatte. Und dann, nach ein bisschen Gezeter, verstummten wir, umarmten uns und kicherten darüber, dass wir uns wie ein altes Ehepaar gezankt hatten.

Aber irgendwann in den letzten Jahren veränderte sich etwas. Aus den arglosen Zankereien wurden schreckliche Grabenkämpfe, bei denen keiner bereit ist nachzugeben und bei denen wir mittlerweile auch passiv-aggressive Handgranaten ins Niemandsland abfeuern.

Wie sind wir an diesen Punkt gelangt?, frage ich mich. Vom ruhigen Besprechen unserer abendlichen Pläne zum lodernden Zorn in – wie war das noch? – anderthalb Sekunden? Es muss eine Art Weltrekord in spontanen Wutausbrüchen zwischen Eheleuten sein. Denn bei uns kann inzwischen wirklich alles zum Streit führen. Jede kleine Geste, jedes Nicken oder Murmeln scheint potenziell explosiv zu sein, hinter allem scheint eine verborgene Bedeutung zu stecken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an mir liegt – genau genommen weiß ich es sogar. Es hängt alles damit zusammen, was in den letzten Jahren geschehen ist, und mein allgemeines Selbstwertgefühl geht zunehmend den Bach runter. Ich sehe die Probleme ganz klar, ich weiß nur nicht, wie ich sie lösen soll. Vielleicht kann man sie gar nicht mehr lösen.

Ich folge Daff in den Flur, wo sie ihre langen, lockigen schwarzen Haare auftürmt und eine Haarklammer hineinschiebt. »Tut mir leid«, sage ich. »Ich fühle mich bei diesen Anlässen einfach immer so überflüssig. Wenn ich etwas sage, habe ich das Gefühl, dass die Leute mich gar nicht beachten.«

»Ben, das stimmt nicht«, schnappt sie. »Und falls es doch stimmt« – was bedeutet, dass es tatsächlich so ist –, »dann weil du dir einfach keine Mühe gibst.«

»Ich gebe mir sehr wohl Mühe«, widerspreche ich, doch wir beide wissen, dass es Unsinn ist. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, mir Mühe zu geben. Nicht nur beim Small Talk, sondern bei allem.

Seufzend nimmt sie ihren Mantel von der Garderobe. »Nun mach dir mal keine Gedanken«, sagt sie. »Du weißt doch, wie diese Abende ablaufen. Es gibt nur langweiliges Gerede über die Arbeit. Wenn ich jetzt losgehe, kann ich um zehn zurück sein.«

»Okay, gut«, sage ich, und ihr erleichterter Gesichtsausdruck bestätigt mir etwas, das ich schon seit Längerem vermute: dass ich bei diesen Anlässen zu einer Last für sie geworden bin. Oder schlimmer noch: einer Peinlichkeit.

Daff ist Literaturagentin. Sie arbeitet für eine große wichtige Firma, und ihre Kunden sind allesamt berühmte einflussreiche Schriftsteller und Drehbuchautoren. Bei einer ihrer Firmenfeiern mitzumachen ist, als würde man in einen brodelnden Kessel des Erfolgs eintauchen – man ist nie weiter als einen Schritt von einem BAFTA-Gewinner oder einem Booker-Preisrichter entfernt. Deshalb kann ich es ihr wohl nicht verübeln, dass sie sich fremdschämt, wenn ich diesen Leuten erzähle, dass ich mein Geld mit lumpigen kleinen Pressemeldungen verdiene. Ich fühle mich ja auch nicht toll dabei. Genau genommen frage ich mich in letzter Zeit immer öfter, warum Daphne eigentlich noch mit mir zusammen ist. Und ich weiß auch, dass die Leute sich bei der Feier nachher dieselbe Frage stellen werden.

»Wird Du-weißt-schon-wer auch dort sein?«, frage ich, während sie den Mantel anzieht. »Der große Mann?«

Ich hoffe, ihr damit ein Lachen entlocken zu können, nur um zu beweisen, dass ich wenigstens das noch hinbekomme. Schon ein sarkastisches leises Kichern würde mir genügen. Doch sie verdreht nur die Augen.

»Ja, Rich wird auch da sein. Willst du seinetwegen nicht mitkommen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur …«

»Du weißt doch, dass du nicht mit ihm reden musst. Es sind genügend andere Leute dort.«

»Ich weiß. Er ignoriert mich ja sowieso …«

»Warum versuchst du es nicht mal mit ein bisschen Freundlichkeit, statt dich immer wie ein bockiger kleiner Junge aufzuführen?«

Da haben wir es wieder. Es ist so, wie ich es gesagt habe: Ganz gleich, worum es geht, bei uns führt alles zum Streit.

Was eigentlich bescheuert ist, denn Rich war immer Gegenstand unserer verlässlichsten Insiderwitze. Ein verlässlicher Klassiker, auf den wir immer zurückgreifen konnten.

Er fing etwa zur gleichen Zeit wie Daphne bei der Agentur an, und da er aussieht, als sei er eigens für die Verunsicherung nervöser Ehemänner im Labor entworfen worden, wurde der Gedanke, dass sie sich mit ihm einlassen könnte, schnell zum Running Gag zwischen uns. Wenn ich mal ein Toast anbrennen ließ oder so, pflegte sie dramatisch zu seufzen und zu sagen: »Ich wette, Rich ist ein fantastischer Koch …« Oder wenn ich mal abends allein ausging und Daphne zu Hause blieb, verabschiedete ich mich von ihr mit den Worten: »Wenn Rich gleich kommt, grüß ihn von mir«, worauf sie ein Oh-Mist-ich-wurde-erwischt-Gesicht aufsetzte und ich lachend losging.

Aber wie alle Witze, über die wir früher gemeinsam lachen konnten, scheint auch dieser schal geworden zu sein. Ich habe keine Ahnung, ob es daran liegt, dass Daphne tatsächlich anfängt, sich für Rich zu interessieren, oder ob ich es nur vermute. Jedenfalls ist er ein Womanizer ersten Ranges (Daphne hat mir mal gesagt: »Wenn Tinder ein Computerspiel wäre, hätte Rich es zu Ende gespielt«, was ich sowohl lustig als auch leicht einschüchternd fand), aber ich glaube eigentlich nicht, dass da wirklich etwas zwischen ihnen läuft. Der Gedanke, dass es doch der Fall sein könnte, trifft mich gelegentlich wie ein Schlag in die Magengrube. Wahrscheinlich kann ich mir einfach nicht erklären, warum Daphne nicht an ihm interessiert sein sollte. Oder vielleicht hat sie ja Interesse an ihm, aber sie ist einfach nicht die Art von Mensch, die dann die entsprechenden Schritte unternimmt.

Plötzlich fallen mir all die Nachrichten von Alice ein, die ich in meinem Handy gebunkert habe. Offenbar bin ich diese Art von Mensch.

