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Der Pate von Glasgow

Als Buch hier erhältlich:

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DCI Jim Daley von der Mordkommission Glasgow sitzt in dem kleinen
Küstenort Kinloch fest, seit er die Revierleitung dort übernehmen musste. Doch vergessen hat man ihn im Hauptquartier offenbar nicht - er bekommt das Video eines brutalen Mordes geschickt.
Der Täter: James Machie, der Pate von Glasgow, von Daley persönlich hinter Gitter gebracht. Das Opfer: der damalige Kronzeuge. Den zweiten Kronzeugen und ehemalige rechte Hand des Paten, Frank MacDougall, soll Daley nun beschützen. Nur, wie beschützt man jemanden vor einem Geist? Denn Machie wurde vor fünf Jahren ermordet …

»Fesselnd und mitreissend.«
Wall Street Journal

»Gerade die richtige Menge Authentizität. Höchst Beachtenswert.«
The Herald


  • Erscheinungstag: 02.05.2018
  • Aus der Serie: Dci Jim Daley
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677561
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist dem Andenken an die Eltern meiner Frau Fiona gewidmet, Norman und Illeene MacLeod, die leider beide dessen Vollendung nicht mehr erleben durften.

»Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Friedrich Nietzsche

Prolog

Er legte sich auf die Rollbahre zurück, als wäre sie ein Liegestuhl am Pool. Sie federte die Bewegungen des Krankenwagens ab, der sich durch den dichten Verkehr von Glasgow arbeitete.

Er war sich der Anwesenheit des jungen Gefängnisbeamten bewusst, an den er mit stabilen Handschellen gefesselt war, und auch der verstohlenen Blicke, die er in seine Richtung warf. Der ältere Beamte, der neben der Tür saß, plauderte mit der hübschen Krankenschwester, und seine Plattheiten passten so gar nicht zu ihrer sorgenvollen Miene. Ihr gezwungenes Auflachen angesichts seiner lahmen Witze zeugte davon, dass sie sich außerhalb ihrer Komfortzone befand.

Während die Fahrt weiterging, bot sein junger Bewacher ihm einen Streifen Kaugummi an, den er mit ausdruckslosem Kopfschütteln ablehnte. Der ältere Beamte brach plötzlich mitten im Satz ab, und die Schwester wühlte in ihrer Tasche herum – bestimmt, um ihm keinen Ansatzpunkt mehr für seine plumpe Anmache zu bieten.

Außerhalb der getönten Scheiben des Fahrzeugs ertönte eine Hupe … dann noch eine. Bremsen kreischten, Reifen quietschten, es krachte scheppernd, die Geräusche eines Unfalls. Er wurde gegen seinen Bewacher geschleudert, als der Krankenwagen einen Schlenker machte und ruckartig zum Stehen kam.

Ein Schrei erklang, und er hörte Schüsse. Zu seinen Füßen versuchte die Schwester, sich vom Boden aufzurappeln. Blut strömte ihr aus der Nase. Der ältere Gefängniswärter sprach fieberhaft in sein Funkgerät, während sein Kollege panisch um Hilfe rief und an den Handschellen zerrte, die ihn an seinen Gefangenen fesselten.

Es gab einen Knall – so tief und dumpf, dass er fast unter der Hörschwelle lag –, und die Hecktüren des Krankenwagens bogen sich nach innen und zerknitterten zu einem Gewirr aus Plastik und Stahl. Er sah, wie ein Metallsplitter sich ins Gesicht der Krankenschwester bohrte. Sie schlotterte am ganzen Körper, während sie sich ungläubig mit bebender Hand an die Wange fasste.

Dann tauchten sie auf. Zwei Männer, die sich durch das gezackte Loch zwängten, das die Explosion gerissen hatte. Beide waren vollständig schwarz gekleidet und trugen Sturmhauben. Automatische Waffen hingen ihnen an dunklen Riemen über die Schultern.

Er lächelte.

Der ältere Vollzugsbeamte drückte sich in eine Ecke, als könnte er durch reine Willenskraft die Seitenwand durchdringen und auf die Straße entkommen. Einer der bewaffneten Männer baute sich vor ihm auf und gab aus nächster Nähe einen Feuerstoß auf ihn ab.

Ein Fetzen grau behaarter Kopfhaut klebte plötzlich am dunkel getönten Fenster des Krankenwagens.

Die Krankenschwester übergab sich vor den Füßen des anderen Killers, als der ihr erbarmungslos gegen den Kopf trat. Die Frau keuchte und würgte, spuckte Blut und Zähne auf den Fahrzeugboden.

Der junge Beamte, der immer noch mit den Handschellen an ihm hing, starrte sie an. Sein Gesicht war mit dem Blut und der Hirnmasse seines Kollegen bespritzt. Der erste Killer stieß ihm die Mündung seiner Waffe in den Bauch und drückte ab.

Einen Sekundenbruchteil lang fühlte es sich für den Mann auf der Bahre so an, als würde ihm der Arm abgerissen, während der Wärter im Todeskampf an den Handschellen ruckte.

»Holt mich hier raus!« Er verstand kaum seine eigene Stimme. Ob sein Gehör durch die Panik oder die Nähe der Schüsse beeinträchtigt war, konnte er nicht sagen.

Der erste Killer baute sich über ihm auf und zog dann mit einer Hand die Sturmhaube hoch, bis der größte Teil seines Gesichts sichtbar war. Sein Lächeln wirkte seltsam vertraut und doch völlig fremd.

Eine schreckliche Furcht ergriff sein Herz. Einen Sekundenbruchteil später zerplatzte sein Schädel.

1

Melbourne, fünf Jahre später.

Verregnete Tage waren in Melbourne nichts Ungewöhnliches, aber heute fand er sie besonders scheußlich.

Er sah auf seinen üppig grünen Garten hinaus, während schwere Regentropfen in die Jacarandabäume klatschten. Das Spielzeug seiner Enkelkinder lag auf dem Rasen herum, ein Wirrwarr aus Puppenwagen, kleinen Fahrrädern und Bällen in allen Formen und Farben. Ein Klettergerüst flankierte ein gigantisches Trampolin, dem wiederum eine Schaukel gegenüberstand.

Einen Augenblick lang dachte er an seine eigene Kindheit zurück. Sein Spielplatz auf Paisleys Gallowhill war ein beliebter Treffpunkt gewesen von gelangweilten Teenagern, die Likörwein soffen, von Drogendealern und der gelegentlichen Prostituierten. Überall hatten Spritzen, Glassplitter und Hundehaufen herumgelegen. Er schüttelte sich.

Bald würde der Regen aufhören, und die Kinder von Ringwood East kamen wieder zum Spielen heraus. So war das Wetter in diesem Land, auch wenn die dunklen Wolken im Augenblick bedrohlich wirkten. Die Vorstadt war genau genommen ein eigener kleiner Ort im Osten der City, ein Sammelpunkt für die Ehrgeizigen und Aufstrebenden. Gute Schulen, sichere Umgebung und große Grünflächen. Hier konnten Kinder und Erwachsene in ihren großzügig ausgestatteten, klimatisierten Häusern mit Pools und Fitnessräumen im Keller Zuflucht vor einer gefährlichen und unsicheren Welt finden.

Natürlich war er mit vierundvierzig noch recht jung, um drei Enkelkinder zu haben, aber er bereute es nicht. Seine Tochter hatte wie er früh eine eigene Familie gegründet und war schon in ihren Teenagerjahren stolze Mutter von zwei Kindern gewesen. Seine Frau hatte sie dazu überredet, zu ihnen nach Australien zu ziehen, nachdem Andy Lafferty, dieser Mistkerl von ihrem Freund und selbst ein Fußsoldat des Machie-Klans, ihr davongelaufen war. Er hatte sie in einem Hochhaus in Glasgow buchstäblich auf dem Trockenen sitzen lassen und sich ein anderes, leicht zu beeindruckendes Mädchen geschnappt. Dumm gelaufen, aber letztlich war er damit zufrieden, wie sich die Dinge entwickelt hatten.

In den zwei Jahren seit ihrer Ankunft hatte sich seine Tochter verliebt, geheiratet und noch ein Kind bekommen. Ihr Mann war ehrlich, bodenständig und freundlich, ein junger Bautechniker mit guten Zukunftsaussichten, dem es nichts ausgemacht hatte, die Stelle eines Vaters einzunehmen, der Tausende von Kilometern entfernt lebte. Immer vorausgesetzt, dass dieser überhaupt noch am Leben war. Wer auf der falschen Seite von Schottlands größter Stadt wohnte, dem war oft nur eine kurze, bedeutungslose Existenz beschieden. Zerfressen von Alkohol, Drogen oder einer Kombination von beidem, war er der Verwahrlosung und Verrohung hilflos ausgeliefert, die am Rande der Gesellschaft lauerte.

