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Der geheime Stern

hier erhältlich:

Quicklebendig steht Grace Fontaine vor Lieutenant Seth Buchanan. Mit einer Pistole in der Hand, die auf seine Brust gerichtet ist, einem gestohlenen Diamanten in der Tasche und einem Lächeln, das ihm den Atem raubt … Offensichtlich ist der Mordfall Grace Fontaine doch noch nicht abgeschlossen. Dabei hielt Seth die gefundene Leiche ganz sicher für die Highsociety-Lady! Nun, Grace erfreut sich bester Gesundheit. Und sie trägt einen der drei Sterne von Mithra bei sich. Rein beruflich will Seth herausfinden, was mit den anderen beiden Diamanten passiert ist. Rein privat aber verliebt er sich in die kühle Schönheit, die in größerer Gefahr schwebt, als sie sich beide vorstellen können …

"Der dritte Band um die Sterne von Mithra: ein Muss auf jedem Sammlerregal!"
Romantic Times Magazine

"Eine neue Dimension von Must-Read!"
The Romance Reader


  • Erscheinungstag: 22.05.2019
  • Aus der Serie: Sterne Von Mithra
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750997
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Frau auf dem Bild hatte ein Gesicht, das wie geschaffen schien, einen Mann bis in seine Träume zu verfolgen. Es war atemberaubend schön. Die strahlend blauen Augen lächelten verführerisch und wissend unter langen schwarzen Wimpern hervor, die Brauen waren perfekt geschwungen, mit einem hübschen kleinen Leberfleck unter dem linken Brauenbogen. Die Haut war weiß wie Porzellan und von einem warmen, rosigen Hauch überzogen, gerade warm genug, um einen Mann von der Hitze träumen zu lassen, die nur er allein erzeugen konnte. Die Nase war fein und gerade geschnitten.

Der Mund – und diesen Mund konnte man schwerlich ignorieren – wirkte voll und einladend, weich und doch fest, die rote Farbe war nicht weniger als pure Versuchung. Umrahmt wurde dieses unglaubliche Gesicht von langem tiefschwarzem Haar, das in sanften Wellen über nackte Schultern floss.

Glänzend, üppig, faszinierend. Die Art von Haar, in dem sich ein Mann verlieren wollte, in das er hineinfassen und gleichzeitig seinen Mund auf die weichen, lächelnden Lippen hinabsenken wollte.

Grace Fontaine, dachte Seth. Eine Studie weiblicher Perfektion.

Verdammt schade, dass sie tot war.

Er wandte sich von dem Porträt ab, verärgert, dass sein Blick und seine Gedanken immer wieder dorthin zurückwanderten. Er wollte etwas Zeit allein am Tatort verbringen, jetzt, nachdem die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit beendet und der Gerichtsmediziner die Leiche mitgenommen hatte. Zurückgeblieben war nur der weiße Kreideumriss des leblosen Körpers, eine hässliche Silhouette auf dem auf Hochglanz polierten Parkettfußboden.

Die Todesursache hatte man schnell gefunden: Grace Fontaine war vom oberen Stockwerk aus direkt über die geschwungene Balustrade nach unten gestürzt, wo sie mit dem Gesicht zuerst in einem großen Glastisch gelandet war.

All die Schönheit eingebüßt. Was für eine Schande.

Genauso schnell war klar gewesen, dass bei dem Sturz jemand nachgeholfen haben musste.

Das Haus war überaus beeindruckend, wie Seth feststellte, als er sich nachdenklich umsah. Hohe Decken und ein halbes Dutzend Dachfenster, durch die die zartroten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne fielen. Sehr feminin. So wie alles hier irgendwie weiblich wirkte: das geschwungene Treppengeländer, die Fenster und Türen. Das Glas funkelte, das Holz glänzte, die Möbel waren sorgfältig ausgewählt – kostbare Antiquitäten, das erkannte er auf einen Blick.

Es würde nicht leicht sein, die Blutspritzer aus dem taubengrauen Bezug der Couch zu entfernen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte, bevor der Mörder ins Haus gekommen war, um seine Bewohnerin in die Tiefe zu stoßen.

Mit Sicherheit hatten da keine zerbrochenen Statuen und aufgeschlitzten Kissen herumgelegen, die Blumen waren bestimmt in hübschen Vasen arrangiert, es hatte kein Blut gegeben, keine Scherben und auch keine Schichten weißen Puders, die die Spurensicherung hinterlassen hatte.

Grace Fontaine hatte es sich leisten können, luxuriös zu leben. Nachdem ihre Eltern jung gestorben waren, hatte sie mit einundzwanzig ein ansehnliches Vermögen geerbt. Sie hatte eine exzellente Ausbildung genossen und war der Liebling der Country-Clubs gewesen, während ihre konservative Familie sie zum schwarzen Schaf erklärt hatte. Den Fontaines gehörte die berühmte Kaufhauskette Fontaine Department Stores.

Selten verging eine Woche, in der Grace nicht auf den Gesellschaftsseiten der Washington Post erwähnt wurde oder jemand sie für eines der Hochglanzmagazine abschoss. Nicht immer zu ihrem Vorteil.

Die Presse würde sich mit Begeisterung auf dieses letzte Abenteuer der Grace Fontaine stürzen, und zwar in der Sekunde, in der die Nachricht durchsickerte. Keine ihrer Eskapaden würde unerwähnt bleiben: das Nacktfoto, das sie mit neunzehn für ein Männermagazin gemacht hatte, die leidenschaftliche und sehr öffentliche Affäre mit einem verheirateten englischen Adeligen, der heiße Flirt mit einem Frauenschwarm aus Hollywood.

