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Ein Teil von ihr

Als Buch hier erhältlich:

Nach "Die gute Tochter" begeistert Spiegel-Bestseller-Autorin Karin Slaughter mit ihrem neuen Thriller "Ein Teil von ihr". Provokanter und raffinierter als alles, was sie zuvor geschrieben hat.

Mutter. Heldin. Lügnerin. Mörderin?

Im Bruchteil einer Sekunde kann sich dein Leben für immer verändern….
Du hast die Nachrichten gesehen, über die Gewalt in dieser Welt den Kopf geschüttelt und weitergemacht wie immer. Nie könnte dir so etwas passieren, dachtest du.
Andrea Oliver erlebt das Entsetzlichste. Einen Amoklauf. Was sie noch mehr schockiert: Ihre Mutter Laura entreißt dem Angreifer ein Messer und ersticht ihn. Andrea erkennt sie nicht wieder. Offenbar ist Laura mehr als die liebende Mutter und Therapeutin, für die Andrea sie immer gehalten hat. Sie muss einen Wettlauf gegen die Zeit antreten, um die geheime Vergangenheit ihrer Mutter zu enthüllen, bevor noch mehr Blut vergossen wird …
Laura weiß, dass sie verfolgt wird. Und dass ihre Tochter Andrea in Lebensgefahr ist …

»Dieser Thriller wird Sie um den Schlaf bringen. Für Slaughter-Fans ist „Ein Teil von ihr“ ein absolutes Lese-Muss.« ok!

»Wie immer hat Slaughter … keine Scheu, Verbrechen in all ihrer Brutalität und Grausamkeit zu schildern. […] Daneben aber beweist sie ebenso viel Gespür für die Zerrissenheit, für Sehnsüchte und Ängste, für starke Gefühle und damit verbundene innerliche Eruption, kurz: für die Komplexität ihrer Charaktere.« dpa

»Auch diesen Thriller von Karin Slaughter kann man erst nach der letzten Seite weglegen.« Zeit für mich

»Karin Slaughters „Ein Teil von ihr“ liest sich als moderne Geschichte über komplizierte Vereinigte Staaten von Amerika, in der charakteristische Merkmale des American Way of Life ebenso aufscheinen wie der Mythos vom Grenzland.« krimi-couch.de

»Ideal für Slaughter-Fans: packend, blutig, psychologisch ausgefeilt.« Hörzu

»Provokanter und raffinierter als alles, was sie zuvor geschrieben hat.« vol.at

»In gewohnter Slaughter-Manier geht es auf eine turbulente Fahrt in menschliche Abgründe. Nichts ist so, wie es scheint.« Mainhattan Kurier

»Eine spannende Lektüre bis zum Schluss.« SpotOnNews

»Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.« Magazin-frankfurt.com

»Karin Slaughter gilt völlig zu Recht als eine der besten Krimi-Autoren der USA. Ihre Geschichten fesseln von Anfang bis Ende.« IN

»Karin Slaughter zählt zu den talentiertesten und stärksten Spannungsautoren der Welt.«
Yrsa Sigurðardóttir

»Jeder neue Thriller von Karin Slaughter ist ein Anlass zum Feiern!« Kathy Reichs

»Karin Slaughter bietet weit mehr als unterhaltsamen Thrill.«
SPIEGEL ONLINE über »Pretty Girls«

»Es lohnt sich Zeile für Zeile.« MK lifetime


  • Erscheinungstag: 01.08.2018
  • Seitenanzahl: 544
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677790
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Meinen GPP peeps gewidmet*

*gemeint sind die Mitarbeiter von HarperCollins weltweit

Niemand bin ich! Und du?

Ein Niemand – noch dazu?

Dann sind wir zwei im Land!

Still! Gleich wird man bekannt!

Wie öde – Jemand sein!

Sein Lebtag – Fröschen gleich –

Den eignen Namen auszuquaken –

Für den Applaus im Teich!

Emily Dickinson

PROLOG

Selbst als sie ihn noch liebte, hatte ein Teil von ihr ihn jahrelang zugleich gehasst, auf diese kindische Art, so wie man etwas hasst, das man nicht beherrschen kann. Er war eigensinnig, dumm und gut aussehend, und deshalb kam er mit verdammt vielen Fehlern durch. Dabei machte er ständig Fehler, immer wieder die gleichen, denn wozu neue ausprobieren, wenn die alten so gut funktionierten?

Er hatte außerdem Charme, das war das Problem. Er zog sie in seinen Bann. Er reizte sie bis zur Weißglut. Dann wickelte er sie wieder um den Finger, bis sie am Ende nicht mehr wusste, wer von ihnen die Schlange war und wer der Schlangenbeschwörer.

Und so segelte er dahin auf seinem Charme und seinem Furor, er verletzte Menschen, er fand neue Dinge, die ihn plötzlich mehr interessierten, und ließ die alten zerstört in seinem Kielwasser zurück.

Bis ihn sein Charisma urplötzlich im Stich ließ. Ein entgleister Straßenbahnwagen. Ein führerloser Zug. Auf einmal waren die Fehler unverzeihlich, ein zum zweiten Mal begangener Fehler wurde nicht mehr ignoriert, und als er ihn zum dritten Mal machte, zog es schwerwiegende Konsequenzen nach sich, die mit dem Verlust eines Menschenlebens und einem Todesurteil endeten und um ein Haar dazu geführt hätten, dass ein weiteres Leben verloren ging – ihr eigenes.

Wie konnte sie jemanden weiter lieben, der versucht hatte, sie zu vernichten?

Als sie mit ihm zusammen gewesen war – und sie war während der langen Zeit seines Absturzes definitiv mit ihm zusammen gewesen –, hatten sie beide wütend gegen das System aufbegehrt: die Heime, die Notunterkünfte, die Klapsmühle, die geschlossene Anstalt, die Verwahrlosung. Das Personal, das die Patienten vernachlässigte. Die Pfleger, die die Zwangsjacken anlegten. Die Schwestern, die nicht hinsahen. Die Ärzte, die ihre Tabletten ausgaben. Der Urin auf dem Boden. Die Fäkalien an den Wänden. Die Insassen, die Mitgefangenen, mit ihren Schikanen, ihren Begierden, ihren Schlägen, ihren Bissen.

Der Funke der Wut, nicht die Ungerechtigkeit, war es gewesen, was ihn am meisten erregt hatte. Das nie Dagewesene, die Möglichkeit der Zerstörung. Das Spiel mit der Gefahr. Die drohende Gewalt. Die Chance, berühmt zu werden. Ihre Namen in den Schlagzeilen zu lesen. Ihre rechtmäßigen Taten im Schulunterricht zu hören, wo die Kinder ihre Lektion über den Umsturz lernten.

Ein Penny, ein Nickel, ein Dime, ein Vierteldollar, ein Dollarschein …

Was sie für sich behalten hatte, das war die eine Sünde, die sie auch sich selbst nie eingestehen konnte: dass sie jenen ersten Funken entfacht hatte.

Sie hatte immer vehement die Überzeugung vertreten, dass man die Welt nur verändern konnte, indem man sie zerstörte.

1

»Andrea«, sagte ihre Mutter. Dann, als Zugeständnis an eine tausendmal geäußerte Bitte: »Andy.«

»Mom …«

»Lass mich ausreden, Schatz.« Laura hielt inne. »Bitte.«

Andy nickte und machte sich auf eine lang erwartete Standpauke gefasst. Mit dem heutigen Tag war sie offiziell einunddreißig. Ihr Leben kam nicht vom Fleck. Sie musste endlich selbst Entscheidungen treffen, statt sie vom Schicksal für sich treffen zu lassen.

»Es ist meine Schuld«, sagte Laura.

Andy spürte, wie sich ihre rissigen Lippen unwillkürlich öffneten. »Was ist deine Schuld?«

»Dass du hier bist, hier festsitzt.«

Andy wies mit dem ausgestreckten Arm auf das Restaurant. »Im Rise-n-Dine

Ihre Mutter ließ den Blick von Andys Scheitel bis zu ihren Händen wandern, die sich unruhig auf der Tischplatte bewegten. Schmutzig braunes Haar, zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Dunkle Ringe unter den müden Augen. Bis aufs Fleisch abgebissene Fingernägel. Die Knochen ihres Handgelenks standen hervor. Die blasse Haut war hellgrau wie das Wasser, in dem die Würstchen für die Hotdogs warm gehalten wurden.

Und in diesem Mängelkatalog war ihre Arbeitskleidung noch nicht einmal enthalten. Die marineblaue Uniform hing wie ein Sack an Andy. Auf der Brusttasche war das steife silberne Abzeichen aufgenäht, das Palmenlogo von Belle Isle, darum herum standen die Worte Police Dispatch Division. Wie eine Polizistin, aber nur fast. Wie eine Erwachsene, aber nicht wirklich. Fünf Nächte in der Woche saß Andy zusammen mit vier anderen Frauen in einem dunklen, stickigen Raum, nahm Notrufe entgegen, überprüfte Autokennzeichen und Führerscheine und teilte Aktennummern zu. Gegen sechs Uhr morgens schlich sie dann zum Haus ihrer Mutter zurück und verschlief den größten Teil des Tages.

»Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du hierher zurückkommst«, sagte Laura.

Andy presste die Lippen zusammen und starrte auf die letzten Rühreireste auf ihrem Teller.

»Mein liebes Mädchen.« Laura fasste über den Tisch nach der Hand ihrer Tochter und wartete darauf, dass sie aufblickte. »Ich habe dich aus deinem Leben gerissen. Ich hatte Angst und habe mich egoistisch benommen.« Tränen standen in Lauras Augen. »Ich hätte dich nicht so sehr brauchen dürfen. Ich hätte nicht so viel verlangen dürfen.«

Andy schüttelte den Kopf und sah wieder auf ihren Teller.

