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Bevelstoke – Die unergründlichen Wege einer Lady

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Gerüchte und Klatsch sind das Lebenselixier von London ...

Ihr neuer Nachbar Sir Harry Valentine soll seine Verlobte gemeuchelt haben? Lady Olivia Bevelstoke kann das nicht glauben! Entschlossen bezieht sie einen Posten am Fenster ihres Boudoirs, um Sir Harry auszuspionieren – und wird von ihm entdeckt. Als sie sich bei einer Soiree begegnen, lässt er keinen Zweifel daran, dass er sie als Spionin für bedauerlich unbegabt hält. Doch in seinen blitzenden Augen ist etwas, das Olivia erbeben lässt und ihr das Blut in die Wangen treibt. Ihre Neugier ist erst recht entfacht!

Das zweite Buch der Bevelstoke-Reihe: witzig, unwiderstehlich romantisch und von der Bestsellerautorin des Weltphänomens BRIDGERTON


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Aus der Serie: Bevelstoke
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906819
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Gloria, Stan, Katie, Rafa und Matt.
Ich habe keine »angeheirateten« Verwandten,
wir sind einfach eine Familie.

Und auch für Paul,
obwohl er all die dominanten Gene hat.

Die Autorin möchte sich bei Mitch Mitchell, Boris Skyar, Molly Skyar und Sarah Wigglesworth für ihre Fachkenntnis in allen russischen Angelegenheiten bedanken.

PROLOG

Im Alter von zwölf Jahren wusste Harry Valentine zwei Dinge, die ihn grundlegend von anderen Knaben seiner Herkunft im England des 19. Jahrhunderts unterschieden.

Das eine: Er sprach fließend Russisch und Französisch. Diese Fertigkeit hatte nichts Geheimnisvolles an sich: Seine Großmutter, die überaus aristokratische und starrsinnige Olga Petrowa Obolensky Dell, war vier Monate nach Harrys Geburt bei den Valentines eingezogen.

Olga verabscheute die englische Sprache. Ihrer (oft zum Ausdruck gebrachten) Meinung nach gab es nichts auf dieser Welt, was man nicht auf Russisch oder Französisch sagen könnte.

Warum sie dann hingegangen war und einen Engländer geheiratet hatte, hatte sie allerdings nie plausibel erklären können.

»Wahrscheinlich, weil man das auf Englisch hätte erklären müssen«, hatte Harrys Schwester Anne gemurmelt.

Harry hatte nur mit den Achseln gezuckt und gelächelt (was jeder anständige Bruder getan hätte), als sie sich deswegen eine Ohrfeige einfing. Grandmère mochte für Englisch nichts übrighaben, aber sie konnte alles verstehen, und außerdem hatte sie Ohren wie ein Luchs. Etwas zu murmeln – egal in welcher Sprache –, war keine gute Idee, wenn sie sich im Schulzimmer aufhielt. Es auf Englisch zu tun, war unglaublich dumm. Es auf Englisch zu tun, weil man so ausdrücken wollte, dass Französisch oder Russisch für das, was man sagen wollte, nicht genügte, war …

Eigentlich wunderte Harry sich, dass Anne nicht gleich eine richtige Tracht Prügel bekam.

Aber Anne hasste Russisch mit derselben Inbrunst, die Grandmère für die englische Sprache reserviert hatte. Es sei einfach so mühsam, sie zu erlernen, beschwerte sie sich gern, und Französisch war beinahe genauso schwierig. Anne war bei Großmutters Einzug fünf gewesen; die englische Sprache war schon so fest in ihr verankert gewesen, dass etwas anderes daneben kaum Fuß hätte fassen können.

Harry hingegen antwortete bereitwillig in der Sprache, in der er angesprochen wurde. Englisch war für den Alltag, Französisch für Eleganz, und Russisch war die Sprache für Drama und Aufregung. Russland war weit. Es war kalt. Und vor allem war es groß.

Peter der Große, Katharina die Große – Harry hatte diese Geschichten von klein auf eingeflößt bekommen.

»Pah!«, hatte die Großmutter mehr als einmal gespottet, wenn Harrys Hauslehrer versuchte, seinem Schüler ein wenig englische Geschichte beizubringen. »Wer soll dieser Æthelred der Unfertige schon sein? Der Unfertige? Was ist denn das für ein Land, das einen unfertigen Herrscher duldet?«

»Queen Elizabeth war eine große Königin«, erklärte Harry.

Das beeindruckte seine Großmutter keineswegs. »Wird sie etwa Elizabeth die Große genannt? Oder die große Königin? Von wegen! Man nennt sie die jungfräuliche Königin – als ob man sich darauf etwas einbilden könnte!«

An diesem Punkt bekam der Hauslehrer feuerrote Ohren, was Harry ziemlich merkwürdig fand.

»Sie«, fuhr seine Großmutter in eisigstem Ton fort, »war keine große Königin. Sie schenkte ihrem Land ja nicht einmal einen ordentlichen Thronerben!«

»Geschichtskundige sind sich weitgehend einig darin, dass die Königin gut daran tat, sich nicht zu verheiraten«, erklärte der Hauslehrer. »Sie musste den Eindruck erwecken, dass sie unter niemandes Einfluss stand und …«

Seine Stimme verklang, was Harry nicht weiter überraschte, da Grandmère den Hauslehrer mit einem ihrer rasiermesserscharfen Blicke bedachte. Harry kannte niemanden, der einen derartigen Blick auffangen und dennoch weiterreden konnte.

»Sie sind ein dummer kleiner Mann«, verkündete sie und wandte ihm dann entschieden den Rücken zu. Am nächsten Tag warf sie ihn hinaus und unterrichtete Harry selbst, bis sie einen neuen Hauslehrer gefunden hatten.

Eigentlich stand es seiner Großmutter nicht zu, Hauslehrer oder Gouvernanten für die Valentine-Kinder (die inzwischen zu dritt waren, der kleine Edward war auf die Welt gekommen, als Harry sieben war) einzustellen oder sie hinauszuwerfen. Aber es war nicht damit zu rechnen, dass sich noch jemand außer ihr um derartige Angelegenheiten kümmern würde. Harrys Mutter, Katarina Dell Valentine, widersprach ihrer Mutter ohnehin nie, und was seinen Vater anging, nun ja …

Das hatte ziemlich viel mit der zweiten ungewöhnlichen Fähigkeit zu tun, die in Harry Valentines zwölfjährigem Verstand herumspukte.

Harrys Vater, Sir Lionel Valentine, war ein Trinker.

Das war an sich noch nichts Ungewöhnliches. Außerdem war allgemein bekannt, dass Sir Lionel mehr trank, als ihm guttat – man konnte es gar nicht verbergen. Sir Lionel torkelte und stolperte durch die Gegend (oft genug nicht nur über seine Füße, sondern auch über seine Worte), er lachte, während ringsum alles ernst blieb, und bedauerlicherweise (zumindest soweit die Hausmädchen und die Teppiche in Sir Lionels Arbeitszimmer betroffen waren) gab es auch einen Grund, warum Sir Lionel von all dem Alkohol nicht dick wurde.

Und so entwickelte Harry erstaunliche Fähigkeiten bei der Aufgabe, Erbrochenes aufzuputzen.

Es begann, als er zehn gewesen war. Vermutlich hätte er die Schweinerei einfach ignoriert, wenn er nicht gerade versucht hätte, seinen Vater um ein wenig Taschengeld zu bitten, und dabei den Fehler beging, dies spätabends zu tun. Sir Lionel hatte bereits seinen Nachmittagsbrandy intus, sein Vorabendschlückchen, seinen Wein zum Dinner, den Portwein zum Nachtisch und sprach nun wieder seinem liebsten Tropfen zu, dem bereits erwähnten Brandy, der aus Frankreich ins Land geschmuggelt wurde. Harry war sich ziemlich sicher, dass er in vollständigen (englischen) Sätzen gesprochen hatte, als er seinen Vater um Geld bat, doch der alte Herr starrte ihn nur an, blinzelte mehrmals, als wäre ihm ein Rätsel, wovon sein Sohn sprach, und erbrach sich dann auf Harrys Schuhe.

Harry hatte der Schweinerei also wirklich nicht aus dem Weg gehen können.

Danach schien kein Weg zurückzuführen. Eine Woche später passierte es noch einmal, diesmal allerdings nicht direkt auf seine Füße, und einen Monat später wieder. In den folgenden zwei Jahren hätte jedes andere Kind den Überblick verloren, wie oft es nun schon hinter dem Vater hergeputzt hatte, aber er war immer ein ziemlich akkurater Knabe gewesen, und sobald er einmal mit Zählen angefangen hatte, fiel es ihm schwer, damit aufzuhören.