Und es gab noch mehr Kerben in ihrem Designergürtel. Der amerikanische Senator, der Bestsellerautor, der Maler, der sie porträtiert hatte, der Rockstar, der angeblich versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, als sie ihn verließ.

Eine Menge Männer für ein so kurzes Leben.

Grace Fontaine war mit nur sechsundzwanzig Jahren gestorben.

Und nun war es nicht nur seine Aufgabe, das Wie herauszufinden, sondern vor allem auch: durch wen. Und nicht zu vergessen: warum.

Was das Motiv betraf, hatte er zumindest eine Idee: die drei Sterne von Mithra – drei blaue Diamanten.

Während Seth mit gerunzelter Stirn durch das leere Haus lief, ließ er noch einmal die Ereignisse Revue passieren, die ihn bis hierher geführt hatten. Da er sich seit seiner Kindheit mit Mythologie befasste, wusste er ein wenig über die drei Sterne Bescheid. Der Stoff, aus dem Legenden gemacht wurden. Die drei Diamanten gehörten zu dem goldenen Dreieck, das einst in den Händen einer Statue der Gottheit Mithra gelegen hatte. Einer der Steine signalisierte die Liebe, ein anderer die Weisheit, der letzte stand für Edelmut. Alle drei zusammen, so sagte man, schenkten ihrem Besitzer göttliche Macht und Unsterblichkeit.

Er stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Diese Geschichte war natürlich völliger Unsinn. Und doch war es merkwürdig, dass er erst vor Kurzem von den blauen Diamanten geträumt hatte, von einem in Nebel gehüllten Schloss und einem Raum voll glänzendem Gold. Von einem Mann mit ausdruckslosen, toten Augen.

Er versuchte sich an die Einzelheiten seines Traumes zu erinnern. Eine Frau mit dem Gesicht einer Göttin. Und sein eigener, grausamer Tod.

Seth bemühte sich, das ungute Gefühl abzuschütteln, das ihn überfiel. Was er jetzt brauchte, waren Tatsachen. Die bezwingende Logik simpler Fakten. Und einer davon war, dass die drei Diamanten jeweils mehr als hundert Karat wogen und mindestens sechs majestätische Lösegelder wert waren. Irgendjemand wollte sie besitzen, und dieser Jemand zögerte nicht, dafür zu töten.

Die Leichen, die seinen Weg pflasterten, konnte man inzwischen stapeln wie Kaminholz. Seth fuhr sich nervös mit einer Hand durchs Haar. Der erste Tote war Thomas Salvini gewesen, Mitinhaber der Juwelierfirma Salvini, die vom Smithsonian Museum den Auftrag erhalten hatte, die drei Diamanten zu schätzen. Anscheinend hatte Thomas und seinem Zwillingsbruder Timothy dieser Auftrag nicht gereicht. Jedenfalls gab es genügend Hinweise, nach denen die Brüder andere Pläne gehabt hatten – über eine Million Dollar in bar deuteten darauf hin, dass es einen ernsthaften Interessenten für die Steine geben musste. Thomas und Timothy hatten offenbar geplant, die Diamanten zu kopieren, die Originale zu verkaufen und dann schleunigst mit dem Geld das Land zu verlassen. So zumindest lautete die Aussage von Bailey James, der Stiefschwester der Salvini-Brüder und Augenzeugin des Mordes.

Bailey wollte ihre Brüder selbst zur Rede stellen, ohne die Polizei einzuschalten. Um die Diamanten zu schützen, hatte sie sie voneinander getrennt und jeweils einen per Kurier an ihre beiden engsten Freundinnen verschickt. Seth schüttelte den Kopf und seufzte. Zivilisten verhielten sich manchmal wirklich merkwürdig.

Nun, Bailey James hatte für ihr unüberlegtes Verhalten bitter bezahlen müssen. Sie hatte mitansehen müssen, wie der eine Bruder den anderen tötete, und war selbst nur knapp mit dem Leben davongekommen – allerdings mit einer umfassenden Amnesie, die alle Erinnerungen an das Geschehene für ein paar Tage auslöschte.

Und war diese Bailey etwa jetzt zur Polizei gegangen?

Nein. Stattdessen hatte sie sich irgendeinen Privatdetektiv aus dem Telefonbuch herausgesucht. Seth presste die Lippen zusammen. Er hatte wenig Achtung vor Privatdetektiven. Nur durch großes Glück war Bailey an einen halbwegs fähigen Mann geraten: Cade Parris war nicht ganz so übel wie die meisten seiner Zunft. Und tatsächlich hatte er eine heiße Spur in dem Fall gefunden, wobei Seth überzeugt war, dass es sich auch hier um reinen Zufall handelte.

Auch Cade Parris hätte fast sein Leben verloren. Was Seth zu Todesfall Nummer zwei brachte: Timothy Salvini war mittlerweile genauso tot wie sein Bruder Thomas. Natürlich hatte Parris in Notwehr gehandelt. Man konnte ihm wirklich nicht vorwerfen, dass er sich gegen einen bewaffneten Mann verteidigt hatte. Doch der Tod des zweiten Salvinis führte, was die Ermittlungen betraf, geradewegs in eine Sackgasse.

Und dann war da noch Bailey James’ Freundin M.J., die während des ereignisreichen Wochenendes gemeinsam mit einem Typen, der so eine Art moderner Kopfgeldjäger zu sein schien, auf der Flucht gewesen war. Seth, der selten irgendwelche Gemütsregungen zeigte, rieb sich die Augen und lehnte sich an den Türpfosten zu Grace Fontaines Schlafzimmer.