»Schatz.«

Andy schüttelte weiter den Kopf, denn sonst hätte sie reden müssen, und dann müsste sie auch die Wahrheit sagen.

Ihre Mutter hatte sie um nichts gebeten.

Vor drei Jahren war Andy gerade auf dem Weg in ihre Bruchbude auf der Lower East Side gewesen, einer Zweizimmerwohnung im vierten Stock ohne Aufzug, die sie mit drei anderen Mädchen teilte, von denen sie keines besonders mochte und die alle jünger, hübscher und fähiger waren als sie. Da hatte Laura angerufen.

»Brustkrebs«, hatte sie gesagt. Sie hatte nicht geflüstert oder mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten, sondern war in ihrer üblichen ruhigen Art unumwunden zur Sache gekommen. »Drittes Stadium. Der Chirurg wird den Tumor entfernen und gleich auch noch eine Gewebeprobe der Lymphknoten entnehmen, um festzustellen …«

Laura hatte noch mehr gesagt, sie war in einem Ausmaß an distanzierter, wissenschaftlicher Genauigkeit ins Detail gegangen, die an Andy verschwendet war, da sich ihre Fähigkeit zur Sprachverarbeitung vorübergehend in Luft aufgelöst hatte. Sie hatte sich mehr auf das Wort »Brust« als auf »Krebs« konzentriert und sofort an den üppigen Busen ihrer Mutter gedacht, am Strand, wo sie ihn in ihrem schlichten einteiligen Badeanzug versteckt hielt. Wie ihre Brüste bei dem Fest zu Andys sechzehntem Geburtstag (das Jane Austens Stolz und Vorurteil als Motto gehabt hatte) aus dem Ausschnitt ihres Empirekleids lugten. Wie sie in den gepolsterten Körbchen ihres BHs festgezurrt waren, wenn sie in ihrer Praxis auf der Couch saß und mit ihren Patienten arbeitete.

Laura Oliver war keine Sexbombe, aber sie war immer das gewesen, was Männer als gut gebaut bezeichneten. Oder vielleicht hatten es auch Frauen so bezeichnet, wahrscheinlich im letzten Jahrhundert. Laura war nicht der Typ für viel Make-up und Perlenkette, doch sie verließ das Haus nie, ohne ihren grauen Kurzhaarschnitt ordentlich zu föhnen, ihre Hose aufzubügeln und saubere und ordentliche Unterwäsche zu tragen.

Andy schaffte es an den meisten Tagen kaum aus dem Haus. Sie musste ständig umkehren, weil sie etwas vergessen hatte, wie zum Beispiel das Handy oder den Dienstausweis und einmal sogar ihre Sneakers, weil sie in Hausschuhen losmarschiert war.

Wenn sie in New York nach ihrer Mutter gefragt wurde, fiel ihr immer etwas ein, was Laura über ihre eigene Mutter gesagt hatte: Sie weiß immer, wo die Deckel ihrer Tupperdosen sind.

Andy war es schon zu viel, einen Ziploc-Beutel zu verschließen.

Lauras schwerer Atem am anderen Ende der Leitung, zwölfhundert Kilometer entfernt, war das einzige Anzeichen dafür gewesen, dass ihr dieses Gespräch nicht leichtfiel. »Andrea?«

Andys Ohren, in denen die Geräusche New Yorks dröhnten, stellten sich wieder auf die Stimme ihrer Mutter ein.

Krebs.

Andy versuchte zu stöhnen, aber sie brachte den Laut nicht zustande. Es war Schock. Es war Angst. Es war blankes Entsetzen, weil die Welt plötzlich aufgehört hatte, sich zu drehen, und alles – Andys Scheitern, die Enttäuschungen, der ganze Horror ihrer New Yorker Existenz in den letzten sechs Jahren – zurückwich wie das Meer vor einem Tsunami. Dinge, die besser im Verborgenen geblieben wären, lagen plötzlich offen zutage.

Ihre Mutter hatte Krebs.

Sie konnte daran sterben.

Sie konnte sterben.

»Es gibt immer noch die Chemo«, sagte Laura, »was aber, wie man hört, keine einfache Sache ist.« Ihre Mutter war daran gewöhnt, Andys anhaltendes Schweigen zu füllen, hatte längst gelernt, dass es eher in einer Auseinandersetzung endete als in der Wiederaufnahme einer höflichen Unterhaltung, wenn sie ihr Stillschweigen ansprach. »Dann schlucke ich täglich eine Pille, und das war’s. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt bei mehr als siebzig Prozent, man braucht sich also keine allzu großen Sorgen zu machen, außer dass man es eben durchstehen muss.« Eine Pause, um Atem zu schöpfen, oder vielleicht auch in der Hoffnung, dass Andy nun so weit war, etwas zu sagen. »Es ist sehr gut behandelbar, Schatz. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst. Bleib einfach, wo du bist. Es gibt nichts, was du für mich tun kannst.«

Eine Autohupe hatte geschrillt, und Andy blickte auf. Sie stand reglos wie eine Statue mitten auf dem Fußgängerübergang. Mühsam setzte sie sich in Bewegung. Das Handy lag heiß an ihrem Ohr. Es war nach Mitternacht. Schweiß lief ihr über den Rücken und sickerte wie geschmolzene Butter aus ihren Achselhöhlen. Sie konnte das Lachen vom Band aus einer Sitcom hören, Flaschenklirren und einen anonymen, durchdringenden Hilfeschrei, wie sie ihn in ihrem ersten Monat in der City auszublenden gelernt hatte.

Es war zu still auf ihrer Seite der Leitung. Schließlich hatte ihre Mutter gesagt: »Andrea?«

Andy hatte den Mund geöffnet, ohne zu wissen, welche Worte herauskommen würden.

Dann: »Schatz?« Immer noch geduldig, immer noch auf diese großherzige Weise nett, wie ihre Mutter zu allen Leuten war. »Wenn ich die Straßengeräusche nicht hören würde, könnte ich annehmen, die Verbindung sei unterbrochen.« Sie hielt wieder inne. »Andrea, du musst mir jetzt wirklich bestätigen, dass du verstanden hast, was ich dir sage. Es ist wichtig.«

Andy stand noch immer der Mund offen. Der für ihre Wohngegend typische Kanalisationsgeruch klebte in ihrer Nase wie eine verkochte Nudel, die jemand an die Küchenwand geklatscht hatte. Noch ein Auto hupte. Noch eine Frau schrie um Hilfe. Noch mehr Schweiß lief über Andys Rücken und sammelte sich am Bund ihres Slips. Das Gummiband war an den Stellen eingerissen, wo sie die Daumen einhakte, wenn sie die Hose herunterzog.

Andy konnte sich nicht erinnern, wie sie sich aus ihrer Erstarrung befreit hatte, aber sie wusste noch die Worte, die sie schließlich zu ihrer Mutter gesagt hatte: »Ich komme nach Hause.«

Nach sechs Jahren in der City stand sie mehr oder weniger mit leeren Händen da. Ihre drei Teilzeitjobs hatte sie alle per SMS gekündigt. Ihre U-Bahn-Karte hatte sie einer Obdachlosen geschenkt, die ihr erst gedankt und sie dann als gottverdammte Hure beschimpft hatte. In Andys Koffer kam nur das Allernötigste: Lieblings-T-Shirts, zerrissene Jeans, mehrere Bücher, die nicht nur die Reise von Belle Isle nach New York überlebt hatten, sondern auch fünf verschiedene Umzüge in zunehmend verwahrloste Wohnungen. Andy würde zu Hause weder ihre Handschuhe noch ihren gefütterten Wintermantel oder ihre Ohrenschützer brauchen. Sie machte sich nicht mal die Mühe, ihr Bettzeug zu waschen oder es auch nur von dem alten Chesterfield-Sofa abzuziehen, auf dem sie schlief. Sie war im Morgengrauen zum Flughafen LaGuardia aufgebrochen, keine sechs Stunden nach dem Anruf ihrer Mutter. Von einem Moment auf den andern war ihr Leben in New York vorbei. Die einzige Erinnerung, die ihren drei jüngeren und fähigeren Mitbewohnerinnen noch von ihr blieb, war ein halb aufgegessener Fishburger im Kühlschrank und ihr Anteil an der Miete für den nächsten Monat.

Das war vor drei Jahren gewesen, fast halb so viele Jahre, wie sie in New York gelebt hatte. Andy wollte es eigentlich nicht, aber in schwachen Augenblicken checkte sie bei Facebook, was aus ihren früheren Mitbewohnerinnen geworden war. Sie waren die Messlatte. Der Schlagstock. Eine hatte es ins mittlere Management eines Modeblogs geschafft, die andere ihre eigene Firma für maßgeschneiderte Sneakers gestartet. Die dritte war nach einer Kokainparty auf der Yacht eines reichen Mannes gestorben, und dennoch: Manchmal, nachts, wenn Andy den Anruf eines Zwölfjährigen entgegennahm, der es witzig fand, die Notrufnummer zu wählen und so zu tun, als würde er sexuell belästigt werden, konnte sie sich den Gedanken nicht verkneifen, dass sie nach wie vor von ihnen allen am wenigsten erreicht hatte.

Eine Yacht, Herrgott noch mal.

Eine Yacht.

»Schatz?« Ihre Mutter klopfte auf den Tisch. Die Mittagsgäste wurden weniger. Ein Mann, der im vorderen Teil des Diners saß, sah sie über seine Zeitung hinweg zornig an. »Wo bist du gerade?«

Andy streckte wieder die Arme aus und deutete ins Lokal, doch die Geste wirkte bemüht. Sie wussten beide genau, wo sie war: keine fünf Meilen von dem Ort entfernt, von dem aus sie einmal mit großen Hoffnungen aufgebrochen war.