Die meisten Leute hätten wohl ab dem siebten Mal den Überblick verloren. Dank seiner ausgedehnten Studien der Logik und Arithmetik wusste Harry, dass die meisten Leute nicht mehr als sieben Dinge auf einen Blick erfassen oder erinnern konnten. Wenn man beispielsweise sieben Punkte auf eine Seite setzte, waren die meisten Menschen in der Lage, nach einem kurzen Blick darauf zu antworten: »Sieben.« Nur ein Punkt mehr, und der Großteil der Menschheit verlor die Übersicht.

Harry kam bis einundzwanzig.

Daher nahm es nicht wunder, als Harry nach fünfzehn Säuberungen genau wusste, wie oft er seinen Vater durch die Eingangshalle hatte stolpern sehen, ihn ohnmächtig auf dem Fußboden vorgefunden oder ihn dabei beobachtet hatte, wie er (nicht sehr erfolgreich) auf den Nachttopf zielte. Als er die zwanzig erreicht hatte, weckte die Angelegenheit allmählich sein wissenschaftliches Interesse: Jetzt musste er weiter mitzählen.

Er musste die Sache unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Wenn er nicht mit gesundem Forscherdrang reagiert hätte, hätte er sich stattdessen vielleicht jeden Abend in den Schlaf geweint. So aber starrte er einfach auf die Decke und sagte: »Sechsundvierzig, der Radius etwas geringer als letzten Dienstag. Vermutlich fiel das Abendessen heute Abend kleiner aus.«

Harrys Mutter hatte schon lang beschlossen, die Situation vollkommen zu ignorieren. Meist traf man sie im Garten an, wo sie die exotischen Rosen hegte, die ihre Mutter vor vielen Jahren aus Russland mitgebracht hatte. Anne hatte ihm eröffnet, sie plane zu heiraten und dem »Höllenloch« zu entkommen, sobald sie siebzehn wurde. Was sie dann auch tat, ein Beweis ihrer Entschlossenheit, da ihre Eltern keinerlei Anstrengungen unternahmen, sie unter die Haube zu bringen. Was Edward anging, den Jüngsten – der lernte mit der Zeit, sich anzupassen, genau wie Harry. Ihr Vater war nach vier Uhr nachmittags einfach nicht mehr zu gebrauchen, selbst wenn er, was untertags oft noch der Fall war, halbwegs bei Sinnen schien. Beim Abendessen war es dann endgültig um ihn geschehen.

Die Dienstboten wussten ebenfalls Bescheid. Nicht dass es sich dabei um viele gehandelt hätte: Mit ihrem schönen Heim in Sussex und den hundert Pfund im Jahr, die Katarinas Mitgift ihnen immer noch einbrachte, waren die Valentines zwar finanziell recht gut gestellt, doch von fabelhaftem Reichtum konnte wahrlich keine Rede sein, und so bestand das Personal aus nur acht Dienstboten – Butler, Köchin, Haushälterin, Stallbursche, zwei Lakaien, Zofe und Spülmagd. Die meisten blieben der Familie trotz gewisser unangenehmer alkoholbedingter Pflichten treu. Sir Lionel mochte ein Trunkenbold sein, aber er wurde dabei nicht ausfallend. Und er war auch nicht geizig: Selbst die Zofe lernte mit der Zeit, die Schweinereien wegzuputzen, wenn es hier und da ein kleines Trinkgeld dafür gab – solange er sich so weit an seine Taten erinnern konnte, um sich dafür zu schämen.

Harry wusste daher nicht so genau, warum er seinem Vater immer noch hinterherputzte, wo er es doch längst einem anderen hätte überlassen können. Vielleicht wollte er nicht, dass die Dienstboten mitbekamen, wie oft es passierte. Vielleicht war es ihm wichtig, hin und wieder drastisch auf die Folgen der Trunksucht hingewiesen zu werden. Er hatte gehört, dass der Vater seines Vaters ganz genauso gewesen sein sollte. War so etwas denn erblich?

Er wollte es nicht herausfinden.

Und dann, eines Tages, starb plötzlich seine Großmutter. Sie schlief nicht etwa friedlich ein – eine Olga Petrowa Obolensky Dell würde nie auf so zahme Weise aus dieser Welt scheiden. Nein, sie saß am Esstisch und wollte gerade den Löffel in ihre Suppe tauchen, als sie sich unvermittelt an die Brust fasste, mehrmals ächzend aufkeuchte und dann zusammenbrach. Später hieß es, sie müsse, kurz bevor sie auf dem Tisch aufschlug, wohl noch bei Bewusstsein gewesen sein, da ihr Gesicht vollständig von Suppe verschont geblieben war – obwohl sie es gleichzeitig fertiggebracht hatte, so auf den Löffel zu fallen, dass ein Schluck brühheiße Suppe durch die Luft zu Sir Lionel flog, der viel zu langsam war, um sich zu ducken.

Harry war nicht dabei gewesen, als es passiert war; mit zwölf war er noch nicht so weit, mit den Erwachsenen zu Abend zu essen. Aber Anne hatte alles mit angesehen und es Harry atemlos erzählt.

»Und dann hat er sich das Krawattentuch heruntergerissen!«

»Bei Tisch?«

»Bei Tisch! Und man konnte die Verbrennung sehen!« Anne hielt die Hand hoch und zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine Entfernung von etwa einem Zoll an. »So groß!«

»Und Grandmère?«

Da wurde Anne ernst. Aber nur ein bisschen. »Ich glaube, sie ist tot.«

Harry schluckte und nickte. »Sie war ja auch schon sehr alt.«

»Mindestens neunzig.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sie sah aus, als wäre sie mindestens neunzig«, brummte Anne.

Harry schwieg. Er wusste nicht genau, wie eine Neunzigjährige aussah, musste jedoch einräumen, dass seine Großmutter mehr Falten hatte als jeder andere, den er kannte.

»Aber lass dir das Allerseltsamste erzählen«, sagte Anne. Sie beugte sich vor. »Mutter.«

Harry blinzelte. »Was hat sie denn gemacht?«

»Nichts. Gar nichts.«

»Hat sie denn neben Grandmère gesessen?«

»Nein, das meine ich nicht. Sie saß schräg gegenüber – zu weit entfernt, um ihr helfen zu können.«

»Dann …«

»Sie hat einfach nur dagesessen«, unterbrach sie ihn. »Sie hat sich nicht bewegt. Hat auch keinerlei Anstalten gemacht aufzustehen.«

Harry ließ sich das durch den Kopf gehen. So traurig es auch war – es überraschte ihn nicht.

»Sie hat keine Miene verzogen. Sie hat einfach nur dagesessen, und zwar so.« Annes Miene wurde vollkommen ausdruckslos, und Harry musste zugeben, dass seine Mutter genauso aussah.

»Ich sag dir was«, fuhr Anne fort. »Wenn sie in meinem Beisein über ihrer Suppe zusammenbrechen würde, würde ich wenigstens überrascht aussehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Unsere Eltern sind einfach lächerlich, alle beide. Vater tut nichts anderes als trinken, und Mutter tut überhaupt nichts. Ehrlich, ich kann meinen Geburtstag kaum noch erwarten. Ist mir ganz egal, wenn man von uns erwartet, Trauer zu tragen. Ich heirate William Forbush, und dagegen sind sie machtlos, egal was sie tun.«

»Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst«, sagte Harry. Seine Mutter hätte dazu sicher keine Meinung, und sein Vater wäre zu betrunken, um irgendetwas zu bemerken.

»Hm. Wahrscheinlich hast du recht.« Anne presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, und dann drückte sie ihm in einer ungewohnten Geste schwesterlicher Zuneigung die Schulter. »Bald bist auch du auf und davon, keine Angst.«

Harry nickte. In ein paar Wochen sollte er aufs Internat.

Und auch wenn er ein paar Gewissensbisse hatte, weil er wegdurfte und Anne und Edward zu Hause bleiben mussten, wurde das vollkommen überlagert von der überwältigenden Erleichterung, die er empfand, als er zum ersten Mal zur Schule fuhr.

Es tat so gut, dem Elternhaus entronnen zu sein. Grandmères große Könige in allen Ehren – er freute sich lieber wie ein Schneekönig.

Das Internatsleben erwies sich als genauso erfreulich, wie Harry sich erhofft hatte. Er besuchte Hesslewhite, ein durchaus anspruchsvolles Internat für Knaben, deren Familie es an Einfluss (oder, in Harrys Fall, an Interesse) mangelte, ihre Söhne nach Eton oder Harrow zu schicken.