Kein großer Verlust.

So hätte auch sein eigenes Leben aussehen können. Noch zu Schulzeiten hatte er sich mit dem Verbrechen eingelassen. Angefangen hatte es mit kleinen Ladendiebstählen bei Woolies und in dem kleinen Süßigkeitenladen die Straße runter. Es folgten aufgebrochene Autos und eingeschlagene Fenster, Taschendiebstähle. Dann kamen Drogenhandel und Schutzgelderpressung, und zu dem Zeitpunkt gehörte er bereits einer gut organisierten Verbrecherorganisation an, die sich in einzelne Zellen gliederte wie eine terroristische Vereinigung. So waren diejenigen an der Spitze gleichermaßen vor der Polizei wie vor ihren eigenen Leuten geschützt. Er hatte sich oft gefragt, ob der Typ mit dem teuren Anzug, der mit einem deutschen Sportwagen herumfuhr, der geheimnisvolle Mr. Big war, dem sie alle Gehorsam schuldeten, oder bloß ein blöder Wichser von einer Bank. Aber eigentlich war es ihm egal gewesen. Er hatte reichlich Geld verdient, mehr als die meisten armen Schweine, mit denen er zur Schule gegangen war, selbst die Intelligenteren von ihnen. Außerdem verfügte er über diese gewisse Ausstrahlung, die man nicht kaufen konnte, und die anderen Furcht und Respekt einflößte. Wenn er durch die Straßen ging, dann strotzte er vor Selbstbewusstsein, weil jeder seinen Namen kannte und wusste, wozu er fähig war. Während er in den Rängen der Organisation weiter aufstieg, nahmen Namen und Gesichter des diabolischen innersten Zirkels immer deutlicher Gestalt an. Bald gehörte er zu ihnen.

Und heute? Heute war er sicher, dass außer seiner Familie niemand der etwa zehntausend Einwohner von Ringwood East die leiseste Ahnung hatte, wer er war. So war es ihm am liebsten. Die neue Identität hatte dazu beigetragen, aber verdammt noch mal, das war schließlich das Mindeste, was ein dankbares Land für einen tun konnte! Dank der Informationen, die er der Polizei geliefert hatte, waren mehr als fünfzig eiskalte Berufsverbrecher verurteilt worden, von denen einige zu den gefährlichsten Männern Europas zählten.

Und jetzt gehörte ihm all das hier – ein schöner Garten, ein Pool, ein Fitnessraum, eine kleine Firma, damit der Rubel weiter rollte. Was wollte man mehr? Dazu eine glückliche Familie. Abgesehen natürlich von der, die er im verlotterten Umland von Glasgow zurückgelassen hatte.

Kurz nach vier Uhr nachmittags wachte er mit trockenem Mund und schwerem Schädel in seinem Liegestuhl auf. Er musste eingenickt sein. Bald würde seine Frau nach Hause kommen und ungeduldig den Bürogestank mit einem Sprung in den Pool und einem Gin Tonic wegspülen wollen – eine britische Angewohnheit, die sie nicht hatte ablegen können.

Marna – er konnte an sie nur als »Marna« denken – kümmerte sich ums Geschäft. Wenn nötig, griff er in schwierige Verhandlungen mit ein oder nahm sich einen aufsässigen Lieferfahrer vor. Seit dem folgenschweren Unfall eines hartgesottenen Queenslanders wussten seine Leute, dass mit ihrem schottischen Boss nicht zu spaßen war. Die Besuche bei ihrem ehemaligen Kollegen, der im Krankenhaus vor sich hin litt, hatten abschreckende Wirkung gehabt. Aber natürlich gab es immer wieder irgendeinen Großkotz, der sich profilieren wollte. Das war eben der Lauf der Welt.

Er schlenderte zum Barschrank und holte den Gin für Marna und für sich selbst den Ardbeg heraus. Er stellte ihre Flasche beiseite und hielt sein Glas unter den integrierten Eisbereiter. Während die Würfel in das breite Becherglas klackten, zog er den Korken aus der Whiskyflasche und schenkte sich einen großzügigen Schluck ein. Er hielt sich den Single Malt unter die Nase und atmete den typischen, »medizinischen« Duft ein.

Auf dich, Bonnie Scotland! Du kannst mich kreuzweise!

Er erhob das Glas und lächelte bei dem Trinkspruch, der zu seinem täglichen Mantra geworden war. Draußen zogen wieder dunkle Wolken auf. Es sah so aus, als müsste Marna das Schwimmen verschieben und sich mit dem Gin allein trösten – oder vielleicht mit einer Trainingssitzung im Fitnesskeller. Er seufzte und nippte an seinem Whisky, als die Türglocke ertönte.

»Schon wieder irgendein Scheiß von Amazon«, murmelte er vor sich hin, als er die Umrisse der großen Gestalt hinter der verglasten Haustür sah. Er fummelte eine Weile mit der Kette und dem doppelten Schloss herum, bevor er den massiven Messinggriff herunterdrückte und die Tür aufschwang.

»Schön zu wissen, dass du auf deine Sicherheit achtest, Gerald.«

Das Whiskyglas entglitt seiner Hand und fiel auf den dicken Teppichboden, während er versuchte, die Tür zuzuwerfen. Aber der Besucher war schneller, stieß ihn gegen die Wand zurück und rempelte sich den Weg ins Haus frei.

Der Schmerz des ersten Schlages mit der Machete auf seinen ungeschützten Schädel ließ Blitze hinter seinen Augen aufflammen. Sein linker Arm zuckte unkontrolliert, und die Knie gaben unter ihm nach. Der zweite Hieb war weniger schmerzhaft, denn er begann bereits, das Bewusstsein zu verlieren, während er an der Wand der Diele herunterrutschte. Nach dem dritten Schlag dachte oder fühlte er gar nichts mehr.

Gelassen ließ der Angreifer die Mordwaffe fallen, kümmerte sich nicht weiter um die sperrangelweit offen stehende Haustür, durch die jeder den Toten sehen konnte, lief leichtfüßig die Eingangsstufen hinunter und ging zu seinem Geländewagen.

Er öffnete die Heckklappe. Drinnen lag eine Frau mit angezogenen Knien auf der Seite, die Handgelenke hinter dem Rücken an die Fußknöchel gefesselt. Das breite Klebeband über ihrem Mund hinderte sie am Schreien und ließ nur ein leises Wimmern zu. Tränen strömten ihr aus den entsetzten, weit aufgerissenen Augen, und Mascara vermischte sich mit dem Schleim, der ihr aus der Nase lief. Er zerrte grob an dem Strick, mit dem sie gefesselt war, und ließ sie auf die Straße plumpsen. Der Schmerzensschrei der Frau hinter dem Panzerband war kaum zu hören. Ihr Kopf pochte vor Schmerz, und alles verschwamm ihr vor den Augen. Sie spürte Regen auf der Haut, und aus irgendeinem Grund glitten ihre Gedanken zurück zu einem Ausflug, den sie als Kind ins nasskalte Largs unternommen hatte – ganz deutlich sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich.

Der Mann bückte sich und zerrte die schluchzende Frau auf die Knie, bevor er sie brüsk an den wasserstoffblonden Haaren packte und zwang, durch die weit geöffnete Tür ihres Hauses zu blicken. Sie schnaufte schwer durch die Nase, teils aus Furcht, teils aus Notwendigkeit, weil der Rotz ihre Atemwege zu verstopfen begann.

»Schau gut hin, Marna.« Die Stimme klang ruhig und seltsam fremd, weil sie sich inzwischen an das Aussie-Näseln gewöhnt hatte. »Wollte dich noch einen Blick auf deinen Mann werfen lassen. Ist nicht gerade in Hochform, was?« Er zerrte ihren Kopf an den Haaren zurück, während lautlose Schluchzer ihren Körper schüttelten.

Er schob die Jacke zurück und zog eine Pistole aus dem Hosenbund.

Sie musste wieder an ihre Mutter denken, wie sie ihr am Strand von Largs den Regen aus dem Gesicht wischte und sie dicht an sich drückte, um sie trocken zu halten.

»Hat sich ausgesungen, ihr miesen Verräter.«

Ein einziger Schuss aus der Pistole hallte in der stillen Vorstadtstraße wider und jagte ihr eine Kugel in die Schläfe.