Andy war nach New York gegangen, weil sie dachte, dort könnte sie erstrahlen wie ein Stern, aber letztlich hatte sie nicht heller gestrahlt als eine alte Taschenlampe in der Küchenschublade. Eigentlich hatte sie gar nicht Schauspielerin, Model oder so etwas in der Art werden wollen. Sie hatte sich keinen Träumen vom großen Ruhm hingegeben, sondern sich eher nach einem Platz im Umfeld der Stars gesehnt: als persönliche Assistentin, Kaffeeholerin, Requisiteurin, Bühnenmalerin oder Social-Media-Managerin, einer von den Menschen eben, die das glamouröse Leben von Stars überhaupt erst möglich machten. Sie wollte sich in ihrem Glanz sonnen. Mittendrin sein. Leute kennenlernen. Kontakte knüpfen.

Ihr Professor am College für Kunst und Design in Savannah hatte nach einem guten Kontakt ausgesehen. Sie hatte ihn mit ihrer Leidenschaft für die Kunst überwältigt, zumindest hatte er das behauptet. Dass sie zusammen im Bett waren, als er das sagte, spielte für Andy erst hinterher eine Rolle. Als sie die Affäre beendete, hatte der Mann ihre beiläufige Bemerkung, sie wolle sich auf ihre Karriere konzentrieren, als Drohung aufgefasst. Ehe Andy wusste, wie ihr geschah, ehe sie ihrem Professor erklären konnte, dass sie gar nicht versuchte, sein krass unangemessenes Verhalten als Hebel zur Förderung ihrer Karriere einzusetzen, hatte er schon ein paar Beziehungen spielen lassen und ihr einen Job als Assistentin des zweiten Bühnenbildners bei einer Off-Broadway-Produktion verschafft.

Off-Broadway!

Nur eine Straße entfernt vom Broadway!

Andy hatten nur noch zwei Semester bis zum Abschluss ihres Theater-Studiums gefehlt. Sie hatte ihren Koffer gepackt und noch einmal schnell über die Schulter gewinkt, ehe sie zum Flughafen geeilt war.

Zwei Monate später war das Theaterstück wegen vernichtend schlechter Kritiken eingestellt worden.

Alle außer Andy hatten rasch neue Jobs bei anderen Produktionen gefunden. Sie dagegen legte sich ein echtes New-York-Leben zu: Sie war Kellnerin, Hundeausführerin, Schildermalerin. Sie hatte Telefonschulden eingetrieben, für einen Lieferdienst gearbeitet, ein Faxgerät überwacht, Sandwiches belegt. Bis sie schließlich resignierte, einen halb aufgegessenen Burger im Kühlschrank und das Geld für eine Monatsmiete auf der Küchentheke zurückließ und als Versagerin in das Dreckskaff nach Georgia zurückkehrte, aus dem sie stammte.

Im Grunde war ein letztes Fitzelchen Würde alles, was Andy mit nach Hause gebracht hatte, und das würde sie nun an ihre Mutter verschwenden.

Sie blickte von ihrem Teller auf.

»Mom.« Sie musste sich räuspern, bevor sie das Geständnis herausbrachte. »Ich liebe dich dafür, dass du das sagst, aber es ist nicht deine Schuld. Es stimmt, dass ich nach Hause kommen wollte, um dich zu sehen. Aber geblieben bin ich aus anderen Gründen.«

Laura runzelte die Stirn. »Was für andere Gründe denn? Du hast New York geliebt!«

Sie hatte New York gehasst.

»Es lief doch gut für dich dort.«

Sie war einen Schritt vor dem Abgrund gestanden.

»Der Typ, mit dem du zusammen warst, stand doch so auf dich.«

Und auf jede andere Vagina in seiner Umgebung.

»Du hattest so viele Freunde.«

Sie hatte seit ihrer Abreise von keiner Menschenseele mehr etwas gehört.

»Nun ja.« Laura seufzte. Die Liste der Aufmunterungen war kurz gewesen, falls sie Andy nicht überhaupt nur herausfordern wollte. Wie üblich las sie in Andy wie in einem offenen Buch. »Baby, du wolltest immer jemand anderes sein. Jemand Besonderes. Im Sinne von begabt, meine ich, mit einem ungewöhnlichen Talent. Natürlich bist du für mich und Dad ohnehin etwas Besonderes.«

Andy verdrehte die Augen. »Danke.«

»Doch, du bist talentiert. Du bist klug. Nein, besser als klug, du bist clever

Andy rieb sich mit den Händen übers Gesicht, als wollte sie sich selbst aus dieser Unterhaltung radieren. Sie wusste, sie war talentiert und klug. Das Problem war, dass alle anderen Leute in New York ebenfalls talentiert und klug waren. Selbst der Typ hinter der Theke im Bodega war witziger, schneller und cleverer gewesen als sie.

Laura ließ nicht locker. »Nichts ist falsch daran, normal zu sein. Normale Menschen führen ein sehr ausgefülltes Leben. Sieh mich an. Es ist nichts Schlechtes daran, wenn man sein Leben genießt.«

»Ich bin einunddreißig«, sagte Andy. »Ich hatte seit drei Jahren keine richtige Verabredung. Ich habe dreiundsechzigtausend Dollar Schulden von einem Studiendarlehen, ohne einen Abschluss gemacht zu haben, und ich lebe in einer Ein-Zimmer-Wohnung über der Garage meiner Mutter.« Andy fiel das Atmen schwer. Bei der Aufzählung hatte sich ein enges Band um ihre Brust geschnürt. »Die Frage ist nicht, was ich noch alles tun kann, sondern, was ich noch alles vermasseln werde.«

»Du vermasselst nichts.«

»Mom …«

»Du hast dir angewöhnt, dich minderwertig zu fühlen. Man kann sich an alles gewöhnen, vor allem an Dinge, die schlecht für einen sind. Aber ab jetzt geht es nur noch aufwärts. Man kann nicht weiterfallen, wenn man am Boden liegt.«

»Schon mal was von Kellern gehört?«

»Auch ein Keller hat einen Boden.«

»Den hat ein Grab auch.«

»Warum musst du nur immer so morbid sein!«

Andy spürte, wie eine plötzliche Gereiztheit ihre Zunge zu einem Rasiermesser schliff. Sie unterdrückte das Gefühl. Sie konnten nicht mehr wegen ihres Make-ups oder ihrer engen Jeans streiten, oder darüber, wann sie zu Hause sein musste, also trug sie jetzt andere Kämpfe mit ihrer Mutter aus: darüber, dass Keller Böden hatten. In welche Richtung das Toilettenpapier von der Rolle kommen sollte. Ob Gabeln mit den Zinken nach oben oder nach unten in die Geschirrspülmaschine gehörten. Dass Laura den Namen der Katze falsch aussprach, wenn sie Mr. Perkins sagte, denn er hieß eigentlich Mr. Purrkins.

»Als ich neulich mit einem Patienten gearbeitet habe, ist etwas höchst Merkwürdiges passiert.«

Ein Themenwechsel mit Spannungsmoment war eine erprobte Technik, um den Waffenstillstand herbeizuführen.

»Etwas wirklich Merkwürdiges«, lockte Laura.

Andy zögerte, dann nickte sie, damit ihre Mutter fortfuhr.

»Er stellte sich mit Broca-Aphasie vor, einer rechtsseitigen Lähmung.« Laura war staatlich anerkannte Logopädin in einem Küstenort mit vielen Ruheständlern. Die meisten ihrer Patienten hatten Schlaganfälle erlitten. »Er hat in seinem früheren Leben als IT-Spezialist gearbeitet, aber das spielt wohl keine Rolle.«

»Was ist denn Merkwürdiges passiert?«, fragte Andy, wie es von ihr erwartet wurde.

Laura lächelte. »Er hat mir von der Hochzeit seines Enkels erzählt, und ich habe keine Ahnung, was er eigentlich sagen wollte, aber es kam als ›Blue Suede Shoes‹ heraus. Und in meinem Kopf blitzte eine Erinnerung an den Tag auf, als Elvis Presley starb.«

»Elvis Presley?«

Sie nickte. »Das war 1977, ich war also vierzehn und eher ein Fan von Rod Stewart als von Elvis. Aber egal. Es gab da in unserer Kirche diese sehr konservativen Damen mit ihren Turmfrisuren, und sie heulten sich die Augen aus, weil er gestorben war.«

Andy grinste wie eine Person, die wusste, dass sie etwas nicht verstanden hat.

Laura grinste auf die gleiche Weise zurück. Eine Nachwirkung der Chemo, obwohl schon so viel Zeit seit der letzten Behandlung vergangen war. Sie hatte die Pointe ihrer Geschichte vergessen. »Ist mir nur so eingefallen.«

»Die Hochfrisur-Damen waren wohl ziemliche Heuchlerinnen?«, versuchte Andy ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Ich meine, Elvis war ganz schön sexy, oder?«

»Es spielt keine Rolle.« Laura tätschelte ihr die Hand. »Ich bin so dankbar, dass es dich gibt. Für die Kraft, die du mir geschenkt hast, als es mir schlecht ging. Für die Nähe, die wir immer noch teilen. Ich weiß das sehr zu schätzen, es ist ein Geschenk.« Die Stimme ihrer Mutter begann zu zittern. »Aber jetzt geht es mir besser. Und ich will, dass du dein eigenes Leben lebst. Ich will, dass du glücklich bist, oder wenigstens, dass du Frieden mit dir selbst schließt. Und ich glaube nicht, dass dir das hier gelingt, Schatz. So gern ich es dir erleichtern würde – ich weiß, dass es nichts bringen würde, wenn du es nicht allein bewältigst.«

Andy blickte zur Decke. Dann schaute sie in das leere Einkaufszentrum. Schließlich sah sie ihre Mutter wieder an.