Harry ging gern zur Schule. Furchtbar gern. Er fand den Unterricht herrlich, er fand den Sport herrlich, und er fand es herrlich, dass er abends, wenn er zu Bett ging, keinen abendlichen Rundgang mehr machen und jeden Winkel nach seinem Vater absuchen musste, in der Hoffnung, er sei umgekippt, bevor er sich besudelt hatte. Im Internat ging Harry direkt vom Gemeinschaftsraum in den Schlafsaal, und ihn entzückte jeder einzelne ereignislose Schritt.

Aber alles hat einmal ein Ende, und so musste auch Harry die Schule einmal verlassen. Im Alter von neunzehn Jahren machte er seinen Abschluss, zusammen mit seinen Klassenkameraden, darunter auch sein Vetter und bester Freund Sebastian Grey. Es gab einen Festakt, bei dem die jungen Männer den Schulabschluss feiern wollten, doch Harry »vergaß«, seiner Familie Bescheid zu geben.

»Wo ist deine Mutter?«, fragte seine Tante Anna ihn. Auch ihre Stimme verriet keine Spur eines Akzents, obwohl seine Großmutter mit ihren Töchtern in deren Kindheit nur Russisch gesprochen hatte. Anna hatte eine bessere Partie als Katarina gemacht; sie hatte den zweiten Sohn eines Earls geheiratet. Dieser Umstand hatte jedoch keinen Keil zwischen die Schwestern getrieben, schließlich war Sir Lionel ein Baronet, was bedeutete, dass Katarina diejenige war, die mit »Lady« angesprochen wurde. Doch die Verbindungen und das Geld hatte Anna, und vor allem hatte sie – bis zu seinem Tod vor zwei Jahren – einen Gatten, der selten mehr trank als ein Glas Wein zum Dinner.

Als Harry also etwas davon in sich hineinbrummte, dass seine Mutter ein wenig erschöpft sei, wusste Anna genau, was er damit sagen wollte – wenn seine Mutter käme, würde sie auch seinen Vater mitbringen. Und nach Sir Lionels spektakulärem Stolperauftritt bei der Schulversammlung von Hesslewhite 1807 wollte Harry seinen Vater zu keiner schulischen Veranstaltung mehr einladen.

Sir Lionel tendierte dazu, sich auf den Zischlauten auszuruhen, wenn er betrunken war, und Harry war sich nicht sicher, ob er noch eine »Ssssschöne Sssschule«-Rede überleben würde, insbesondere, da sein Vater bei seinem Vortrag auf einem Stuhl gestanden hatte.

Als gerade Ruhe eingekehrt war.

Harry hatte versucht, seinen Vater vom Stuhl zu ziehen, und es wäre ihm auch gelungen, wenn seine Mutter, die auf Sir Lionels anderer Seite gesessen hatte, ihn ein wenig unterstützt hätte. Sie jedoch hatte starr geradeaus geblickt, wie sie es in derartigen Situationen immer tat, und vorgegeben, von allem nichts mitzubekommen. Was bedeutet hatte, dass Harry von einer Seite an seinem Vater herumgezerrt und ihn dabei ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Unter lautem Getöse war Sir Lionel von seinem behelfsmäßigen Podest gestürzt und hatte sich an dem Stuhl, der vor Harry stand, die Wange aufgerissen.

Ein anderer Mann hätte darob vielleicht die Beherrschung verloren, doch Sir Lionel hatte nur albern gegrinst, Harry einen »grosssssssartigen Ssssohn« genannt und einen Zahn ausgespuckt.

Den Zahn hatte Harry immer noch. Und er erlaubte seinem Vater nie wieder, noch einmal den Fuß ins Internat zu setzen. Selbst wenn das für ihn bedeutete, dass er der einzige Knabe war, der ohne seine Eltern auf die Abschlussfeier ging.

Seine Tante bestand darauf, ihn nach Hause zu fahren, wofür Harry ihr dankbar war. Gäste im Haus zu haben, war ihm sonst unangenehm, doch seine Tante Anna und sein Vetter Sebastian wussten bereits alles, was es über seinen Vater zu wissen gab – nun ja, beinahe alles. Harry hatte ihnen nichts von den einhundertsechsundzwanzig Malen anvertraut, die er hinter ihm hergeputzt hatte. Oder von dem Verlust von Grandmères geliebtem Samowar: Sir Lionel war über einen Stuhl gestolpert, hatte einen anmutigen Sprung getan (vermutlich, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen) und war dann mit dem Bauch auf der Anrichte mit dem Samowar gelandet. Das Emaille war direkt vom Silberkern abgesprungen, außerdem war der Verlust von drei Tellern mit Eiern und einem Streifen Schinken zu beklagen gewesen.

Dafür waren die Hunde noch nie so gut gefüttert worden.

Bei der Wahl des Internats war man auf Hesslewhite verfallen, weil die Schule nicht weit vom Heim der Valentines entfernt lag. Nach nur anderthalb Stunden Fahrt bog die Kutsche in die Auffahrt ein und fuhr das letzte kurze Stück.

»Die Bäume tragen dieses Jahr aber wirklich herrliches Laub«, bemerkte Tante Anna. »Die Rosen deiner Mutter blühen und gedeihen, möchte ich hoffen?«

Harry nickte abwesend und versuchte zu schätzen, wie spät es war. War es noch Spätnachmittag oder schon früher Abend? Wenn es schon Abend war, würde er sie zum Dinner einladen müssen. Hereinbitten müsste er sie in jedem Fall; Tante Anna würde ihre Schwester sicher begrüßen wollen. Aber wenn erst später Nachmittag war, würden sie nur mit Tee rechnen, was bedeutete, dass sie seinen Vater gar nicht erst zu Gesicht bekommen mussten.

Mit dem Dinner war das eine andere Sache. Sir Lionel hatte immer darauf bestanden, sich zum Essen umzuziehen. So etwas zeichne den wahren Gentleman aus, sagte er gern. Und wie klein die Gesellschaft auch war, die sich zum Dinner setzte, auch wenn sie nur, wie in neunundneunzig Prozent der Fälle, aus Sir Lionel, Lady Valentine und den Kindern bestand, die gerade anwesend waren, gefiel er sich in der Rolle des Gastgebers. Was normalerweise bedeutete, dass er eine Menge Geschichten und bon mots vom Stapel ließ, wobei Sir Lionel oft den mittleren Teil seiner Geschichten vergaß und seine »mots« alles andere als »bon« waren.

Was wiederum bedeutete, dass seine Familie, die ohnehin einen Großteil des Essens damit zubrachte, so zu tun, als bemerkte sie nicht, wenn er die Sauciere umwarf oder sein Weinglas auffüllen ließ, sehr oft in peinlich berührtes Schweigen verfiel.

Schon wieder.

Und schon wieder.

Und natürlich schon wieder.

Niemand sagte ihm je, er solle aufhören. Was hätte es auch genutzt? Sir Lionel wusste, dass er zu viel trank. Harry hatte tatsächlich vergessen, wie oft sein Vater sich weinend an ihn gewandt und gelallt hatte: »’sss tut mir leid. ’sss tut mir ssssso leid. Will keine Sssschwierigkeiten machen. Bissst ’n guter Junge, Harry.«

Aber auch das half nichts. Was es auch war, das seinen Vater zur Flasche trieb, es war mächtiger als alle Schuldgefühle, alles Bedauern, das er hätte aufbringen können, um damit aufzuhören. Was das Ausmaß seiner Trunksucht anging, so machte sich Sir Lionel nichts vor. Er war nur vollkommen machtlos, irgendetwas dagegen zu unternehmen.

Genau wie Harry. Wenn er seinen Vater nicht ans Bett binden wollte – und das wollte er nicht –, so gab es nichts, was er unternehmen konnte. Stattdessen lud er einfach nie Freunde nach Hause ein, vermied es, zur Dinnerzeit zu Hause zu sein, und zählte jetzt, wo die Schulzeit vorüber war, schon die Tage bis zur Universität.

Aber zuerst musste er noch den Sommer überstehen. Er sprang aus der Kutsche, als sie vor dem Haus stehen blieben, und streckte dann die Hand aus, um seiner Tante herauszuhelfen. Sebastian folgte ihnen, und zu dritt strebten sie dem Salon zu, wo Katarina an ihrer Gobelinstickerei herumstichelte.

»Anna!«, sagte sie und sah einen Augenblick so aus, als wollte sie sich erheben (tat es aber nicht). »Was für eine reizende Überraschung!«

Anna beugte sich herunter, um sie zu umarmen, und nahm dann gegenüber Platz. »Ich dachte, ich bringe Harry mal von der Schule nach Hause.«

»Ach, dann sind also schon Ferien?«, murmelte Katarina.

Harry lächelte angespannt. Vermutlich hatte er sich diese Ahnungslosigkeit selbst zuzuschreiben, da er es ja versäumt hatte, ihr zu erzählen, dass die Schule aus war, aber ehrlich – sollte eine Mutter über derartige Details nicht dennoch auf dem Laufenden sein?