Bei genauer Betrachtung ist das wohl der Grund, warum Daphne noch bei mir ist: wegen der Dinge, die sie nicht weiß. Sie weiß nicht über Alice Bescheid, weiß nicht über Paris Bescheid. Das mit Mum weiß sie offenkundig, aber nicht, was ich davor zu meiner Mutter gesagt habe. Dinge, die mich nachts immer noch aus dem Schaf reißen.

Nach fünfzehn gemeinsamen Jahren, vier davon als Ehepaar, kennt Daphne mich immer noch nicht richtig. Täte sie es, wäre sie sicher nicht mehr bei mir.

Sie öffnet die Haustür und schickt sich an, in die kalte frühabendliche Dunkelheit hinauszutreten. »Ich muss los«, sagt sie, aber bleibt stehen und schaut stirnrunzelnd auf die Fußmatte. »Wir können nachher reden. Es ist auf der Arbeit momentan ziemlich anstrengend und dann komme ich nach Hause und hier ist es … sogar noch anstrengender.« Sie verstummt und schaut mich aus ihren großen haselnussbraunen Augen an. Sie sieht müde aus. Müde und zutiefst unglücklich. Und ich erstarre innerlich, weil ich mir plötzlich sicher bin, dass sie gleich etwas Großes und Schlimmes und Endgültiges sagen wird.

Aber dann schaut sie an mir vorbei ins Wohnzimmer auf den Weihnachtsbaum und schüttelt den Kopf, als wäre ihr eingefallen, dass dieser Zeitpunkt im Jahr für gewöhnlich nicht der Augenblick ist für große schlimme endgültige Erklärungen.

»Wie auch immer, wir können später miteinander reden«, wiederholt sie. »Und mach dir keine Gedanken wegen heute Abend – ich lass mit etwas einfallen. Vielleicht erzähle ich den Leuten, dass du noch den Baum schmücken musst.« Sie blickt erneut auf das kahle Ding. »Es wäre ja nicht mal gelogen, nicht wahr?«

»Ich fange damit an, sobald du weg bist, versprochen. Und die Geschenke packe ich auch ein.«

Sie nickt. Dann geht sie nach draußen, schließt die Tür und ist weg. Und obwohl eigentlich nichts Schlimmes gesagt wurde, spüre ich noch die Gewitterwolken, die sich in meinem Kopf zusammengebraut haben. Wir können später reden. Zweimal hat sie das gesagt. Aber reden worüber?

In meinem Hirn leuchtet Wort Scheidung auf und lässt mich zusammenzucken. Ist es das, was sie will? Könnte es sogar sein, dass ich es insgeheim auch will? Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen, aber ich weiß nicht, ob es wegen der Vorstellung ist, Daphne zu verlieren, oder wegen der Scham darüber, mit vierunddreißig ein geschiedener Mann zu sein.

Ein weiterer Misserfolg, den ich meiner ohnehin schon langen Liste an Misserfolgen hinzufügen könnte.

Aber im Moment kann ich nicht darüber nachdenken. Daphnes Eltern, ihre Schwester, ihr Schwager und deren Kinder kommen morgen Mittag zu Besuch, und bis dahin gibt es noch jede Menge zu tun. Ich sollte mich schleunigst auf den Dachboden begeben, um die Weihnachtsdeko zu holen, dann den Baum schmücken und die Geschenke einpacken.

Das sollte ich tun.

Stattdessen beschließe ich, rauszugehen und mich zu betrinken.

2. KAPITEL

Der Abend vor Weihnachten ist so ziemlich die einzige Zeit des Jahres, in der Harv garantiert kurzfristig für ein paar Biere zur Verfügung steht. Heute Abend finden in der Regel keine wilden Clubpartys oder Sexorgien statt, und vermutlich geht es auch auf den Dating-Apps ziemlich ruhig zu.

Wir treffen uns im The Raven, einem urigen kleinen Pub in Crouch Hill, der auf halbem Weg zwischen meinem Haus in Harlesden und Harvs Apartment in Stoke Newington liegt. Als ich ankomme, ist es schon rappelvoll – vor allem sind beschwipste Büroangestellte da, die mit Lametta vom Weihnachtsessen behängt sind. Ich quetsche mich an einem alten vollbärtigen Kerl vorbei, der versucht, zwei betrunkenen Geschäftsleuten eine billige Rolex-Kopie anzudrehen.

Harv steht am Tresen. Er trägt einen so großen Parka, dass es fast wirkt, als hätte er sich einen Schlafsack übergestülpt. Er wedelt mit einer Zehnpfundnote, winkt mich heran.

»Alles klar? Was willst du trinken?«

»Erst mal ein Bier. Das gleiche wie du.«

Er zieht die Strin kraus. »Ich trinke kein Bier, Kumpel. Wusstest du, dass ein großes Bier zweihundert Kalorien hat? Da kann man sich gleich einen Zinger Burger reinstopfen.« Er klopft sich auf den Bauch; auch unter seinem T-Shirt ist die Waschbrettstruktur zu erkennen. »Ich bin gerade mit einer Fitnesstrainerin zusammen«, sagt er. »Sie kennt diese ganzen Fakten und Zahlen. Gestern hat sie erzählt, ein Guinness zu trinken ist so, als würde man ein Glas Schweinefett trinken.«

»Klingt nach einer echt erotischen Beziehung.«

»Na ja, unsere Gespräche langweilen mich manchmal«, sagt er. »Aber wir haben großartigen Sex.«

Ich schaue noch mal auf Harvs total flachen Bauch. Ich verstehe immer noch nicht, wie es möglich ist, dass fast jeder junge Typ heutzutage ein Sixpack hat. Es scheint so ziemlich über Nacht gekommen zu sein, vor etwa acht Jahren, und ich war anscheinend der einzige Mann auf dem Planeten, der nicht vorgewarnt wurde. Als ich Harv an der Uni kennenlernte, hatte er Übergewicht und ernährte sich hauptsächlich mit Carling Black Label und Chicken Nuggets. Heute aber sieht er aus wie Ryan Goslings Stuntdouble.

Für Jungs in den Zwanzigern, die mit Instagram und Love Island aufgewachsen sind, ist das in Ordnung; sie kennen es nicht anders. Aber diese Mittdreißiger, die plötzlich zu Eiweißschluckern mutieren – sie sind alt genug, um sich an die friedvolle Zeit vor David Beckham zu erinnern, als die jungen Männer alle eine Hühnerbrust und Streichholzärmchen hatten. Ich finde, diese Typen haben am Rest von uns Verrat begangen.

Ich bestelle ein Guinness, um Harv zu ärgern.

Wir setzen uns an einen Fenstertisch, er mit seinem Wodka Tonic, ich mit meinem Glas voll schwarzem Schweinefett. Eine weitere Gruppe von Büroangestellten, die von ihrer Weihnachtsfeier kommen, betritt lautstark den Pub, alle mit roten Zipfelmützen auf dem Kopf.