M.J. O’Leary. Sie würde er als Nächstes verhören. Und außerdem musste er ihr und Bailey die Nachricht von Graces Tod überbringen.

M.J. besaß den zweiten Diamanten und war am Samstagnachmittag mit dem Kopfgeldjäger Jack Dakota untergetaucht. Obwohl es gerade einmal Montagabend war, konnten die beiden bereits von weiteren drei Toten berichten.

Einer davon war der zwielichtige Kredithai Ralph, der nicht nur versucht hatte, Jack Dakota hereinzulegen, sondern sich nebenbei auch noch als Erpresser verdingte. Vermutlich war er von den Schlägertypen, die er auf M.J. angesetzt hatte, umgebracht worden. Die beiden Kerle waren wenig später auf regennasser Fahrbahn verunglückt.

Was Seth erneut in eine Sackgasse führte.

Grace Fontaine war nun wahrscheinlich die dritte Sackgasse. Er wusste nicht, welche Spuren es in den durchwühlten Räumen ihres Hauses zu finden gab, aber er würde alles durchsuchen, Zentimeter für Zentimeter, Winkel für Winkel. Das war sein Stil.

Er würde gründlich vorgehen, umsichtig und gewissenhaft, bis er seine Antworten gefunden hatte. Er glaubte an Ordnung und Gesetz, und vor allem glaubte er unerschütterlich an Gerechtigkeit.

Schon sein Vater und Großvater waren bei der Polizei gewesen. Er selbst hatte sich mit fast beängstigender Beharrlichkeit und kühler Objektivität bis zum Lieutenant hochgearbeitet. Seine Mitarbeiter respektierten ihn, einige fürchteten ihn sogar. Er wusste, dass er bisweilen die Maschine genannt wurde, was ihn aber nicht weiter störte. Gefühlsausbrüche, sentimentales Gerede und Schuldgefühle konnten sich die anderen leisten – in seinem Job war kein Platz dafür.

Eigentlich empfand er es sogar als Kompliment, als distanziert zu gelten, als kühl und kontrolliert.

Von der Schlafzimmertür aus betrachtete er sich in dem riesigen mahagonigerahmten Spiegel am anderen Ende des Zimmers. Er war ein großer Mann, gut gebaut und mit stählernen Muskeln unter der schwarzen Anzugjacke. Weil er allein war, hatte er seine Krawatte etwas gelockert. Das dunkle gewellte Haar wirkte leicht zerzaust. Er strich es sich aus dem ernst dreinblickenden Gesicht, das sich eines energischen Kiefers und goldbrauner Haut rühmen konnte.

Seine Nase, die man ihm damals, als er noch Streife fuhr, gebrochen hatte, verlieh seinem Gesicht eine zusätzlich raue Note. Sein harter, fester Mund verzog sich nur selten zu einem Lächeln. Seine Augen, dunkelgolden wie in einem alten Gemälde, blickten stets kühl unter den geraden Brauen hervor.

An einer Hand trug er den schweren Goldring seines Vaters. Auf jeder Seite waren die Worte Dienen und Schützen eingraviert.

Er nahm beide Gebote äußerst ernst.

Seth beugte sich vor, um den roten Seidenstoff aufzuheben, der auf einem Berg zerwühlter Kleider lag. Es handelte sich um einen roten Morgenmantel, der zu dem kurzen Negligé passte, das das Opfer getragen hatte.

Er hätte Grace Fontaine am liebsten nur als Opfer gesehen, nicht als die Frau auf dem Porträt, und schon gar nicht als die Frau in seinen beunruhigenden Träumen. Es ärgerte ihn, dass er immer und immer wieder an dieses überwältigend schöne Gesicht denken musste. An die Frau, die sich dahinter verbarg. Das war wohl Teil ihrer Macht über die Männerwelt gewesen: die Tatsache, dass sie sich ins Gedächtnis einbrannte und nach und nach zur Obsession wurde.

Sie war mit Sicherheit unwiderstehlich gewesen. Unvergesslich. Gefährlich.

Hatte sie das rote Seidenhemd für einen Mann getragen? Hatte sie Besuch erwartet – eine leidenschaftliche Nacht zu zweit?

Und wo war der dritte Diamant? Hatte ihr unerwarteter Besucher den Stein gefunden und mitgenommen? Der Safe unten in der Bibliothek war aufgebrochen und leer geräumt. Es schien nur logisch, dass man so etwas Wertvolles wie einen blauen Diamanten wegschloss. Und doch war Grace Fontaine vom oberen Stockwerk aus in die Tiefe gestürzt!

Hatte sie versucht, davonzulaufen? Warum hatte sie ihren Mörder überhaupt ins Haus gelassen? Die robusten Schlösser waren nicht beschädigt worden. War sie vielleicht so leichtsinnig gewesen, einem Fremden die Tür zu öffnen, während sie nichts weiter als ein dünnes Seidenhemdchen trug?

Oder hatte sie ihn vielleicht gekannt?

Vielleicht hatte sie sich mit dem blauen Diamanten gebrüstet, hatte den Stein voller Stolz hervorgezeigt? War aus Leidenschaft Gier geworden? Ein Streit, ein Kampf, schließlich der Sturz? Und hatte der Täter nur deswegen das Haus durchwühlt, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken?