Laura hatte Tränen in den Augen. Sie schüttelte fast ehrfürchtig den Kopf. »Du bist großartig, weißt du das?«

Andy zwang sich zu einem Lachen.

»Du bist großartig, weil du auf so unglaubliche Weise du selbst bist.« Laura legte die Hand aufs Herz. »Du bist talentiert, und du bist schön, und du wirst deinen Weg finden, und es wird der richtige Weg sein, egal, was geschieht, weil es der Weg ist, für den du dich entscheidest.«

Andy spürte einen Kloß im Hals. Tränen traten ihr in die Augen. Um die beiden herum war es so still. Andy konnte ihr eigenes Blut durch die Adern rauschen hören.

»Weißt du«, sagte Laura und lachte, was ebenfalls eine erprobte Technik zur Auflockerung eines emotionsgeladenen Moments war. »Gordon findet ja, ich sollte dir eine Frist für deinen Auszug setzen.«

Gordon war Andys Vater, ein Anwalt für Vermögens- und Immobilienrecht. Sein ganzes Leben drehte sich um Fristen.

»Aber ich werde dir keine Frist setzen«, sagte Laura. »Und kein Ultimatum stellen.«

Ultimaten liebte Gordon ebenfalls.

»Ich sage, wenn das dein Leben ist«, sie deutete auf Andys polizeiähnliche, erwachsen wirkende Uniform, »dann nimm es an. Akzeptiere es. Und wenn du etwas anderes machen willst«, sie drückte Andys Hand, »dann mach etwas anderes. Du bist noch jung. Du hast keinen Kredit für ein Haus abzuzahlen, noch nicht einmal für ein Auto. Du bist gesund. Du bist klug. Du kannst tun, was du willst.«

»Nicht mit meinem Studiendarlehen.«

»Andrea«, sagte Laura, »ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber wenn du dich weiter lustlos im Kreis drehst, dann wirst du bald vierzig sein und feststellen, dass du es satthast, in einem Hamsterrad zu leben.«

»Vierzig«, wiederholte Andy, ein Alter, das ihr mit jedem Jahr weniger greisenhaft erschien.

»Dein Vater würde sagen …«

»Scheiße oder komm runter vom Pott.« Gordon drängte Andy immer, umzuziehen, etwas aus sich zu machen, etwas zu tun. Lange hatte sie ihm die Schuld an ihrer Lethargie gegeben. Wenn deine Eltern arbeitswütige, tüchtige Menschen waren, dann war Faulheit eine Form der Rebellion, oder etwa nicht? Hartnäckig und unbeirrbar immer den leichten Weg zu wählen, weil der schwere Weg … nun ja, nun mal schwer war?

»Dr. Oliver?«, sagte eine ältere Frau. Dass sie einen stillen Moment zwischen Mutter und Tochter störte, entging ihr offenbar. »Ich bin Betsy Barnard. Sie haben letztes Jahr mit meinem Vater gearbeitet. Ich wollte Ihnen nur danken. Sie haben wirklich Wunder an ihm gewirkt.«

Laura stand auf und schüttelte der Frau die Hand. »Sie sind sehr freundlich, aber er hat die ganze Arbeit selbst erledigt.« Sie wechselte nun in ihren Dr.-Oliver-die-Heilerin-Modus, wie Andy es immer nannte, und stellte allgemein gehaltene Fragen nach dem Vater der Frau, an den sie sich erkennbar nicht mehr so genau erinnerte. Sie bekam es ganz passabel hin, sodass sich die Frau bereitwillig täuschen ließ.

Laura wies mit einem Kopfnicken auf Andy. »Das ist meine Tochter Andrea.«

Betsy erwiderte das Nicken mit flüchtigem Interesse. Sie blühte unter Lauras Aufmerksamkeit auf. Alle Leute liebten Andys Mutter, egal, in welchem Modus sie sich befand: Therapeutin, Freundin, Geschäftsfrau, Krebspatientin, Mutter. Sie besaß eine Art von gnadenloser Freundlichkeit, die nur deshalb nicht allzu süßlich wirkte, weil Laura bisweilen auch bissig und schlagfertig sein konnte.

Gelegentlich, meist wenn sie etwas getrunken hatte, konnte Andy die gleichen Eigenschaften bei Fremden an den Tag legen, aber wenn diese Andy erst einmal näher kannten, hielten sie den Kontakt nur selten aufrecht. Vielleicht war das Lauras Geheimnis. Sie hatte Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Freunden, aber keine einzige Person kannte sämtliche Teile von ihr.

»Ach!«, schrie Betsy. »Ich möchte Ihnen meine Tochter ebenfalls gern vorstellen. Frank hat Ihnen bestimmt alles über sie erzählt.«

»Und ob Frank das getan hat.« Andy fing den erleichterten Gesichtsausdruck ihrer Mutter auf. Sie hatte tatsächlich vergessen, wie der Mann hieß. Sie kehrte für einen Moment in den Mutter-Modus zurück und blinzelte Andy zu.

»Shelly!« Betsy winkte hektisch. »Komm mal, ich stelle dir die Frau vor, die geholfen hat, Pop-Pops Leben zu retten.«

Eine sehr hübsche junge Blondine kam widerstrebend herbeigeschlurft. Sie zupfte befangen an den langen Ärmeln eines roten UGA-T-Shirts. Die weiße Bulldogge auf ihrer Brust trug ein passendes rotes Shirt. Die Situation war ihr erkennbar peinlich, sie war noch in dem Alter, in dem man am liebsten keine Mutter gehabt hätte, außer man brauchte Geld oder Anteilnahme. Andy erinnerte sich gut an dieses zwiespältige Gefühl. An den meisten Tagen ging es ihr näher, als es ihr recht war. Es war eine universell anerkannte Wahrheit, dass eine Mutter sagen konnte: »Dein Haar sieht hübsch aus«, aber was man hörte – und nur bei ihr hörte –, war: »Dein Haar sieht eigentlich immer furchtbar aus, nur ausnahmsweise jetzt gerade nicht.«

»Shelly, das ist Dr. Oliver.« Betsy Barnard hakte sich besitzergreifend bei ihrer Tochter unter. »Shelly fängt im Herbst ihr Studium an der University of Georgia an. Ist es nicht so, Schätzchen?«

»Ich war auch auf der UGA«, sagte Laura. »Das war natürlich zu einer Zeit, als wir unsere Notizen noch in Steintafeln geritzt haben.«

Shellys Verlegenheit steigerte sich noch ein wenig, als ihre Mutter eine Spur zu laut über den schalen Witz lachte. Laura versuchte die Wogen zu glätten, indem sie das Mädchen höflich nach ihrem Hauptfach befragte, nach ihren Träumen, ihren Zielen. Wenn man jung ist, fasst man es als persönlichen Affront auf, so ausgehorcht zu werden, aber als Erwachsener begreift man dann, dass Erwachsene gar nicht in der Lage sind, andere Fragen zu stellen.

Andy starrte auf ihre halb volle Kaffeetasse hinunter. Sie war so müde. Die Nachtschichten – sie konnte sich nicht daran gewöhnen und kam überhaupt nur damit zurecht, indem sie ein Nickerchen an das andere reihte, was dazu führte, dass sie ständig Toilettenpapier und Erdnussbutter aus der Vorratskammer ihrer Mutter klauen musste, weil sie es nie in den Supermarkt schaffte. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter deshalb darauf bestanden, dass sie an ihrem Geburtstag gemeinsam zu Mittag aßen, anstatt zu frühstücken, denn Letzteres hätte es Andy ermöglicht, in ihre Höhle über der Garage zurückzukehren und vor dem Fernseher einzuschlafen.

Sie trank ihren Kaffee aus, der mittlerweile so kalt war, dass er wie zerstoßenes Eis in ihre Kehle schwappte. Sie sah sich nach der Bedienung um. Das Mädchen klebte mit der Nase an ihrem Handy, der Rücken war gekrümmt, und sie kaute schmatzend auf einem Kaugummi.

Andy unterdrückte einen Anflug von Zickigkeit, als sie vom Tisch aufstand. Je älter sie wurde, desto schwerer fiel es ihr, nicht wie ihre Mutter zu werden. Wobei Lauras Ratschläge, im Nachhinein betrachtet, oft sehr gut gewesen waren: Steh gerade, sonst hast du mit dreißig Rückenschmerzen. Trag bessere Schuhe, oder du bezahlst dafür, wenn du dreißig bist. Leb vernünftig, oder du bezahlst dafür, wenn du dreißig bist.

Andy war einunddreißig, und sie bezahlte so viel, dass sie praktisch pleite war.

»Sind Sie Polizistin?« Die Kellnerin sah endlich von ihrem Handy auf.

»Theater im Hauptfach.«

Das Mädchen zog die Nase kraus. »Darunter kann ich mir nichts vorstellen.«

»Geht mir genauso.«

Andy bediente sich beim Kaffee, wobei die Kellnerin sie von der Seite musterte. Vielleicht lag es an der polizeiähnlichen Uniform. Die Kleine machte den Eindruck, als könnte sie ein bisschen Ecstasy oder zumindest eine Tüte Gras in ihrer Handtasche haben. Andy betrachtete ihre Uniform ebenfalls mit Argwohn. Gordon hatte ihr den Job verschafft. Vermutlich hoffte er, sie würde am Ende tatsächlich zur Polizei gehen. Diese Vorstellung hatte sie zunächst abgestoßen, denn für sie waren Polizisten immer üble Typen gewesen. Dann aber hatte sie ein paar Cops kennengelernt und erkannt, dass es größtenteils anständige Menschen waren, die einen echten Scheißjob zu erledigen hatten. Als sie dann ein Jahr lang in der Notrufzentrale gearbeitet hatte, war sie voller Hass gegen jedermann gewesen, weil zwei Drittel der Anrufer nur Idioten waren, die nicht begriffen, was ein Notruf war.