»Fährst du morgen zu deinen Eltern?«, frage ich Harv.

Er nickt. »Meine Schwester nimmt mich in aller Frühe nach Suffolk mit. Gehst du auch zu deinen …« Er zuckt zusammen und schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, Mann. Hab nicht nachgedacht.«

»Schon gut, keine Sorge.«

Es ist jetzt zwei Jahre her, und manchmal vergesse ich es sogar noch. Ich lese in irgendeinem Buch oder sehe etwas im Fernsehen und denke: Oh, das würde Mum gefallen. Und im nächsten Moment fällt es mir ein, und ich bin am Boden zerstört.

Ich frage mich, ob das je aufhört. Wahrscheinlich nicht.

»Kommt Daffs Familie zu euch?«, fragt Harv.

»Japp. Ich müsste jetzt eigentlich den Baum schmücken und die Geschenke einpacken, aber …« Ich hebe mein Glas zum Mund und trinke einen Schluck.

»Wo ist Daff?«

»Bei der Weinachtsfeier in ihrer Firma. Eigentlich dachte ich, sie wollte, dass ich mitkomme, aber dem war wohl nicht so. Normalerweise will sie ja immer, dass ich neue Leute kennenlerne.«

»Aber du hasst doch neue Leute.«

»Eben.«

Wir lachen. Es fühlt sich tröstlich an, wieder in unseren alten Groove zu verfallen: ich als der Mürrische, Zurückhaltende, Harv als der schwungvolle Extrovertierte. Diese Dynamik zwischen uns existiert seit unserer ersten Begegnung an der Uni. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass dieses Verhaltensmuster für uns zu einer Art Krücke geworden ist, ein Schauspiel, das wir voreinander aufführen, weil wir uns sonst nichts zu sagen haben. Zuweilen frage ich mich, ob wir ohne unsere gemeinsamen Erinnerungen und Witze überhaupt irgendetwas hätten, das uns miteinander verbindet. Im Moment aber ist es schön, wieder in meine angestammte Rolle zu schlüpfen wie in einen eingetragenen Schuh.

Harv fängt an, von seiner Arbeit zu erzählen – er macht irgendetwas mit sozialen Medien, obwohl ich nie genau verstand, was –, und plötzlich will ich ihm alles erzählen. Ich möchte ihm mein Herz ausschütten über Daphne und Mum und die Nachrichten von Alice und dass ich mich allmählich fühle, als wäre mein ganzes Leben auf dem Bildschirm eingefroren und ich wüsste nicht, mit welcher Tastenkombination ich es wieder zum Laufen bringen kann. Aber ich weiß nicht, wie ich mit dem Thema anfangen soll. Ich kenne Harv seit fünfzehn Jahren – er war mein Trauzeuge –, aber über solche Dinge haben wir nie gesprochen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich Daff mit ihren Freundinnen reden höre. Innerhalb von Sekunden kann bei ihnen aus oberflächlichem Small Talk ein tiefgründiges Gespräch werden. Als ich letztes Jahr mit Harv und ein paar anderen Kumpels in den Kurzurlaub fuhr, verbrachten wir die vier Tage damit, uns gegenseitig unser Wissen über Fußball, Filme und Hip-Hop aus den Neunzigern abzufragen. Andere Gesprächsthemen hatten wir nicht. Ich beschwere mich nicht darüber; es war toll. Ich nehme an, Frauen betrachten ihre Freundinnen als tiefgründige komplexe menschliche Wesen, während wir Männer uns nur als wandelnde Quiz-Maschinen sehen.

Trotzdem: Nachdem ich ein halbes Guinness intus habe, beschließe ich, einen Versuch zu wagen; Harv schaut gerade auf sein Handy.

»Also, ehrlich gesagt fühle ich mich im Moment nicht besonders gut, Harv«, beginne ich.

Er sieht mich an. Aus irgendeinem Grund – vermutlich um die emotionale Offenheit etwas abzupuffern – habe ich meine Äußerung mit einem komödiantischen Scouse-Akzent vorgetragen. Ich bin nie auch nur in der Nähe von Liverpool gewesen.

»Ah, lass dich nicht unterkriegen«, sagt Harv und ahmt den regionalen Slang nach.

»Äh … ist schon passiert, glaub ich«, entgegne ich, immer noch im Tonfall eines Liverpoolers.

»Ach, Kumpel …« Er leert seinen Drink. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

Das Ganze bringt nichts. Wir sind nur zwei Männer, die die langweiligste Unterhaltung der Welt führen, mit einem Akzent, den keiner von uns richtig beherrscht.

Aber plötzlich will ich unbedingt einen Weg finden, um tatsächlich mit ihm zu reden. Weil es einfach zu viel verlangt ist, dieses ganze Zeug unausgesprochen mit mir herumzuschleppen. Es kommt mir vor, als ob irgendwo in mir ein Damm zu brechen droht, und fünfzehn Jahre unterdrückter Emotionen stehen kurz davor, aus mir herauszuplatzen.

Ich versuche mich mental auf das Bevorstehende vorzubereiten, als Harv grinst und mir sein Handy vor die Nase hält.

»Sieh dir das an … Ehrlich, Mourinho ist ein Wichser.«

Ich überfliege den Bericht, in dem Mourinho, zugegebenermaßen, wirklich wie ein Wichser rüberkommt. Grinsend steckt Harv das Handy wieder ein. »Okay, nur mal so: Meinst du, wir können aus dem Kopf alle Fußballweltmeister seit 1930 aufsagen …?«

Ich setze ein Lächeln auf und schlucke all die traurigen Dinge wieder hinunter, von denen ich ihm eigentlich erzählen will, von meiner Verwirrung, den Schuldgefühlen und meiner Reue. »Versuchen wir es einfach«, sage ich.

Er schlägt auf den Tisch. »Cool. Aber erst bestelle ich uns noch eine Runde. Wobei … eigentlich bist du dran.«

Ich gebe ihm einen Zehner und beobachte, wie er sich zwischen den Leuten einen Weg zum Tresen bahnt.

Und dann höre ich hinter mir ein heiseres Kichern: »Pech gehabt, mein Lieber. Sie waren so dicht davor …«

3. KAPITEL

Ich wende mich um und erblicke den alten vollbärtigen Rolex-Verkäufer, der nun in der Nische hinter uns sitzt.

Er trägt einen schlecht sitzenden blauen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat, und eine Krawatte voller kleiner gezeichneter Rentiere. Sein Karton mit den gefälschten Armbanduhren liegt vor ihm auf dem Tisch, daneben steht ein halb volles Bierglas. Er spielt mit seinem Bierdeckel und grinst mich durch seine struppige rostfarbene Gesichtsbehaarung hindurch an.

»Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«, frage ich.