Gelassen ging er zur Fahrertür und hielt inne, um irgendetwas am Himmel anzugrinsen, das anscheinend nur er sehen konnte. Dann sprang er in den Wagen und raste mit quietschenden Reifen über den nassen Asphalt davon.

Die Augen der toten Frau starrten ausdruckslos den Boden an, auf dem sie immer noch kniete. Ihr Kopf hing herunter, alle Erinnerungen waren erloschen.

2

30. November, Kinloch, Schottland

Sein Herz hämmerte bedrohlich und setzte ihm fast so sehr zu wie die engen Stiefel an den Füßen.

»Wir sind gleich da, Liebling.« Ihre Stimme klang klar, und sie war nicht im Geringsten außer Atem. »Noch zehn Minuten, dann setzen wir uns irgendwohin und machen die Flasche auf.«

»Ich …« Er keuchte. »Ich …«

»Versuch nicht zu sprechen, bevor wir da sind, mein Lieber, sonst kommst du vielleicht gar nicht mehr an«, kicherte sie. »Aber es ist der Mühe wert, glaub mir.« Sie sprang voraus, während er in der kalten Luft schwer atmend stehen blieb.

Eine halbe Stunde später fühlte er sich wieder halbwegs normal. Sie saßen auf einer grasbewachsenen Kuppe am Gipfel des Ben Saarnie, eines bescheidenen Hügels oberhalb von Kinloch. Die Stadt lag im Miniaturformat unter ihnen: Autos, Gebäude und herumwimmelnde Menschen, die auf diese Entfernung wie Spielzeuge aussahen. Daran, dass er einige der Fahrzeuge erkannte und ihre Insassen vor Augen sah, merkte er, wie sehr er sich schon hier eingelebt hatte. Niemand soll sagen, dass Jim Daley kein guter Beobachter ist, dachte er.

»In der Eisenzeit stand hier ein Fort, weißt du?« Sie schoss mit ihrer teuren Digitalkamera Fotos. »Ein eigenartiger Gedanke, dass vor so vielen Jahren Menschen genau hier standen, dieselbe Luft atmeten, ihr Leben lebten. Findest du nicht, Darling?«

Seine ganze Konzentration galt gerade dem Auspacken eines Penguin-Schokoriegels, dem Lohn dafür, dass er sich den Hügel heraufgekämpft hatte. Daher gab er seine übliche Standardantwort, wenn er etwas nicht mitbekommen hatte: eine Mischung aus einem Grunzen und einem Wort, unbestimmt genug, um als Antwort durchzugehen.

»Ich glaube, ich hole jetzt meine Titten raus. Das ist in dieser Höhe ein echt befreiendes Gefühl.« Sie grinste, während sie seine Bemühungen verfolgte, an seinen Leckerbissen zu gelangen.

Endlich! Es war ihm gelungen, die Plastikhülle aufzureißen, und er fand, dass er etwas sagen sollte, bevor er sich über den Inhalt hermachte. »Gute Idee, Liz, aye.« Dann schlang er mit einem einzigen Bissen den halben Schokoriegel hinunter.

»Du hörst schon wieder nicht zu«, sagte sie mit diesem Ich-hab’s-ja-gewusst-Tonfall.

»Hä? Was meinst du?« Er spuckte ein paar Krümel aus und blickte mit dem Mund voll Schokolade zu ihr hoch.

»Nichts, Jim.« Sie lachte und hob den Sucher wieder ans Auge. »Genieße deine leeren Kalorien.«

Plötzlich schmeckte der Riegel bitter. Diese kleine Wanderung war Teil des Fitnessprogramms, das seine Frau in ihrer Großzügigkeit für ihn entworfen hatte. Sie war der Ansicht, wenn er nur regelmäßig Sport triebe und eine strikte Diät einhielte, könnte er noch vor dem nächsten Frühjahr fünfundzwanzig Kilo abnehmen. Er war gerade in der dritten Woche, und trotz großer Blasen an den Füßen und eines nie nachlassenden, nagenden Hungergefühls hatte er nur ein paar läppische Pfündchen verloren.

Guter Dinge hatte sein Eheweib beim letzten Wiegen auf ihrer neuen Badezimmerwaage die Schultern gezuckt und erklärt: »Die ersten Pfunde sind die schwersten. Danach geht es wie von selbst.«

Er fragte sich, woher sie das eigentlich wissen wollte. In den vielen Jahren, seit sie sich kannten, hatte sie kein Gramm zugenommen und dabei niemals, niemals eine Diät gemacht. Aber um ihr eine Freude zu bereiten und sich gut und tugendhaft zu fühlen, litt er weiter unter wunden Füßen und einem knurrenden Magen. Doch die Weihnachtszeit nahte mit ihren kalorienreichen Verlockungen und allgemeiner Sorglosigkeit, ganz zu schweigen vom Konsum verschiedener Sorten Alkoholika. Er versuchte, nicht daran zu denken.

Die Luft war kalt und erfrischend, während sie den Hügel wieder hinunterstapften. Daleys Knie schmerzten im Gleichklang mit dem Knurren seines unterbeschäftigten Magens. Es hing eine Art blaues Licht in der Luft, das alles mit einem Schimmer überzog, wie ihn nur der schottische Frühwinter erzeugen konnte. Das stille Wasser des Meeres unter ihnen schien fast zähflüssig die winterliche Landschaft widerzuspiegeln. Es war eine friedliche, prachtvolle Szenerie. Beim Aufstieg hatte Daley das gar nicht bemerkt und sich nur darauf konzentriert, den Gipfel zu erreichen, ohne schlapp zu machen. Aber er musste zugeben, dass die Landschaft – und bis zu einem gewissen Grad auch die Hügelwanderung – anregend wirkte. Gelang es ihm endlich, die Träume seiner Frau auch für sich zu entdecken?

Nun, ein Schritt nach dem anderen.

Daleys Wagen stand auf einem Stück Brachland neben dem Weidetor geparkt, durch das man auf den Hügel gelangte. Der neue Toyota RAV4 gehörte zu seinem neuen Dienstgrad als Chief Inspector und Chef der Kripo von Kinloch.

Er hatte die Schlüssel gerade aus den Tiefen seiner neuen Skijacke zutage gefördert – XXL, sehr teuer, ein Geschenk von Liz –, als sein neues iPhone klingelte, auch dieses ein Extra seiner Beförderung. Er schnallte sich mit einer Hand an, während er mit der anderen den Apparat aus der Tasche zog und mit zusammengekniffenen Augen feststellte, dass sein Vorgesetzter, Superintendent John Donald, ihm eine Mail geschickt hatte.

»Moment mal, Liz. Das guck ich mir besser mal an.« Während seine Frau einen Seufzer ausstieß, rief er sich ins Gedächtnis, wie man E-Mails abrief, und begann zu lesen.

Von: Supt. J. Donald

An: Chief Insp. J. Daley

Re: Mord, Australien

Nachricht: Was meinen Sie? – dringend

Daley klickte auf den Anhang, und das Banner des Melbourne Star tauchte auf. Er wischte mit dem Finger den Bildschirm herunter, bis eine fette Schlagzeile ins Bild rückte. Ehepaar in Vorstadt BrUTAL ERMORDET. Und als Untertitel: Firmenchef am helllichten Tag exekutiert.

Daley scrollte weiter und fragte sich, was dieser Mord in Übersee mit ihm zu tun haben sollte. Aber als zwei verschwommene, passfotoartige Bilder auftauchten, wusste er es augenblicklich. Er keuchte hörbar auf, und seine Frau sah ihn fragend an, während sie es sich auf dem Beifahrersitz bequem machte.

»Gottverdammte Scheiße« war alles, was er herausbrachte. »Gottverdammte Scheiße.«

3

Das Semper Vigilo-Logo flackerte auf dem übergroßen Bildschirm an der Wand des Medienraums im Polizeirevier von Kinnock.

»Alles fertig, Sir. Der Boss sollte in ein paar Minuten auf Sendung sein.« Detective Constable Dunn hatte gerade eine interne Skype-Verbindung zum Hauptquartier in Paisley hergestellt. »Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn das Gespräch beendet ist, dann logge ich Sie aus.« Sie lächelte, während sie aufstand und sich dabei gleichzeitig die Hose glatt strich, eine Geste, die Daley in den letzten paar Monaten oft gesehen hatte.

»Danke. Wie steht’s mit Kaffee? Oder ist das eine sexistische Frage, die Sie lieber nicht hören wollen?« Er lächelte die junge Polizistin an, und sie schnitt ihm beim Hinausgehen eine Grimasse.

