×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Carillon Point – Wo das Glück dich findet«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Carillon Point – Wo das Glück dich findet« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Carillon Point – Wo das Glück dich findet

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Ein Anruf genügt, um Allisons Glück zu zerstören. Aus dem Gefängnis. Ihr Ehemann Peter wurde verhaftet und lässt Allison schwanger und mittellos zurück. Allisons Stieftochter Summer möchte ihr beistehen und bittet ausgerechnet ihre Mutter Erica um Hilfe, Peters kampfeslustige Ex.

Erica würde alles für ihre Tochter Summer tun, auch wenn sie in Allison eine Konkurrentin sieht. Allison wiederum fühlt sich von Ericas Stärke und Erfolg eingeschüchtert. Doch mit der Zeit erkennt Allison, dass Erica genauso dringend eine Freundin braucht wie sie selbst. Können die Frauen ihre Vergangenheit hinter sich lassen und eine neue Antwort darauf finden, was es bedeutet, eine Familie zu sein?


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908141
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Carillon Point – Wo das Glück dich findet

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch
von Gisela Schmitt

HarperCollins

Für Andrea.

Ich wusste immer, dass du mich eines Tages zu einer Figur inspirieren würdest, und hier ist sie.

Erica teilt deine Tatkraft, deine Klugheit und – was am wichtigsten ist – deine Herzlichkeit und Großzügigkeit.

Alles Liebe für dich, meine Freundin.

Ich hoffe, dass deine Träume immer in Erfüllung gehen.

1. Kapitel

»Aber es ist orange!«

»Hab ich gesehen.«

»Ich wusste nicht, dass Haare diesen Farbton annehmen können!«

Erica Sawyer sah von ihrem Laptop auf. Sie hatte sich gerade mit den monatlichen Verkaufszahlen befasst, aber jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Gespräch abgelenkt, das vor ihrer halb geöffneten Bürotür stattfand. Zwei Stimmen waren zu hören. Die ruhigere gehörte zu Daryn, einer ihrer erfahrensten Kräfte bei Twisted, einer Level-Sechs-Mitarbeiterin. Die andere Stimme erkannte Erica nicht.

»Hast du die Kundin gefragt, ob sie sich die Haare selbst färbt?«

»Ja! Zwei Mal sogar!« Die Stimme der unbekannten Frau klang tränenerstickt. »Anscheinend hat sie gelogen.«

»Soll vorkommen.« Daryn klang eher resigniert als überrascht.

Die Unterhaltung war noch nicht beendet, aber die Frauen hatten sich außer Hörweite bewegt.

Erica schaute wieder auf ihre Kalkulationstabelle und sagte sich, dass Daryn die Lage vollkommen im Griff hatte – ein Problem, das die neue Kollegin wohl aus reiner Selbstüberschätzung verursacht hatte. Oh, und natürlich, weil die Kundin gelogen hatte. Selbst wenn Daryn Schwierigkeiten bekam, konnte sie sich zunächst an ihre Supervisorin wenden – und wenn auch die nichts tun konnte, gab es immer noch die Geschäftsleitung. Zwischen Erica und dem Haardrama des Tages gab es etliche Ebenen. Um ihr Unternehmen erfolgreich zu leiten, musste sie sich darauf verlassen können, dass ihre Mitarbeiterinnen sich selbstständig um solche Vorkommnisse kümmerten. Für sie selbst bedeutete das im Gegenzug, sich aus den alltäglichen Problemen herauszuhalten.

Drei Minuten später ertappte sie sich jedoch dabei, wie sie leise fluchend ihr Büro verließ. Anscheinend war sie doch nicht die Art von Chefin, die sie eigentlich sein wollte.

»Nein, ich werde mich nicht einmischen«, murmelte sie auf dem Weg zum Salon. »Ich will nur wissen, worum es geht.«

Sie entdeckte die Kundin auf Anhieb. Das leuchtend orangefarbene, schulterlange Haar der Frau war kaum zu übersehen, ebenso wenig wie die Tränen der Frau. Schon ihre Körpersprache wies darauf hin, dass der Tag für Erica eine unangenehme Wendung nehmen würde.

Sie ging weiter in den hinteren Raum, in dem die Stylistinnen die Farben anmischten. Daryn nahm bereits einen Farbtest an einer orangefarbenen Haarsträhne vor. Neben ihr stand eine zierliche blonde Frau mit fleckigem Gesicht und Tränen in den Augen.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Erica, als sie zu ihnen trat.

Daryn zuckte mit den Schultern. »Schlimm. Sie hat regelmäßig selbst gefärbt und nichts davon gesagt. Und ich glaube, sie hat die Produkte auch noch gewechselt. Siehst du, dass einige der Strähnen heller sind als die anderen? Sie wollte blond werden. Daraus wird nichts. Wir müssen die alte Farbe wieder annähernd normal hinbekommen und hoffen, dass sich ihr Haar dabei nicht in Spaghetti verwandelt.«

Erica warf der anderen Stylistin einen Blick zu. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Erica Sawyer.«

Die zitternde Frau – Erica schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig – schluckte, dann sagte sie: »Ich heiße Poppy. Und ich weiß, wer Sie sind.«

»Wie erfreulich. Welches Level sind Sie?«

Ihre Stylistinnen wurden auf einer Skala von eins bis sechs eingestuft. Diejenigen, die frisch von der Kosmetikfachschule kamen, begannen als Mitarbeiterinnen, auch Assistentinnen genannt. Sie wuschen Haare, hielten die Alufolie bereit, fegten den Boden. Alle paar Tage durften sie unter Aufsicht an einem Kunden arbeiten. Wenn sie klug waren, hörten sie zu und lernten. Waren sie es nicht, beschwerten sie sich über die lästige Arbeit und kündigten.

Je nach Enthusiasmus und Talent wurden sie innerhalb von sechs bis neun Monaten zu Stylistinnen des Level Eins befördert und begannen, ihren eigenen Kundenstamm aufzubauen. Wenn sie hart arbeiteten, die Unternehmensregeln befolgten und sich nicht krampfhaft um ihre Karriere scherten, konnten sie schnell aufsteigen. Schon mit Level Zwei oder Drei verdiente man als Stylistin bei Twisted um die hunderttausend Dollar pro Jahr. Sobald man Level Vier erreicht hatte, bekam man einen eigenen Assistenten.

»Level Zwei«, sagte Poppy und starrte auf den Fußboden.

»Wie viele Farbkorrekturkurse haben Sie besucht?«

Poppy schien ein wenig zu schrumpfen. »Keinen.« Sie hob den Kopf und sah Erica an. »Sie hat geschworen, dass sie sich noch nie die Haare gefärbt hat.«

»Und Sie haben ihr geglaubt? Hat es sich angefühlt wie unbehandeltes Haar?«

Poppy sackte in sich zusammen. »Nein. Deshalb habe ich extra noch mal gefragt.«

»Und sie hat wieder gelogen.«

»Ich dachte, es wäre in Ordnung so.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es tut mir so leid, Ms. Sawyer. Wirklich. Sehr leid. Ich habe es vermasselt, aber ich kann es wiedergutmachen.«

»Nein, das können Sie nicht, und genau das ist das Problem.« Erica richtete ihre Aufmerksamkeit auf Daryn. »Kriegst du das wieder hin?«

Daryn grinste. »Es verletzt mich, dass du das fragen musst.« Ihr Grinsen verschwand. »Ich bin den ganzen Nachmittag ausgebucht, und das hier wird eine Weile dauern.«

»Wann kommt deine nächste Kundin?«

Daryn warf einen Blick auf die große Wanduhr. »In zehn Minuten. Ein einfacher Schnitt und Ansatz färben. Beim letzten Mal haben wir Strähnchen gemacht. Ein klassischer Bob.« Daryn wies mit dem Kopf auf Poppy. »Das könnte sie machen.«

»Sehr vertrauensvoll von dir.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Poppy. »Sie möchten, dass ich Daryns Kundin übernehme?«

»Im Moment möchte ich vor allem, dass Sie hierbleiben. Wir werden versuchen, die Sache zu klären, und Sie kommen nach Ende Ihrer Schicht in mein Büro.«

Erica ging an der Rezeption vorbei und bat um eine Benachrichtigung, sobald Daryns Kundin da war. Dann ging sie zurück in den Salon und zu der Lügnerin mit dem orangefarbenen Haar.