Er nippt an seinem Bier. »Na ja, es kam mir so vor, als wären Sie gerade kurz davor gewesen, Ihrem Freund einige wichtige persönliche Dinge zu offenbaren. Und dann zischt er einfach ab. Pech gehabt.«

»Hm«, mache ich. »Also, eigentlich war es ja ein privates Gespräch …«

Der Uhrenverkäufer zuckt mit den Schultern. »Oh, ich hab Sie nicht belauscht oder so. Ich hab’s einfach mitbekommen, das ist alles.«

Er lächelt mich wieder an, seine blauen Augen funkeln unter seinem wuscheligen kupfergrauen Haar. Irgendetwas an ihm, das ich nicht genau benennen kann, kommt mir bekannt vor. Vielleicht ist es seine Ausstrahlung, die vage an den Schauspieler Bill Nighy erinnert – drahtig und zerknittert und schelmisch. Sein Alter lässt sich jedoch schwer bestimmen, irgendetwas zwischen fünfzig und fünfundsiebzig.

Trotzdem, ich bin in meinem Leben von genug Kneipen-Langweilern in die Enge getrieben worden, um zu wissen, wie dieses Gespräch verlaufen würde, falls ich mich darauf einließe. Nach ein paar weiteren Höflichkeiten würde der Kerl seinen Stuhl an unseren Tisch schieben und uns den Rest des Abends mit langatmigen Anekdoten verderben, während er gelegentlich versucht, uns eine Uhr aufzuschwatzen.

»In Ordnung«, sage ich. »Schönen Abend noch.«

Ich will mich wieder umdrehen, aber der Kerl sagt noch etwas.

»Weihnachten ist eine gute Zeit, um zu reflektieren. Um sich bestimmte Dinge von der Seele zu reden.«

Ich seufze. Ich bin nicht in der Stimmung für ein vertrauliches Gespräch mit einem Fremden – vor allem nicht, nachdem es mir kurz davor nicht mal gelungen ist, ein Gespräch mit meinem besten Kumpel in Gang zu bringen. Aber es macht mir ein schlechtes Gewissen, einen offensichtlich einsamen alten Mann am Abend vor Weihnachten eiskalt abzuwürgen. Also erwidere ich seinen Blick.

»Wie meinen Sie das?«

Der Uhrenverkäufer lächelt nachdenklich und trommelt mit den Fingern auf den Karton vor ihm. »Man fängt an nachzudenken über die falschen Entscheidungen, die man im Leben getroffen hat«, sagt er. »Oder über den falschen Weg, den man eingeschlagen hat.« Er hört auf zu trommeln und schaut mir direkt in die Augen. »Man fängt an, sich zu fragen, wie es anders hätte laufen können. Und ob man – wenn man in der Zeit zurückreisen und bestimmte Dinge ändern könnte – es dann auch tatsächlich tun würde.«

Ich nicke und frage mich, ob der Kerl eine Art Gedankenleser sein könnte. Ich bin mir sicher, ihm noch nie begegnet zu sein, aber für einen kurzen Moment bin ich überzeugt, dass er mich kennt. Dass er irgendwie Zugang zu meinen tiefsten Gedanken und Ängsten und Geheimnissen hat …

Aber dann bin ich wieder zurück in der Realität, und mir fällt ein, dass es keine gedankenlesenden Uhrenverkäufer gibt.

Ich versuche, am Tresen Harvs Blick aufzufangen, damit er sich beeilt und ich einen Vorwand habe, die Unterhaltung mit dem »Gedankenleser« zu beenden. »Ja, wie auch immer. Ich denke, jetzt werde ich –«

»Würden Sie denn etwas ändern?«, unterbricht mich der alte Mann. »Wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten? Gibt es etwas, von dem Sie sich wünschen, es anders gemacht zu haben?«

Er starrt mich nun mit einer seltsamen Intensität an, aus tief liegenden blauen Augen, die beinahe zu zischeln scheinen. Wie aus dem Nichts kommen die ganze Verwirrung, die Schuldgefühle und die Reue, die ich gerade noch hinunterschlucken konnte, wieder in mir hoch. Ich denke an die Dinge, die ich vor ihrem Tod zu Mum gesagt habe – an die Dinge, die ich, wenn es möglich wäre, um alles in der Welt ungesagt machen würde. Ich denke daran, was in Paris geschehen ist. Ich denke an die Nacht im Uni-Irrgarten, als ich mit Daphne zusammenkam. Meine Kehle ist plötzlich staubtrocken, und mein Gesicht fühlt sich kochend heiß an. »Ich denke … vielleicht gibt es ein paar Dinge, die ich anders machen würde«, höre ich mich sagen.

Der alte Mann blinzelt und nickt, sieht mich noch immer mit dieser unergründlichen Miene an. Und dann strahlt er plötzlich und klopft auf den Karton vor ihm. »Wie sieht’s aus? Kann ich Sie für eine Armbanduhr interessieren, mein Lieber?«

Da haben wir’s.

»Nein, vielen Dank.«

»Wie ich sehe, tragen Sie keine. Ich hätte da etwas für Sie, das perfekt zu Ihnen passen würde.« Er öffnet den Karton und nimmt eine unscheinbare Uhr heraus. Kein klobiges Silbergehäuse, kein berühmtes Logo, keine komplexen Funktionen – einfach eine schlichte Armbanduhr mit weißem Ziffernblatt und schwarzem Armband.

»Nein, wirklich, ich brauche keine Uhr«, sage ich.

Endlich fängt Harv meinen Blick auf und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sieht, wie ich versuche, mich dieses aufdringlichen Kleinunternehmers zu erwehren.

»Ach, kommen Sie«, sagt der Uhrenverkäufer. »Wie wollen Sie sonst wissen, wann es Mitternacht schlägt und das eigentliche Weihnachten beginnt?«

»Nun, ich könnte einfach auf mein Handy schauen.«

Er verzieht das Gesicht und winkt ab. »Ach, diese Handys taugen nichts. Ich schenke Ihnen die Uhr. Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk.«

Ich lache. »Nein, im Ernst. Das ist sehr nett von Ihnen. Aber Sie brauchen mir kein –«

Er beugt sich herüber und legt die Uhr vor mir auf den Tisch. »Sie gehört Ihnen«, sagt er grinsend. »Frohe Weihnachten. Machen Sie schon, legen Sie sie um. Sie wird Ihr Leben verändern, das garantiere ich Ihnen.«

Offenbar gibt es keinen Weg, aus dieser Situation herauszukommen, ohne dass ich die Uhr annehme, also beschließe ich, dem Kerl zu geben, was immer ich kann. »Okay, hören Sie …« Ich hole mein Portemonnaie raus und schaue rein, um zu sehen, was ich ihm anbieten kann. Aber als ich wieder aufblicke, verschwindet er bereits durch die Tür.