Von irgendwoher ertönte ein leises Ping, und das Logo auf dem Bildschirm wurde ersetzt durch die vertraute Gestalt von Superintendent John Donald. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sprach mit jemandem außerhalb des Kamerawinkels, ohne zu bemerken, dass ihm sein Chief Inspector, der lange unter ihm gelitten hatte, bereits zusah.

»Wo haben Sie das denn gelernt, Jackie?« Er grinste mit einem schmierigen Lächeln die unsichtbare Gestalt an. »Ich will verdammt sein, wenn ich irgendetwas aus diesem Mistding herausbekomme. Sie hätten nicht vielleicht Lust, mir nach der Arbeit ein bisschen Privatunterricht zu geben? Bei ein oder zwei Drinks?«

Daley hüstelte diplomatisch, und sein Boss zuckte zusammen.

»Ach, Jim. Lautlos und tödlich, wie immer. Wie Sie zweifellos mitbekommen haben, versuche ich, diese neue Technologie in den Griff zu kriegen. Ich hoffe sehr, dass Sie in dieser Hinsicht auch das Nötige tun. Sie haben das neue iPhone-Ding, soviel ich weiß?«

»Ja, ich habe das iPhone-Ding erhalten, danke«, lautete Daleys knappe Antwort. Es ist nicht die Technologie, die du in den Griff kriegen willst, du alter Schwerenöter, dachte er. »Ich fürchte, ich habe noch nicht herausgefunden, wie man virtuell anklopft«, fügte er hinzu und lächelte in die Kamera.

»Ja, das ist zweifellos eine Frage des Protokolls, die wir noch lösen müssen.« Daley sah, dass sein Vorgesetzter Mühe hatte, seine Verlegenheit zu verbergen. »Wie dem auch sei, kommen wir zur Sache. Meine Zeit ist kostbar, wie bis zu einem gewissen Grad wohl auch ihre, da bin ich sicher. Der Schock muss für sie genauso groß gewesen sein wie für mich, wenn ich mich nicht irre.«

Daley zog die Augenbrauen hoch und nahm den plötzlichen Themenwechsel zum wahren Anlass des Anrufs wortlos zur Kenntnis. »So könnte man es ausdrücken, Sir.«

Donald betrachtete etwas auf seinem Schreibtisch. »Nun, ich fürchte, das ist nicht der einzige Schock, der Ihnen bevorsteht.« Er lächelte ihn von dem großen Bildschirm herab an.

Daley hatte gemischte Gefühle, was diese Art von virtuellen Meetings mit Donald anging. Der Vorteil war, dass er seine reale Gegenwart nicht ertragen musste, aber wenn er Donald von diesem riesigen Bildschirm eingerahmt sah, kam Daley sich vor, als würde er ein Gespräch mit einer Art Halbgott führen.

»Wie Sie wissen«, sprach Donald weiter, »waren Gerry und Marna Dowie mitverantwortlich für einen der größten Erfolge, die wir in diesem Land jemals gegen das organisierte Verbrechen erzielen konnten.« Er sah wieder in die Kamera und zwang Daley damit, gehorsam zu nicken.

»Und dann starben sie bei einem Autounfall an irgendeiner spanischen Costa, während sie im Zeugenschutzprogramm waren – oder jedenfalls wiegte man uns in diesem Glauben«, antwortete er.

»Ja, offenbar war ihre Sicherheit in Spanien nicht länger gewährleistet, daher wurde zur Tarnung diese Geschichte erfunden. Ein neues Leben in Australien.«

»Was nicht funktioniert hat.« Daley lehnte sich zurück und dachte an die Fotos vom Tatort, die Donald ihm per E-Mail geschickt hatte. Das Ausmaß der Gewalttätigkeit und Brutalität war erschreckend. Und dass sich die Morde mitten am Nachmittag in einer friedlichen Vorstadt ereignet hatten, machte es irgendwie noch schlimmer.

»Unsere Kollegen in Melbourne sind mit brutaler Bandenkriminalität durchaus vertraut, aber wie ich höre, waren selbst die schockiert, nicht nur von dem Verbrechen an sich, sondern auch von der Dreistigkeit, mit der es ausgeführt wurde.« Donald hatte die rechte Augenbraue hochgezogen, und das hieß für Daley, der ihn schon lange kannte, dass er ihnen zustimmte.

»Aber ich gehe davon aus, dass unsere Verbindung zu den Ereignissen inzwischen eher unbedeutend ist, oder?« Daley wollte schnell zur Sache kommen.

»Nein. Im Gegenteil, fürchte ich.«

Daley sank das Herz.

»Zunächst einmal hatten Sie und DS Scott entscheidenden Anteil an den Ermittlungen, die zum Untergang des Machie-Klans führten.«

Wie könnte ich das vergessen? dachte Daley.

»Und natürlich wurden auch gegen Sie persönlich von der Anklagebank aus Drohungen ausgestoßen, wenn ich mich recht entsinne.« Donald grinste, um das Messer in der Wunde umzudrehen.

Die Verurteilung der Mitglieder der Machie-Familie und ihrer Organisation war als einer der erfolgreichsten Schläge in die Geschichte eingegangen, der in Großbritannien je gegen das organisierte Verbrechen geführt worden war. Die Gerichtsverhandlung hatte bewiesen, mit welch krimineller Energie das Familienimperium seine Tentakel bis nach Aberdeen und Exeter ausgestreckt hatte.

Die Anklage hatte sich hauptsächlich auf die Aussagen von zwei langjährigen Mitgliedern der Gang gestützt, Gerald Dowie und seinem Mentor Frank MacDougall, die zu den berüchtigtsten Verbrechern Schottlands gehört hatten. Beide kannten den Machie-Klan in- und auswendig. Nach der Festnahme durch Daley und Scott hatten sie einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt. Gegen Straffreiheit und die Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm waren sie bereit gewesen, jene Informationen zu liefern, die schließlich zur Verhaftung der gesamten Führungsriege der Verbrecherorganisation geführt hatten.

Ihre Aussagen hatten dramatische Folgen gehabt. Die Topleute wie Gavin Nash und Danny Whitaker würden den größten Teil ihres verbleibenden Lebens hinter Gittern verbringen. Und als Krönung war der selbsternannte Pate James »JayMac« Machie zu nicht weniger als fünfmal lebenslänglich verurteilt worden. Daley erinnerte sich noch genau daran, wie Machie persönlich Brian Scott und ihm Rache und Vergeltung geschworen hatte. Bei der Urteilsverkündung vor dem Schwurgericht in Glasgow war sein Gesicht eine Maske unversöhnlichen, kalten Hasses gewesen.

»Jetzt passen Sie mal auf, Jim. Ich möchte, dass Sie sich das hier ansehen.« Daleys Chef suchte auf dem Schreibtisch herum, und dann füllte plötzlich der üppige Ausschnitt von Donalds Assistentin den Bildschirm.

»Ah, gut gemacht, meine Liebe.« Donalds Gesicht war dicht über ihrer Schulter gerade noch zu erkennen. »Und, was halten Sie davon?« Daley vermutete, dass er damit nicht das tiefe Dekolleté meinte, das gleich darauf wieder verschwand.

Der Bildschirm wurde kurz dunkel, bevor das Schwarz-Weiß-Bild einer Straße mit großen Häusern erschien. Ein Geländewagen raste die Straße entlang und hielt in der unteren linken Ecke an. Eine dunkel gekleidete Gestalt stieg aus und verschwand aus dem Bild. Daley blickte auf die Datumsanzeige oben rechts: 28. November, 16.11 Uhr.

Die Zeit lief weiter, und Daley wollte schon protestieren, dass nichts zu sehen sei, als die Gestalt wieder auftauchte. Sie verschwand hinter dem Wagen, und die Heckklappe ging auf. Daley sah das Auto leicht nachfedern, und dann erschien undeutlich etwas in der unteren rechten Bildecke. Daley brauchte einen Herzschlag lang, um zu begreifen, dass er gerade einen menschlichen Kopf vom Asphalt hatte abprallen sehen. In den nächsten Sekunden spürte selbst der abgehärtete Polizeibeamte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg, und er musste den Blick abwenden.

Trotz des verschwommenen Bilds konnte man deutlich sehen, wie der Schädel explodierte. Dass der Körper in kniender Stellung verharrte, während das Gehirn auf die Straße tropfte, machte die Szene umso abscheulicher.