Das war durchaus eine Möglichkeit. In der Bibliothek lag ihr dickes Adressbuch, und Seth würde es Name für Name durchgehen, genauso wie er zu dem Ferienhaus in den Bergen von Maryland fahren würde.

Aber zunächst hatte er etwas anderes zu tun. Er musste eine von Graces Freundinnen oder ein Mitglied der Familie bitten, die Leiche zu identifizieren. Und er bedauerte es – ungewöhnlich genug für ihn –, dass jemand, der sie geliebt hatte, in dieses zerstörte Gesicht sehen musste.

Er ließ den Morgenmantel fallen, warf einen letzten Blick in den Raum mit dem riesigen Bett, den umgestoßenen Vasen, den zertrampelten Blumen und den Scherben der schönen antiken Parfumflaschen, die glitzerten wie Juwelen. Er wusste schon jetzt, dass der Duft in diesem Zimmer ihn genauso verfolgen würde wie das perfekte Gesicht auf dem Porträt.

Es war bereits dunkel, als er zurückkehrte. Es war nicht ungewöhnlich für ihn, Überstunden zu machen. Seth hatte kein nennenswertes Privatleben, und er vermisste es auch nicht. Die Frauen, mit denen er sich gelegentlich traf, wählte er stets mit Bedacht. Er sorgte dafür, dass sie nicht auf die Idee kamen, an eine ernsthafte Beziehung zu denken, und er machte niemals irgendwelche Versprechungen.

Ihm war klar, dass er jetzt nicht mehr viel am Tatort ausrichten konnte. Eigentlich sollte er in seinem Büro sitzen oder noch besser: nach Hause gehen und sich ausruhen. Aber irgendetwas hatte ihn wie magisch zurück zum Tatort gezogen. Nun, wenn er ehrlich war, hatte es ihn einfach nur zurück zu dieser Frau gezogen.

Zu dem Gesicht auf dem Porträt.

Er parkte sein Auto am Anfang der Auffahrt und lief im Schutz der großen alten Bäume und sorgfältig beschnittenen Hecken zum Haus. Dann schlüpfte er durch die Eingangstür und drückte auf den Lichtschalter. Der riesige Kristalllüster im Eingangsbereich funkelte auf.

Seine Leute hatten bereits mit der Befragung der Nachbarn begonnen, in der Hoffnung, dass einer von ihnen etwas gehört oder gesehen hatte.

Der Gerichtsmediziner kam nur langsam voran, kein Wunder. Wegen des Feiertages arbeiteten sie alle in Minimalbesetzung. Die Berichte würden also etwas länger dauern als üblich.

Doch das war es nicht, was so sehr an ihm nagte. Unwillkürlich lief er zurück zu dem in Öl gemalten Porträt, das über dem gekachelten Kamin hing.

Grace Fontaine war geliebt worden. Er hatte nicht gewusst, wie tief Freundschaften sein konnten, bis er die Verzweiflung und den Schmerz in den Gesichtern ihrer Freundinnen gesehen hatte.

Zwischen Bailey James, M.J. O’Leary und Grace Fontaine hatte es eine ganz besondere Verbindung gegeben. Jetzt tat es ihm leid, dass er den beiden Frauen die Todesnachricht so grob überbracht hatte.

Herzliches Beileid.

Diese Worte benutzte die Polizei regelmäßig, um den Tod zu beschönigen, der oft gewaltsam war, aber auf jeden Fall immer unerwartet. Er hatte diese Worte gesagt wie schon so oft in der Vergangenheit und dann beobachtet, wie die zierliche Blonde und die katzenäugige Rothaarige regelrecht zusammengebrochen waren. Wie sie sich in die Arme gesunken und einfach zusammengebrochen waren.

Die beiden Männer, die sich als ihre Beschützer aufspielten, hätten ihn gar nicht erst bitten müssen zu gehen. Ihm war klar gewesen, dass es an diesem Abend keine Fragen, keine Aussagen, keine Antworten mehr geben würde. Kein einziges seiner Worte hätte die dicke Mauer der Trauer durchdringen können.

Grace Fontaine ist geliebt worden, dachte er noch einmal, während er in die spektakulären blauen Augen blickte. Nicht nur von Männern begehrt, sondern von Frauen geliebt. Was steckte hinter diesen Augen, hinter diesem Gesicht, das diese bedingungslose Zuneigung verdiente?

“Wer zum Teufel bist du?”, murmelte er. Sie antwortete ihm mit ihrem offenen, einladenden Lächeln. “Zu schön, um wahr zu sein. Und dir deiner Schönheit viel zu sehr bewusst, um sanft zu sein.” Seine tiefe Stimme, heiser vor Müdigkeit, hallte durch das leere Haus. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, auf und ab zu wippen. “Und zu tot, als dass dich das interessieren könnte.”

Obwohl er sich von dem Porträt abwandte, hatte er das unangenehme Gefühl, von Grace Fontaine beobachtet zu werden. Abschätzig.

Er musste noch mit ihren nächsten Verwandten sprechen, einer Tante und einem Onkel in Virginia, die sich nach dem Tod ihrer Eltern um sie gekümmert hatten. Die Tante verbrachte den Sommer in einer Villa in Italien und war heute Abend telefonisch nicht mehr zu erreichen.

Villa in Italien, überlegte er. Blaue Diamanten, Ölporträts, Kamine aus saphirblauen Kacheln. Diese Welt hatte außerordentlich wenig mit seinem durchschnittlichen Leben zu tun.

Irgendwann später würde er zurück in sein winziges Haus fahren, das von weiteren winzigen Häusern umgeben war. Es würde leer sein, dieses Haus, nachdem er nie die Frau kennengelernt hatte, mit der er die kleinen Räume teilen wollte. Aber immerhin wartete sein Haus auf ihn.