Laura unterhielt sich immer noch mit Betsy und Shelly Barnard. Andy hatte dieses Schauspiel schon unzählige Male miterlebt. Die beiden Frauen wussten nicht, wie man einen eleganten Abgang hinlegte, und Laura war zu höflich, um sie fortzuschicken. Statt zum Tisch zurückzukehren, ging Andy an das große Fenster. Der Diner befand sich an prominenter Stelle im Einkaufszentrum von Belle Isle, in einer Ecke im Erdgeschoss. Jenseits der Promenade konnte sie auf den Atlantik schauen, der von einem heranziehenden Sturm aufgewühlt war. Leute führten ihre Hunde spazieren oder fuhren mit Fahrrädern auf dem Streifen festen Sands.

Belle Isle war weder belle noch im eigentlichen Sinn eine Insel. Es war im Wesentlichen eine von Menschen geschaffene Halbinsel, die entstanden war, als das Pionierkorps der Armee in den Achtzigern den Hafen von Savannah ausgebaggert hatte. Die neue Landmasse war ursprünglich als unbewohnte, natürliche Barriere gegen Wirbelstürme gedacht gewesen, aber dann hatte der Staat Dollarzeichen auf dem neuen Strand blinken sehen. Fünf Jahre nach der Aufschüttung war die Hälfte des Gebiets bereits zubetoniert: Strandvillen, Reihenhäuser, Eigentumswohnanlagen, Einkaufszentren. Der Rest waren Tennis- und Golfplätze. Ruheständler aus dem Norden spielten den ganzen Tag bei schönstem Wetter, tranken zum Sonnenuntergang ihre Martinis und wählten die Notrufnummer, wenn ihre Nachbarn die Mülltonne zu lange an der Straße stehen ließen.

»Himmel«, flüsterte jemand, leise und fies, aber auch eine Spur überrascht, alles zugleich.

Die Luft hatte sich verändert, anders konnte man es nicht beschreiben. Die feinen Härchen in Andys Nacken stellten sich auf. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Nasenlöcher weiteten sich. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Ihre Augen tränten.

Es gab ein Geräusch, wie wenn ein Einmachglas mit Schraubverschluss geöffnet wird.

Andy drehte sich um.

Die Kaffeetasse glitt aus ihren Fingern. Ihr Blick verfolgte sie bis zum Fußboden. Weiße Keramikscherben sprangen von den weißen Fliesen.

Zuerst war es gespenstisch still gewesen, aber nun brach Chaos aus. Schreie. Weinen. Leute, die rannten, sich duckten, den Kopf mit den Händen bedeckten.

Kugeln.

Plopp-plopp.

Shelly Barnard lag auf dem Boden, auf dem Rücken, die Arme von sich gespreizt, die Beine verdreht. Die Augen weit offen. Ihr rotes T-Shirt sah nass aus und klebte an ihrer Brust. Blut rann aus ihrer Nase. Andy sah eine schmale rote Linie über ihre Wange zu ihrem Ohr laufen.

Sie trug winzige Bulldoggen als Ohrstecker.

»Nein!«, schrie Betsy Barnard. »N –«

Plopp.

Andy sah einen Schwall Blut aus dem Nacken der Frau schießen wie Erbrochenes.

Plopp.

Betsys Schädel riss seitlich auf wie eine Plastiktüte.

Sie fiel seitwärts zu Boden. Auf ihre Tochter. Auf ihre tote Tochter.

Tot.

»Mom«, flüsterte Andy, aber Laura war bereits da. Sie lief in geduckter Haltung und mit ausgebreiteten Armen auf Andy zu. Ihr Mund stand offen, die Augen waren riesig vor Angst. Rote Flecken sprenkelten ihr Gesicht wie Sommersprossen.

Andy knallte mit dem Hinterkopf an die Fensterscheibe, als sie zu Boden gerissen wurde. Sie spürte den Atem ihrer Mutter, während ihr selbst die Luft wegblieb. Alles verschwamm vor ihren Augen, bis sie ein Krachen hörte und aufblickte. Feine Risse breiteten sich wie ein Spinnennetz über die Scheibe aus.

»Bitte!«, schrie Laura. Sie hatte sich abgerollt, war auf den Knien, dann auf den Beinen. »Bitte hören Sie auf!«

Andy blinzelte. Sie rieb sich mit den Fäusten die Augen. Etwas scheuerte rau an ihren Lidern. Glas? Dreck? Blut?

»Bitte!«, rief Laura noch einmal.

Andy blinzelte wieder.

Ein Mann richtete eine Waffe auf die Brust ihrer Mutter. Keine Polizistenwaffe, sondern eine mit einer Trommel wie im Wilden Westen. Er war auch entsprechend gekleidet – schwarze Jeans, schwarzes Hemd mit Perlmuttknöpfen, schwarze Lederweste und schwarzer Cowboyhut. Der Waffengurt hing tief auf seinen Hüften. Ein Halfter für die Feuerwaffe, eine lange Lederscheide für ein Jagdmesser.

Hübsch.

Sein Gesicht war jung, faltenlos. Er war in Shellys Alter, vielleicht ein wenig älter.

Aber Shelly war jetzt tot. Sie würde nicht auf die UGA gehen. Sie würde nie mehr von ihrer Mutter in eine peinliche Situation gebracht werden, denn ihre Mutter war ebenfalls tot.

Und der Mann, der sie beide ermordet hatte, richtete nun eine Waffe auf die Brust ihrer Mutter.

Andy setzte sich auf.

Laura hatte nur noch eine Brust, die linke, über dem Herzen. Die rechte war entfernt worden, und sie hatte sich noch keiner plastischen Chirurgie unterzogen, weil sie den Gedanken nicht ertrug, erneut eine solche Prozedur über sich ergehen zu lassen, und jetzt stand dieser Mörder vor ihr und würde ihr eine Kugel in die Brust schießen.

»M–« Das Wort blieb Andy in der Kehle stecken. Sie konnte es nur denken.

Mom.

»Es ist gut.« Lauras Stimme war ruhig, beherrscht. Sie hatte die Hände vorgestreckt, als hätte sie vor, die Kugeln abzufangen. »Sie können jetzt gehen«, sagte sie zu dem Mann.

»Leck mich.« Sein Blick ging zu Andy. »Wo ist deine Waffe, du verdammtes Polizistenschwein?«

Andys ganzer Körper krümmte sich, als wollte er sich zu einer Kugel einrollen.

»Sie hat keine Waffe«, sagte Laura, die immer noch gefasst klang. »Sie ist Sekretärin auf dem Polizeirevier. Sie ist keine Polizistin.«

»Steh auf!«, schrie er Andy an. »Ich sehe doch deine Dienstmarke! Steh auf, du Schwein. Mach deinen Job!«

»Das ist keine Dienstmarke. Nur ein Emblem. Bleiben Sie ganz ruhig.« Laura machte eine beschwichtigende Geste, es sah aus wie früher, wenn sie Andy im Bett zudeckte. »Andy, hör zu.«

»Ihr hört mir zu, ihr verfluchten Schlampen!« Speicheltröpfchen flogen aus dem Mund des Mannes. Er fuchtelte mit dem Revolver. »Steh auf, du Schwein. Du bist die Nächste.«

»Nein.« Laura versperrte ihm den Weg. »Ich bin die Nächste.«

Er ließ seinen Blick zu Laura zurückwandern.

»Erschießen Sie mich.« Laura sprach mit unerschütterlicher Sicherheit. »Ich möchte, dass Sie auf mich schießen.«

Verwirrung schlich sich in die wütende Fratze seines Gesichts. So hatte er sich das nicht gedacht. Die Leute sollten Todesangst haben und sich nicht freiwillig melden.

»Schießen Sie auf mich«, wiederholte Laura.

Der Mann sah über ihre Schulter hinweg zu Andy, dann wieder zurück zu Laura.

»Tun Sie es«, sagte Laura. »Sie haben nur noch einen Schuss übrig, und das wissen Sie auch. In dieser Waffe waren nur sechs Kugeln.« Sie hielt die Hände in die Luft und ließ vier Finger an der linken Hand sehen und einen an der rechten. »Deshalb haben Sie noch nicht abgedrückt. Sie haben nur noch eine Kugel.«

»Sie können nicht wissen …«

»Nur noch eine.« Sie schwenkte den Daumen, um die sechste Kugel anzuzeigen. »Wenn Sie auf mich schießen, wird meine Tochter wegrennen. Habe ich recht, Andy?«

Wie bitte?

»Andy«, sagte ihre Mutter, »ich will, dass du rennst, Schatz.«

Wie bitte?

»Er kann nicht schnell genug nachladen, um dir etwas zu tun.«

»Scheiße!«, schrie der Mann und gab sich alle Mühe, sich wieder in seine Wut hineinzusteigern. »Haltet das Maul! Beide.«

»Andy.« Laura machte einen Schritt auf den Schützen zu. Sie hinkte. Aus dem Riss in ihrer Leinenhose sickerte Blut. Etwas Weißes, wie ein Knochen, ragte heraus. »Hör zu, Schätzchen.«

»Ich sagte: Keine Bewegung!«

»Geh durch die Küche.« Lauras Stimme blieb ruhig. »Dort ist ein Hinterausgang.«

Wie bitte?

»Schluss jetzt, Miststück. Ihr beide.«

»Du musst mir vertrauen«, sagte Laura. »Er kann nicht rechtzeitig nachladen.«

Mom.

»Steh auf.« Laura machte noch einen Schritt vorwärts. »Ich sagte, steh jetzt auf.«

Mom, nicht!

»Andrea Eloise.« Die Mutter-Stimme, nicht die Mom-Stimme. »Steh sofort auf.«

Andy bewegte sich wie von allein. Linker Fuß flach aufgesetzt, rechte Ferse hoch, die Finger berührten den Boden, wie ein Läufer im Startblock.