»Sebastian«, sagte Katarina, an ihren Neffen gewandt. »Du bist gewachsen.«

»Das soll vorkommen«, scherzte Sebastian und schenkte ihr das schiefe Grinsen, das für ihn so typisch war.

»Meine Güte«, erwiderte sie lächelnd, »bald werden sich die Damen vor dir nicht mehr zu retten wissen.«

Beinahe hätte Harry mit den Augen gerollt. Sebastian hatte fast alle Mädchen im Dorf bei Hesslewhite erobert. Wahrscheinlich verströmte er irgendeinen besonderen Geruch, der dazu führte, dass ihm die Mädchen scharenweise zu Füßen lagen.

Eigentlich wäre das entsetzlich gewesen, aber die Mädchen konnten ja nicht alle mit Sebastian tanzen. Und Harry hatte nichts dagegen, wenn er sich als der nächstbeste Mann erwies, sobald der Pulverdampf verraucht war.

»Dafür wird keine Zeit sein«, meinte Anna energisch. »Ich habe ihm ein Offizierspatent gekauft. In einem Monat geht es los.«

»Du gehst zur Armee?«, fragte Katarina ihren Neffen überrascht. »Prächtig.«

Sebastian zuckte mit den Schultern.

»Das wusstest du doch, Mutter«, sagte Harry. Sebastians Zukunft hatte sich schon vor Monaten entschieden. Tante Anna hatte beklagt, dass es ihm seit dem Tod seines Vaters an männlichem Einfluss fehle. Und nachdem nicht zu erwarten war, dass Sebastian irgendwann einen Titel oder ein Vermögen erben würde, verstand sich von selbst, dass er seinen eigenen Weg würde gehen müssen.

Niemand, nicht einmal Sebastians Mutter, die ihren Sohn für den Nabel dieser schönen Welt hielt, hatte ihm auch nur nahegelegt, es doch mit einer geistlichen Laufbahn zu probieren.

Sebastian war nicht sonderlich begeistert von der Aussicht, die nächsten zehn Jahre damit zuzubringen, gegen Napoleon zu kämpfen, aber wie er schon zu Harry gesagt hatte – was sollte er denn sonst tun? Sein Onkel, der Earl of Newbury, verabscheute ihn und hatte ganz klar gesagt, dass Sebastian sich von dieser Verbindung keinerlei Vorteil zu erwarten hatte, weder finanziell noch anderweitig.

»Vielleicht stirbt er ja«, hatte Harry mit all dem Einfühlungsvermögen und Takt eines Neunzehnjährigen geäußert.

Allerdings war es fast unmöglich, Sebastian zu beleidigen, vor allem, wenn es um seinen Onkel ging. Oder den einzigen Sohn seines Onkels, den Newbury-Erben. »Mein Vetter ist sogar noch schlimmer«, erwiderte Sebastian. »Hat mich in London doch tatsächlich geschnitten.«

Harry hob schockiert die Brauen. Es war eine Sache, ein Familienmitglied nicht leiden zu können, etwas ganz anderes aber war es, daraus eine öffentliche Demütigung zu machen. »Was hast du denn getan?«

Sebastians Lippen verzogen sich zu einem trägen Lächeln. »Das Mädchen verführt, das er heiraten wollte.«

Harry warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass er ihm kein Wort glaube.

»Ach, na schön«, gab Sebastian zu, »aber das Mädchen im Wirtshaus, auf das er ein Auge geworfen hatte, habe ich wirklich verführt.«

»Und das Mädchen, das er heiraten wollte?«

»Will ihn nicht mehr heiraten«, erwiderte Sebastian und lachte entzückt.

»Lieber Himmel, Sebastian, was hast du gemacht?«

»Ach, nichts Ernstes. Selbst ich bin nicht so dumm, mich mit der Tochter eines Earls einzulassen. Ich habe ihr nur einfach … den Kopf verdreht, das ist alles.«

Doch wie seine Mutter schon erklärt hatte, würde er in nächster Zukunft kaum Gelegenheit zu amourösen Abenteuern haben, nicht, wenn das Armeeleben auf ihn wartete. Harry versuchte, nicht allzu viel an seine Abreise zu denken; Sebastian war der einzige Mensch auf der Welt, dem er vollkommen und absolut vertraute.

Er war der einzige Mensch, der Harry nie enttäuscht hatte.

Das alles war eigentlich ziemlich sinnvoll. Sebastian war nicht dumm – im Gegenteil –, aber für das akademische Leben keineswegs geeignet. Die Armee passte sehr viel besser zu ihm. Trotzdem, während Harry so auf dem unbequemen, viel zu kleinen ägyptischen Sessel im Salon saß, tat er sich unwillkürlich auch ein wenig selbst leid. Und ertappte sich bei dem etwas selbstsüchtigen Wunsch, Sebastian möge mit ihm die Universität besuchen, selbst wenn das für seinen Vetter nicht das Richtige war.

»Welche Farbe wird deine Uniform denn haben?«, erkundigte sich Katarina.

»Dunkelblau, würde ich sagen«, erwiderte Sebastian höflich.

»Oh, in Blau wirst du einfach umwerfend aussehen. Meinst du nicht auch, Anna?«

Anna nickte, und Katarina fügte hinzu: »Du auch, Harry. Vielleicht sollten wir dir auch ein Offizierspatent kaufen.«

Harry blinzelte überrascht. Die Armee war in den Gesprächen über seine Zukunft bisher noch nie aufgetaucht. Er war der Älteste, er sollte einmal den Landsitz erben, den Titel und jenen Teil des Vermögens, den sein Vater bis zu seinem Tod nicht versoffen haben würde. Der Erbe sollte eigentlich nicht in Gefahr gebracht werden.

Außerdem hatte er in Hesslewhite zu den wenigen Schülern gehört, die tatsächlich Spaß am Lernen gefunden hatten. Man hatte ihm den Spitznamen »der Professor« verpasst, und es hatte ihn nicht gestört. Was dachte sich seine Mutter eigentlich? Kannte sie ihn überhaupt? Schlug sie vor, er solle zur Armee gehen, um seinen Blick für die Mode zu schärfen?

»Ähm, Harry kann doch kein Soldat werden«, erklärte Sebastian spottend. »Der trifft sein Ziel ja nicht mal aus nächster Nähe!«

»Das ist nicht wahr!«, erboste sich Harry. »Ich bin vielleicht nicht so gut wie er«, er nickte zu Sebastian hinüber, »aber ich bin immer noch besser als alle anderen.«

»Dann bist du ein guter Schütze, Sebastian?«, fragte Katarina.

»Der beste.«

»Und so außerordentlich bescheiden«, brummte Harry. Doch es stimmte. Sebastian war ein unglaublich guter Schütze, die Armee konnte sich glücklich schätzen, ihn zu bekommen – solange man ihn davon abhalten konnte, ganz Portugal zu verführen.

Halb Portugal. Die weibliche Hälfte.

»Warum kaufst du dir kein Offizierspatent?«, insistierte Katarina.

Harry wandte sich zu seiner Mutter um, versuchte, in ihrer Miene zu lesen, versuchte zu erraten, was sie dachte. Sie war immer so zermürbend ausdruckslos, als hätten die Jahre langsam all das weggewaschen, was ihren Charakter ausgemacht und ihre Gefühle bestimmt hatte. Seine Mutter hatte einfach keine Meinung, zu nichts. Sie ließ das Leben an sich vorüberziehen, saß es aus, schien sich für nichts zu interessieren.

»Ich glaube, dir würde es in der Armee gefallen«, sagte sie ruhig, und er dachte: Hat sie je eine solche Erklärung abgegeben? Hatte sie sich überhaupt je zu seiner Zukunft, seinem Wohlbefinden geäußert?

Hatte sie nur den richtigen Zeitpunkt abgewartet?

Sie lächelte, wie sie immer lächelte – mit einem leisen Seufzer, als wäre ihr diese Anstrengung wirklich fast zu viel. »In Blau würdest du sehr gut aussehen.« Und dann wandte sie sich wieder Anna zu. »Meinst du nicht auch?«

Harry öffnete den Mund, um ... nun, um etwas zu sagen, irgendetwas. Sobald er sich etwas überlegt hatte. Die Armee hatte er für sich nicht vorgesehen. Er sollte auf die Universität gehen. Den Studienplatz in Oxford hatte er schon, am Pembroke College. Ihm schwebte vor, dort Russische Philologie zu studieren. Seit Großmutters Tod hatte er nicht mehr oft Russisch gesprochen. Seine Mutter konnte die Sprache, aber er unterhielt sich ja schon kaum auf Englisch mit ihr, von Russisch ganz zu schweigen.