Die Frau war Anfang vierzig und recht hübsch. Ihr Botox war nicht besonders gelungen. Wer auch immer ihr die Lippen unterspritzt hatte, hatte viel zu viel Filler benutzt, aber die Kieferpartie war gut gelungen.

Erica stellte sich der Frau vor, die sie ausdruckslos anstarrte.

»Oh mein Gott! Sie sind Erica Sawyer!«

Ah, gut. Ein Fan – oder zumindest jemand, der zumindest schon mal von ihr gehört hatte. Das machte die Sache einfacher.

Erica lehnte sich an den Tresen und schüttelte den Kopf. »Das haben wir wohl vermasselt, was?«

Die Kundin fing wieder an zu weinen, während sie sich im Spiegel betrachtete. »Ich fasse es einfach nicht. Dieses Mädchen – ich habe ihren Namen nicht mitbekommen – hat behauptet, es wüsste, was es tut. Aber anscheinend nicht. Ich bin überrascht, dass Sie jemanden wie sie hier arbeiten lassen. Von Twisted habe ich anderes erwartet.«

Erica stellte sich hinter die Kundin und berührte leicht ihr Haar. »Wie lange färben Sie schon selbst?«

»Was?« Die Frau errötete. »So was würde ich nie tun!«

»Das Problem ist weniger die Farbe. Es sind die Mineralien, die einige Hersteller benutzen. Ich könnte jetzt die chemischen Details erklären, aber um es kurz zu machen: Manche Selbstfärbeprodukte vertragen sich nicht gut mit anderen Farben. Als Poppy den Farbton Ihres – wie ihr versichert wurde – natürlichen Haares anheben wollte, haben sich die Mineralien in den Vordergrund gespielt. Sie müssen zugeben – dieses Orange ist spektakulär.«

Sie legte der Frau die Hände auf die Schultern. »Unsere größte Sorge ist allerdings, dass Ihnen die Haare ausfallen.«

»Was?«, kreischte die Frau auf, worauf sich mehrere Kundinnen umdrehten und sie anstarrten. »Nein. Nein! Das dürfen Sie nicht zulassen!« Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Bitte, helfen Sie mir. Okay, ja, ich färbe mir schon seit Jahren die Haare selbst. Ich wusste nicht, dass das eine so große Sache ist. Es tut mir wirklich leid. Retten Sie einfach meine Haare. Bitte!«

Erica hatte keinerlei Verständnis für die Frau. Sagt doch einfach die Wahrheit, Leute! Wenn die Kundin es gleich zugegeben hätte, hätte Poppy gewusst, dass sie überfordert war, und ihr einen neuen Termin mit einer erfahreneren Stylistin geben können. Problem gelöst.

»Wir werden Sie jetzt wieder mit einer normalen Haarfarbe versorgen«, sagte Erica in einem beruhigenden Ton. »Ich würde vorschlagen, die Haare etwas kürzer zu tragen, bis der Schaden rausgewachsen ist. Wir geben Ihnen ein paar Behandlungen mit, die die Haarstruktur stärken. Wenn Sie vorsichtig sind, ist in wenigen Wochen alles so gut wie neu. Dann können wir aus einer fabelhaften Brünetten eine blonde Schönheit machen.«

Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Wenn Sie Ihr Haar allerdings färben, bevor alles vollständig rausgewachsen ist, wird es nach und nach abbrechen, bis nur noch Stoppeln übrig sind. Haben Sie das verstanden?«

Die Frau nickte. »Ja.«

»Gut.« Erica hielt inne. »Eine Farbkorrektur kostet sechshundert Dollar, das Dreifache des Preises, mit dem Sie gerechnet haben. Manchmal lügen Kundinnen, damit sie günstiger wegkommen. Aber als so jemanden schätze ich Sie nicht ein.«

Wieder errötete die Frau. »Nein, so was würde ich nie tun. Ich zahle das gern.«

Erica hielt ihren Blick noch ein paar Sekunden im Spiegel, bevor sie ihr ein schwaches Lächeln zeigte. »Aber wir bleiben heute bei dem besprochenen Preis. Daryn wird gleich hier sein, um sich um Sie zu kümmern. Sie ist eine der Besten. Bei ihr sind Sie in guten Händen.«

Erica ging noch einmal zur Rezeption und markierte die Rechnung, damit die Kundin nur den ursprünglichen Preis zahlen musste. Hoffentlich besaß sie wenigstens genug Klasse, um Daryn ein gutes Trinkgeld zu geben. Sie schickte ihrer Büroleiterin eine kurze Nachricht, um sie wissen zu lassen, dass Daryn für die Dienstleistung voll bezahlt werden sollte, dann stellte sie sich Daryns eigentlicher Kundin vor und erklärte ihr, dass es eine kurzzeitige Krise gegeben hatte.

»Wenn Sie einen neuen Termin bei Daryn vereinbaren möchten, werden wir Sie so schnell wie möglich reinpacken. Aber mit ihrer Kollegin Poppy werden Sie auch sehr zufrieden sein. Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.« Erica zögerte kurz. »Wie auch immer, ich würde Ihnen gerne eine kostenlose Haarmaskenbehandlung anbieten. Als kleines Dankeschön für Ihr Verständnis.«

Die Kundin schaute an Erica vorbei in Richtung Salon. Sie zögerte.

»Hat das was mit der Frau mit den scheußlichen orangefarbenen Haaren zu tun? Was ist denn da passiert?«

Erica lächelte. »Glauben Sie mir, das wollen Sie lieber nicht wissen. Darf Poppy übernehmen?«

»Natürlich. Vielen Dank. Ich freue mich schon auf die Haarmaske.«

»Die mit Lavendel ist mein Favorit. Ich sorge dafür, dass Sie die bekommen.«

»Klingt gut.«

Zwanzig Minuten später kümmerte sich Daryn um das orangefarbene Haar, und Poppy mischte unter der Aufsicht einer anderen Stylistin Farbe. Erica zog sich in ihr Büro zurück, wo sie Notizen über die Geschehnisse in den Rechner tippte und an ihre Büroleiterin schickte.

Kurz nach vier ertönte ein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür. »Herein!«

Eine sehr blasse und verheulte Poppy trat ein. »Sie wollten mich sprechen.«

Erica deutete auf einen der Stühle gegenüber ihrem Schreibtisch. »Wie lief’s mit Daryns Kundin?«

»Gut. Sie war begeistert von der Haarmaske.« Poppy knetete nervös ihre Hände. »Ich dachte, ich kann das. Also, vorher. Ich wollte es nicht vermasseln.«

»Sie wussten, dass die Kundin gelogen hat. Sie wussten, dass sie sich selbst die Haare gefärbt hat und dass Sie nicht in Farbkorrektur geschult sind. Haben Sie denn einen Farbtest gemacht, bevor Sie angefangen haben?«

Poppy starrte in ihren Schoß. »Nein. Die Kundin hatte es eilig und sagte, es wäre in Ordnung.«

»Aber das war es nicht.«

»Nein.«

»Sie haben heute mehrere Regeln unseres Salons gebrochen, Poppy. Ist das der Normalfall bei Ihnen?«

»Nein. Ich würde nie …« Sie wischte sich die Tränen weg. »Ich liebe meinen Job. Ich will besser werden. Ich arbeite hart. Ich dachte wirklich, es wäre okay.«

Erica lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hatte sich in der Zwischenzeit die Mitarbeiterakte der jungen Stylistin angesehen. Sie hatte sich in ihrer Ausbildung gut angestellt und war bei den Kolleginnen beliebt. Die Kundinnen und Kunden buchten gerne Termine bei ihr, und sie hatte eine gute Produktverkaufsbilanz. Außerdem war sie in den sozialen Medien aktiv, und das kam auch dem Salon zugute.