»Schluss damit!« Der Mann riss die Waffe herum, sodass sie auf Andy zeigte, doch Laura bewegte sich mit ihr. Er schwang sie zurück, und ihr Körper folgte und schirmte Andy ab. Schirmte sie vor der letzten Kugel in der Waffe ab.

»Schießen Sie auf mich«, sagte Laura zu dem Mann. »Na los doch.«

»Scheiß drauf.«

Andy hörte ein Klicken.

Der Abzug? Der Hahn, der auf die Kugel traf?

Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Hände flogen an ihren Mund.

Aber da kam nichts.

Kein Schuss. Kein Schmerzensschrei.

Sie hörte ihre Mutter nicht tot zu Boden fallen.

Boden. Erde. Grab.

Andy zuckte zusammen, als sie aufblickte.

Der Mann hatte die Scheide seines Jagdmessers aufschnappen lassen.

Er zog es langsam heraus.

Fünfzehn Zentimeter Stahl. Gezackt auf der einen Seite, scharf auf der andern.

Er steckte den Revolver in das Halfter und wechselte das Messer in die dominante Hand. Die Klinge zeigte nicht aufwärts, so wie man ein Steakmesser hält, sondern abwärts, so wie man jemanden absticht.

»Was haben Sie damit vor?«, fragte Laura.

Er antwortete nicht. Er zeigte es ihr.

Zwei Schritte vorwärts.

Das Messer ging in einem Bogen nach oben, dann sauste es hinunter, auf das Herz ihrer Mutter zu.

Andy war wie gelähmt, zu verängstigt, um sich zu einer Kugel zusammenzurollen, zu schockiert, um irgendetwas anderes zu tun, als zuzusehen, wie ihre Mutter starb.

Laura streckte die Hand aus, als könnte sie das Messer abwehren. Die Klinge schnitt mitten durch ihre Handfläche. Laura brach nicht zusammen und schrie auch nicht, sondern schloss die Finger um das Heft des Messers.

Es gab keinen Kampf. Der Mörder war zu verblüfft.

Laura entriss ihm das Messer, obwohl die lange Klinge noch aus ihrem Handrücken ragte.

Er taumelte rückwärts.

Er starrte auf das Messer in ihrer Hand.

Eine Sekunde.

Zwei Sekunden.

Drei.

Dann fiel ihm offenbar die Waffe an seiner Hüfte wieder ein. Er fasste mit der rechten Hand nach unten. Seine Finger schlossen sich um den Griff. Der silberne Lauf blitzte auf. Er schwang die linke Hand zu einem beidhändigen Griff an den Revolver, um die letzte Kugel in die Brust von Andys Mutter zu feuern.

Laura holte lautlos mit dem Arm aus und hieb ihm die Klinge mit einer Rückhandbewegung seitlich in den Hals.

Ein Ratschen, als würde ein Metzger eine Scheibe Rindfleisch abschneiden.

Das Geräusch hallte von den Ecken des Raums zurück.

Der Mann stieß ein Keuchen aus. Sein Mund klappte auf und zu wie ein Fischmaul. Seine Augen waren weit aufgerissen.

Lauras Handrücken war an seinem Hals festgenagelt, zwischen dem Griff und der Klinge.

Andy sah, wie sich ihre Finger bewegten.

Etwas klickte. Die Waffe bebte, als der Mann sie anzuheben versuchte.

Laura sagte irgendetwas, mehr ein Knurren als Worte.

Er hob die Waffe höher, versuchte zu zielen.

Sie zog die Klinge quer durch seine Kehle.

Blut, Sehnen, Knorpel.

Kein Sprühnebel wie zuvor. Alles ergoss sich aus der klaffenden Halswunde wie bei einem Dammbruch.

Sein schwarzes Hemd wurde noch schwärzer. Die Perlmuttknöpfe ließen verschiedene Schattierungen von Rosa erkennen.

Die Waffe fiel zuerst.

Dann ging der Mann in die Knie und sank langsam vornüber.

Andy beobachtete seine Augen, als er fiel.

Er war tot, bevor er auf dem Boden aufschlug.

26. JULI 1986

Sie haben versucht, uns zu begraben.

Sie wussten nicht, dass wir Samen waren.

Mexikanisches Sprichwort

7

Martin Quellers Kinder waren auf diese typisch amerikanische Art verkorkst. Zu viel Geld. Zu viel Erziehung. Zu viele Reisen. Zu viel von zu Vielem, sodass das Übermaß an allem sie leer zurückgelassen hatte.

Vor allem das Mädchen zu beobachten war für Laura Juneau nur schwer zu ertragen. Ihre verstohlenen Blicke. Das ständige nervöse Zucken der Finger, als würden sie über einer unsichtbaren Tastatur schweben. Ihr Bedürfnis nach Kontakt erinnerte an einen Oktopus, der auf der Suche nach Nahrung blindlings seine Fangarme ausstreckte.

Was den Jungen anging – nun, er hatte Charme, und einem charmanten Mann verzieh man viel.

»Verzeihung, Madam?« Der politi war schlank und groß gewachsen. Das Gewehr, das über seiner Schulter hing, erinnerte Laura an das Lieblingsspielzeug ihres jüngsten Sohnes. »Haben Sie Ihren Konferenzausweis verlegt?«

Laura sah ihn bedauernd an und stützte sich auf ihren Gehstock. »Ich hatte die Absicht, mich vor meinem Podiumsgespräch noch anzumelden.«

»Soll ich Sie begleiten?«

Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen kamen weder unerwartet, noch waren sie unbegründet. Demonstranten reckten vor dem Konferenzzentrum in Oslo ihre Plakate in die Höhe – die übliche Mischung aus Anarchisten, Antifaschisten, Skinheads und Störenfrieden, dazu ein paar von Norwegens pakistanischen Einwanderern, die wütend über die Immigrationspolitik der jüngsten Zeit waren. Die Unruhe war ins Innere der Gesellschaft vorgedrungen, die Mutmaßungen rund um den Prozess gegen Arne Treholt im vergangenen Jahr nahmen kein Ende. Der frühere Politiker der Arbeiterpartei saß eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen Hochverrats ab. Es gab Leute, die überzeugt waren, die Russen hätten weitere Spione in die norwegische Regierung eingeschleust. Noch mehr befürchteten, der KGB würde sich wie eine Hydra über ganz Skandinavien ausbreiten.

Der politi drehte sich um, um sicherzugehen, dass ihm Laura folgte. Der Gehstock war hinderlich, aber sie war erst dreiundvierzig, nicht dreiundneunzig. Trotzdem bahnte er ihr einen Weg durch das Gedränge beleibter alter Männer in kastenförmigen Anzügen, die allesamt Ausweisclips mit Namen, Nationalität und Fachgebiet am Revers trugen. Es gab die zu erwartenden Sprösslinge von Top-Universitäten – MIT, Harvard, Princeton, Cal Tech, Stanford – neben den üblichen Verdächtigen: Exxon, Tenneco, Eastman Kodak, Raytheon, DuPont, und als Verbeugung vor dem Hauptredner Lee Iacocca war auch eine stattliche Auswahl an Führungspersonal der Chrysler Motor Company zugegen.

Der Anmeldetisch stand unter einem großen Banner mit dem Schriftzug Welcome to G-Fab. Wie alles beim Global Finance and Business Consortium waren die Worte außer in Englisch auch in Französisch und Deutsch geschrieben sowie zu Ehren der Gastgeber in Norwegisch.

»Danke«, sagte Laura zu dem Polizisten, aber der Mann ließ sich nicht abwimmeln. Sie lächelte die Frau an, die an dem Tisch saß, und trug ihre einstudierte Lüge vor: »Ich bin Dr. Alex Maplecroft von der University of California in Berkeley.«

Die Frau blätterte in einem Register mit Karteikarten und zog den entsprechenden Ausweis hervor. Einen Moment lang dachte Laura erleichtert, sie würde ihn ihr einfach aushändigen, aber dann sagte die Frau: »Ihren Pass bitte, Madam.«

Laura lehnte den Stock an den Tisch, zog den Reißverschluss ihrer Handtasche auf und griff nach ihrer Brieftasche. Sie bemühte sich, das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken.

Sie hatte das geübt. Nicht praktisch, aber in Gedanken war Laura alle Schritte durchgegangen: Wie sie sich dem Anmeldetisch näherte, ihre Brieftasche hervorholte und den gefälschten Pass vorzeigte, der sie als Alexandra Maplecroft, Professorin für Wirtschaftswissenschaften, auswies.

Es tut mir sehr leid, aber könnten Sie sich bitte beeilen? Meine Diskussionsrunde beginnt in wenigen Minuten.

»Madam.« Die Frau am Tisch sah Laura nicht in die Augen, sondern blickte auf ihr Haar. »Würden Sie den Ausweis freundlicherweise aus der Brieftasche holen?«

Eine weitere Überprüfung, die Laura nicht vorausgesehen hatte. Immer noch zitterten ihre Hände leicht, als sie die Karte aus der Klarsichthülle zu ziehen versuchte. Der Fälscher in Toronto hatte behauptet, der Ausweis sei perfekt – andererseits war Täuschung nun einmal der Beruf des Mannes. Was, wenn das Mädchen am Tisch einen Fehler entdeckte? Was, wenn sich die Organisatoren auf irgendeinem Weg ein Foto der echten Alex Maplecroft beschafft hatten? Würde der Polizist sie dann in Handschellen abführen? Würden sechs Monate sorgfältiger Planung wegen einer simplen Plastikkarte zunichtegemacht?

»Dr. Maplecroft!«

Alle wandten sich zur Quelle des Ausrufs um.