Grace Fontaines Heim, so elegant es mit dem glänzenden Holz, dem schimmernden Glas, dem Swimmingpool und den gestutzten Büschen auch war, hatte seine Besitzerin nicht beschützen können.

Seth lief um den Kreideumriss herum und erneut die Treppe hinauf. Seine Laune war im Keller, und das beste Mittel gegen schlechte Laune war Arbeit.

Er überlegte, dass eine Frau mit einem so ereignisreichen Leben ihre Erlebnisse vielleicht in einem Tagebuch festgehalten hatte. Schweigend durchsuchte er das Schlafzimmer, sich der Tatsache nur allzu bewusst, dass er in dem wunderbaren Duft gefangen war, den sie zurückgelassen hatte.

Er nahm die Krawatte ab, stopfte sie in seine Tasche. Das Gewicht der Pistole im Schulterhalfter war ihm so vertraut, dass er es gar nicht wirklich wahrnahm.

Er schaute unter der Matratze nach, durchwühlte den Kleiderhaufen auf dem Boden. Dabei stellte er fest, dass sie genügend Kleidung besaß, um eine ganze Theatertruppe auszustaffieren, und dass sie weiche Stoffe bevorzugt hatte. Seide, Kaschmir, Satin, gebürstete Baumwolle. Auffällige Farben. Strahlende Farben und sehr viel Blau.

Zu diesen Augen, dachte er, warum nicht?

Er ertappte sich bei der Überlegung, wie ihre Stimme wohl geklungen hatte. War sie rau und dunkel gewesen, so verführerisch wie der sinnliche Duft, der in der Luft hing?

Er betrat den riesengroßen begehbaren Kleiderschrank. Kopfschüttelnd musterte er die Kleider, die noch immer auf den Bügeln hingen. Hier hatte offenbar selbst der Mörder die Geduld verloren und nicht alle herausgerissen.

Seth vermutete, dass weit über zweihundert Paar Schuhe in den Regalen aufgereiht waren. Links davon befand sich ein Regal, das offensichtlich speziell für ihre Handtaschen gefertigt worden war. Taschen in jeder vorstellbaren Farbe und Größe lagen geöffnet auf dem Boden.

In einem anderen Schrank entdeckte er Schals und Pullis. Modeschmuck. Bestimmt hatte sie auch eine Menge echten Schmuck besessen, wovon sie vermutlich einen Teil in dem jetzt leeren Safe aufbewahrt hatte, den anderen vielleicht in einem Bankschließfach. Dieser Spur würde er gleich am Morgen nachgehen.

Und sie hat gern Musik gehört, dachte er, als er die kabellosen Lautsprecher betrachtete. In jedem Zimmer des Hauses hatte er Lautsprecher entdeckt, außerdem lagen überall CDs, Kassetten und sogar alte Langspielplatten herum. Ihr Geschmack war vielseitig gewesen, sie hatte alles von Bach bis zu den B-52s gehört.

Ob sie viele Abende allein verbracht hatte? Hatte sie sich jemals mit einem der vielen Bücher aus der Bibliothek vor den Kamin gesetzt? Es sich in ihrem kleinen roten Seidenhemd auf der Couch bequem gemacht, die Eine-Million-Dollar-Beine angezogen, ein Glas Brandy in der Hand, und bei leiser Musik die Sterne durch die vielen Dachfenster beobachtet?

Er konnte es sich nur zu gut vorstellen. Konnte sich vorstellen, wie sie aufsah, sich das schwarze Haar aus dem atemberaubenden Gesicht strich und die verführerischen Lippen kräuselte, weil sie ihn dabei ertappt hatte, wie er sie beobachtete. Wie sie das Buch zur Seite legte, einladend eine Hand ausstreckte und ihn sanft lachend neben sich zog.

Leise fluchend versuchte er, sein plötzlich schneller schlagendes Herz zu beruhigen.

Tot oder lebendig, diese Frau war eine Hexe. Und diese verdammten Diamanten schienen ihre Macht nur noch zu verstärken.

Er verschwendete hier seine Zeit. Es wäre viel sinnvoller, dem Gerichtsmediziner Feuer unterm Hintern zu machen, um so schnell wie möglich den Zeitpunkt des Todes zu erfahren. Und außerdem musste er damit beginnen, die Telefonnummern aus dem Adressbuch durchzugehen.

Und er musste aus diesem Haus raus, das so sehr nach Grace Fontaine roch, das diese ganze Frau geradezu zu atmen schien. Er war fest entschlossen, der Villa so lange fernzubleiben, bis er seine beunruhigenden Fantasien wieder im Griff hatte.

Verärgert trat er aus dem Schlafzimmer und wollte eben die Treppe nach unten gehen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Er griff nach seiner Waffe, doch es war zu spät.

Sehr langsam ließ er die Hand wieder sinken und starrte hinab. Nicht die auf ihn gerichtete Pistole ließ ihn regungslos verharren, sondern die Tatsache, dass sie in der Hand einer Toten lag.

“Nun”, sagte die Tote und trat in das grelle Licht des Kristalllüsters. “Sie sind ein ziemlich chaotischer Einbrecher, und ein dummer noch dazu.” Diese unerhört blauen Augen starrten zu ihm hinauf. “Nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich Ihnen kein Loch in den Kopf pusten soll, bevor ich die Polizei alarmiere.”