Die dunkle Gestalt ging zur Fahrerseite des SUV. Diesmal blickte sie auf, direkt in die Kamera hinein. Der Mann grinste. Das Bild und Daleys Herz blieben gleichzeitig stehen. »Das kann nicht sein, Sir. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, aber … es ist einfach unmöglich.«

»Ich kann Ihren Schock nachvollziehen, Jim.« Donalds Stimme war körperlos, das Standbild füllte immer noch den großen Bildschirm. »Wie Sie sehen, haben die Computercracks die Aufnahme für uns verbessert, und die Ähnlichkeit ist frappierend.«

»Das kann nicht sein, Sir«, wiederholte Daley und starrte das Foto mit offenem Mund an.

Das Monitorbild wechselte wieder zu Donalds ausdruckslosem Gesicht. »Ich fürchte, das ist nicht alles. Es wird noch schlimmer.«

Noch schlimmer? Daley bemerkte plötzlich, dass ihm der Mund offen stehen geblieben war. Er machte ihn so schnell zu, dass die Zähne klackten und eine seiner Füllungen schmerzhaft protestierte.

»Es geht um etwas, das so vertraulich ist, dass ich nicht riskieren kann, es mit Ihnen hierüber zu besprechen …« Donald machte mit der Hand eine vage Geste zur Kamera hin. »Es war vielleicht unklug von mir, aber ich habe die Informationen Ihrem beflissenen Adlatus anvertraut. Er bringt Sie Ihnen morgen nach Kinloch mit. Unnötig zu sagen, dass das Material höchst geheim ist. Lesen Sie es sich durch, und dann sprechen wir weiter.« Er blickte nach rechts. »Ich habe in zwei Stunden ein Meeting in Edinburgh – wegen diesem Unsinn mit der Vereinheitlichung der schottischen Polizei –, also muss ich mich sputen. Viel Glück, Jim, und sagen Sie Bescheid, wenn Sie die Sache verdaut haben.« Er lächelte gezwungen, und bevor Daley noch etwas erwidern konnte, erlosch das Bild und wurde wieder durch das SEMPER VIGILO-Logo ersetzt.

Als Daley Constable Dunn mit einem Becher Kaffee auf sich zukommen sah, hatte er das seltsame Gefühl, sich außerhalb seines Körpers zu befinden.

Er hatte sich nie vor Gespenstern gefürchtet – bis jetzt.

4

Daley kam es so vor, als würde er schon seit Stunden in seinem Glaskasten im Großraumbüro der Kripo von Kinloch sitzen. Er hatte der Versuchung widerstanden, Sergeant Scott am Vorabend nach seinem virtuellen Meeting mit Donald anzurufen. Er dachte, dass er die schreckliche Wahrheit noch früh genug erfahren würde.

Daley war ein Mensch, der selten Angst hatte, aber seine Erlebnisse mit dem Machie-Klan, vor allem mit JayMac, hatten ihn das Fürchten gelehrt. Polizisten gerieten öfter in Gefahr, tatsächlich kam das sogar nur allzu häufig vor. Manchmal brach die Gewalt ohne jede Vorankündigung aus, sodass ein Cop gar nicht dazu kam, sich um die eigene Sicherheit zu kümmern. Das Maß an bewusster Gewalttätigkeit und perverser Bösartigkeit jedoch, mit dem die berüchtigte Verbrecherfamilie ihr Imperium geleitet hatte, war ein Faktor gewesen, den jeder, der es mit ihr zu tun bekam, zwangsläufig im Blick haben musste.

Bevor JayMac und seine Komplizen hinter Gitter gewandert waren, sah der Job eines Polizisten in Glasgow wesentlich schwieriger und gefährlicher aus. Die Beamten hatten unermüdlich daran gearbeitet, einen Durchbruch gegen den Klan zu erzielen – irgendein entscheidendes Stück Information zu erhalten, mit dem sie den gordischen Knoten des Bösen durchschlagen konnten, über den die Gang herrschte.

Am Ende war es dann jedoch kein Angehöriger der vielen Teams aus Detectives gewesen, der den Fall geknackt hatte, und auch kein hoher Beamter des Inlandsgeheimdienstes MI5. Daleys rechte Hand, ein einfacher Detective Sergeant, hatte den Klan zu Fall gebracht.

Sergeant Brian Scott war es gelungen, die Verbindung zwischen einer Kette von Baufirmen in ganz Großbritannien und der Verbrecherorganisation der Machies nachzuweisen. Baumaschinen, Kräne und Bagger hatten als Tarnung gedient, um harte Drogen, Bargeld und Schusswaffen zu transportieren. Wann hatte die Polizei schon einmal einen Tieflader mit einer großen Baumaschine angehalten und durchsucht? Die einfache Antwort lautete: noch nie. Besonders peinlich wurde es für verschiedene Polizeibehörden, als sie feststellen mussten, dass sie diese Masche nicht nur nicht durchschaut, sondern auch noch Beamte abgestellt hatten, um die »Schwertransporte« durch das britische Straßennetz zu eskortieren.

Daley erinnerte sich an JayMacs höhnisches Grinsen, als die entsprechenden Beweise bei Gericht vorgelegt wurden. Jahrelang hatten Hunderte der Jungs in Blau im ganzen Land unwissentlich dafür gesorgt, dass die Geschäfte der Machie-Familie rundliefen.

Er senkte den Blick auf das Notizbuch, in dem er herumgekritzelt hatte. Unbewusst hatte er ein stilisiertes Kreuz gemalt. Ein Kreuz, das einem anderen aus Granit ähnelte, das über einem Grab auf einem Friedhof von Glasgow wachte. Schnell verdrängte er die Vorstellung aus seinem Kopf.

Er versuchte, sich auf den Bericht zu konzentrieren, an dem er gerade arbeitete, in dem es um einen örtlichen Farmer ging, der illegal Tabak verkauft hatte. Das Glas der Bürotür schepperte, als jemand anklopfte. Die Jalousie war zwar heruntergelassen, doch Daley erkannte das typische Tap-tap-tap, das seinen Detective Sergeant ankündigte.

»Wie geht’s, wie steht’s, Jim?« Scott streckte den Kopf durch die Tür. »Sorry«, setzte er mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter hinzu, »Sir. Keine Sorge, ist bloß das kleine Dunn-Mädel im Büro, und sie sieht so aus, als würde sie gleich in den Computer krabbeln. Die Glückliche.« Er war zwar ein guter Detective, aber alles andere als ein IT-Spezialist.

»Komm rein, Brian.« Daley erhob sich von seinem großen Drehstuhl. »Wie war die Fahrt?«

»Was glaubste denn? Die reinste Katastrophe, wie üblich. Ich werd Seine Majestät mal fragen, ob er mir nicht lieber ein Flugticket zahlt. Auf den miesen Straßen würd sogar ein Heiliger die Geduld verlieren. Man glaubt jedes Mal, man kommt nie an, egal, wie oft man die Strecke schon gefahren ist. Mein Arsch bringt mich noch um.« Er rieb sich zur Betonung den Hintern.

Daley zog den Besucherstuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches hervor und bedeutete Scott, sich zu setzen. »Ich würde dir gerne ein Glas Whisky gegen den Schmerz anbieten. Ist aber noch ein bisschen früh. Du kannst später im County einen guten Tropfen kippen. Annie wird sich freuen, dich zu sehen, da bin ich sicher.«

Ein Lächeln glitt über Scotts Gesicht. »Wär gelogen, wenn ich sag, dass ich mich jetzt nicht auf einen kleinen Whisky freuen würd. Deswegen trinken sie hier drunten ja so viel, vor lauter Angst, dass sie die Scheißstraße wieder zurückfahren müssen.«

Daley setzte sich. Er war nicht sicher, wie viel Scott schon wusste. Er beugte sich vor und sah seinem Freund in die Augen.

»Schon okay, Jim«, ergriff Scott als Erster das Wort. »Weiß schon, was du mir sagen willst.«

»Tatsächlich?« Daley war überrascht.

»Aye, klaro. Du glaubst doch nicht, dass Seine Hochwohlgeboren mir lange was vormachen könnte? Außerdem hat einer der neuen DCs aus Springburn im Pub alles brühwarm gehört.«

»Ich muss schon sagen, Brian, du nimmst das sehr gelassen«, erwiderte Daley. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass die Unterwelt von Glasgow bereits im Besitz von Informationen war, die Donald für streng geheim hielt.

»Na ja.« Scott zuckte mit den Schultern. »Letzten Endes isses ja nicht so, dass ich ein großer Fan von Gerry Dowie gewesen wär, wie du sicher noch weißt, Jim.«

Daley betrachtete seinen lässig dasitzenden Sergeant. Seine unkonventionelle Vorgehensweise bei den meisten Problemen machte es manchmal schwierig, ihn einzuschätzen, auch wenn er vermutlich gerade aus diesem Grund so effektiv arbeitete.