Verdammt, er vermisste seine Großmutter. Sie hatte nicht immer recht gehabt, sie war nicht immer nett gewesen, aber in ihrer Gegenwart hatte er sich nie gelangweilt. Und sie hatte ihn geliebt.

Was hätte sie wohl gewollt, das er tat? Harry war sich nicht sicher. Gewiss hätte sie es gutgeheißen, wenn Harry zur Universität ging, wenn das bedeutete, dass er sich von früh bis spät der russischen Literatur widmete. Aber sie hielt auch sehr viel vom Militär und hatte sich immer über Harrys Vater lustig gemacht, weil der seinem Land nicht gedient hatte.

Natürlich hatte sie sich ständig und dauernd über seinen Vater lustig gemacht, über alle möglichen Dinge.

»Du solltest es in Betracht ziehen, Harry«, meinte Anna. »Sebastian wäre bestimmt sehr dankbar für deine Gesellschaft.«

Harry warf Sebastian einen verzweifelten Blick zu. Sein Vetter würde seine Bedrängnis bestimmt verstehen. Was dachten sich die beiden eigentlich? Dass er eine solche Entscheidung beim Tee traf? Dass er in einen Keks biss, sich die Sache kurz durch den Kopf gehen ließ und dann entschied, Dunkelblau sei wirklich eine prächtige Farbe für eine Uniform?

Doch Sebastian zuckte nur mit der Schulter, eine Bewegung, die typisch für ihn war und in etwa bedeutete: Was soll ich dazu sagen? Die Welt steckt voller Albernheiten.

Harrys Mutter hob die Teetasse an die Lippen, doch aus der Neigung der Tasse war nicht zu ersehen, ob sie wirklich einen Schluck nahm. Und als sie die Tasse wieder auf der Untertasse abstellte, schloss sie die Augen.

Im Prinzip war es nur ein Blinzeln, das etwas länger dauerte als ein normales Blinzeln, doch Harry wusste genau, was es bedeutete: Sie hörte Schritte. Die Schritte seines Vaters. Sie hörte ihn immer früher als die anderen. Vielleicht war es auf jahrelange Gewohnheit zurückzuführen – sie wohnten schon so lange im selben Haus, wenn auch nicht in derselben Welt. Ihre Fähigkeit, so zu tun, als führte sie ein ganz anderes Leben als das, das sie tatsächlich führte, hatte sich zeitgleich mit ihrer Fähigkeit entwickelt, immer und überall zu erahnen, wo ihr Gatte sich aufhielt.

Es war weitaus einfacher, etwas zu ignorieren, das man nicht sehen konnte.

»Anna!«, rief Sir Lionel aus, als er in der Tür erschien und sich gleich an den Rahmen lehnte. »Und Sebastian. Was für eine schöne Überraschung. Wie geht es dir, mein lieber Junge?«

»Sehr gut, Sir«, erwiderte Sebastian.

Harry beobachtete, wie sein Vater den Raum betrat. Es war schwer zu beurteilen, wie betrunken er schon war. Sein Gang war nicht unsicher, doch seine Arme wiesen eine Beschwingtheit auf, die Harry nicht ganz geheuer war.

»Schön, dich zu sehen, Harry«, erklärte Sir Lionel und tätschelte seinem Sohn kurz den Arm, ehe er den Weg zur Anrichte antrat. »Schule ist also aus?«

»Ja, Vater«, erwiderte Harry.

Sir Lionel schenkte sich etwas ein – Harry war zu weit entfernt, um zu erkennen, worum genau es sich dabei handelte – und wandte sich dann mit einem flotten Grinsen an Sebastian. »Wie alt bist du jetzt, Sebastian?«, fragte er.

»Neunzehn, Sir.«

Genauso alt wie Harry. Sie waren nur durch einen Monat getrennt. Er war immer genau wie Harry.

»Servierst du ihm etwa Tee, Katarina?«, sagte Sir Lionel zu seiner Frau. »Was denkst du dir bloß dabei? Er ist doch jetzt ein Mann.«

»Tee ist durchaus angemessen, Vater«, entgegnete Harry scharf.

Überrascht drehte Sir Lionel sich zu seinem Sohn um, beinahe, als hätte er vergessen, dass er auch da war. »Harry, mein Junge, freut mich, dich zu sehen.«

Harry presste die Lippen zusammen. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Vater.«

Sir Lionel nahm einen herzhaften Schluck aus seinem Glas. »Dann ist die Schule also vorbei?«

Harry nickte und antwortete mit seinem üblichen: »Ja, Vater.«

Sir Lionel runzelte die Stirn und trank noch einen Schluck. »Dann bist du jetzt doch fertig, oder? Ich habe einen Brief vom Pembroke College bekommen, wegen deiner Immatrikulation.« Er runzelte noch einmal die Stirn, blinzelte ein paarmal und zuckte mit den Schultern. »Wusste gar nicht, dass du dich dort beworben hattest.« Und dann, als nachträglichen Einfall: »Prima Sache.«

»Ich gehe nicht.«

Völlig überraschend waren ihm die Worte über die Lippen geschlüpft. Was sagte er denn da? Natürlich würde er aufs Pembroke College gehen. Er wollte dorthin gehen. Hatte es immer gewollt. Er lernte gern. Er liebte Bücher. Er liebte Zahlen. Und er saß gern in der Bibliothek, selbst wenn draußen die Sonne schien und Sebastian ihn zum Rugby schleppen wollte. (Diesen Kampf gewann Sebastian immer; in Südengland schien die Sonne ziemlich selten, man musste wirklich jede Gelegenheit ergreifen, hinaus an die frische Luft zu gehen. Ganz zu schweigen davon, dass Sebastian ein Meister in der Kunst der Überredung war.)

Sicher gab es in ganz England keinen jungen Mann, der besser zum Studium geeignet war als er. Und doch …

»Ich gehe zur Armee.«

Wieder kamen ihm die Worte über die Lippen, ohne dass er einen bewussten Gedanken gefasst hätte. Harry fragte sich, was er da sagte. Er fragte sich, warum er es sagte.

»Mit Sebastian?«, erkundigte sich Tante Anna.

Harry nickte. »Jemand muss doch dafür sorgen, dass er sich nicht umbringen lässt.«

Ob dieser Beleidigung warf Sebastian ihm einen trockenen Blick zu, freute sich aber offensichtlich viel zu sehr über diese Wendung, um ihm Kontra zu geben. Was seine Zukunft beim Militär anging, war Sebastians Haltung immer eher ambivalent gewesen; Harry wusste, dass sein Vetter trotz aller markigen Sprüche froh sein würde, ihn an der Seite zu haben.

»Du kannst nicht in den Krieg ziehen«, erklärte Sir Lionel. »Du bist mein Erbe.«

Sämtliche Anwesenden – alle vier Verwandte – drehten sich überrascht zu dem Baronet um. Gut möglich, dass dies das einzig Vernünftige war, was er in den letzten Jahren geäußert hatte.

»Du hast doch Edward«, erwiderte Harry unverblümt.

Sir Lionel trank einen Schluck, blinzelte und zuckte mit den Schultern. »Nun ja, das ist auch wieder wahr.«

Harry hatte mehr oder weniger mit einer derartigen Antwort gerechnet, und trotzdem verspürte er tief im Innersten eine gewisse Enttäuschung. Und Zorn.

Und Kränkung.

»Trinken wir auf Harry!«, rief Sir Lionel leutselig und hob das Glas. Ihm schien nicht aufzufallen, dass kein anderer in den Toast einstimmte. »Glückauf, mein Sohn.« Er setzte das Glas an die Lippen, bemerkte aber im nächsten Augenblick, dass er schon länger nicht nachgefüllt hatte. »Ach, verdammt«, brummte er. »Wie unangenehm.«

Harry sank auf seinem Sessel in sich zusammen. Und gleichzeitig verspürte er ein Kribbeln in den Füßen, als wollten sie sich in Bewegung setzen. Davonlaufen.

»Wann brichst du auf?«, fragte Sir Lionel, nachdem er sich gründlich nachgeschenkt hatte.

Harry sah zu Sebastian, der sofort das Wort ergriff. »Ich muss mich nächste Woche melden.«

»Dann soll das auch für mich gelten«, sagte Harry zu seinem Vater. »Natürlich brauche ich noch die Mittel für das Offizierspatent.«

»Natürlich«, erwiderte Sir Lionel, der instinktiv auf den Befehlston seines Sohnes reagierte. »Gut.« Er blickte auf seine Füße, dann zu seiner Frau.

Die starrte aus dem Fenster.

»Fein, euch alle wiederzusehen«, erklärte Sir Lionel. Er stellte das Glas ab und schlenderte zur Tür – er stolperte nur ein einziges Mal.