Für einen Geist sah sie der Frau aus seiner Fantasie verblüffend ähnlich. Ihre Stimme klang tief und heiser, und für eine eben erst Verstorbene wirkten ihre Wangen ziemlich erhitzt. Seths Verstand setzte nicht besonders häufig aus, doch in diesem Moment tat er es. Er sah eine Frau, in strahlend weiße Seide gekleidet, Diamanten funkelten an ihren Ohren, eine Pistole lag silbrig schimmernd in ihrer Hand.

Er musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um kühl zu entgegnen: “Ich bin die Polizei.”

Ihre Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. “Aber na klar, Mister. Wer sonst außer einem überarbeiteten Streifenpolizisten würde nachts durch fremde Häuser schleichen?”

“Ich gehe schon seit einiger Zeit nicht mehr auf Streife. Mein Name ist Buchanan. Lieutenant Seth Buchanan. Und wenn Sie Ihre Pistole freundlicherweise nicht ganz so genau auf mein Herz richten würden, könnte ich Ihnen auch meinen Ausweis zeigen.”

“Den würde ich nur zu gern sehen.” Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog sie die Pistole ein Stück beiseite. Ihr Herz hämmerte wie ein Pressluftbohrer, als sie vorsichtig einen Schritt auf die Treppe zumachte, während er seinen Ausweis hervorzog. Soweit sie das aus der Entfernung beurteilen konnte, sah er ziemlich echt aus.

Nach und nach überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie blickte dem Fremden wieder ins Gesicht. Verdammt, er sah tatsächlich nicht wie ein Einbrecher aus. Auf eine strenge, zugeknöpfte Art und Weise wirkte er sogar sehr attraktiv. Sein muskulöser Körper mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften wirkte extrem durchtrainiert.

Seine Augen waren kühl und dunkel und schienen alles auf einmal wahrzunehmen. Und egal, ob es sich hier um die Augen eines Verbrechers oder eines Polizisten handelte: Ihr Besitzer war in jedem Fall gefährlich, dessen war sie sich sicher.

Gefährliche Männer fand sie üblicherweise anziehend, doch unter diesen Umständen war sie ausnahmsweise nicht besonders empfänglich für solche Reize.

“In Ordnung, Buchanan, Lieutenant Seth, warum erzählen Sie mir nicht, was Sie in meinem Haus zu suchen haben?” Sie dachte daran, was sie in ihrer Handtasche mit sich herumtrug, daran, was Bailey ihr vor ein paar Tagen per Kurier zugeschickt hatte. Das ungute Gefühl verstärkte sich.

In welchen Schwierigkeiten stecken wir eigentlich?, fragte sie sich nervös. Und wie soll ich da wieder rauskommen, wenn mich ein Cop in meinem eigenen Haus in Grund und Boden starrt?

“Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?”, fragte sie.

“Nein, habe ich nicht.” Er würde sich insgesamt besser fühlen, wenn sie die Pistole einfach ganz herunternehmen würde. Aber sie schien recht zufrieden damit, auf ihn zu zielen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, stieg er langsam die Treppe hinab. “Sie sind Grace Fontaine.”

Sie sah, wie er den Ausweis wieder in die Hemdtasche steckte, während seine unergründlichen Augen ihr Gesicht erforschten, als wollte er es sich genau einprägen. Was zum Teufel war hier eigentlich los?

“Ja, ich bin Grace Fontaine. Das hier ist mein Haus. Und da Sie keinen Durchsuchungsbefehl haben, begehen Sie gerade Hausfriedensbruch. Nachdem es überflüssig scheint, die Polizei zu alarmieren, rufe ich besser meinen Anwalt.”

Er neigte den Kopf zur Seite und atmete ungewollt ihren unwiderstehlichen Duft ein. Vielleicht lag es daran, dass er ohne nachzudenken hervorstieß: “Nun, Ms. Fontaine. Für eine Leiche sehen Sie verdammt gut aus.”

2. KAPITEL

Sie kniff die Augen zusammen. “Wenn das so ein komischer Polizistenwitz sein soll, dann müssen Sie ihn mir schon übersetzen.”

Es ärgerte ihn, dass er sich zu so einer unprofessionellen Bemerkung hatte hinreißen lassen. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihrer Waffe aus. “Sie haben doch nichts dagegen?” Noch bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte er ihr die Pistole entwendet und das Magazin geleert. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, nach einem Waffenschein zu fragen, also gab er ihr die Pistole zurück. “Es ist immer besser, beide Hände an der Waffe zu haben”, sagte er so ernsthaft, dass sie irgendwo hinter seiner unbewegten Fassade Belustigung vermutete. “Und wenn Sie sie behalten wollen, sollten Sie immer außer Reichweite des Feindes bleiben.”

“Besten Dank für die Lektion.” Wütend öffnete sie ihre Handtasche und ließ die Waffe hineingleiten. “Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Lieutenant. Was suchen Sie in meinem Haus?”

“Sie hatten einen Unfall, Ms. Fontaine.”

“Einen Unfall? Schon wieder Polizeisprache?” Sie stieß laut die Luft aus. “Moment mal. Hat es etwa einen Einbruch gegeben?” Jetzt blickte sie an ihm vorbei ins Foyer, entdeckte einen umgestoßenen Stuhl und zerbrochenes Geschirr. Fluchend wollte sie an ihm vorbei, doch er hielt sie am Arm fest. “Ms. Fontaine …”

“Hände weg”, zischte sie. “Dies hier ist mein Haus.”

Er verstärkte den Griff. “Dessen bin ich mir bewusst. Wann genau waren Sie zum letzten Mal hier?”