»Es geht hier nicht nur um Gerry Dowie, Brian.«

»Ja, sie war ’n nettes Mädel«, meinte Scott. »Ich hab sie gekannt, bevor sie angefangen hat, mit dem Blödmann rumzuziehen, weißte?«

»Was?« Die Antwort erwischte Daley auf dem falschen Fuß.

»Och, seine Frau, wie hieß se gleich wieder?« Scott richtete den Blick nach einer Eingebung suchend zur Decke.

»Die habe ich nicht gemeint, Brian. Ich spreche von dem Mörder.« Daley dämmerte, dass Scotts Netzwerk von Informanten ihn nicht so auf dem Laufenden hielt, wie er glaubte.

»Ach, dann ham se ihn schon erwischt? Schnelle Arbeit, die Aussies. Gut gemacht.«

Daley schloss die Augen und seufzte. Er hatte sich auf diese Unterredung nicht gerade gefreut.

»Was ist los, Großer? Haste gestern durchgemacht? Du bist ja bleich wie der Tod.«

Sehr passend, dachte Daley. So konnte man es ausdrücken. Er zog eine Schreibtischschublade auf, nahm eine rote Aktenmappe heraus und schob sie Scott kommentarlos hin.

»Ich hasse es, wenn du so was mit mir machst, Jim.« Scott griff nach der Mappe, schlug sie auf und drehte sie um, als er feststellte, dass das A4-Foto darin auf dem Kopf stand. Er schielte das Bild an. »Wart mal.« Er fischte etwas aus der Brusttasche, das wie ein brandneues Brillenetui aussah.

»Tja, das Alter, Jimmy-Boy. Irgendwann erwischt’s uns alle. Du wirst dir auch bald so’n Ding zulegen, bei deiner vielen Leserei daheim. Ich lass meine Augen wenigstens mal Pause machen, wenn ich nicht grad arbeite.« Er setzte die Brille auf, richtete den Blick auf das Foto und ließ es augenblicklich wieder fallen.

»Wenn das deine Vorstellung von einem Witz ist, muss ich sagen, du hast schon bessere gemacht.« Scotts Gesicht hatte einen grünlichen Farbton angenommen.

»Ich weiß, es ist schwer verdaulich. Ich habe es selber erst gestern gehört. Das ist ein Videostandbild des Mörders von Gerald Dowie und seiner Frau, aufgenommen auf der Straße vor ihrem Haus unmittelbar nach der Tat.« Scott war sichtlich erschüttert. Er tat Daley leid.

»Das kann nicht sein, das ist unmöglich …« Scott massierte sich die rechte Schulter mit der linken Hand und zuckte ein wenig zusammen. »Weißte, die hab ich seit mehr als drei Jahren nicht mehr gespürt. Aber ein Blick auf diese Visage, und es pocht wie der T…« Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn, und Constable Dunn kam mit zwei dampfenden Bechern Kaffee herein.

»Ich dachte, Sie hätten nach der Fahrt vielleicht gerne einen Kaffee, Sarge«, sagte sie fröhlich. »Oh, bitte entschuldigen Sie die Störung«, fügte sie hinzu, als sie die ernsten Mienen ihrer Vorgesetzten bemerkte.

»Ist schon gut, Mädel«, meinte Scott beruhigend. »Dann kipp ich vielleicht nicht gleich aus den Latschen. Was, Jim?«

Dunn entschuldigte sich, ging hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.

»Und weit und breit kein Keks«, sagte Scott und blickte auf seinen Kaffee herunter.

»Hier.« Daley zog eine Schreibtischschublade auf und holte eine Flasche Single Malt heraus. »Ich glaube, den brauchst du jetzt doch, Brian.«

»Aye«, bestätigte dieser und griff nach der Flasche. Der Korken ploppte leise, und er goss einen reichlichen Schuss Whisky in den Kaffee, bis der Becher beinahe überlief.

»Es liegt nicht bloß daran, dass der Mistkerl auf mich geschossen hat, Jim.« Scott blickte auf und hob den dampfenden Becher an die Lippen. Daley bemerkte ein leises Zittern in seiner Hand, und ein Tropfen des Whiskykaffees lief herunter. Scott schlürfte laut, bevor er die Tasse absetzte und einen tiefen Seufzer ausstieß. »Jim, wir waren auf seiner Beerdigung. Ich hab gesehen, wie der Sarg in den Verbrennungsofen geschoben wurde. Er ist tot!«

5

Daley sah stumm zu, während Scott sich einen weiteren kräftigen Schluck Whisky eingoss. Kaffee brauchte er jetzt keinen mehr, nur Alkohol.

Ein paar Minuten verharrten sie in Schweigen. Sie mussten nicht reden. Jeder wusste, was der andere dachte. Sie hatten unermüdlich und hart daran gearbeitet, den Machie-Klan zu Fall zu bringen. Es war eine gefährliche, beklemmende Aufgabe gewesen, doch letztlich hatten sie Erfolg gehabt. Wie konnte ein Gespenst aus ihren schlimmsten Albträumen dem Tod ein Schnippchen geschlagen haben, um auf einer stillen australischen Straße wieder zum Leben zu erwachen? Das höhnische Grinsen des Mörders, als er in die Überwachungskamera blickte, bevor er die Szene des Grauens in Ringwood East verließ, hatte sich tief in Daleys Gedächtnis eingebrannt. So tief wie der Anblick seiner Mutter, die tot im Bett lag, oder das Gesicht des Kindes, das dessen betrunkener Vater mit einem Kissen erstickt hatte – eine von viel zu vielen Szenen aus Jim Daleys Karriere, die unwillkürlich vor seinem geistigen Auge abliefen.

»Ich hab dir ’ne Top-Secret-Akte von Seiner Majestät mitgebracht, Jim.« Scotts Worte rissen Daley aus seinen Betrachtungen.

»Ja, das hat er mir gesagt«, bestätigte der Chief Inspector müde. »Ich weiß nicht, was drinsteht, aber es kann kaum schlimmer sein als das, was wir bereits wissen. Oder?« Daley sah Scott um Zuspruch bemüht an, obwohl er wusste, dass er keinen bekommen würde.

»Nach dem heutigen Tag würd mich nix mehr überraschen. Nicht mal, wenn drunten auf der Straße grade Elvis vorbeiläuft.« Scotts müder Scherz zeigte Daley, wie sehr ihn die Neuigkeiten mitgenommen hatten. »Bin dann mal ’ne Sekunde weg. Hol sie nur schnell aus dem Wagen.«

»Ich hoffe, das wird nicht wieder so eine Sache wie bei meiner Beförderung. Weißt du noch?« Damals hatte sein Sergeant einen Brief verlegt, der ihn über seine Beförderung zum Chief Inspector informieren sollte. War das wirklich erst ein paar kurze Monate her? Es kam ihm vor wie Jahre.

»Nee, keine Sorge. Ich dachte schon, er besteht drauf, dass ich sie mir ans Handgelenk kette. Er hat keinen Zweifel gelassen, wie wichtig sie ist. Ich hab sie unter dem Sitz verstaut.« Scott machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

Daley beäugte die Whiskyflasche, die noch auf dem Tisch stand. Er war nie ein schwerer Trinker gewesen, auch wenn er sich gelegentlich der Flasche zugewandt hatte, um sich gegen sein eigenes Leben abzustumpfen. Vermutlich hatte er einfach Glück, dass er keine echte Suchtpersönlichkeit war. Viele seiner Kollegen aus Vergangenheit und Gegenwart hatten Alkoholprobleme.

»So ’ne Scheiße!« Daleys Glastür sprang auf, und Sergeant Scott stand mit rot angelaufenem Gesicht darin. »Du musst mir helfen, Jim. Die Scheißakte ist so weit unter den Sitz gerutscht, dass ich nicht rankomme. Aber du mit deinen langen Armen schaffst das.«

Scott war mit seinem Dienstwagen unterwegs, einem Fahrzeug, das an seinen vielen Dellen und Kratzern und der dicken Staubschicht, die fast wie eine Tarnung wirkte, leicht zu erkennen war. Innen war es nicht besser. Überquellende Aschenbecher, der Gestank nach kaltem Zigarettenrauch, und der Boden sah aus wie der Traum eines Recyclingfanatikers, übersät mit leeren Zigarettenschachteln und Chipstüten, Styroporbechern, einem angebissenen Stück Kuchen und verschiedenen anderen, nicht so leicht identifizierbaren Objekten.