Die Uhr liegt immer noch vor mir auf dem Tisch. Ich starre sie kurz an und lege sie dann um mein Handgelenk. Als ich genau hinsehe, erkenne ich, warum er das Ding loswerden wollte: Sie funktioniert nicht. Die Zeiger sind eine Minute vor zwölf stehen geblieben. Ich fummele am Aufziehrädchen herum, aber es lässt sich nicht drehen. Nun wird mir klar, was sein Spruch »wann es Mitternacht schlägt« bedeutet: Er hat mir eine kaputte Uhr geschenkt.

Harv kehrt mit den Drinks zurück. »Wer war der Typ?«, fragt er und setzt sich.

Ich blinzele ihn an und fühle mich plötzlich leicht benommen, als hätte ich mir die Unterhaltung mit dem alten Mann nur eingebildet. Ich überlege, ob ich Harv von meinem komischen Gefühl erzählen soll, dass der Kerl irgendwie in mich hineinschauen konnte. Aber ich möchte nicht, dass Harv denkt, ich hätte den Verstand verloren, also halte ich einfach mein Handgelenk hoch. »Ich weiß zwar nicht, wer der Kerl war, aber er hat mir das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten gemacht: eine kaputte Uhr.«

Harv lacht. »Im Raven gibt’s viele schräge Vögel.« Er nippt an seinem Wodka und klatscht in die Hände. »Also, los geht’s. Jeder Fußballweltmeister seit 1930 … und wir sehen nicht im Handy nach.«

»Alles klar, na los.«

Ich verdränge jeden Gedanken an Daphne, Alice oder Mum und konzentriere meine ganze mentale Energie auf bedeutungsloses Fußball-Trivialwissen.

Und als wir uns nach zwei weiteren Drinks voneinander verabschieden (nachdem es uns gelungen ist, alle WM-Gewinner seit 1930 aufzusagen – mit Ausnahme von Uruguay 1950), geht es mir kein bisschen besser. Aber auch nicht schlechter.

Immerhin.

4. KAPITEL

Gegen halb zehn bin ich wieder zu Hause, und Daphne ist noch nicht zurück.

Sie hat mir keine Nachricht geschickt, und mein Guinness-geschwängertes Hirn zaubert augenblicklich ein Bild von ihr und Rich herbei, vor einem knisternden Kaminfeuer einander in den Armen liegend, was wohl die einfallsloseste hypothetische Ehebruch-Fantasie überhaupt sein dürfte. Dennoch erzielt sie ihre Wirkung: Der Gedanke an Daphne auf der Party, betrunken und flirtend, lässt meinen Puls in die Höhe schnellen.

Ich marschiere am ungeschmückten Weihnachtsbaum vorbei in die Küche, wo ich mich hinsetzte und den extrem teuren Rotwein aufmache, den Daphne für morgen gekauft hat.

Ich schenke mir ein großes Glas ein und checke mein Handy. Ich habe eine neue Facebook-Nachricht. Von Alice.

Hey! Ich hab erfahren, dass mein Konferenz-Dingens nächste Woche definitiv stattfindet, also werde ich in London sein! Sie bringen mich im Hilton in Canary Wharf unter, also könnten wir uns dort vielleicht auf einen Drink treffen? Sagen wir am Dienstag, den 29.? Es wäre so schön, dich zu sehen und mit dir zu … ;-) xxx

Ich trinke einen großen Schluck Rotwein und denke: Fängt es so an?

Ist es so einfach?

Als Kind erschien mir eine Affäre, wie manche Erwachsenen sie hatten, als eine unglaublich aufwendige, komplexe, fast machiavellistische Sache. In Gedanken baute ich Dad zu einer Art bösem Genie auf, das monatelang diesen finsteren, schrecklichen Plan verfolgte, der unser aller Leben entzweireißen würde. Aber vielleicht habe ich ihm zu viel zugetraut. Vielleicht ist er ohne groß nachzudenken in die Affäre reingestolpert. Vielleicht war er einfach verängstigt und einsam und verwirrt. Falls ja, dann habe ich diese Eigenschaften wohl von ihm geerbt. Nichts von seinem Talent, nichts von seinem Charme; nur den feigen, hinterhältigen Arschloch-Teil.

Ich schenke mir noch ein Glas ein und schaue auf Alices Nachricht, frage mich, was ich ihr antworten soll.

Das Ganze ist einfach so … seltsam. Ich hatte Alice seit Jahren nicht gesehen – nicht seit Paris –, bis ich sie vor ein paar Monaten bei Mareks Hochzeit traf. Daff war nicht dabei, und Alice war auch allein dort; sie hatte sich gerade von ihrem Verlobten in Manchester getrennt und war bei Mareks Hochzeit aufgekreuzt, um sich, wie sie selbst sagte, »so richtig volllaufen zu lassen und sich so zynisch zu geben, wie es nur geht«.

Sie wiederzusehen machte mich ganz schön nervös, aber sie verhielt sich von Anfang an so, als wäre in der Zwischenzeit überhaupt nichts geschehen. Als gäbe es keinen Grund, sich verlegen zu fühlen. Auf dem Rasen winkte sie mich mit einem Glas Champagner zu sich herüber, und nach drei weiteren Gläsern debattierten wir lebhaft darüber, ob es moralisch vertretbar wäre, die Namensschilder auf der langen Tafel zu vertauschen. Und noch bevor wir die Sache ausdiskutiert hatten, machte Alice es dann einfach – und »Onkel Steve« ließ sich auf der anderen Seite der Tisches nieder, während sie sich neben mir auf seinen eigentlichen Platz setzte und mir schelmisch zuzwinkerte.

Bei Lachs und Hühnchen und jeder Menge Weißwein ignorierten wir standhaft unsere Tischnachbarn und steckten die Köpfe zusammen, um in der Vergangenheit zu schwelgen und über die Gegenwart zu reden, wobei wir ständig schauderten, weil bei uns ganz ähnliche Dinge passiert waren und wir uns praktisch gegenseitig die gleichen Sachen erzählten.

Sie sah nicht nur hinreißend aus – richtig hinreißend –, sondern gab mir auch während unserer Unterhaltung das Gefühl, wieder neunzehn zu sein, so, als hätte es die letzten fünfzehn Jahre nicht gegeben und die Zukunft wäre immer noch ungeschrieben und verlockend. Es war genau wie in Paris: Ich genoss es, ihr eine bearbeitete Version meiner selbst zu präsentieren. Ich konnte am Bild des orientierungslosen Versagers, zu dem ich während meiner Beziehung mit Daphne geworden war, so lange herumpinseln, bis daraus ein halbwegs vorzeigbarer Mann wurde.

Und später, am Ende des Abends, geschah dann etwas.

Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass es keine Musik mehr gab und Alice wohl genauso angeschlagen war wie ich, denn sie schleppte mich von der Tanzfläche geradewegs zu dem Fotoautomaten, in dem wir den größten Teil des Abends verbracht und herumgealbert hatten.