“Ich werde meine verdammte Aussage machen, sobald ich weiß, was die Kerle mitgenommen haben!” Ihr gelangen zwei weitere Schritte. Sie erhaschte einen Blick in den Wohnbereich. “Die haben ja ganze Arbeit geleistet, was? Die Reinigungsleute werden hocherfreut sein.” Sie senkte den Blick auf seine Finger, die ihren Arm noch immer umklammert hielten. “Prüfen Sie gerade meinen Bizeps, Lieutenant? Ich bilde mir ein, dass er ganz okay ist.”

“Absolut okay.” Nach allem, was er unter den dünnen Seidenärmeln erahnen konnte, war er sogar mehr als in Ordnung. “Würden Sie mir bitte meine Frage beantworten, Ms. Fontaine. Wann waren Sie zum letzten Mal hier?”

Seufzend zuckte sie mit den Achseln. Sie dachte bereits über all die Unannehmlichkeiten nach, die ein Einbruch nach sich zog. Sie musste die Versicherung anrufen, Anzeige erstatten, eine Aussage machen. “Mittwochnachmittag. Ich war ein paar Tage nicht in der Stadt.” Es erschütterte sie mehr, als sie zugeben wollte, dass ihr Haus in ihrer Abwesenheit derart zugerichtet worden war. Dass Fremde ihre Sachen durchstöbert hatten. Doch sie warf ihm einen betont freundlichen Blick zu. “Wollen Sie sich denn keine Notizen machen?”

“Um genau zu sein, werde ich das tatsächlich. Bald. Wer hat während Ihrer Abwesenheit hier gewohnt?”

“Niemand. Ich mag keine Leute hier haben, wenn ich nicht da bin. Und wenn Sie mich nun entschuldigen würden …” Sie zerrte einmal heftig an ihrem Arm, dann marschierte sie quer durchs Foyer – und blieb wie angewurzelt vor dem Türbogen zum Wohnzimmer stehen. “Gütiger Gott.” Wut stieg in ihr auf, schnell und heftig. Sie wollte gegen irgendetwas treten, unabhängig davon, dass sowieso schon alles zertrümmert war. “Mussten die denn unbedingt das, was sie nicht mitnehmen konnten, auch noch kaputt machen?” Sie blickte zur Balustrade hinauf und fluchte erneut. “Für was habe ich eigentlich eine Alarmanlage, wenn sie nicht …”

Sie brach ab, als sie den weißen Kreideumriss auf dem Boden sah. Sie starrte darauf hinab, unfähig, den Blick abzuwenden. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Schließlich stützte sie sich mit einer Hand an dem blutbefleckten Sofa ab, um das Gleichgewicht zu halten, betrachtete das zerschlagene Glas, das einmal ein Tisch gewesen war, und die inzwischen getrocknete Blutlache.

“Warum gehen wir nicht für einen Moment ins Esszimmer?”, schlug er leise vor.

Sie zuckte zusammen, obwohl er sie gar nicht berührt hatte. Ein schwerer Eisklumpen hatte sich in ihrer Magengegend gebildet, und auch die Hitze, die durch ihren Körper jagte, konnte ihn nicht zum Schmelzen bringen. “Wer war das?”, presste sie hervor. “Wer ist hier gestorben?”

“Bis vor ein paar Minuten gingen wir davon aus, dass Sie es waren.”

Sie schloss die Augen. “Entschuldigen Sie.” Auf tauben Beinen lief sie ins Wohnzimmer, hob eine Flasche Brandy vom Boden auf, nahm ein heil gebliebenes Glas aus dem Schrank und schenkte sich großzügig ein.

Das erste Glas trank sie wie Medizin, das erkannte er an der Weise, wie sie es hinunterschüttete und dann zweimal heftig erschauerte. Zwar brachte es nicht die Farbe in ihr Gesicht zurück, aber offenbar begann ihr Köper wieder zu funktionieren.

“Ms. Fontaine, es wäre vermutlich besser, wenn wir in einem anderen Zimmer weitersprechen.”

“Mir geht’s gut.” Doch ihre Stimme klang heiser. Sie trank noch ein Glas, bevor sie sich zu ihm umdrehte. “Warum dachten Sie, dass ich es bin?”

“Es geschah in Ihrem Haus. Das Opfer war weiblich und trug ein Nachthemd. Und die Frau passte perfekt auf Ihre Beschreibung. Das Gesicht wurde bei dem Aufprall zwar … verletzt. Aber sie war ungefähr so groß wie Sie, sie hatte Ihr Gewicht, Ihr Alter, Ihre Haarfarbe …”

Meine Haarfarbe, dachte Grace voller Erleichterung. Dann handelte es sich weder um Bailey noch um M.J. “Ich hatte keinen Gast während meiner Abwesenheit.” Sie atmete tief ein. “Ich weiß nicht, wer die Frau war, vielleicht gehörte sie ja zu den Einbrechern. Wie ist sie …” Wieder sah sie zur Balustrade empor. “Sie muss gestoßen worden sein.”

“Das müssen wir erst noch überprüfen.”

“Sicher. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer sie war, Lieutenant. Nachdem ich keine Zwillingsschwester habe, kann ich nur …” Sie verstummte, ballte ihre freie Hand zur Faust und presste sie gegen ihren Bauch. “O nein. Lieber Gott.”

Er verstand. “Wer war sie?”