»Wissen Sie, warum es in unserem Salon verboten ist, mit den Kundinnen und Kunden über Privates zu sprechen?«

»Weil dabei zu viel Zeit draufgeht?«

Erica schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Nicht ganz. Die Kunden kommen zu Twisted, um ein Erlebnis zu haben. Es gibt günstigere Salons fürs Haarefärben und einen anständigen Schnitt. Klar, wir sind die Besten – das sollte immer das Ziel sein –, aber bei uns geht es um mehr als das. Unsere Mission besteht darin, dass sich alle unsere Kundinnen und Kunden schön und wichtig fühlen. Wir sorgen dafür, dass sie einen tollen Tag haben und sich rundum wohlfühlen.«

Poppy sah sie verständnislos an. »Okay.«

»Angenommen, Sie lernen einen tollen Mann kennen. Sie schwärmen Ihren Kunden von ihm vor, und alle sind begeistert von den Möglichkeiten, die sich durch die neue Beziehung für Sie ergeben.«

Erica lehnte sich nach vorn. »Aber drei Monate später macht der Mann mit Ihnen Schluss und Sie sind am Boden zerstört. Dann hat Ihre Kundin Mitleid mit Ihnen und macht sich Sorgen um sie. Und anstatt sich auf das Erlebnis für die Kundin zu konzentrieren, dreht sich alles plötzlich nur noch um Sie und Ihre Probleme. Und obwohl Ihre Kundin mit ihrem Schnitt und der neuen Farbe zufrieden ist, wird sie den Salon verlassen, ohne sich so wichtig und schön zu fühlen wie sonst, wenn sie bei uns war.«

»Weil sie sich Gedanken um mich macht?«

»Ganz genau. Deshalb möchten wir, dass Sie mit den Kunden eher über deren Probleme und nicht über Ihre eigenen sprechen. Das macht die Sache einfacher für alle.«

»Das verstehe ich.« Poppy hob das Kinn. »Feuern Sie mich jetzt?«

»Nein. Aber ich werde Sie auf Level Eins zurückstufen und Sie in drei Wochen zu einem Farbseminar schicken. In den nächsten drei Monaten werden Sie jede Farbrezeptur mit einem erfahrenen Stylisten durchgehen. Wenn Sie so gut abschneiden, wie ich es mir vorstelle, kehren Sie auf Level Zwei zurück und sind auf dem besten Weg, Farbspezialistin zu werden. Wie hört sich das an?«

Poppys Augen weiteten sich. Sie sprang auf und umrundete den Schreibtisch, um Erica zu umarmen.

»Vielen Dank!«, rief sie und drückte sie fest. »Ich verspreche, dass ich ab jetzt alles besser machen werde.«

Erica lächelte. »Das weiß ich. Wir machen doch alle mal Fehler. Die Frage ist nur, ob wir daraus lernen oder nicht.«

»Ich werde so viel daraus lernen, dass Sie geschockt sein werden!«

Poppy tanzte praktisch aus ihrem Büro, und Erica sah ihr hinterher. Auch wenn sie nicht gerade begeistert davon war, dass sie nur noch zwei Jahre von der bösen Fünfzig entfernt war – so jung wie Poppy wollte sie nicht noch mal sein.

Ihr Handy vibrierte. Sie warf einen Blick auf das Display und lächelte, als sie eine Textnachricht von ihrer Tochter sah.

Ich häng heute Abend mit Jackson und A ab. Dad ist bis spät mit Kunden unterwegs. Ich hol was zu essen vom Takeaway. Soll ich dir was vorbeibringen?

Erica verging das Lächeln. Dass Summer Zeit mit ihrer Stiefmutter und ihrem Halbbruder verbringen wollte, war gut. Ihre Tochter hatte ein großes Herz und liebte den kleinen Jackson. Aber es versetzte ihr jedes Mal wieder einen Stich, wenn es um Peters neue Familie ging. Natürlich würde sie das ihrer Tochter gegenüber nie erwähnen. Was Summer betraf, so lebte Erica in ständiger Vorfreude auf weitere Neuigkeiten über den kleinen Jackson und die bevorstehende Ankunft seines Schwesterchens. Viel Spaß, tippte sie, obwohl sie verärgert war. Ich hol mir auf dem Heimweg selbst was. Sei um acht zurück. Als Fahranfängerin solltest du nicht zu spät unterwegs sein.

Oh, Mom. Du machst dir zu viele Sorgen. Bin um acht zu Hause.

Es folgten mehrere Herz-Emojis.

Erica erwiderte sie, legte ihr Handy auf den Schreibtisch und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Ihre Tochter war wohlauf und glücklich, und eine Geschäftskrise war erfolgreich abgewendet worden. Bis jetzt war das ein sehr guter Tag.

2. Kapitel

»Wann ist es denn so weit?«

Allison Jenkins lächelte die Kundin an, während sie weitere Lebensmittel zum Scannen über die Kasse zog.

»In drei Monaten.«

»Ihr Erstes?«

»Mein Zweites. Mein Ältester ist achtzehn Monate alt.«

Die andere Frau, eine Mittfünfzigerin mit freundlichem Gesichtsausdruck, zuckte kurz zusammen. »Da werden Sie in den nächsten Jahren aber nicht viel Schlaf bekommen.«

Allison lachte. »Ich habe schon die letzten zwei Jahre kaum geschlafen, da werde ich das wahrscheinlich gar nicht bemerken.«

Ja, sie bekam ihre Kinder sehr kurz hintereinander, aber sie war ja auch schon vierunddreißig. Aufgrund unvorhersehbarer Umstände war bis vor ein paar Jahren überhaupt nicht an ein Baby zu denken gewesen. Aber inzwischen war sie mit einem großartigen Mann verheiratet und schob nichts mehr auf die lange Bank.

»Es ist ein Mädchen«, fügte sie fröhlich hinzu. »Wir wollen sie Bethany nennen.«

»Wie schön. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.«

Allison tippte die restlichen Posten ein und wartete, bis die Kreditkartenzahlung bearbeitet war, bevor sie der Frau den Beleg aushändigte. Zum Glück gab es eine kurze Pause in der Kassenschlange, und sie konnte sich die Zeit nehmen, ihren Rücken zu strecken. In zwanzig Minuten war ihre Schicht zu Ende, dann würde sie Jackson abholen und mit ihm nach Hause fahren. Peter, ihr Mann, würde heute bis nach neunzehn Uhr in Kundenterminen sein. Ihre Stieftochter Summer hatte erwähnt, dass sie vorbeikommen und etwas zu essen mitbringen würde. Die meisten Sechzehnjährigen zogen es vor, mit ihren Freunden abzuhängen, aber Summer betete ihren kleinen Halbbruder an und suchte dauernd nach Gründen, um Zeit mit ihm zu verbringen. Allison war begeistert von ihr und freute sich über ihre Gesellschaft, vom Essen mal ganz abgesehen. Mit einem Kleinkind und einem weiteren Kind auf dem Weg saß das Geld nicht ganz so locker. Außerdem stand das Haus, in dem sie zur Miete wohnten, demnächst zum Verkauf. Sie wollten umziehen, bevor das Baby kam, und sparten dafür. Ein Takeaway-Dinner war also echt was Besonderes.

Allison stempelte pünktlich aus und machte sich dann auf die dreißigminütige Fahrt zu Jacksons Kita. Auf halbem Weg hielt sie an einer Tankstelle. Sie steckte ihre Kreditkarte in den Tankautomaten und wartete darauf, dass ihr Kauf autorisiert wurde. Wenige Sekunden später gab der Automat einen Ton von sich und zeigte ein einziges Wort an: Abgelehnt.

Allison runzelte die Stirn und versuchte es erneut. Der Ton erklang ein zweites Mal. Das ergibt keinen Sinn, dachte sie, denn sie wusste, dass auf ihrem Girokonto genug Geld war. Sie versuchte es mit einer anderen Karte – mit der, die sie nie zu benutzen versuchte – und diesmal klappte es einwandfrei.

Sie machte sich gedanklich eine Notiz, bei der Bank nachzufragen, dann machte sie den Tank voll. Sie erreichte den Parkplatz der Kindertagesstätte zur üblichen Zeit und ging rein, um Jackson abzuholen.