Wir schnappten uns unsere lächerlichen Party-Requisiten – Zauberstäbe und Zylinder – und zogen auf ihr Drängen hin Unmengen von Grimassen, während uns ein ums andere Mal das Blitzlicht entgegenschlug: Wir schielten wie blöd in die Kamera, zogen Zombie-Fratzen und machten – für das letzte Bild – verliebte Selfie-Schmollmünder. Dabei schloss ich die Augen, das weiß ich noch, und während ich auf meinen Lidern noch das Blitzlicht spürte, spürte ich plötzlich auch noch etwas anderes: Alices Lippen auf meinen. Ich zog den Mund weg, allerdings nicht so schnell, wie ich es hätte tun können.

Als ich die Augen öffnete, zuckte Alice mit den Schultern und lachte, als wäre es keine große Sache gewesen. Nur ein Witz.

Und genau das habe ich mir auch eingeredet. Dass es nur ein Witz war. Aber Witze halten einen nachts nicht wach und bereiten einem keine Schuldgefühle.

Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, erzählte ich Daphne nicht, dass ich Alice wiedergesehen hatte. Daff war ihretwegen immer schon etwas argwöhnisch gewesen. Ich schätze, weil Alice und ich uns im ersten Uni-Jahr so nahegestanden hatten. Sogar heute noch scherzt sie hin und wieder darüber, dass Alice es auf mich abgesehen hatte. Diese Scherze lassen mich jedesmal schaudern wegen meiner Schuldgefühle. Ich erzählte ihr natürlich auch nicht, dass Alice mir einige Tage später eine Nachricht schickte, und auch nicht, dass ich ihr geantwortet hatte. Daff und ich machten gerade eine besonders düstere Phase durch, in der wir kaum miteinander sprachen; sie war voll und ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt, während ich mich darüber ärgerte, wie schlecht bezahlt und langweilig meine Gelegenheitsjobs waren.

Ich bin Schriftsteller, nehme ich an, zumindest ist das meine Berufsbezeichnung. Aber das Wort lässt meine Tätigkeit viel großartiger klingen, als sie tatsächlich ist. Ich habe mir immer vorgestellt, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und ein großes Theaterstück, eine Fernsehserie oder einen Roman zu schreiben, aber ich konnte diese Träume nie vollständig auf etwas Bestimmtes fokussieren. Ich dachte immer, es fehle mir an Antrieb oder Selbstvertrauen, aber die Wahrheit ist, dass ich es einfach nicht in mir habe. Ich hatte es nie in mir. Nicht nur Paris hat das bewiesen.

Also schraubte ich irgendwann meine Ambitionen zurück und begann, für ein geschmackloses Herrenmagazin zu schreiben. Als dann der schrumpfende Zeitschriftenmarkt auch diesen Karriereweg blockierte, begann ich, das zu tun, was ich heute noch tue – Pressemitteilungen und Reisebroschüren für jedes Unternehmen zu verfassen, das mich bezahlt.

Es ist nichts, worüber man sich beschweren müsste, ich weiß – ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Arbeit habe, Punkt –, aber es ist auch nichts, mit dem man sich brüsten kann.

Ich erinnere mich, dass Daff vor einer Weile versuchte, mir Dampf zu machen. Sie stellte mich Redakteuren und Autoren vor, ermutigte mich, weiter an Sachen zu schreiben, die mir Spaß machen, auch wenn ich sie niemandem zeigte. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich mich bereits aufgegeben, also konnte ich es ihr nicht verübeln, als sie es schließlich auch tat.

Ich leere mein Glas, und als ich mir ein weiteres einschenke, bemerke ich die kaputte Armbanduhr an meinem Handgelenk. Es war seltsam, dass mir im Pub all diese Erinnerungen in den Sinn kamen. Besonders das Versteckspiel im Irrgarten: Daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht. Daphne war die Erste, die mich damals fand, und wir knutschten schließlich betrunken in der Hecke herum, bevor wenig später Alice stirnrunzelnd die Zweige auseinanderzog.

Tief im Inneren habe ich mich immer gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn Alice mich zuerst gefunden hätte. Vielleicht wäre es besser gewesen.

Ich lese noch mal ihre Nachricht und klicke auf »Antworten«.

Hey! Der 29. klingt gut – ich freu mich! Gib mir die genaue Zeit durch. Xx

Sobald ich die Antwort abgeschickt habe, überkommen mich mehrere widersprüchliche Gefühle auf einmal. Angst und Aufregung und Schuld und Selbstmitleid, dazu das seltsam erregende Empfinden, etwas Großes in Gang gesetzt zu haben, eine Grenze überschritten zu haben, die man eigentlich nicht überschreiten darf.

Das hervorstechendste Gefühl ist aber, dass es sich gut anfühlt, von jemandem gewollt zu werden.

5. KAPITEL

Nach einem weiteren Glas Wein – und nachdem ich endlos auf meine Antwort an Alice gestarrt habe –, bemerke ich zu meiner ehrlichen Überraschung, dass die Flasche fast leer ist.

Mist. Das bedeutet wieder einen Streit morgen. Oder nachher, je nachdem, wann Daphne nach Hause kommt. Gleich ist es halb elf, und sie hat mir immer noch keine Nachricht geschickt.

Plötzlich fühle ich mich bleischwer, aber beschließe, erst noch den Baum zu schmücken, ehe ich zu Bett gehen werde, um mir für den bevorstehenden Streit eine emotionale Rüstung herbeizuschlafen. Ich erhebe mich auf die Beine und merke plötzlich, dass das wohlige Drei-Guinness-Glühen einer metallisch dröhnenden Rotwein-Besoffenheit gewichen ist.

Ich stapfe nach oben auf den Dachboden und spüre den eisigen Luftzug, der mir in die Knochen fährt, sobald ich die klapprige kleine Falltür hochschiebe. Die Schachtel mit dem Christbaumschmuck liegt natürlich ganz hinten, und um dorthin zu gelangen, muss ich einen tückischen Hindernisparcours aus Kartons, Koffern und sogar einem alten Skateboard (meins, nicht Daphnes) bewältigen.

Ich bin nur noch wenige Schritte vom Lametta entfernt, als ich gegen eine riesige durchsichtige Plastikkiste mit Daffs Sachen stoße, die prompt umkippt und ihren Inhalt auf dem Boden verstreut.

»Scheiße …«, murmele ich.

Ich hocke mich hin, um mit dem Aufräumen zu beginnen, als ich in all dem Zeug etwas liegen sehe. Eine große alte Keksdose aus Metall, deren Deckel halb offen steht und mir einen Blick auf eine Auswahl wahllos zusammengewürfelter Gegenstände offenbart: ein zerknittertes Skript, eine abgerissene Eintrittskarte, ein altes Programmheft für ein Theaterstück und einen blutverschmierten Spielzeugrevolver.

Und dann geht mir ein Licht auf. Es sind keine wahllos zusammengewürfelten Sachen.

Ein Frösteln kriecht mir über den Rücken, ein Nachhall des Gefühls, das ich im Pub verspürte, während ich mit dem Uhrenverkäufer sprach. Das Gefühl, dass dies alles mehr ist als ein Zufall.