“Es … es könnte … Sie hat schon einmal hier übernachtet, während ich weg war. Deswegen habe ich diesmal auch keinen Ersatzschlüssel vor die Tür gelegt. Aber vielleicht hat sie sich einen Zweitschlüssel machen lassen.” Sie ging zurück zum Sofa, setzte sich auf die Lehne. “Eine Cousine.” Sie trank einen weiteren Schluck Brandy, langsam diesmal. “Melissa Bennington – nein, ich glaube, nach ihrer Scheidung vor ein paar Monaten hat sie wieder den Namen Fontaine angenommen. Ich bin nicht sicher.” Sie strich sich übers Haar. “Es hat mich nicht allzu sehr interessiert.”

“Sieht sie Ihnen ähnlich?”

Grace schenkte ihm ein trauriges Lächeln. “Sie hat die fixe Idee, wie ich aussehen zu müssen. Anfangs fand ich es schmeichelhaft, dann nervig und in den letzten Jahren nur noch erbärmlich. Es gibt wohl eine gewisse Ähnlichkeit. Und die hat sie noch unterstrichen, indem sie ihr Haar wachsen und schwarz färben ließ. Was die Figur betrifft, gab es einen Unterschied … doch um den hat sie sich auch gekümmert. Sie hat in denselben Boutiquen eingekauft wie ich, ist zum selben Friseur gegangen und hat sich dieselben Männer gesucht. Wir sind mehr oder weniger zusammen aufgewachsen. Sie hatte immer das Gefühl, dass ich es in jeder Hinsicht besser getroffen habe.” Grace blickte auf den Kreideumriss. “Zumindest in diesem Fall hat sie wohl recht behalten.”

“Wenn jemand Sie nicht besonders gut kannte, hätte er Sie beide dann verwechseln können?”

“Auf den ersten Blick vermutlich ja. Ein flüchtiger Bekannter vielleicht. Niemand, der …” Sie brach wieder ab und erhob sich. “Sie denken, sie wurde von jemandem umgebracht, der sie mit mir verwechselt hat? Das ist absurd. Es war ein Einbruch, ein schrecklicher Unfall.”

“Schon möglich.” Jetzt hatte er tatsächlich sein Notizbuch hervorgezogen, um den Namen ihrer Cousine aufzuschreiben. “Es ist aber noch wahrscheinlicher, dass jemand Sie beide verwechselt hat. Jemand, der annahm, dass Ihre Cousine den dritten Stern besitzt.”

Sie war gut, das musste er ihr zugestehen. Sie blinzelte nicht einmal.

“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.”

“Und ob Sie die haben. Wenn Sie seit Mittwoch nicht mehr zu Hause waren, dann tragen Sie ihn noch immer bei sich.” Er blickte auf ihre Tasche, die über ihrer Schulter hing.

“Üblicherweise trage ich keine Sterne mit mir herum.” Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln. “Aber es hört sich schön an, geradezu poetisch. Nun, ich bin jetzt doch sehr müde …”

“Ms. Fontaine.” Seine Stimme klang hart und energisch. “Ihre Cousine ist die sechste Leiche im Zusammenhang mit den drei blauen Diamanten.”

Sie packte ihn am Arm und riss die Augen auf. “M.J. und Bailey?”

“Ihren Freundinnen geht es gut.” Er spürte, wie sich der Griff um seinen Arm lockerte. “Die beiden hatten ein ziemlich abenteuerliches Wochenende, was sie hätten verhindern können, wenn sie früh genug die Polizei informiert hätten. Und genau das verlange ich jetzt von Ihnen.”

Nervös strich sie sich das Haar zurück. “Wo sind sie? Haben Sie die beiden etwa in eine Zelle gesperrt? Mein Anwalt wird sie da rausholen, so schnell können Sie gar nicht gucken.” Sie wollte zum Telefon laufen, stellte dann aber fest, dass es nicht mehr auf dem kleinen Queen-Anne-Tisch lag.

“Nein, sie sitzen in keiner Zelle.” Er fand es reizend, wie sie sich sträubte, wie sie versuchte, sich den Regeln zu widersetzen. “Ich vermute, Ihre Freundinnen sind gerade dabei, Ihre Beerdigung zu planen, Grace.”

“Meine …” Ihre herrlichen Augen wurden riesig. “Du meine Güte. Sie haben ihnen gesagt, dass ich tot bin? M.J. und Bailey glauben, ich bin tot? Wo sind sie? Wo ist das verdammte Telefon? Ich muss sie anrufen!” Sie fuhr herum, um in dem Durcheinander nach dem Telefon zu suchen.

“Sie sind beide nicht zu Hause.”

“Aber Sie sagten, sie wären nicht im Gefängnis.”

“Sind sie auch nicht.” Er erkannte, dass er nichts aus ihr herausbekommen würde, solange sie nicht mit ihren Freundinnen gesprochen hatte. “Ich bringe Sie zu ihnen, wenn Sie wollen. Und dann werden wir Ordnung in dieses Chaos bringen, das verspreche ich Ihnen.”

Auf der Fahrt durch die schmucke Washingtoner Vorstadt schwieg Grace beharrlich. Lieutenant Buchanan hatte ihr versichert, dass es Bailey und M.J. gut ging, und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er sie nicht anlog. Die Wahrheit war in seinem Beruf schließlich das Wichtigste. Und doch verkrampfte sie die Hände so heftig ineinander, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

Sie musste sie so schnell wie möglich sehen, und sie musste mit ihnen sprechen. Es tat ihr entsetzlich leid, dass ihre Freundinnen um sie trauerten, nur weil sie mal wieder beschlossen hatte, für ein paar Tage unterzutauchen.

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