»Andrew, komm, ich stelle dir Dr. Maplecroft vor.«

Laura hatte Nicholas Harp immer schon für atemberaubend attraktiv gehalten. Tatsächlich sog auch die junge Frau am Anmeldetisch scharf die Luft ein, als er nähertrat.

»Dr. Maplecroft, wie schön, Sie wiederzusehen.« Nick ergriff ihre Hand mit seinen beiden Händen und schüttelte sie. Sein kurzes Blinzeln sollte sie eindeutig beruhigen, aber von diesem Punkt an würde es für Laura keine Beruhigung mehr geben. »Ich war in Ihrer Wirtschaftsvorlesung in Berkeley: Rassen- und Gender-Disparitäten in westlichen Volkswirtschaften. Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich es mir endlich gemerkt habe.«

»Ja.« Laura war jedes Mal perplex, wie mühelos Nick zu lügen vermochte. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Mister …«

»Harp. Nicholas Harp. Andrew!« Er winkte einen anderen jungen Mann herbei, ähnlich gekleidet mit Chinos und einem hellblauen Polohemd, der ebenfalls gut aussehend, aber etwas weniger attraktiv war als er selbst. Zukünftige Industriekapitäne, diese jungen Männer. Das leicht sonnengebleichte Haar, die in einem gesunden Bronzeton gebräunte Haut. Der hochgestellte Hemdkragen. Die nackten Füße in den weichen Lederslippern.

»Beeil dich, Andy«, sagte Nick. »Dr. Maplecroft hat nicht den ganzen Tag Zeit.«

Andrew Queller wirkte nervös, und Laura konnte ihn verstehen. Der Plan hatte vorgesehen, dass sie alle anonym und getrennt voneinander blieben. Andrew warf jedoch einen Blick auf das Mädchen am Anmeldetisch und schien in diesem Moment zu begreifen, warum Nick das Risiko eingegangen war, die Tarnung aufzugeben. »Dr. Maplecroft, Sie nehmen an Vaters Podiumsgespräch um vierzehn Uhr teil, nicht wahr? ›Gesellschaftspolitische Folgerungen aus der Queller-Korrektur‹?«

»Ja, das stimmt.« Laura bemühte sich um einen natürlichen Tonfall. »Sie sind Andrew, Martins Zweitältester, nicht wahr?«

»Schuldig.« Andrew lächelte dem Mädchen am Tisch zu. »Gibt es ein Problem, Miss?«

Seine Anspruchshaltung übertrug sich unmittelbar. Die junge Frau händigte Laura den Kongressausweis für Dr. Alex Maplecroft aus, und in Sekundenschnelle war Laura legitimiert.

»Danke«, sagte Nick zu dem Mädchen, das im Glanz seiner Aufmerksamkeit strahlte.

»Ja, danke.« Lauras Hände waren nun sehr viel ruhiger, als sie den Ausweis an ihrem marineblauen Blazer befestigte.

»Madam.« Der politi verabschiedete sich.

Laura griff nach ihrem Stock. Sie wollte möglichst schnell von dem Tisch wegkommen.

»Nicht so schnell, Dr. Maplecroft.« Nick, der sich immer gern in Szene setzte, klatschte in die Hände. »Sollen wir Ihnen einen Drink spendieren?«

»Es ist noch sehr früh«, sagte Laura, die tatsächlich etwas zur Nervenberuhigung gebrauchen konnte. »Ich weiß allerdings nicht einmal genau, wie spät es ist.«

»Kurz vor eins«, sagte Andrew. Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch die bereits gerötete Nase. »Tut mir leid, ich habe mir auf dem Flug eine scheußliche Erkältung eingefangen.«

Sie versuchte, sich ihre Traurigkeit nicht anmerken zu lassen, als sie lächelte. Laura hatte von Anfang an den Wunsch verspürt, ihn zu bemuttern. »Sie sollten eine heiße Suppe zu sich nehmen.«

»Das sollte ich wohl.« Er steckte das Taschentuch wieder ein. »Dann sehen wir Sie in einer Stunde? Ihr Podiumsgespräch findet im Raufoss-Ballsaal statt. Vater wurde angewiesen, zehn Minuten vor der Zeit dort zu sein.«

»Vielleicht wollen Sie sich ja vorher noch frisch machen.« Nick wies mit einer Kopfbewegung zur Damentoilette. Er kostete das Täuschungsmanöver in vollen Zügen aus. »Ein Wunder, dass sie die Damentoiletten überhaupt geöffnet haben, Dr. Maplecroft. Die Ehefrauen sind alle bei einem Einkaufsbummel in Storo. Wie es scheint, sind Sie die einzige Frau, die für eine Teilnahme an der Konferenz eingeteilt wurde.«

»Nick«, mahnte Andrew. »Zwischen dumm und clever verläuft nur eine schmale Linie.«

»Autsch, alter Junge. Ich weiß, es ist Zeit, sich zu verziehen, wenn du anfängst, aus Spinal Tap zu zitieren.« Nick blinzelte Laura noch einmal zu, ehe er sich von Andrew wegführen ließ. Der Strom der alten Herren in Anzügen nahm Fahrt auf, als die beiden Jungspunde, die so voller Leben und Möglichkeiten steckten, in seinem Kielwasser mitschwammen.

Laura schürzte die Lippen und tat, als müsste sie unbedingt etwas in ihrer Handtasche finden, während sie ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen versuchte.

Wie so häufig, wenn sie mit Nick und Andrew zusammen war, fühlte sich Laura an ihren ältesten Sohn erinnert. An dem Tag, an dem er ermordet wurde, war David Juneau sechzehn Jahre alt gewesen. Der Flaum auf seinem Kinn hatte Ähnlichkeit mit einem Bart bekommen. Sein Vater hatte ihm vor dem Badezimmerspiegel bereits gezeigt, wie viel Rasierschaum er benutzen musste und wie er das Rasiermesser an der Wange abwärts- und am Hals aufwärtsführen sollte. Laura erinnerte sich noch gut an diesen frischen Herbstmorgen, ihren letzten gemeinsamen Morgen, und wie die Sonne die feinen Härchen an Davids Kinn zum Leuchten gebracht hatte, als sie Orangensaft in sein Glas goss.

»Dr. Maplecroft?« Die Stimme klang zögernd, die Vokale waren in dieser typisch skandinavischen Weise gerundet. »Dr. Alex Maplecroft?«

Laura sah sich verstohlen nach Nick um, damit er sie wieder rettete.

»Dr. Maplecroft?« Der Skandinavier hatte sich überzeugt, dass er die richtige Person erwischt hatte. Nichts konnte es mit einem Konferenzausweis aus Plastik aufnehmen, wenn es um Legitimation ging. »Professor Jacob Brunstad, Norges Handelshøyskole. Ich wollte unbedingt mit Ihnen über …«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Professor Brunstad.« Laura schüttelte kräftig seine Hand. »Sollen wir uns nach meinem Podiumsgespräch unterhalten? Es findet in weniger als einer Stunde statt, und ich muss meine Unterlagen noch ordnen. Ich darf doch auf Ihr Verständnis hoffen?«

Er war zu höflich, um zu widersprechen. »Natürlich.«

»Ich freue mich auf später.« Laura wandte sich ab und ging mit ihrem Gehstock davon.

Sie schob sich in die Menge der weißhaarigen Männer mit Pfeifen und Zigaretten und Aktentaschen und Pappheftern in den Händen. Dass man sie anstarrte, war nicht zu leugnen. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, während sie vorwärtsdrängte. Sie hatte Dr. Alex Maplecroft ausgiebig studiert und wusste, dass die Arroganz der Frau legendär war. Laura hatte von den hinteren Reihen überfüllter Lehrsäle aus verfolgt, wie Maplecroft langsamere Studenten fertigmachte, hatte gehört, wie sie Kollegen scharf dafür tadelte, nicht schnell genug zur Sache zu kommen.

Oder vielleicht war es weniger Arroganz als vielmehr eine Art Mauer, die Maplecroft um sich errichtet hatte, um sich vor den Blicken zorniger Männer zu schützen. Nick hatte recht, wenn er sagte, dass die renommierte Wirtschaftsprofessorin die einzige Frau war, die auf der Konferenz sprach. Die vorwurfsvollen Blicke – Warum trägt diese Servierkraft keine Uniform? Warum leert sie unsere Aschenbecher nicht? – waren ihr mehr als sicher.

Laura zögerte. Unter all den prüfenden Blicken durfte sie keinesfalls umkehren. Sie bog scharf rechts ab und fand sich vor der geschlossenen Glastür wieder, die zur Bar führte.

Glücklicherweise war die Tür nicht abgesperrt.

Kalter Rauch mit einer Note von teurem Whiskey hing in der Luft. Es gab eine hölzerne Tanzfläche mit einer abgedunkelten Discokugel. Die Tische standen etwas tiefer. Verdunkelte Spiegel waren an der Decke befestigt. Lauras Uhr zeigte die Zeit in Toronto an, aber dem leeren Raum nach zu schließen war es noch zu früh für einen anständigen Drink.

Nach dem heutigen Tag würde Dr. Maplecrofts Ruf die geringste ihrer Sorgen sein.

Laura hörte, wie jemand auf dem Piano klimperte, als sie am Ende der Theke Platz nahm. Sie lehnte ihren Stock an die Wand. Ihre Hand war zuverlässig ruhig, als sie die Marlboro-Packung aus ihrer Handtasche fischte. In dem gläsernen Aschenbecher lag eine Schachtel Streichhölzer. Das Auflodern, als der Tabak Feuer fing, beruhigte ihre angespannten Nerven.

Der Barkeeper kam durch die Schwingtür herbeigeeilt. Er war kräftig, mit einer weißen Schürze um den mächtigen Bauch. »Madam?«

»Einen Gin Tonic bitte«, sagte sie leise, denn die misstönenden Laute vom Klavier waren in eine bekannte Melodie übergegangen. Nicht Rossini, nicht einmal Edvard Grieg, den man hier vielleicht erwarten konnte, sondern ein langsames Stück, das sich in ein schwungvolles Tempo steigerte.