Ich nehme den Revolver. Verrückt, dass Daphne ihn aufbewahrt hat. Davon wusste ich nichts. Ich drehe ihn in meinen Händen, spüre die kalten Plastikrillen und die verschmierten roten Fingerabdrücke auf dem Griff. Ich sehe jetzt Daphne vor mir, wie sie mir den Revolver reicht. Ich erinnere mich ganz deutlich. An den Abend, an dem wir uns kennenlernten.

Das Skript, die Eintrittskarte, das Programmheft: Alle diese Gegenstände stammen aus derselben Nacht. Aus der Nacht, die mir vorhin in den Sinn kam: die Nacht im Irrgarten, als wir Verstecken spielten. Ich nehme das Programmheft. Auf der Titelseite steht: YORK UNIVERSITY DRAMA SOCIETY PRESENTS: THE CAROL REVISITED.

Das Stück war Mareks oberpeinliche – und überraschend gewalttätige – Neubearbeitung von A Christmas Carol. Ich hatte darin nur eine kleine Rolle, aber als ich das Programmheft umdrehe, sehe ich mich dennoch auf einem kleinen verschwommenen Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ich zähneknirschend in die Kamera schaue und dabei ein Gesicht mache wie Wallace aus Wallace & Gromit.

Ich schaue auf das Bild und kann nicht glauben, dass dieser grinsende neunzehnjährige Junge und ich tatsächlich ein und dieselbe Person sind. Es ist, als würde ich das Foto eines Fremden ansehen; ich spüre überhaupt keine Verbindung. Was ist von dem Jungen heute noch übrig?

Es könnte natürlich an den Snakebites und Sambucas gelegen haben, aber ich entsinne mich, in jener Nacht im Irrgarten – eine Woche nachdem dieses Foto geschossen wurde – eine seltsame, fast spirituelle Gewissheit empfunden zu haben, dass sich alles für mich zum Guten wenden würde. Dass ich in eine gute Richtung unterwegs war, dass meine Träume erreichbar waren und die Zukunft eine leere Leinwand war, auf die ich das prachtvolle Gemälde meines Lebens malen würde.

Und dann? Was ist aus alledem geworden? Ich nahm diese Leinwand und füllte sie mit Fehlern und Misserfolgen und schlechten Entscheidungen und Lügen und schrecklichen Dingen, die ich nie, niemals wieder zurücknehmen kann.

Sollte es je eine Wikipedia-Seite über Ben Hazeley geben – was, falls keinem meiner Namensvetter irgendetwas Herausragendes gelingt, natürlich nicht der Fall sein wird, aber sagen wir trotzdem, es gäbe eine Wikipedia-Seite über mich –, dann weiß ich jetzt schon ziemlich genau, was drinstehen würde. Wo andere Wikipedia-Seiten Überschriften wie »Karriere« oder »Vermächtnis« oder »Filmografie« haben, wird in meiner einfach stehen: »Misserfolge«. Es wird eine lange detaillierte Liste sein, die mit der Jahreszahl »1996« beginnt: »Dad verpisst sich«, und – nächste Woche – mit »2020« endet: »Betrügt seine Frau«.

Mein Kopf wird von Sekunde zu Sekunde schwerer, und ich weiß, dass ich endlich anfangen sollte, den verdammten Weihnachtsbaum zu schmücken, aber aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht von den Gegenständen in der Keksdose losreißen. Plötzlich macht es mich wütend, dass Daphne das Zeug aufbewahrt hat. Ich stelle mir vor, wie sie ab und zu hier hoch schleicht, den Deckel öffnet und über diesen Gegenständen brütet, die sie daran erinnern, dass sie ohne mich besser dran wäre.

Denn genauso ist es doch, oder? Wenn das eigene Leben nur aus einer Aneinanderreihung von Misserfolgen und Fehlschlägen besteht, dann wäre es doch gewiss am besten, wenn es einen gar nicht gäbe.

Es gibt kein Foto von Daphne im Programmheft – sie stieß erst in letzter Minute zum Ensemble, nachdem jemand anderes unvermittelt ausgefallen war –, aber ich sehe sie immer noch vor mir, wie sie mit achtzehn war: das fröhliche, lustige, ausgelassene Mädchen, das jedem, ob Freund oder Fremdem, die volle Wattzahl ihres einnehmenden Lächelns schenkte, als wäre sie sich seiner Macht überhaupt nicht bewusst.

Und dann trat ich auf den Plan und nagte über all die Jahre an ihr, um aus ihr die müde wütende übellaunige Frau zu machen, die ich vorhin im Flur erlebt habe. Bestimmt wäre ihr jugendliches Ich über unsere gemeinsame Entwicklung genauso enttäuscht wie meines. Bestimmt hatte sie sich vorgestellt, mit dreiunddreißig einen erfolgreichen, normalen Ehemann zu haben, der sie in allen Lebenslagen unterstützt. Und dass sie Kinder haben würde. Ich weiß, dass sie sich welche wünscht. Dieses Jahr haben wir das Thema aber kein einziges Mal angesprochen, obwohl in letzter Zeit viele unserer Bekannten Eltern geworden sind.

Eine seltsame Erinnerung überkommt mich – es ist nicht einmal meine eigene, sondern etwas, das Mum mir erzählt hat, als ich ein Teenager war. Ich hatte ihr damit in den Ohren gelegen, mir irgendetwas Nettes über Dad und mich zu erzählen – ich ging immer noch davon aus, dass er bald zu uns zurückkehren würde –, und sie gab schließlich nach und erzählte, wie ich mit acht Jahren ins Wohnzimmer hineinspaziert war, während Dad sich den Monty-Python-Film Der Sinn des Lebens angeschaut hatte. Ich hörte diese Formulierung – der Sinn des Lebens – und wiederholte sie wie ein Papagei: »Dad, was ist der Sinn des Lebens?« Und er lachte und antwortete dann: »Ich nehme an, er besteht darin, die Summe des menschlichen Glücks zu mehren.«

Mit vierzehn fand ich diese Antwort toll, aber jetzt erscheint sie mir wie das Deprimierendste, was ich je gehört habe. Denn alles, was ich seitdem gemacht habe, ist, mein persönliches Glück immer weiter zu verringern, statt es zu vermehren.

Ich zwicke mir in die Nasenwurzel, und der Rand meines Sichtfelds verschwimmt. Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass es eine Minute vor Mitternacht ist. Noch eine Minute bis Weihnachten.

Dann fällt mir ein, dass die Uhr ja kaputt ist. Trotzdem, es ist wahrscheinlich nicht weit weg von der tatsächlichen Uhrzeit. Selbst eine stehen gebliebene Uhr geht zweimal am Tag richtig …

Ich nehme wieder das Programmheft und den Spielzeugrevolver, wiege beides in den Händen.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so da sitze, bevor ich einschlafe.