»Also, wenn du einfach deine Hand hier reinsteckst …« Scott verzog das Gesicht, während er die Tür öffnete und sich bückte, um mit ausgestrecktem Arm unter dem Fahrersitz herumzutasten. »Ich kann’s mit den Fingerspitzen spüren, aber ich krieg das verdammte Ding nicht zu fassen.«

»Geh mal beiseite.« Daley schob seinen Sergeant aus dem Weg. »Der Wagen sieht ja jedes Mal schlimmer aus. Dass dir nicht schon der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Nacken sitzt, ist ein reines Wunder!«

»Nein, aber der große Zampano wollte neulich mal in die Stadt mitgenommen werden«, sagte Scott. Er meinte Superintendent Donald. »Musste zu irgendeinem Empfang oder so.«

»Ich bin sicher, er war hellauf begeistert«, bemerkte Daley.

»Nicht direkt. Jedenfalls kamen wir bis zur Sneddon Street, und dann ließ er mich anhalten und verdrückte sich Richtung Bahnhof. Und klaro kriegte ich am nächsten Tag ein Memo deswegen«, erklärte Scott mit resigniertem Gesichtsausdruck.

»Dessen Inhalt du dir zweifellos zu Herzen genommen und bis aufs i-Tüpfelchen befolgt hast.«

»Nee, ich hab’s in den Papierkorb geschmissen. Bin ich vielleicht sein blöder Chauffeur? Hab gedacht, das wär auch in deinem Sinn, Jim.« Scott wirkte verwirrt.

Daley zog die Augenbrauen hoch und musste unwillkürlich grinsen, während er sich neben dem Wagen hinkniete und unter den Fahrersitz griff. Tatsächlich konnte er die Ecke der Akte ertasten, knapp in Reichweite.

»Ich hab’s gleich, Brian«, sagte er, und sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an.

»Streng dich an, Großer. Ich wusste doch, dass du mit deinen Affenarmen da rankommst«, sagte er aufmunternd. »Nur noch ein Stückchen, dann hast du’s.«

Daleys Arm schmerzte, doch er streckte ihn so weit wie möglich aus, bis er den Rand der Akte mit Daumen und Zeigefinger zu fassen bekam. Er zog sie unter dem Sitz hervor, und im selben Moment spürte er, wie ihm frische Luft über das Hinterteil strömte, während mit einem volltönenden Reißen wie aus dem Soundlabor sein Hosenboden entzweiging.

Er stand atemlos auf und reichte Scott wortlos und mit zusammengepressten Lippen den Aktenordner.

»Gut gemacht, Jim. Ich wusste doch, dass du das hinkriegst.« Scott nahm die Akte mit der Aufschrift »Höchst vertraulich« grinsend entgegen. »Schon wieder ein Paar Hosen im Arsch. Nur gut, dass du die Beförderung gekriegt hast – der Zwirn kostet heute ’ne Menge Geld.«

Daley sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Keinen Ton mehr, Brian.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stampfte ins Büro zurück, während er mit der linken Hand die Hose hinten zusammenhielt. Scott folgte ihm, leise in sich hineinlachend.

Daley brach das Siegel auf dem Aktenordner mit einem Taschenmesser, das er im Schreibtisch aufbewahrte. Während er noch dabei war, bedauerte er, die Flasche Whisky nicht rechtzeitig weggestellt zu haben, denn Scott goss sich erneut einen kräftigen Schuss ein. Es bestand kein Zweifel, dass er innerlich in Aufruhr war – und zwar mehr, als er zugeben wollte.

Die Akte war relativ dünn, begann allerdings mit einem Deckblatt, das die Geheimhaltungsstufe des Inhalts betonte und die Art und Weise seiner Verbreitung vorschrieb, wie auch die Konsequenzen selbst eines unbeabsichtigten Verrats. Außerdem gab es Anweisungen, wie nach Kenntnisnahme damit zu verfahren sei. Das war etwas, das Daley überhaupt noch nicht erlebt hatte.

»Komm schon, Jimmy-Boy, raus mit den schlechten Nachrichten.« Scotts Augen hatten einen glasigen Ausdruck angenommen, der wohl auf fast eine halbe Flasche Single Malt zurückzuführen war. Durch das Hemd hindurch massierte er die Narbe, die JayMacs Kugel in seiner Schulter hinterlassen hatte.

Schon als er die erste Seite der Akte sah, wusste Daley, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Unter einer Kopfzeile mit dem Titel HER MAJESTY’S HOME OFFICE WITNESS PROTECTION PROGRAMME – das war das Zeugenschutzprogramm des Innenministeriums – sah er ein Foto eines Mannes, der Mitte fünfzig zu sein schien und mit unbewegter, beinahe verächtlicher Miene in die Kamera starrte.

Es war unverkennbar das Gesicht von Frank MacDougall.

Daley las weiter und registrierte, dass Scott sein geradezu legendäres Talent einsetzte, kopfstehende Texte ebenso schnell zu lesen wie normale. Die meisten Informationen waren ihnen bekannt. Dass MacDougall und Dowie im Austausch für Immunität ihre ehemaligen Komplizen verraten und die gesamte Verbrecherorganisation zu Fall gebracht hatten, wussten sie natürlich. Es folgten Details aus dem Verfahren, wobei auch die Drohungen erwähnt wurden, die gegen Zeugen und Polizeibeamte ausgestoßen worden waren, darunter er selbst und Scott.

Dann kam er zu einem Abschnitt, der ihm völlig neu war.

Nachdem die Verfahren gegen die Hauptfiguren des Machie-Klans abgeschlossen und die Angeklagten – allesamt – zu nicht weniger als fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden waren, blieb das Problem, was man mit MacDougall und Dowie anstellen sollte.

Dowie hatte unbedingt so weit und so schnell wie möglich von Schottland wegkommen wollen. Er hatte das Angebot einer neuen Identität irgendwo in Großbritannien ausgeschlagen. In gewisser Hinsicht hatte das den Behörden ganz gut ins Konzept gepasst, denn sie wollten vermeiden, dass irgendwelche Überbleibsel der Machie-Organisation ihre Todfeinde aufspüren und töten konnten. Daley kannte zwar nun Dowies Schicksal in groben Umrissen, aber die Details seiner Umsiedlung gehörten nicht zu den Informationen, die Donald ihn wissen lassen wollte. Sie waren geschwärzt.

Mit Frank MacDougall dagegen sah es anders aus. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter, die alle vom Machie-Klan bedroht worden waren und deshalb ebenfalls ein neues Leben und eine neue Identität gebraucht hatten. MacDougall hatte allerdings das Angebot, ins Ausland zu gehen, entschieden ausgeschlagen. Er hatte nicht nur in Großbritannien bleiben, sondern sogar weiterhin in Schottland leben wollen. Daley überflog die Versuche, die unternommen worden waren, ihn zum Umdenken zu bewegen. Es hatte nichts gefruchtet. Er hatte Portugal, die Türkei und sogar Schweden abgelehnt. Angesichts der Mühe, die die britische Regierung sich mit ihren Kronzeugen gab, fragte Daley sich nicht zum ersten Mal, warum er eigentlich diesen Job machte. Würde eine dankbare Regierung ihn und seine Familie in ein europäisches Land seiner Wahl umsiedeln und ihm sein Leben lang ein sich automatisch füllendes Bankkonto zur Verfügung stellen? Die Antwort war eindeutig: Nein.

Daley reagierte nur mit einem Grunzen, als Scott ihm mitteilte, dass er eine Toilettenpause einlegen müsse, und den Glaskasten verließ.

Er las weiter. MacDougalls ältester Sohn Cisco hatte das sichere Haus, das man der Familie auf einem ehemaligen Armeestützpunkt in der Nähe von London zur Verfügung gestellt hatte, bald sattbekommen. Eines Nachts war er über die Mauer geklettert. Zwei Tage später hatte man ihn mit durchschnittener Kehle im Treppenhaus einer Mietskaserne in Glasgow gefunden. Daley war ein wenig überrascht, dass er damals nichts davon gehört hatte, vermutete aber, dass der Rachemord der Umstände wegen vertuscht worden war. Die Führungsriege des Machie-Klans mochte hinter Gittern sitzen, aber ihr Erbe lebte weiter.

Er blätterte um und spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte – immer ein Vorbote schlechter Neuigkeiten.

Da stand es, wie es schlimmer nicht hätte kommen können. Man hatte Frank MacDougalls Bitten, ihn irgendwo in Schottland anzusiedeln, schließlich widerstrebend nachgegeben. Er und seine Familie hatten die versprochene neue Identität erhalten und waren an einen einsamen Ort auf dem Land geschickt worden.

Frank MacDougall hatte die letzten fünf Jahre auf einer Farm keine fünfzehn Kilometer von Kinloch entfernt verbracht.