Harry sah ihm nach, fühlte sich merkwürdig losgelöst. Er hatte sich die Szene natürlich schon öfter ausgemalt. Nicht seinen Aufbruch zur Armee, aber wie er sein Heim verließ. Er hatte immer angenommen, dass er sich auf die übliche Weise zur Universität aufmachen würde, dass er seine Sachen in die Familienkutsche packen und davonfahren würde. Seine Fantasie hatte in allen möglichen dramatischen Abgängen geschwelgt – die Bandbreite reichte von wilder Gestikuliererei bis zu eiskalten Blicken. In seinem liebsten Tagtraum flogen Flaschen an die Wand. Die teuren. Die Schmuggelware aus Frankreich. Ob sein Vater die Franzmänner auch dann noch mit seinen illegalen Käufen unterstützen würde, wenn sein Sohn ihnen auf einem Schlachtfeld gegenüberstand?

Harry starrte auf die leere Türöffnung. Es spielte keine Rolle, oder? Hier war er fertig.

Er hatte mit allem abgeschlossen. Mit dem Haus, seiner Familie, mit all den Nächten, in denen er seinen Vater zu Bett gebracht und ihn vorsichtig auf die Seite gebettet hatte, damit er nicht an seinem eigenen Erbrochenen erstickte.

Er war mit allem fertig.

Fertig.

Doch es fühlte sich so hohl an, so still. Seine Abreise zeichnete sich einfach durch … nichts aus.

Es sollte Jahre dauern, bis er erkannte, dass er betrogen worden war.

1. KAPITEL

»Die Leute sagen ja, dass er seine erste Frau umgebracht hat.«

Das reichte aus, damit Lady Olivia Bevelstoke aufhörte, ihren Tee umzurühren. »Wer?«, fragte sie, da sie, wie leider eingeräumt werden musste, nicht zugehört hatte.

»Sir Harry Valentine. Dein neuer Nachbar.«

Olivia warf Anne Buxton einen scharfen Blick zu und dann Mary Cadogan, die zustimmend nickte. »Das meinst du doch wohl nicht ernst«, sagte sie, obwohl sie genau wusste, dass Anne über dergleichen nie Witze machen würde. Klatsch war ihr Lebenselixier.

»Doch, er ist wirklich dein neuer Nachbar«, warf Philomena Waincliff ein.

Olivia nahm einen Schluck Tee, hauptsächlich, um Zeit zu gewinnen und ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen, damit man ihr ihre Reaktion, eine Mischung aus Erbitterung und Unglauben, nicht ansah. »Nein, ich meine, es kann nicht dein Ernst sein, dass er jemanden umgebracht hat«, sagte sie geduldiger, als man gemeinhin von ihr gewohnt war.

»Oh.« Philomena nahm einen Keks. »Tut mir leid.«

»Ich weiß, dass er seine Verlobte umgebracht hat«, beharrte Anne.

»Wenn er jemanden umgebracht hätte, säße er im Gefängnis«, erklärte Olivia.

»Nicht, wenn man ihm nichts nachweisen könnte.«

Olivia schaute nach links, wo sich, nach einer dicken Mauer, zehn Fuß frischer Frühlingsluft und einer weiteren dicken Mauer, diesmal aus Backstein, Sir Harry Valentines neues Heim befand. »Er hat niemanden umgebracht«, sagte sie entschieden.

»Woher willst du das wissen?«, erkundigte sich Anne.

Mary nickte.

Philomena aß noch einen Keks.

Olivia gelang es, die Lippen ein wenig zu heben. Nach oben, hoffte sie. Es konnte nicht angehen, mit finsterer Miene herumzusitzen. Es war vier Uhr nachmittags. Die anderen Mädchen waren seit einer Stunde bei ihr, plauderten über dies und das, klatschten (natürlich) und ließen sich über ihre Garderobe für die nächsten drei gesellschaftlichen Ereignisse aus. Sie trafen sich öfter zu derartigen Plauderstündchen, etwa einmal die Woche, und Olivia genoss ihre Gesellschaft, selbst wenn die Gespräche den Tiefgang vermissen ließen, den sie mit ihrer besten Freundin Miranda Bevelstoke, geborene Cheever, so genoss.

Ja, Miranda war tatsächlich hingegangen und hatte Olivias Bruder geheiratet. Was eine gute Sache war. Wunderbar. Sie waren von klein auf miteinander befreundet, und nun waren sie Schwestern bis in den Tod. Aber es bedeutete auch, dass Miranda nicht länger eine unverheiratete junge Dame war, von der erwartet wurde, dass sie die Dinge tat, die eine unverheiratete junge Dame eben tat.

Dinge, die von einer unverheirateten jungen Dame erwartet werden

Von Lady Olivia Bevelstoke, einer unverheirateten jungen Dame

Pastelltöne tragen

(und sich glücklich schätzen, wenn einem derartige Farben stehen)

Stets lächeln und die eigene Meinung für sich behalten

(so gut einem das eben gelingt)

Das tun, was die Eltern von einem verlangen

Die Folgen tragen, wenn man es nicht tut

Sich einen Ehemann suchen, der sich nicht die Mühe macht, einem vorzuschreiben, was man zu tun hat

Derartige Listen im Geiste aufzustellen war nicht untypisch für Olivia. Was vielleicht erklärte, warum sie sich so oft dabei ertappte, nicht zuzuhören, wenn sie es doch eigentlich sollte.

Und warum sie ein-, zweimal Dinge gesagt hatte, die sie wirklich für sich hätte behalten müssen. Der Gerechtigkeit halber muss allerdings hinzugefügt werden, dass es nun schon zwei Jahre her war, dass sie Sir Robert Kent ein ausgewachsenes Rhinozeros genannt hatte, und außerdem war er, gemessen an ihren unausgesprochenen Urteilen, damit noch glimpflich davongekommen.

Aber Abschweifungen beiseite – Miranda tat heute eben Dinge, die einer verheirateten Dame entsprachen. Olivia hätte gern eine Liste aufgestellt, aber niemand, nicht einmal Miranda (und das hatte Olivia ihr immer noch nicht verziehen), wollte ihr verraten, was verheiratete Damen taten, abgesehen davon, dass sie keine Pastellfarben trugen, nicht ständig von einer Anstandsdame begleitet werden mussten und in gewissen Abständen kleine Kinder hervorbrachten.

Olivia war sich ziemlich sicher, dass Letzteres ein größeres Thema war. Sonst würde ihre Mutter nicht jedes Mal fluchtartig den Raum verlassen, wenn Olivia ihr dazu eine Frage stellen wollte.

Aber zurück zu Miranda. Sie hatte ein kleines Kind hervorgebracht – die süße Caroline, für die Olivia durch jedes Feuer gegangen wäre, egal woher es kam – und arbeitete gerade am nächsten, was bedeutete, dass sie für ihre gewohnten nachmittäglichen Plaudereien nicht verfügbar war. Und da Olivia durchaus etwas übrig hatte für Plaudereien – und Mode und Klatsch –, verbrachte sie immer mehr Zeit mit Anne, Mary und Philomena. Die jungen Frauen waren oft unterhaltsam und niemals bösartig, mitunter aber ziemlich albern.

Wie jetzt zum Beispiel.

»Wer sollen diese Leute überhaupt sein?«, fragte Olivia.

»Welche Leute denn?«, erkundigte sich Anne.

»Na, die Leute. Die Leute, die sagen, dass mein neuer Nachbar seine Verlobte umgebracht hat.«

Anne hielt inne. Sie sah zu Mary. »Erinnerst du dich noch?«

Mary schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Vielleicht Sarah Forsythe?«

»Nein«, warf Philomena ein und schüttelte entschieden den Kopf. »Sarah war es nicht. Sie ist erst vor zwei Tagen aus Bath zurückgekommen. Libby Lockwood vielleicht?«

»Libby auch nicht«, sagte Anne. »Wenn es Libby gewesen wäre, würde ich mich daran erinnern.«

»Genau darauf will ich hinaus«, sagte Olivia. »Du weißt nicht, wer es gesagt hat. Keine von uns weiß es.«

»Na, erfunden habe ich es aber nicht«, erklärte Anne ein wenig beleidigt.

»Das habe ich auch nicht gesagt. So etwas würde ich nie von dir denken.« Das stimmte. Anne wiederholte beinahe alles, was in ihrem Beisein geäußert wurde, erfand aber nie irgendetwas. Olivia hielt inne, sammelte ihre Gedanken. »Findet ihr nicht, dass man einem Gerücht wie diesem eigentlich nachgehen müsste?«

Die drei jungen Frauen starrten sie verständnislos an.

Olivia versuchte es anders. »Wenn auch nur eurer persönlichen Sicherheit wegen. Falls die Geschichte wahr wäre …«

»Dann glaubst du also doch, dass sie stimmt?«, fragte Anne in einem Ton, als hätte sie die Freundin ertappt.