Ihr Sohn sah sie sofort und fing an zu strahlen. Er war ein fröhliches, freundliches Kind, das jeden mochte und selten launisch war. Er war schon ein fröhliches Baby gewesen und hatte jetzt nur hin und wieder ein paar Motzanfälle. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit Bethany auch so viel Glück haben würden.

»Na du«, rief ihre Freundin Liz, die Leiterin der Kita. »Bereit, den kleinen Mann wieder mit nach Hause zu nehmen?«

»Absolut. Wie war er?«

»Er war perfekt. Ich wünschte, sie wären alle so brav wie er.« Das war keine Überraschung für Allison, denn Jackson benahm sich auch anderen Kindern gegenüber freundlich. Er spielte noch nicht richtig mit ihnen, aber er genoss die Gesellschaft und sah den älteren Kindern oft bei ihren Aktivitäten zu.

Allison trug ihren Sohn aus der Abholliste aus, dann ging sie in die Hocke und breitete die Arme aus.

»Wie geht es meinem Lieblingssohn?«, fragte sie, als er sich auf sie stürzte.

»Mommy!«

Er hielt sie mit seinen kleinen Händen ganz fest, und sie wurde von inniger Liebe erfüllt. Das ist es, dachte sie. Dieses Kind, dieser Moment. Das war ein großes Glück.

Er machte einen Schritt nach hinten und tätschelte ihren Bauch. »Bethany hier.«

»Richtig. Nur noch drei Monate.«

Drei lange Monate, dachte sie. Sie wusste, dass das Schlimmste der Schwangerschaft noch vor ihr lag. Wenigstens konnte sie im Moment gut schlafen und der Rücken tat ihr nur an den Tagen weh, an denen sie im Supermarkt arbeitete. Aber über kurz oder lang würde sie die ganze Zeit Schmerzen haben und anfangen, die Minuten bis zur Geburt zu zählen.

Die kurze Fahrt nach Hause verlief ereignislos. Sie parkte in der Einfahrt ihres kleinen gemieteten Hauses, bevor sie Jackson aus seinem Autositz befreite. Drin wechselte sie zuerst seine Windel und holte ihm dann seine Lieblingsklötzchen und einen Spielzeugeimer. Sie setzte sich ihm gegenüber auf den Fußboden und legte die Bauklötzchen in den Eimer. Sobald Jackson damit beschäftigt war, die Klötzchen herauszunehmen und auf den Teppich zu werfen, rief sie die Bank-App auf ihrem Handy auf. Sie hatte gleich mehrere Nachrichten.

Sie klickte auf die erste Nachricht und konnte es nicht fassen. Der Satz »Ihr Herz setzte für einen kurzen Moment aus« war etwas, das sie zwar schon mal gehört, aber selbst noch nie erlebt hatte. Doch in diesem Moment war es so weit.

Ihre Konten wurden gesperrt.

Da stand noch mehr, auch eine Telefonnummer, an die man sich wenden konnte, aber sie las nur diese vier Worte.

Gesperrt? Was hatte das zu bedeuten? Wieso? Hatte deswegen ihre Karte am Tankautomaten versagt?

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ein Schauer durchfuhr sie. Sie spürte, wie sie zu zittern begann, während sie versuchte, die Nummer auf der Benachrichtigung anzurufen. Eine Stimme vom Band führte sie durch den Prozess der Identitätsüberprüfung, dann landete sie für sieben Minuten in einer Warteschleife, bis ein Mitarbeiter das Gespräch entgegennehmen konnte.

Während Musik ertönte und eine Stimme immer wieder sagte: »Aufgrund des unvorhergesehenen Anrufaufkommens sind die Wartezeiten länger als gewöhnlich«, half sie Jackson beim Stapeln der Klötzchen und redete sich ein, dass es sich um einen Fehler handeln musste. Alles würde gut werden. Wenn der Bankmitarbeiter ihr nicht helfen konnte, würde Peter alles regeln, sobald er nach Hause kam.

Ihr Mann war ein Zahlenmensch. Er hatte sein eigenes Buchhaltungsunternehmen. Er kannte sich mit Finanzen, Investments und Steuern aus. Er war der klügste Mann, den sie kannte – und er hatte ein Hochschulstudium absolviert. Keiner in ihrer Familie hatte je das College besucht. In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, war das Geld in fast jeder Familie, die sie kannte, knapp gewesen, und ein Studium war für sie und ihre Freunde nie infrage gekommen. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hatten es nur diejenigen an die Uni geschafft, die ein Sportstipendium bekommen hatten oder echte Superhirne waren. Alle anderen machten eine Ausbildung und gingen auf die Berufsschule oder landeten im Familienunternehmen.

Aber Peter war anders. Heute Abend hatte er ein Treffen mit einem potenziellen Neukunden. So etwas machte er ständig – neue Kunden akquirieren und das Geschäft ausbauen. Seine eigentlich florierende Firma war allerdings durch seine Scheidung finanziell arg gebeutelt worden. Nicht nur, dass seine schreckliche erste Frau Erica ihm sein Hauptgeschäft weggenommen hatte, sie hatte ihn auch noch in der ganzen Stadt schlechtgemacht. Er hatte praktisch bei null anfangen müssen. Aber er hatte es geschafft, weil Peter immer das Richtige tat. Er arbeitete hart und er liebte sie. Dessen war sie sich ganz sicher. »Hier ist Mia von der Northwest Bank of the Pacific. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Allison umklammerte ihr Telefon ganz fest. »Es gibt ein Problem mit meinem Konto. Ich habe die Mitteilung erhalten, dass es gesperrt wurde. Ich weiß nicht einmal, was das genau bedeutet. Was ist da los?«

Trotz ihrer Panik bemühte sie sich darum, dass ihre Stimme ruhig blieb. Jackson spielte fröhlich neben ihr und sie wollte nicht, dass er ihre Angst spürte.

»Alles klar, Mrs. Jenkins. Einen Moment bitte. Ich sehe mal eben nach.« Sie hielt inne. »Oh. Sie haben recht. Ihre Konten sind gesperrt worden. Viel mehr Informationen habe ich dazu leider auch nicht. Offensichtlich hat das Finanzamt eine Untersuchung eingeleitet. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssten Sie mit Ihrem Filialleiter sprechen.«

»Ich verstehe nicht ganz. Was hat das zu bedeuten?«

»Alle Konten, die Sie bei uns haben, sind vorerst gesperrt. Bis wir angewiesen werden, das Geld wieder freizugeben, haben Sie keinen Zugriff darauf.«

Wie bitte? Nein! »Das können Sie doch nicht machen. Das ist unser Geld. Unser Arbeitslohn. Wir brauchen das Geld für die Miete und Lebensmittel. Sie können es uns nicht einfach wegnehmen.«

Die Kundenbetreuerin sagte mit gepresster Stimme. »Wir haben es Ihnen nicht weggenommen, Ma’am. Die Konten sind so lange gesperrt, bis sie von der Finanzbehörde wieder freigegeben werden. Das ist alles, was ich weiß. Es tut mir leid. Sie sollten vielleicht mit einem Anwalt sprechen.«

Als hätte sie einen Anwalt in der Hinterhand! »Ich muss Lebensmittel und Windeln kaufen. Wovon soll ich das bezahlen?«

Die Stimme der Frau klang unbehaglich. »Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Da kann ich nichts machen. Es tut mir leid.«

Es tat ihr leid? Allison kämpfte mit den Tränen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. »Aber es ist unser Geld«, wiederholte sie. »Sie haben kein Recht, es uns vorzuenthalten.«

»Ich fürchte, das haben wir. Denn bei Anzeichen für illegale Aktivitäten sind wir angehalten …«

»Illegale Aktivitäten?« Allisons Stimme überschlug sich jetzt.

Jackson starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Mom?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Alles gut, mein Schatz. Tut mir leid. Alles in Ordnung.«

»Sprechen Sie mit Ihrem Filialleiter«, sagte die Bankmitarbeiterin noch einmal. »Ich kann Ihnen da wirklich nicht helfen. Es tut mir leid.«

Das Gespräch war beendet.