6. KAPITEL

Traditionell erwacht mein Brummschädel immer kurz nach mir selbst.

Wenn ich nach einer durchzechten Nacht wieder bei Bewusstsein bin, habe ich immer diesen schönen Moment der Ruhe vor dem Sturm, wo es noch keine Kopfschmerzen gibt, keine Reue, keinen Würgereiz. Und dann, sobald ich die Augen aufschlage oder den Kopf bewege, bricht die Hölle los.

Ich liege reglos mit geschlossenen Augen da und genieße diese Phase unverdienter Glückseligkeit, während ich versuche, die Leerstellen von letzter Nacht zu füllen. Davon gibt es so einige. Ich erinnere mich an die Keksdose und den Nebel des Selbstmitleids, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass Daff nach Hause kam. Ich kann mich nicht daran erinnern, den Baum geschmückt zu haben. Ich erinnere mich nicht mal daran, wie ich vom Dachboden runtergekommen bin.

Oh Gott, bitte mach, dass ich nicht auf dem Dachboden liege.

Ich drehe meinen Kopf ganz sachte zur Seite. Weder die altbekannte Migräne noch eine plötzliche Übelkeit überkommt mich, was ermutigend ist. Außerdem scheine ich auf einem bequemen Kissen und einer Matratze zu liegen, was schon mal ein gutes Zeichen ist.

Ich beschließe, es zu riskieren, und öffne die Augen. Was mich nun befällt sind keine Kopfschmerzen – sondern blankes Entsetzen.

Ich setze mich auf, mit einem Mal hellwach, das Herz pocht mir schmerzhaft in der Brust.

Wo zum Teufel bin ich?

Es ist, als hinke mein Hirn meinen Augen noch immer ein paar Sekunden hinterher und bemühte sich, die empfangenen Informationen zu verarbeiten. Die popelgrünen Vorhänge; der kratzige Topfreiniger-Teppichboden; der schäbige braune Schrank, in dem sich ein schmutziges Waschbecken und ein kleiner Wandspiegel verbergen.

Von irgendwoher höre ich ein leises, leicht manisches Stöhnen und merke dann, dass es aus meinem Mund kommt.

Das hier ist … das Studentenwohnheim. Mein Zimmer im ersten Uni-Jahr.

Bin ich verrückt geworden? Fühlt es sich so an, wenn man dem Wahnsinn anheimfällt?

Oder vielleicht … vielleicht ist das hier eine Art aufwendiger – wirklich aufwendiger – Streich. Plötzlich fällt mir ein seltsames interaktives Theatererlebnis ein, zu dem mich Harv mal mitgeschleift hat, wo das Publikum ein Teil der Aufführung war. Man führte uns auf diese extravagante Bühne und hielt uns an, die Handlung weiterzuführen, indem wir den Schauspielern einen spontan ausgedachten Text zuflüsterten. Vielleicht ist das hier etwas Ähnliches. Wenn ja, dann verdient derjenige, der das Set entworfen hat, jede Auszeichnung. Das Zimmer sieht bis ins kleinste Detail so aus, wie ich es in Erinnerung habe.

Ich spüre, wie es in meinem Kopf zu hämmern beginnt und der Kater einsetzt, aber dann bemerke ich, dass die Türklinke klappert und dass das Hämmern tatsächlich von draußen kommt.

»Ben? Bist du da drin? Ben?«

Die Klinke klappert erneut, aber wie es scheint, ist die Tür abgeschlossen.

»Benjamiiiin?!« Es ist Harvs Stimme. Gott sei Dank.

Etwas unbeholfen stehe ich auf, mein Herz pocht noch immer wie wild. Dann bemerke ich, dass ich eine mir unbekannte Jeans und meinen alten Wu-Tang-Clan-Hoodie trage. Ich dachte, ich hätte das Ding vor Jahren verloren.

Ich öffne die Tür und muss augenblicklich gegen einen beginnenden Lachanfall ankämpfen.

Es ist Harv. Aber irgendwie ist er es auch … nicht.

Es sieht aus, als wäre Harv leicht aufgebläht oder hätte eine traumatische allergische Reaktion erlitten. Seine markanten Wangenknochen und Lachfältchen sind verschwunden, sein Gesicht ist jünger, runder, teigiger. Ich bemerke den Ansatz eines Hängebauchs über seiner Gürtelschnalle. In der einen Hand hält er eine Dose Lagerbier und in der anderen Hand etwas, das wie ein Erdnussbutter-Käse-Toastie aussieht.

»Was in aller Welt tust du hier?«, fragt er mich.

»Ich … keine Ahnung«, stammele ich.

»Weißt du nicht, wie spät es ist?«

Automatisch schaue ich auf mein Handgelenk. Meine Uhr zeigt eine Minute vor zwölf an. Die Uhr, die ich immer noch trage. Ich bin in ganz anderer Kleidung aufgewacht, an einem ganz anderen Ort, und doch ist diese Uhr irgendwie immer noch an meinem Handgelenk befestigt. Mein Hirn stochert ergebnislos in dieser Tatsache herum, als ich merke, dass Harv vor meinem Gesicht mit den Fingern schnippt.

»Hallo! Halloooo!«

Er schaut mich seltsam an und beißt dann herzhaft in sein Toastie. »Es ist nach sechs, Mann, du musst los«, sagt er mit vollem Mund. »Gerade hat mich Marek angerufen. Er dreht durch. Du bist nicht an dein Handy gegangen. Sie sind schon alle im Schauspielhaus.«

Ich kneife kurz die Augen zu und hoffe, dass ich, wenn ich sie wieder aufmache, wieder auf dem Dachboden bin und Daphne wütend auf mich herabblickt, während mir die Kopfschmerzen den Schädel zersprengen.

Aber nein. Der aufgeblähte Harv ist noch da, nimmt einen Schluck Bier und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Bist du stoned, oder was?«, fragt er. »Oder einfach nur ein Volltrottel?«

»Nein, ich …« Ich habe keine Ahnung, was ich bin. Ich komme mir vor wie in einem extrem fortschrittlichen Virtual-Reality-Spiel.

Hinter Harv geht die Tür auf und eine kleine junge Blondine erscheint und lächelt uns an. Fuck. Das ist Geordie Claire. Sie wohnte mir gegenüber auf dem Flur. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit … nun, seit der Uni. Sie winkt mir mit zwei kleinen roten Tickets zu. »Viel Glück, Ben! Stu und ich werden in der ersten Reihe sitzen.«

Ich schaue auf die Eintrittskarten. Darauf steht: YORK UNIVERSITY DRAMA SOCIETY PRESENTS: THE CAROL REVISITED.

Plötzlich weiß ich, wo ich bin. Und, wichtiger noch, wann dies geschieht. Ich muss mich am Türrahmen abstützen.

»Mist, Ben, alles in Ordnung mit dir?«, fragt Claire und eilt zu mir.

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