»Nein. Lieber Himmel. Natürlich nicht. Aber falls doch, dann würden wir mit jemandem wie ihm ja wohl nichts zu tun haben wollen.«

Die anderen schwiegen einen Moment. Schließlich sagte Philomena: »Meine Mutter hat mir schon gesagt, dass ich ihm aus dem Weg gehen soll.«

»Genau das ist der Grund«, fuhr Olivia fort – sie kam sich vor, als watete sie durch dicken Schlamm –, »warum wir uns vergewissern sollten, dass das Gerücht auch zutrifft. Denn falls es nicht stimmt …«

»Er ist wahnsinnig attraktiv«, unterbrach Mary sie. Gefolgt von einem: »Na ja, stimmt doch.«

Olivia blinzelte, bemüht, den Gedankengängen ihrer Freundin zu folgen.

»Ich hab ihn noch nie gesehen«, sagte Philomena.

»Er trägt immer nur Schwarz«, verriet Mary in vertraulichem Ton.

»Ich habe ihn schon in Dunkelblau gesehen«, widersprach Anne.

»Er trägt nur dunkle Farben«, verbesserte Mary sich und warf Anne einen irritierten Blick zu. »Und sein lodernder Blick … ach, der geht einem durch und durch.«

»Welche Farben haben seine Augen denn?«, fragte Olivia und stellte sich alle möglichen interessanten Schattierungen vor – Rot, Gelb, Orange …

»Blau.«

»Grau«, sagte Anne.

»Blaugrau. Aber sein Blick ist wirklich ziemlich durchdringend.«

Anne nickte. An dieser Aussage hatte sie nichts auszusetzen.

»Wie ist denn seine Haarfarbe?«, fragte Olivia. Dieses Detail hatten die anderen beiden bestimmt übersehen.

»Dunkelbraun«, antworteten die jungen Frauen unisono.

»So dunkel wie meine?«, fragte Philomena und strich sich über die Locken.

»Dunkler«, meinte Anne.

»Aber auch nicht schwarz«, fügte Anne hinzu. »Nicht ganz.«

»Und er ist groß«, sagte Mary.

»Das sind sie immer«, murmelte Olivia.

»Aber auch nicht zu groß«, erklärte Anne. »Schlaksige Männer gefallen mir persönlich nicht so gut.«

»Du musst ihn doch schon gesehen haben«, sagte Anne zu Olivia, »er wohnt schließlich direkt nebenan.«

»Ich glaube nicht«, murmelte Olivia. »Er hat das Haus erst Anfang dieses Monats gemietet, und ich war in der Zeit eine Woche bei der Hausgesellschaft der Macclesfields.«

»Wann bist du nach London zurückgekommen?«, fragte Anne.

»Vor sechs Tagen«, erwiderte Olivia und kam energisch wieder auf das Thema zu sprechen: »Ich wusste nicht mal, dass nebenan jetzt ein Junggeselle wohnt.« Was, wie ihr mit einiger Verspätung aufging, den Verdacht nahelegte, dass sie versucht hätte, mehr über ihn herauszufinden, wenn sie es gewusst hätte.

Vermutlich stimmte das, aber zugeben würde sie es nicht.

»Wisst ihr, was ich gehört habe?«, fragte Philomena plötzlich. »Er hat Julian Prentice zusammengeschlagen

»Was?« Dieser Aufschrei kam von allen.

»Und das erwähnst du erst jetzt?«, rief Anne ungläubig aus.

Philomena winkte ab. »Mein Bruder hat es mir erzählt. Er und Julian sind dicke Freunde.«

»Was ist passiert?«, fragte Mary.

»Darüber konnte ich keine sehr klare Auskunft bekommen«, räumte Philomena ein. »Robert war ein wenig unbestimmt.«

»Männer können sich nie richtig an die Details erinnern«, meinte Olivia, die dabei an ihren Zwillingsbruder Winston denken musste. Er taugte einfach nicht zum Klatschen, überhaupt nicht.

Philomena nickte. »Als Robert nach Hause kam, war er in einem fürchterlichen Zustand. Recht … ähm … zerzaust.«

Die anderen nickten. Sie hatten alle Brüder.

»Er konnte kaum noch aufrecht stehen«, fuhr Philomena fort. »Und er stank zum Himmel.« Sie wedelte sich mit der Hand vor der Nase herum. »Ich musste ihm helfen, sich am Salon vorbeizuschleichen, damit Mama ihn nicht zu sehen bekam.«

»Dann steht er jetzt in deiner Schuld«, meinte Olivia, die immer mitdachte.

Philomena nickte. »Anscheinend waren sie unterwegs bei irgendwelchen Männerunternehmungen, und Julian war ein wenig, ähm …«

»Angeheitert?«

»Das ist er ja ziemlich oft«, sagte Olivia.

»Ja. Liegt doch nahe, wenn man überlegt, in welchem Zustand er nach Hause gekommen ist.« Philomena hielt inne und runzelte die Stirn, als denke sie über etwas nach – aber im nächsten Augenblick war das Stirnrunzeln verschwunden, und sie fuhr fort: »Er hat erzählt, dass Julian gar nichts weiter gemacht hätte, und im nächsten Augenblick hat sich Sir Harry auf ihn gestürzt und ihn praktisch in Stücke gerissen.«

»Ist dabei auch Blut vergossen worden?«, fragte Olivia.

»Olivia!«, tadelte Mary.

»Das ist eine durchaus sachdienliche Frage.«

»Ich weiß nicht, ob Blut vergossen wurde«, meinte Philomena ein wenig zu eifrig.

»Hätte man jetzt aber doch eigentlich erwartet«, überlegte Olivia. »Wenn jemand in Stücke gerissen wird …«

Körperteile, auf die ich am ehesten verzichten könnte, wenn ich in Stücke gerissen würde, in absteigender Reihenfolge

Von Olivia Bevelstoke

(Momentan im Besitz aller Körperteile)

Nein, lieber keine solche Liste. Sie wackelte mit den Zehen, um ganz sicherzugehen.

»Er hat ein blaues Auge«, fuhr Philomena fort.

»Sir Harry?«, fragte Anne.

»Julian Prentice. Sir Harry hat vielleicht auch eins, woher soll ich das wissen? Ich habe ihn ja noch nie gesehen.«

»Ich hab ihn vor zwei Tagen gesehen«, warf Mary ein. »Da hatte er kein blaues Auge.«

»Hat er überhaupt irgendwie mitgenommen gewirkt?«

»Nein. Er war schön wie eh und je. Aber ganz in Schwarz. Das ist ziemlich seltsam.«

»Ganz in Schwarz?«, hakte Olivia nach.

»Größtenteils. Hemd und Krawattentuch waren weiß. Trotzdem …«, Mary ruderte mit dem Arm in der Luft herum, »… das sieht doch aus, als trüge er Trauer.«

»Vielleicht tut er das«, erklärte Anne, die diesen Köder sofort schluckte. »Für seine Verlobte!«

»Die, die er umgebracht hat?«, erkundigte sich Philomena.

»Er hat niemanden umgebracht!«, rief Olivia aus.

»Woher willst du das wissen?«, fragten die anderen drei im Chor.

Olivia hätte darauf geantwortet, wenn ihr nicht plötzlich aufgegangen wäre, dass sie es ja tatsächlich nicht wusste. Sie hatte den Mann noch nie gesehen, hatte bis zu diesem Nachmittag noch nicht einmal von ihm gehört. Und doch, die Vernunft war sicher auf ihrer Seite. Die Verlobte umzubringen, das klang viel zu sehr nach einem dieser Schauerromane, die Anne und Mary ständig lasen.

»Olivia?«, fragte jemand.

Sie blinzelte; sie erkannte, dass sie einen Augenblick zu lang geschwiegen hatte. »Keine Sorge«, sagte sie und schüttelte nonchalant den Kopf. »Ich war in Gedanken.«

»Bei Sir Harry«, meinte Anne ein wenig triumphierend.

»Ihr habt mir ja wohl kaum Gelegenheit gegeben, an irgendetwas anderes zu denken«, brummte Olivia.

»Woran hättest du denn lieber gedacht?«, fragte Philomena.

Olivia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, merkte dann jedoch, dass sie keine Ahnung hatte, was sie antworten sollte. »Egal was«, erklärte sie schließlich. »Irgendetwas.«

Aber nun war ihre Neugier geweckt. Und Olivia Frances Bevelstokes Neugier war eine Naturgewalt.

Das Mädchen von nebenan beobachtete ihn schon wieder. Das tat sie nun bereits seit einigen Tagen. Zuerst hatte Harry sich nichts weiter dabei gedacht. Liebe Güte, sie war die Tochter des Earl of Rudland oder zumindest mit ihm verwandt – wenn sie eine Dienstbotin gewesen wäre, wäre sie bestimmt längst entlassen worden, weil sie ständig am Fenster stand.