Allison ließ das Telefon fallen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, ihr Puls beschleunigte sich. Angst ergriff sie. Ihr ganzes Geld war weg? Vielleicht nicht für immer, aber zumindest war es fürs Erste nicht verfügbar. Das konnte doch nicht rechtens sein. Alles, was die Frau von der Bank zu ihr gesagt hatte, musste falsch sein.

Sie griff nach ihrem Telefon und rief Peter an. Sicher würde er nicht gestört werden wollen, während er ein Kundengespräch führte, aber das hier konnte nicht warten. Doch der Anruf ging direkt auf die Mailbox.

»Peter, ich bin’s. Ruf mich bitte dringend an, sobald du das abhörst. Unsere Bankkonten wurden gesperrt.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Also, ruf mich an.«

Außerdem schickte sie ihm eine Textnachricht, in der sie ihn ebenfalls bat, sie sofort anzurufen. Nach dem Absenden wartete sie darauf, dass die Nachricht »Gelesen« erschien, aber das passierte nicht. Hatte Peter sein Telefon ausgeschaltet? Das tat er nie. Er schaltete es auf stumm, wenn er in einem Gespräch war, aber mehr nicht.

»Mommy?«

Sie schenkte Jackson ein Lächeln. »Komm, wir gehen in den Garten zum Spielen.«

Bis Peter anrief, brauchte sie Ablenkung.

Ihr war übel. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust, und sie hatte solche Angst, dass sie kaum atmen konnte. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was bei der Bank vor sich ging. Das ergab alles keinen Sinn. Ganz offensichtlich lag ein Fehler vor, aber bis sie mit Peter gesprochen hatte, wusste sie nicht, was sie tun sollte.

Sie spielte mit ihrem Sohn Fangen und mit dem großen Ball, den sie ihm gekauft hatten. Doch nach ein paar Minuten blieb der Kleine stehen und sah sie an.

»Ich hab Hunger.«

»Ich weiß, mein Schatz. Ich mach jetzt was zu essen.«

Noch während sie sprach, wurde ihr bewusst, dass sie kein Abendessen machen musste. Ihre Stieftochter würde ja etwas zu essen mitbringen.

Sie zog ihr Handy heraus und versuchte sich zu erinnern, wann Summer vorbeikommen wollte. Vielleicht hatte sie noch Zeit, um ihr abzusagen. Allison konnte auf keinen Fall eine entspannte Unterhaltung führen, während sie sich Gedanken darüber machte, was bei der Bank los war.

Aber noch bevor sie Summer schreiben konnte, erreichte sie ein Anruf von einer unbekannten Nummer.

»Hoffentlich ist es die Bank«, murmelte sie. »Hallo?«

»Nehmen Sie ein R-Gespräch vom Untersuchungsgefängnis in SeaTac an?«

Der automatisierten Stimme folgte eine Pause, dann sagte jemand »Peter Jenkins«. Es war Peters Stimme.

»Was?«

Sie versuchte zu begreifen. Untersuchungsgefängnis? Im Sinne von Strafanstalt?

Die automatisierte Stimme erklang erneut. »Nehmen Sie ein …«

Sie umklammerte ihr Handy, in ihren Augen brannten Tränen. »Ja. Ja! Peter? Peter! Bist du da?«

Es klickte ein paarmal in der Leitung, dann folgte die Ansage »Dieser Anruf wird mitgeschnitten« und dann ein heiseres »Allison?«.

Allison sank auf die Knie. Das feuchte Gras bemerkte sie gar nicht. »Peter? Wo bist du? Was ist überhaupt los? Ich habe versucht, dich anzurufen. Unsere Konten wurden gesperrt. Sie haben uns alles weggenommen, und als ich angerufen habe, wollten sie mir nichts sagen. Peter?«

»Es tut mir leid.« Seine Stimme war rau, als ob er geweint hätte. Undenkbar. Ihr Mann weinte nie.

»Es tut mir so leid«, fuhr er fort. »Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich wollte mich um dich kümmern.«

Jackson zupfte an ihrem Ärmel. »Ich hab Hunger, Mommy.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Nur eine Minute.« Sie rückte von ihm ab. »Warum rufst du per R-Gespräch an? Wo bist du?«

Sie hörte ein Schluchzen. »Ich wurde verhaftet. Es tut mir so leid. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit. Das ist nicht …« Seine Stimme brach ab. »Allison, hör mir zu. Ich werde das wieder hinbiegen. Ich liebe dich so sehr und ich würde dir nie wehtun.«

In diesem Moment spürte sie, wie ihre Welt mit einem lauten Knall zusammenbrach. Hätte sie gestanden, wäre sie ohnmächtig zu Boden gesunken.

»Festgenommen?« Sie brachte das Wort kaum über die Lippen. Das war nicht zu begreifen. »Du bist im Gefängnis?«

»Ja. Ich versuche, einen Anwalt zu bekommen. Aber das kann ein bisschen dauern.«

»Aber wieso? Du hast doch nichts …« Sie versuchte, ihren Worten einen Sinn zu geben. »Hast du dir etwas zuschulden kommen lassen?«

»Nein. Das ist alles ein Missverständnis. Die Sachlage ist etwas kompliziert, und es gab ein bisschen Verwirrung wegen einiger Konten. Ich bringe das wieder in Ordnung. Du musst mir glauben.«

Das tat sie auch. Er war ihr Ehemann, und sie liebte ihn. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen, was das Geld und das Geschäft anging. »Aber trotzdem bist du im Gefängnis und unsere Konten sind eingefroren.«

»Ich weiß. Und das tut mir leid.«

Es tat ihm leid? Mehr nicht? »Peter, ich muss die Miete zahlen und einkaufen. Wir haben fast keine Windeln mehr. Wie soll das gehen?« Sie berührte ihren Bauch, in dem Bethany gerade Fußballtritte übte. »Ich bin schwanger. Und du sagst mir, du sitzt im Gefängnis? Ich bin schwanger!«

Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter und immer schriller.

Sie hörte Peter im Hintergrund immer wieder beteuern, dass es ihm leidtue.

»Ich melde mich morgen wieder«, sagte er. »Bis dahin werde ich Antworten haben, ich schwöre es. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell gehen würde. Ich war nicht vorbereitet. Aber ich werde es wiedergutmachen. Ich liebe dich, Allison. Dich und Jackson und Bethany. Ihr seid mein Ein und Alles. Ich mache das wieder gut.«

Und dann war er weg. Sie starrte auf ihr Telefon, unfähig zu begreifen, was da geschah. Das konnte alles nicht real sein. Sie musste …

Der Klang von Jacksons Schluchzen drang zu ihr durch. Ihr Sohn stand vor ihr, weinte und deutete auf sie. Sie berührte ihr Gesicht und merkte, dass auch sie weinte. Das hatte sie gar nicht gemerkt. Offensichtlich hatte sie ihrem Sohn mit ihrem Geschrei und ihren Tränen Angst gemacht. Da waren sie schon zwei.

Sie rappelte sich auf, hob Jackson hoch und drückte ihn an sich.

»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte sie und ging mit ihm zurück ins Haus. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist alles in Ordnung. Uns geht es gut.«

Was gelogen war. Aber was sollte sie ihrem achtzehn Monate alten Kind sonst sagen? In der kleinen Küche setzte sie ihn auf den Tresen und berührte dann leicht seine Nase. »Was ist das?«

Jackson starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Daddy.«

Ihr Körper spannte sich an. »Dein Daddy ist beschäftigt. Er wird eine Weile nicht nach Hause kommen.«

Jackson schüttelte den Kopf und deutete auf die Eingangstür. »Daddy.« Er holte tief Luft und heulte dann aus voller Kehle. »Daddy!«

Sie griff nach ihm, aber er wich zurück.

»Daddy!«

»Dad ist nicht da. Er wird heute nicht nach Hause kommen.« Nicht heute und wer weiß, wie lange nicht.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Peter würde nicht nach Hause kommen, weil er im Gefängnis war. Er war eines Verbrechens angeklagt worden, das offenbar so schwerwiegend war, dass ihre Bankkonten eingefroren worden waren. Er war verhaftet worden, und sie wusste nicht, warum. Er hatte davon gesprochen, sich einen Anwalt zu nehmen. Konnte er das vom Gefängnis aus überhaupt tun? Was geschah danach? Das Einzige, was sie über Menschen wusste, die ins Gefängnis und vor Gericht kamen, stammte aus Filmen. So etwas war noch niemandem passiert, den sie kannte.