Laura lächelte und blies eine Rauchwolke aus.

Sie kannte das Lied aus dem Radio. A-ha, die norwegische Popband mit dem lustigen Zeichentrickvideo. »Take On Me« oder »Take Me On« oder eine Variation dieser Worte, die bis zum Erbrechen über einem erbarmungslos fröhlich klimpernden Keyboard-Sound gesungen wurden.

Als Lauras Tochter noch lebte, hatte diese Art süßlicher Synthie-Pop ständig auf deren Plattenspieler gedudelt, war aus ihrem Walkman oder sogar aus ihrer Kehle gekommen, weil Lila gern unter der Dusche sang. Jede Autofahrt, wie kurz sie auch sein mochte, begann damit, dass ihre Tochter das Autoradio auf den Sender The Quake einstellte. Laura nahm kein Blatt vor den Mund, wenn sie ihrer Tochter erklärte, warum ihr diese albernen Songs auf die Nerven gingen. Die Beatles, die Stones, James Brown, Stevie Wonder – das waren Künstler!

Laura hatte sich so alt gefühlt wie noch nie, als sie sich mit Lila ein Madonna-Video auf MTV ansehen musste. Die einzige halbwegs positive Bemerkung, die ihr über die Lippen kam, war: »Ganz schön mutig, dass sie ihre Unterwäsche außen trägt.«

Laura holte eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche und wischte sich über die Augen.

»Madam.« Aus dem Mund des Barkeepers klang das Wort wie eine Entschuldigung, als er ihren Drink auf einer Cocktailserviette abstellte.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Laura war überrascht, Jane Queller plötzlich an ihrer Seite zu finden. Andrews Schwester war eine vollkommen Fremde für sie und hatte es auch bleiben sollen. Laura bemühte sich, zu verbergen, dass sie das Mädchen erkannte. Sie hatte es immer nur auf Fotos gesehen oder aus großer Entfernung. Aus der Nähe sah sie jünger aus als ihre dreiundzwanzig Jahre, und ihre Stimme war tiefer, als Laura sie sich vorgestellt hatte.

»Bitte verzeihen Sie die Störung«, sagte Jane. Sie hatte Lauras Tränen bemerkt. »Ich saß nur gerade da drüben und habe mich gefragt, ob es zu früh ist, allein zu trinken.«

Laura fing sich rasch. »Das ist es definitiv. Trinken Sie etwas mit mir?«

Jane zögerte. »Sind Sie sicher?«

»Ich bestehe darauf.«

Jane setzte sich und deutete dem Barkeeper mit einem Kopfnicken an, dass sie das Gleiche wollte wie Laura. »Ich bin Jane Queller. Ich glaube, ich habe Sie mit meinem Bruder Andrew sprechen sehen.«

»Alex Maplecroft.« Zum ersten Mal bei dieser ganzen Unternehmung bedauerte Laura eine Lüge. »Ich bin in …« – sie sah auf die Uhr an der Wand – »fünfundvierzig Minuten mit Ihrem Vater bei einer Podiumsdiskussion.«

Jane bemühte sich unbeholfen, ihre Überraschung zu maskieren. Wie es Laura so oft erlebte, ging der Blick des Mädchens zu ihrem Haaransatz. »Ihr Foto war nicht im Konferenzverzeichnis.«

»Ich bin kein Fan von Fotos.« Laura hatte Alex Maplecroft dasselbe bei einer Vorlesung in San Francisco sagen hören. Wie die Verkürzung ihres Vornamens diente es dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass sie eine Frau war, denn sie war überzeugt, nur so sicherstellen zu können, dass ihre Arbeit ernst genommen wurde.

»Ist mein Vater Ihnen je persönlich begegnet?«, fragte Jane.

Laura fand die Formulierung seltsam – dass sie sich nicht danach erkundigte, ob sie Martin Queller einmal begegnet war, sondern ob Martin Queller ihr begegnet war. »Nein, nicht dass ich mich erinnerte.«

»Ich glaube, dann werde ich es sogar genießen, mir eine der Diskussionsrunden des alten Herrn anzuhören.« Jane griff nach ihrem Glas, kaum dass der Barkeeper es abgestellt hatte. »Sie wissen sicherlich um seinen Ruf.«

»Ja.« Laura hob das Glas, um ihr zuzuprosten. »Irgendwelche Ratschläge?«

Jane zog nachdenklich die Nase kraus. »Ignorieren Sie die ersten fünf Worte, die er an Sie richtet, denn sie sind nicht dazu gedacht, Ihnen ein gutes Gefühl zu geben.«

»Ist das eine allgemeine Regel?«

»Sie steht im Familienwappen.«

»Vor oder hinter Arbeit macht frei

Jane verschluckte sich bei der Bemerkung und spuckte Gin Tonic auf die Theke. Rasch wischte sie das Malheur mit der Cocktailserviette auf. Ihre langen, eleganten Finger wirkten ungeeignet für diese Arbeit. »Darf ich mir eine Zigarette von Ihnen schnorren?«

Laura schob ihr die Packung hin, warnte aber: »Die werden Sie umbringen.«

»Ja, das sagt Dr. Koop auch.« Jane hielt die Zigarette zwischen den Lippen und schob die Schachtel mit den Streichhölzern auf, verstreute sie aber alle über die Theke. »Himmel, tut mir leid.« Jane sah aus wie ein schuldbewusstes Kind, als sie die Streichhölzer wieder einsammelte. »Jinx der Tollpatsch hat wieder zugeschlagen.«

Die Phrase klang einstudiert. Laura konnte sich vorstellen, dass Martin Queller einzigartige und präzise Wege gefunden hatte, seine Kinder daran zu erinnern, dass sie nie perfekt sein würden.

»Madam?« Der Barkeeper war mit einem Feuerzeug aufgetaucht.

»Danke.« Jane ließ sich Feuer geben, inhalierte tief und schloss dabei die Augen wie eine Katze, die einen Sonnenstrahl genießt. Als sie bemerkte, dass Laura sie beobachtete, stieß sie lachend eine Rauchwolke aus. »Tut mir leid, ich war drei Monate in Europa. Es tut gut, wieder eine amerikanische Zigarette zu rauchen.«

»Ich dachte, die ganzen jungen Ausgewanderten dort rauchen Gauloises und diskutieren über Camus und die Tragödie der Condition humaine

»Schön wär’s.« Jane hustete eine weitere Wolke Rauch aus.

Plötzlich wurde Laura von einer Woge mütterlicher Gefühle für das Mädchen erfasst. Am liebsten hätte sie ihr die Zigarette aus der Hand gerissen, aber sie wusste, die Geste wäre sinnlos. Mit dreiundzwanzig hatte sich Laura sehnlichst gewünscht, dass die Jahre schneller vergingen, dass sich ihr Leben als Erwachsene festigte, sie sich etablierte, zu jemandem wurde. Sie hatte noch nicht das Verlangen gespürt, die Zeit abzustreifen wie ein nasses Baumwolltuch, das einem im Gesicht klebt. Kein Gedanke daran, dass ihr eines Tages der Rücken beim Treppensteigen wehtun könnte, dass ihr Bauch nach einer Schwangerschaft erschlaffte, dass ein Krebstumor ihre Wirbelsäule in Mitleidenschaft ziehen könnte.

»Geben Sie ihm Kontra.« Jane hielt die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, genau wie ihr Bruder. »Das ist mein Rat für Sie, was meinen Vater betrifft. Er erträgt keine Menschen, die ihm widersprechen.«

»Ich habe meinen Ruf dafür aufs Spiel gesetzt, ihm zu widersprechen.«

»Ich hoffe, Sie sind bereit für die Schlacht.« Sie zeigte auf das Getümmel der Konferenzteilnehmer vor den Türen der Bar. »War das Jonas oder Daniel in der Löwengrube?«

»Jonas war im Bauch eines Wals. Daniel war in der Löwengrube.«

»Ja, natürlich. Gott hat einen Engel geschickt, um den Löwen die Mäuler zu verschließen.«

»Ist Ihr Vater wirklich so schlimm?« Zu spät erkannte Laura die Sinnlosigkeit ihrer Frage. Alle drei Queller-Kinder hatten ihren jeweils eigenen Weg gefunden, im Schatten ihres Vaters zu leben.

»Ich bin sicher, Sie können sich gegen Mighty Martin behaupten«, sagte Jane. »Sie wurden ja nicht aus einer Laune heraus zu diesem Kongress eingeladen. Behalten Sie einfach im Hinterkopf, dass er nicht mehr nachgibt, wenn er sich erst einmal in etwas verbissen hat. Alles oder nichts, so läuft das bei den Quellers.« Sie schien keine Antwort zu erwarten. Ihr Blick ging ständig zum Spiegel hinter der Theke, während sie den leeren Raum absuchte. Hier war der Oktopus aus der Eingangshalle wieder, auf der verzweifelten Suche nach Heilung.

»Sie sind Martins Jüngste?«, fragte Laura.

»Ja. Dann gibt es noch Andrew und unseren ältesten Bruder Jasper. Er hat seine ruhmreiche Karriere in der Air Force aufgegeben, um ins Familiengeschäft einzusteigen.«

»Wirtschaftsberatung?«

»Du meine Güte, nein. Die Seite, auf der Geld verdient wird. Wir sind alle schrecklich stolz auf ihn.«

Laura achtete nicht auf den Sarkasmus. Sie kannte die Einzelheiten von Jasper Quellers Aufstieg sehr gut. »Waren Sie das eben am Klavier?«

Jane verdrehte selbstironisch die Augen. »Grieg erschien mir zu aphoristisch.«

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