Die Gouvernante war sie auch nicht. Der Earl of Rudland war verheiratet, hatte Harry gehört. Eine Gouvernante, die so aussah, würde sich keine Ehefrau ins Haus holen.

Also war sie höchstwahrscheinlich die Tochter. Was bedeutete, dass er keinerlei Grund zu der Annahme hatte, sie sei mehr als eines dieser furchtbar neugierigen Gesellschaftsdämchen, die sich gar nichts dabei dachten, den neuen Nachbarn auszuspionieren. Nur dass sie ihn jetzt schon seit fünf Tagen beobachtete. Wenn sie nur herausfinden wollte, welchen Mantel er trug und welche Haarfarbe er hatte, hätte sie ihre Neugier inzwischen sicher längst befriedigt.

Er war in Versuchung gewesen zu winken. Ein strahlendes Lächeln aufzusetzen und ihr einfach zuzuwinken. Das würde ihrer Spioniererei sicher ein Ende bereiten. Nur würde er dann nie erfahren, warum sie so an ihm interessiert war.

Was er nicht dulden konnte. Ein ungeklärtes »Warum?« hatte Harry noch nie dulden können.

Ganz abgesehen davon, dass er ihrem Fenster nicht nahe genug war, um zu sehen, mit welcher Miene sie es aufnahm. Ihr zuzuwinken wäre also ziemlich sinnlos. Wenn er sie in Verlegenheit brachte, würde er das auch sehen wollen. Sonst machte es schließlich keinen Spaß.

Harry setzte sich wieder an den Schreibtisch und tat so, als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, dass sie hinter dem Vorhang stand und ihn beobachtete. Er hatte zu arbeiten, er musste aufhören, darüber nachzugrübeln, was die Blondine da am Fenster machte. Ein Bote vom Kriegsministerium hatte an diesem Morgen ein ziemlich umfangreiches Dokument abgegeben, das umgehend übersetzt werden musste. Harry folgte immer derselben Routine, wenn er aus dem Russischen übersetzte: Erst las er das Dokument durch, um sich einen Überblick zu verschaffen, dann sah er sich den Text näher an, bevor er sich genauer mit komplexen Formulierungen und Konstruktionen beschäftigte. Erst wenn er das Dokument gründlich studiert hatte, nahm er die Feder zur Hand und begann zu übersetzen.

Es war eine langwierige Sache. Ihm gefiel die Arbeit, aber er hatte auch schon immer gern herumgeknobelt. Manchmal saß er stundenlang an einem Dokument und merkte erst, wenn die Dämmerung hereinbrach, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Aber selbst er, der seine Arbeit so liebte, konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag damit zuzubringen, jemandem beim Übersetzen zuzusehen.

Und doch stand sie wieder einmal am Fenster. Vermutlich hielt sie sich für eine Meisterin der Tarnung und ihn für einen absoluten Dummkopf.

Er grinste. Sie hatte keine Ahnung. Harry mochte ja für die langweilige Abteilung des Kriegsministeriums arbeiten – die sich mit Worten und Papieren befasste statt mit Schusswaffen, Messern und Geheimaufträgen –, aber er war gut ausgebildet. Zehn Jahre hatte er beim Militär verbracht, meist auf dem Kontinent, wo ein scharfer Blick und ein siebter Sinn für Bewegungen den entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnten.

Ihm war beispielsweise aufgefallen, dass sie sich gern lose Haarsträhnen hinters Ohr strich. Und weil sie ihn manchmal auch abends beobachtete, wusste er, dass ihr Haar, die ganze glänzende Pracht, bis über die Schulterblätter fiel, wenn sie es offen herabwallen ließ.

Er wusste, dass ihr Morgenmantel blau war. Und leider auch ziemlich unförmig.

Sie war nicht sonderlich begabt darin, sich ruhig zu verhalten. Vermutlich glaubte sie, sie wäre darin ganz gut, schließlich zappelte sie nicht herum, und ihre Haltung war kerzengerade. Aber etwas verriet sie immer – eine winzig kleine Geste mit den Fingerspitzen, ein Heben der Schultern, wenn sie Atem holte.

Und inzwischen war Harry natürlich so weit, dass er sie gar nicht mehr übersehen konnte.

Er wunderte sich wirklich darüber. Was war so interessant daran, wenn er sich über seine Papierstapel beugte? Etwas anderes hatte er doch die ganze Woche nicht getan.

Vielleicht sollte er dem Spektakel ein wenig Farbe verleihen. Das wäre doch nur nett von ihm. Ihr war sicher sterbenslangweilig.

Er könnte auf seinen Schreibtisch springen und singen.

Einen Bissen nehmen und so tun, als erstickte er. Was sie dann wohl tun würde?

Also, das wäre mal ein interessantes moralisches Dilemma. Er legte die Feder kurz hin und dachte an die verschiedenen Damen der Gesellschaft, die ihm bisher begegnet waren. Er war nicht sonderlich zynisch veranlagt; er glaubte daher, dass zumindest einige von ihnen den Versuch unternehmen würden, ihn zu retten. Allerdings bezweifelte er, dass eine von ihnen über die nötigen sportlichen Fähigkeiten verfügte, rechtzeitig zu ihm zu gelangen.

Besser, wenn er sein Essen sorgfältig kaute.

Harry stieß den Atem aus und versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die ganze Zeit, die er über das Mädchen am Fenster nachgedacht hatte, hatte er den Blick auf seine Papiere gerichtet, aber kein Wort gelesen. In den letzten fünf Tagen hatte er einfach überhaupt nichts zustande gebracht. Natürlich könnte er die Vorhänge vorziehen, aber das wäre zu offensichtlich. Vor allem jetzt, zur Mittagszeit, wo die Sonne hoch und hell leuchtend am Himmel stand.

Er starrte auf den Text vor sich, doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war immer noch da und starrte zu ihm herüber. Vermutlich glaubte sie, sie sei hinter dem Vorhang nicht zu sehen.

Warum zum Teufel beobachtete sie ihn?

Harry gefiel das nicht. Zwar konnte sie unmöglich sehen, woran er gerade arbeitete, und selbst wenn, bezweifelte er doch, dass sie Kyrillisch entziffern konnte. Trotzdem, die Dokumente, die auf seinem Schreibtisch lagen, waren oft sensibler Natur, hin und wieder sogar von nationaler Wichtigkeit. Wenn ihm jemand nachspionierte …

Er schüttelte den Kopf. Wenn ihm jemand nachspionierte, dann sicher nicht die Tochter des Earl of Rudland, lieber Himmel.

Und dann war sie plötzlich weg. Erst drehte sie sich um, hob das Kinn etwa einen Zoll, und dann entfernte sie sich. Anscheinend hatte sie ein Geräusch gehört, vermutlich hatte jemand sie gerufen. Harry war es einerlei. Er war einfach froh, dass sie gegangen war. Er musste dringend mit seiner Übersetzung weiterkommen.

Er machte sich an die Arbeit, schaffte die erste halbe Seite, und dann: »Guten Morgen, Sir Harry!«

Es war Sebastian, offenbar in scherzhafter Stimmung. Andernfalls hätte er Harry nicht Sir genannt. Harry sah nicht auf. »Es ist Nachmittag.«

»Nicht, wenn man erst um elf aufwacht.«

Harry unterdrückte ein Seufzen. »Du hast nicht geklopft.«

»Tu ich doch nie.« Sebastian ließ sich in einen Sessel fallen. »Was machst du da?«

»Arbeiten.«

»Tust du ganz schön oft.«

»Manche von uns haben kein Vermögen in der Hinterhand, das sie erben können«, bemerkte Harry und versuchte, noch rasch einen Satz zu übersetzen, ehe Sebastian seine volle Aufmerksamkeit forderte.

»Vielleicht«, murmelte Sebastian. »Vielleicht auch nicht.«

Das stimmte, Sebastian war immer der übernächste Anwärter auf Titel und Vermögen gewesen. Sein Onkel, der Earl of Newbury, hatte nur einen einzigen Sohn, Geoffrey. Aber der Earl (der Sebastian immer noch für einen absoluten Taugenichts hielt, selbst da er zehn Jahre in Diensten Seiner Majestät gestanden hatte), hatte sich deswegen keine Gedanken gemacht. Schließlich hatte kaum Grund zu der Annahme bestanden, dass Sebastian einmal erben könnte. Geoffrey hatte geheiratet, als Sebastian in der Armee gewesen war, und seine Frau hatte zwei Töchter zur Welt gebracht, also konnte der Mann offenbar Kinder zeug...

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