Die Panik kehrte zurück, zusammen mit der Angst und den Atembeschwerden. Nein! dachte sie verzweifelt. Sie durfte jetzt keine Panikattacke bekommen. Sie musste sich um Jackson kümmern. Es ging ihr gut. Sie konnte atmen.

Also zwang sie sich, ganz bewusst ein- und auszuatmen, aber das Gefühl, dass die Luft irgendwo anders hinging als in ihre Lunge, wurde nur noch stärker. Sie war allein mit einem Kleinkind, sie war schwanger, und sie hatte weder Geld noch eine Möglichkeit, mit ihrem Mann zu sprechen. Sie wusste nicht einmal, wo er war. Okay, ja, im Untersuchungsgefängnis in SeaTac, aber wo war das? Und obwohl sie glauben wollte, dass es nicht schlimmer werden konnte, hatte sie Angst, dass es eben doch noch schlimmer werden würde.

Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie sich und Jackson schützen und gleichzeitig Peter helfen? Sollte sie einen Anwalt anrufen? Sollte sie …

Jackson begann wieder zu weinen. Sie schnappte nach Luft und schlang ihre Arme um ihn. Er klammerte sich an sie und schluchzte so heftig, dass sein kleiner Körper zitterte. Sie gab sich ihren eigenen Tränen hin und weinte genauso laut und hemmungslos wie er. Zehn Sekunden noch, versprach sie sich selbst, dann reiße ich mich wieder zusammen. Wenigstens minderte das Weinen ihr Gefühl von Panik.

Sie und Jackson klammerten sich aneinander. Allison sagte sich, dass sie schon Schlimmeres durchgemacht hatte, aber nichts, was sie jemals erlebt hatte, hatte sie auf diese Situation vorbereitet.

»Bin da!«

Allison blickte auf und sah ihre Stieftochter hereinkommen. Vom Seiteneingang gelangte man geradewegs durch das offene Wohnzimmer in die Küche – was sie an dem kleinen Häuschen immer gemocht hatte. Nur jetzt gerade nicht. Denn so hatte sie keine Möglichkeit, sich und Jackson vor Summer zu verstecken.

Das Lächeln der Sechzehnjährigen verschwand augenblicklich. Sie eilte auf sie zu, stellte das Essen auf dem Tisch ab und streckte die Arme nach Jackson aus.

»Summy!«

Jackson streckte ihr seine Ärmchen entgegen, und sie zog ihn fest an sich. Summer streichelte seinen Rücken, während ihre Aufmerksamkeit auf Allison gerichtet blieb.

»Was ist denn los?«

Allison wischte sich übers Gesicht und tat ihr Bestes, um ein Lächeln vorzutäuschen. »Nicht der Rede wert. Es ist nichts. Du weißt schon, die Schwangerschaftshormone. Ich musste weinen, dann fing er auch an.« Sie winkte ab. »Du weißt ja, wie das ist.«

Summer, auf die typische Teenager-Art groß und schlaksig, musterte sie aufmerksam. »Du lügst doch.« Ihr Ton war schroff. »Sag mir, was los ist.«

Allison hatte Summers Ehrlichkeit und Furchtlosigkeit immer bewundert, wenn es darum ging, über Gefühle zu reden. Aber gerade fand sie diesen Charakterzug unangenehm.

»Uns geht’s gut.«

Summer verdrehte die Augen. Anscheinend hatte Allison sie nicht überzeugen können. Egal. Sie war zu erschöpft, um das jetzt zu vertiefen.

»Hör zu … Es passt gerade nicht so gut«, sagte sie unverblümt. »Warum nimmst du das Essen nicht wieder mit und gehst nach Hause? Ich koche was für Jackson, und wir zwei gehen früh schlafen.«

»Wird nicht passieren.«

Summer trug Jackson ins Badezimmer. Kurz darauf hörte Allison Wasser laufen.

»Lass das Wasser erst ein bisschen warm werden«, sagte Summer mit fröhlicher Stimme. »Genau. Wir waschen uns gemeinsam die Hände. Das macht Spaß, oder? Hast du Hunger? Ich glaube, du wirst das Abendessen lieben.«

Offensichtlich wollte die Teenagerin nicht so schnell wieder gehen. Allison fügte sich in das Unvermeidliche. Sie putzte sich die Nase und wusch sich die Hände. Als das erledigt war, packte sie das Essen aus. Summer war zu ihrem Lieblingsmexikaner gegangen und hatte für gefühlt zwanzig Personen bestellt. Es gab ein Dutzend Hühnchen-Tacos, dazu einen riesigen Salat mit Gemüse und Avocado, und als Beilage Orangenschnitze. Ein Behälter war mit Reis gefüllt, ein anderer mit Pinto-Bohnen. Es gab zwei Packungen mit Enchiladas und die von Jackson heißgeliebte Quesadilla.

Summer kam zurück, sie trug Jackson auf der Hüfte. »Jemand hat wohl Hunger.«

Allison rang sich ein Lächeln ab. »Du oder dein Bruder?«

»Ich schätze, wir beide.«

Summer setzte Jackson in seinen Hochstuhl und holte Teller aus dem Schrank. Aus einem Taco nahm sie ein bisschen Hühnerfleisch und rupfte eine Quesadilla in kleine Stückchen. Dazu gab sie ein paar Gemüsewürfel und zwei Orangenschnitze.

Diesen Teller stellte sie vor Jackson hin und warf Allison einen Blick zu. »Kriegt er seine Milch?«

»Was? Ach so, ja. Natürlich.«

Allison füllte Milch in eine Trinklernflasche und gab sie ihrem Sohn. Dann griff sie eine Flasche von dem seltsamen Kokosnuss-Frucht-Getränk, das Summer im Kühlschrank aufbewahrte, und reichte sie ihrer Stieftochter. Sich selbst schenkte sie Wasser ein, während Summer die Enchiladas in den Kühlschrank stellte.

»Die lassen sich prima morgen fürs Mittag- oder Abendessen aufwärmen.«

Allison konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder Appetit haben würde, aber sie nickte. »Danke. Lieb von dir.«

Wenigstens das meinte sie ernst. Summer war immer so großzügig – sie brachte entweder Essen mit oder kleine Geschenke. Sie war sehr fürsorglich und lieb.

Als Allison und Peter frisch zusammengekommen waren, hatte er ihr Horrorgeschichten über seine kalte, grausame Ex-Frau erzählt. Die Details waren so anschaulich gewesen, dass sie Angst gehabt hatte, seine Tochter kennenzulernen. Aber Summer war offensichtlich ganz anders als ihre Mutter. Von der ersten Sekunde an war sie liebevoll und freundlich gewesen. Sie hatte sich mit Allison gefreut, als sie schwanger geworden war, und noch mehr, als Baby Jackson geboren wurde. Sie war die perfekte Stieftochter. Peter war zu Recht stolz auf sie. Er …

Die Tränen kamen ohne Vorwarnung. Allison versuchte noch, sie wegzublinzeln, aber schon liefen sie ihr die Wangen hinunter. Rasch murmelte sie irgendetwas und rannte in ihr und Peters Schlafzimmer. Doch bevor sie die Tür schließen konnte, war Summer neben ihr.

»Du hast doch was«, sagte der Teenager mit leiser Stimme. »Ich wusste es.« Sie sah sie sorgenvoll an. »Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?« Sie wurde blass. »Ist was mit Bethany?«

»Es ist nicht das Baby.«

Jackson rief: »Summy! Essen!«

»Ich mach das«, sagte Summer. »Aber nach dem Essen sagst du mir bitte, was los ist.«

Allison nickte. Sie war nicht sicher, ob ihr eine überzeugende Lüge einfallen würde. Und wenn nicht, musste sie Summer sagen, dass ihr Vater im Gefängnis war und sie keine Ahnung hatte, warum.

3. Kapitel

Erica checkte ihren Kalender und trug dann ihre Verfügbarkeit in die E-Mail ein. Obwohl sie keine Kundinnen mehr übernahm, weigerte sie sich, ihre Kenntnisse verkümmern zu lassen. Sie besuchte nicht nur die Weiterbildungskurse, die der Salon den Stylistinnen anbot, sondern frisierte auch jeden Monat die Haare einiger ihrer Angestellten. Bei den vier Salons, die sie besaß, dauerte es eine Weile, bis sie sich durch alle gearbeitet hatte, aber sie blieb dran. Es war nicht nur eine gute Möglichkeit für sie, sich über die neuesten Trends zu informieren. Die Zeit, die sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verbrachte, ermöglichte es ihr auch, sie besser kennenzulernen, und auf diese Weise fühlten ihre Angestellten sich ihr stärker verbunden. In den kommenden Wochen standen Haarschnitt und Farbe bei einer Masseurin und einer Nageldesignerin an. Eine Stylistin des Levels Vier bekam Extensions. Bei diesem Termin würde Erica als Assistentin fungieren. Sie war zwar dafür qualifiziert, aber ihr fehlte die nötige Praxis.

In den meisten Monaten schaffte sie es, auf etwa vier Mitarbeiter zu kommen, aber zu dieser Jahreszeit war das unmöglich. Summers Softballsaison stand an, und das bedeutete mindestens zwanzig Spiele in knapp drei Monaten. Erica versuchte, bei jedem Spiel dabei zu sein – sodass die Softballsaison ihre Arbeitszeit stark einschränkte. Trotzdem wollte sie die Mannschaft unterstützen, und das bedeutete, dass sie jedes Mal dabei sein musste.

Nachdem sie ihren Kalender aktualisiert hatte, klappte sie ihren Laptop zu und sah auf die Uhr. Fast acht. Summer würde bald zu Hause sein. Ihre Tochter hielt sich normalerweise an ihre Abmachungen.

Erica lief rastloser als sonst durch ihr Arbeitszimmer. Wenn sie abends allein war und nicht arbeitete, wusste sie oft nicht, was sie tun sollte. Sich allein einen Film anzusehen, machte keinen Spaß, und obwohl sie abends meistens las, war das eher eine Beschäftigung vor dem Schlafengehen.

Ich brauche dringend ein Hobby, dachte sie zum bestimmt siebenundachtzigsten Mal, obwohl sie keine Ahnung hatte, was das sein könnte. Irgendwas selber machen war noch nie ihr Ding gewesen. Sie könnte ihrer Mutter eine Textnachricht schicken und fragen, ob sie Lust auf Gesellschaft hatte. Mara wohnte im ehemaligen Kutschenhaus auf der anderen Seite des Grundstücks. Es war ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, dass ihre Mutter zu Hause war. Mara war die geselligste der drei Sawyer-Frauen. Sie hatte einen großen Freundeskreis und eine ständig wechselnde Auswahl an Männern, mit denen sie in unregelmäßiger Regelmäßigkeit wilde Sachen machte. Erica versuchte sich oft einzureden, dass sie froh sein sollte, dass ihre siebzigjährige Mutter noch ein gesundes Sexleben hatte. Während sie intellektuell damit klarkam, fand sie den abstrakten Gedanken, dass die eigenen Eltern Sex hatten, allerdings irgendwie abstoßend. Es gab eben Dinge, die wollte man von seinen Eltern lieber nicht wissen.

Sie ging Richtung Wohnzimmer. Sobald Summer zu Hause war, würde sie ein Bad nehmen und sich vielleicht eine Minigesichtsbehandlung gönnen. Das würde sie für den Rest des Abends beschäftigen. Morgen würde sie sich dann ernsthaft mit dem Thema Hobby befassen. Oder zumindest eine Liste mit weiblichen Bekannten erstellen, die als Freundinnen infrage kämen – wobei sie zu viel Nähe oftmals als unangenehm und unbehaglich empfand.

Peter hatte sie immer aufgezogen, weil sie sich nur langsam mit ihren Mitmenschen anfreunden konnte. Nein, korrigierte sie sich stumm. Anfangs hatte er sie aufgezogen. Gegen Ende ihrer Beziehung hatte er ihr vorgeworfen, ein herzloses Miststück zu sein, das sich weigerte, anderen zu vertrauen.

»Schluss damit«, murmelte sie vor sich hin. Sie war zwar längst über ihren Mann hinweg, aber der Gedanke an das Ende ihrer Ehe bedrückte sie noch immer. Sie hatte sich mit der Scheidung abgefunden, aber auch nach vier Jahren wusste sie immer noch nicht, was eigentlich schiefgelaufen war, und sie konnte auch nicht begreifen, wie schnell sich alles zwischen ihnen verändert hatte. Aus ihrer Sicht waren sie gerade noch vollkommen glücklich miteinander gewesen, da eröffnete er ihr, dass er die Scheidung wolle. Als sie sich geschockt nach dem Grund erkundigte, hatte er behauptet, dass er sie nicht mehr liebte, sie sexuell abstoßend fand und jede Sekunde bereute, die er in ihrer Gegenwart verbracht hatte. Aber es dauerte nicht lange, und seine Abscheu hatte sich in Gleichgültigkeit verwandelt.

Sie hatten im Bad gestanden. Sie erinnerte sich, wie der Kronleuchter über der großen Wanne fast wie ein Heiligenschein über seinem Kopf ausgesehen hatte. Er war zu seiner Seite des Waschbeckens hinübergegangen und hatte eine Schublade herausgezogen. Dann warf er ihr ein Fläschchen mit einem verschreibungspflichtigen Medikament zu.

»Die Dinger muss ich nehmen, um bei dir überhaupt noch einen hochzukriegen«, hatte er kalt gesagt. »Darauf habe ich keine Lust mehr.«

Dann hatte er das Bad verlassen. Sie konnte ihm nur hinterherstarren, unfähig zu begreifen, was gerade passiert war. Sie betrachtete die Flasche in ihrer Hand und las das Etikett. Viagra.

Damals wie heute erfüllte sie tiefe Scham deshalb. Doch mittlerweile gelang es ihr wenigstens, dieses Gefühl schneller abzuschütteln. Peter hatte sich verändert. Er hatte sich entliebt. Ihr Job war es gewesen, das zu akzeptieren und weiterzumachen – was sie auch getan hatte. Seine Grausamkeit war nicht ihre Schuld oder ihre Verantwortung. Diese Lektion zu begreifen, hatte etwas länger gedauert. Aber sie war entschlossen gewesen, sie zu lernen.

»Wieso denke ich überhaupt an diesen Typen?«, fragte sie sich, hatte aber keine Antwort darauf. Vermutlich lag es daran, dass Summer den Abend bei ihm und seiner Familie verbrachte, wie sie es oft tat.

In diesem Moment stürmte ihre Tochter aus der Garage ins Haus.

»Mom! Mom! Wo bist du?«

Erica hörte sofort, dass ihre Tochter gestresst war, und eilte in die Küche.

»Ich bin hier. Was ist denn los?« Ihre Brust zog sich zusammen, als ihr tausend mögliche Katastrophen durch den Kopf gingen. »Hattest du einen Unfall?«

Ihre Tochter kam um die Ecke gerannt und stürzte auf sie zu. Sie hatte geweint. Ihr Gesicht war fleckig, ihre Augen gerötet.

Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und warf sich in Ericas Arme. »Oh, Mom, es ist so furchtbar. Wir müssen dringend was tun.«

Erica schob ihre Tochter ein Stück von sich weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Wovon redest du? Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht es gut. Um mich geht es nicht, sondern um Dad und Allison. Dad ist im Gefängnis!«

Erica starrte ihre Tochter an. »Wie bitte? Das kann nicht sein.« Was für eine lächerliche Vorstellung. Peter war ein stinknormaler Mann. Er trank selten, hatte mit Glücksspiel nichts am Hut und betrieb eine Buchhaltungsfirma. Meine Güte. Buchhalter waren nicht durchgeknallt genug, um ins Gefängnis zu kommen.

Summer machte sich los. »Ist er aber! Es ist schrecklich.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Allison hat sich so aufgeregt, dass Jackson ausgeflippt ist. Mom, es ist wirklich schlimm. Ihre Konten wurden gesperrt, jetzt haben sie kein Geld und Allison konnte nichts essen. Sie hat große Angst und ich auch. Wir müssen was tun!«

Was Summer da von sich gab, ergab keinen Sinn. Erica deutete auf einen der Hocker an der Kücheninsel. »Jetzt setz dich erst mal und hol Luft. Und dann fang ganz vorne an.«

»Mo-om! Du hörst nicht zu!«

»Weil du ganz offensichtlich Unsinn erzählst. Bitte setz dich hin. Ich werde dir zuhören, aber du musst dich erst beruhigen. Sonst verstehe ich nicht, was du sagen willst.«

Summer stöhnte, tat aber wie geheißen. Sie ließ sich auf einen der Hocker fallen. Das zerfledderte Flanellhemd, das sie als Jacke trug, hing von ihrer Schulter.

Erica stellte einmal mehr zu ihrem Bedauern fest, dass ihr einziges Kind keinerlei Interesse an seinem Aussehen hatte. Abgesehen von Duschen und Sonnenschutz tat Summer nichts für ihre Haut. Sie verzichtete auf jegliches Make-up, trug im Winter Jeans und Sweatshirts und im Sommer Shorts und T-Shirts und weigerte sich, mehr zu tun, als ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz oder Zopf zu frisieren. Sie war eine schöne junge Frau, aber sie benahm sich, als wäre sie unsichtbar. Oder gleichgültig, was ihr Aussehen betraf.

Das ist Peters Schuld, dachte Erica grimmig. Ein paar Jahre vor der Scheidung hatte er damit begonnen, Ericas Kosmetikunternehmen als frivol und oberflächlich abzutun. Anfangs waren die Kommentare noch spöttisch gewesen, aber mit der Zeit waren sie immer bösartiger geworden. Irgendwann hat sich das in ihr eingenistet.

Erica unterdrückte einen Seufzer. Das war noch so etwas, an das sie nicht denken wollte.

»Du warst also bei Allison«, gab sie ihrer Tochter als Stichwort. »Und sie war aufgebracht.«

Summer nickte energisch. »Sie haben beide geweint, und erst hat sie versucht, so zu tun, als wäre nichts. Aber ich wusste gleich, dass irgendwas passiert sein musste. Sie hat behauptet, es wären die Schwangerschaftshormone.« Wieder kamen ihr die Tränen. »Sie konnte nichts essen, Mom. Dabei tut sie alles, damit es dem Baby gut geht. Sie ist wirklich eine gute Mutter.«

Erica befahl sich, die Bewunderung in der Stimme ihrer Tochter zu ignorieren. Es war doch schön, dass sie sich mit ihrer Stiefmutter verstand. Erica sollte lieber stolz auf sie sein.

Summer erzählte ihr, wie Allison versucht hatte, das Problem geheim zu halten, aber nachdem sie Jackson ins Bett gebracht hatte, hatte sie ihr die Wahrheit gesagt. Peter war verhaftet und die Bankkonten der Familie gesperrt worden, sodass Allison ohne Geld und ohne Ehemann dastand.

»Noch dazu ist sie schwanger, Mom. Bethany kommt in etwa drei Monaten. Und sie hat schon zwei Jobs! Im Supermarkt kann sie nicht mehr lange weitermachen, weil es zu anstrengend für sie ist. Und jetzt ist Dad im Gefängnis und wir haben alle totale Angst.«

Erica setzte sich hin und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Peter im Knast? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Er war kein hervorragender Geschäftsmann, aber er war auch nicht unehrlich. Na gut, er hatte Geld aus ihrer Firma abgezweigt, aber damals hatte sie angenommen, dass er das eher aus Verbitterung und Rache getan hatte und um sie zu verletzen – nicht, weil er ein Krimineller war.

»Sie weiß nicht, was genau los ist und wie sie ihn erreichen kann«, fuhr Summer fort und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sie ist allein und schwanger und hat niemanden, der sich um sie kümmert.«

Erica versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass es sie ärgerte, wie beharrlich Summer ihre Stiefmutter zu beschützen versuchte.

»Allison ist eine sehr selbstständige und gefestigte Frau«, sagte sie in beruhigendem Tonfall. »Sie wird bald herausfinden, was los ist. Ich weiß, das alles klingt furchtbar, aber es ist vermutlich nicht so schlimm, wie es scheint. Es handelt sich sicher um ein Missverständnis. Dein Vater ist kein Verbrecher. Er wird auf Kaution freikommen.«

Summer wischte sich über die Wangen. »Wie denn? Sie hat doch kein Geld. Alles wurde von der Bank eingefroren. Ich wusste gar nicht, dass so was geht. Das ist nicht in Ordnung. Sie muss doch Essen und Windeln kaufen. Die beiden werden verhungern, Mom!«

»Aber ganz sicher nicht heute. Wir sollten Allison etwas Zeit lassen, um herauszufinden, was los ist.«

»Aber sie weiß nicht, wie. Sie ist nicht wie du, Mom. Du kannst so was. Oder Killion. Bitte tu was. Sie hat solche Angst.«

Erica unterdrückte einen Seufzer. Offensichtlich beharrte Summer darauf, dass sie sich einmischte.

»Gut. Ich werde mit Killion reden«, sagte sie und hoffte, dass es nicht so widerwillig klang, wie sie es empfand.

Summer rutschte vom Hocker und umarmte sie. »Du bist die Beste! Danke, Mom. Es ist nur, weil Allison ganz allein ist und Dad im Gefängnis und ich nicht weiß, was ich denken soll.«

Erica nickte. »Das ist heftig, ich weiß, aber wir kriegen das hin. Mit Allison wird alles gut, du wirst sehen.«

»Das hoffe ich.« Summer hob ihren Rucksack auf. »Sagst du mir Bescheid, wenn du mit Killion gesprochen hast?«

»Mach ich.«

Sie wartete, bis ihre Tochter nach oben gegangen war, dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und scrollte durch ihre Kontakte.

»Ich bin’s, Erica«, sagte sie, als Killion abnahm.

Er schmunzelte. »Ich habe dich in meiner Kontaktliste, Erica. Ich weiß, dass du es bist.«

Sie lächelte. »Das freut mich zu hören.«

Sie mochte Killion. Er war einer von den Guten – erfolgreich, emotional zurückhaltend. Er arbeitete hart, und ihm gefiel es, dass sie das Gleiche tat. Nach ihrer Scheidung hatte sie nur langsam wieder Vertrauen zu Männern gefasst. Sie hatte fast zwei Jahre gewartet, bevor sie mit einem Mann ausgegangen war. Ihre ersten Erfahrungen in der Dating-Szene waren ein Desaster gewesen, sodass sie die Idee schon aufgegeben hatte – nur um ein paar Monate später Killion kennenzulernen. Sie hatten zwar keine konventionelle Beziehung, aber sie genoss es, ihn in ihrem Leben zu haben.

»Ich bräuchte bei einer Sache deine Hilfe«, sagte sie langsam. »Summer kam eben fast hysterisch vom Abendessen mit ihrer Stiefmutter nach Hause.«

Sie berichtete ausführlich, was ihre Tochter ihr erzählt hatte.

»Dein Ex ist im Gefängnis?« Killion klang eher amüsiert als schockiert.

»Ja, karmamäßig durchaus interessant. Aber Summer macht sich Sorgen um Allison und ihren Vater, deswegen versuche ich, ein paar Informationen zu bekommen. Ich weiß allerdings nicht mal, wo ich anfangen soll. Ich dachte, du hast vielleicht ein paar Ideen.«

»Natürlich.«

Sie hörte ihn tippen.

»Er wird momentan in SeaTac festgehalten.«

»Beim Flughafen? Da ist ein Knast?«

»Er ist anscheinend in Bundesgewahrsam. Lass mich kurz ein paar Anrufe machen. Ich melde mich innerhalb der nächsten Stunde.«

»Danke, Killion. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.«

»Gerne.«

Sie ging nach oben und erzählte Summer, was er gesagt hatte. Ihre Tochter saß mit dem Handy in der Hand auf dem Bett. Jetzt sah sie sie überrascht an.

»Dad ist als...

Autor