Daley stieß die Akte von sich, massierte sich die Schläfen und versuchte, die Neuigkeiten zu verdauen. Während er noch dabei war, platzte die Tür auf, und sein Sergeant kehrte zurück. Er fluchte unterdrückt vor sich hin, was allerdings nicht ungewöhnlich war.

»Jetzt schau dir diese Scheiß-Wasserhähne auf der Toilette an«, beschwerte er sich und rieb mit einem Papierhandtuch an einem großen dunklen Flecken im Schritt seiner hellbraunen Hose herum. »Sobald man die verdammten Dinger aufdreht, spucken sie los wie ein Geysir. Ich sehe aus, als ob ich mich angepisst hätte.« Er hörte auf zu wischen, als er den Ausdruck in Daleys Gesicht bemerkte.

»Setz dich, Brian«, sagte Daley müde. »Ich muss dir etwas sagen, dass dir nicht gefallen wird. Bring mir den Becher da vom Aktenschrank mit, bitte. Ich glaube, ich brauche jetzt auch einen Tropfen.«

Die beiden Detectives nippten schweigend an ihren Kaffeebechern mit Malt Whisky.

Daley konnte es nicht fassen, dass er plötzlich in die schlimmste Phase seiner Laufbahn bei der Polizei zurückversetzt werden sollte. Er sah Scott verstohlen an. Sein Freund starrte in seinen Becher und ließ tief in Gedanken versunken den Inhalt kreisen. Von all den Polizeibeamten im Kampf gegen JayMac und dessen Kumpane hatten die Verbrecher Brian Scott am meisten gehasst, und beinahe hätten ihn seine Mühen das Leben gekostet. Scott war gemeinsam mit vielen dieser Kriminellen aufgewachsen, sodass er, der perversen Logik der Bandengesetze folgend, ebenso ein Verräter war wie Dowie und MacDougall.

Das schrille Klingeln des Telefons schreckte sie beide auf. Daley ging ran, und die Vermittlung teilte ihm mit, dass Donald in der Leitung sei. Er ließ den Anruf durchstellen, drückte den Konferenzknopf auf der Tastatur und legte warnend den Finger an die Lippen, damit Scott nicht seine üblichen Schimpfworte von sich gab, während Daley mit ihrem Vorgesetzten telefonierte.

»Aha, Jim.« Donalds Stimme hallte überlaut in ihrem Glaskasten. »Ich nehme mal an, dass Sergeant Tweedledum es geschafft hat, die einfache Aufgabe zu erledigen, die ich ihm aufgetragen hatte?«

»Ja«, erwiderte Daley und zwinkerte dem finster dreinblickenden Scott zu. »Tatsächlich sitzt er mir gerade gegenüber.«

Das kümmerte Donald nicht im Geringsten, und er fuhr nahtlos fort. »Ich hoffe, er raucht nicht schon wieder. Ich hatte das Pech, einen halben Kilometer weit in dieser Müllkippe von Auto mitzufahren, das wir ihm dummerweise überlassen haben – ich wäre beinahe an einer Mischung aus Ersticken und Botulismus gestorben.« Daley hätte beinahe einen Lachanfall bekommen, als Scott eine obszöne Geste in Richtung Telefon machte.

»Ich habe die Akte gelesen, Sir. Soll ich sie auswendig lernen und dann vernichten?« Daley beschloss, seine eigene Art von Sarkasmus walten zu lassen.

»Ich hätte nicht erwartet, dass Sie die Angelegenheit komisch finden, Jim. Vor allem, weil das wahrscheinlichste Ziel für den nächsten Horrormord sich direkt in Ihrem Zuständigkeitsbereich aufhält.«

Wie stets schaffte es Donald, wie ein gönnerhafter Oberlehrer zu klingen, und Daley sträubten sich die Haare. »Langsam wird mir klar, warum ich hierherversetzt wurde, Sir«, sagte er. Seine Stimme triefte vor Verachtung.

»Wenn Sie glauben, ich hätte irgendeine Ahnung davon gehabt, dann irren Sie sich. Fra…« Donald brach plötzlich ab und überlegte es sich anders. »Der Aufenthaltsort der Zielperson war mir ebenso unbekannt wie Ihnen. Ehrlich gesagt wünschte ich, es wäre immer noch so.« Aus irgendeinem Grund glaubte Daley seinem Chef in diesem Fall. »Wenn es Ihnen ein Trost ist, ich habe das Zeugenschutzprogramm angerufen und denen geraten, dass es unter den gegenwärtigen Umständen klüger wäre, ihn an einen Ort zu bringen, wo wir über mehr Ressourcen verfügen. Ich warte noch auf Antwort.«

Ein paar Augenblicke lang blieb es still, bevor Daley resigniert meinte: »Das werden die nicht machen, Sir. Die glauben bestimmt, dass er hier mit seiner Tarnung so sicher ist wie überhaupt möglich.«

»Ach, Sie und Ihr ewiger Pessimismus, Jim. Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie die Akte einstweilen im Safe wegschließen, wo sie keinen Schaden anrichten kann, sozusagen. Ich habe beschlossen, morgen zu Ihnen hinunterzukommen – wir werden unserem alten Freund gemeinsam einen Besuch abstatten.«

»Na, das ist ja mal eine tolle Idee«, murmelte Scott und vergaß dabei, dass das Telefon auf Konferenzmodus geschaltet war.

»Sparen Sie sich Ihre tiefschürfenden Analysen, DS Scott. Verbringen Sie Ihre Zeit lieber damit, Ihren Dienstwagen zu putzen. Ich komme morgen früh mit dem Flugzeug und brauche ein Auto. Sorgen Sie dafür, dass es picobello aussieht. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Äh, aye, Sir.« Scott schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Ganz im Ernst, ehrlich, genau das brauchen wir jetzt, Sir, dass Sie die Zügel in die Hand nehmen.« Er lächelte aufmunternd, als ob Donald ihn durchs Telefon sehen könnte.

»Unsinn«, lautete die knappe Antwort. »Sorgen Sie einfach dafür, dass Sie Punkt zehn Uhr morgen früh am Flughafen sind, und zwar mit einem sauberen Auto.« Ein lautes Klicken drang aus dem Telefon, als Donald in seinem Büro den Hörer auf die Gabel knallte und das Gespräch mit dem fernen Kinloch beendete.

»Na, da bin ich aber ins Fettnäpfchen getreten, was, Jim?«

»Ja«, lautete Daleys kurze, aber treffende Antwort. Er erhob sich und bat Scott, ihn zum Saferaum zu begleiten. Scott betupfte den Schritt seiner Hose mit dem Papierhandtuch, während sie hinausgingen. Constable Dunn zeigte einen nur schlecht verhehlten Ausdruck des Abscheus, als sie an ihr vorbei in den Korridor traten.

»Sagen Sie nichts, es ist nicht das, was sie denken – es liegt an den Wasserhähnen in …« Scott verstummte, als sie die Hand hob, um ihm zu bedeuten, dass jede Erklärung überflüssig sei. Sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

»Sagenhaft«, beklagte sich Scott. »Dieser elende Dreckskerl ist von den Toten wiederauferstanden, und alle machen sich hinter meinem Rücken über mich lustig, weil sie glauben, ich hätte mich angepisst.«

»Ich finde, du und ich, wir sollten einen kleinen Abstecher runter zum County machen«, sagte Daley. »Irgendetwas sagt mir, dass wir dazu nicht mehr oft Gelegenheit haben werden. Jedenfalls nicht fürs Erste.«

»Wenn die Dinge so laufen wie beim letzten Mal, haben wir vielleicht überhaupt keine Gelegenheit mehr dazu. Punkt. Wie zum Teufel kann so was möglich sein, Jim? Der Mann ist tot und begraben, da gibt’s keinen Zweifel.« Scotts Gesicht war eine Maske der Sorge. »Du hast doch diese Gefängnisambulanz gesehen – da ist keiner lebend rausgekommen. Scheiße, ich war doch noch in derselben Nacht bei ihm im Leichenschauhaus – oder jedenfalls dem, was von ihm übrig war. Sie schnitten ihm gerade das Herz raus, oder weiß der Geier, was. Ich hab’s gesehen, Jim, und du auch.«

»Nein, habe ich nicht«, erwiderte Daley zweifelnd.

»Du hast was nicht?« Scott war verwirrt.

»Ich habe den Krankenwagen gesehen, aber im Leichenschauhaus war ich nicht. Dieses zweifelhafte Vergnügen habe ich dir und dem Boss überlassen, erinnerst du dich?« Es war allgemein bekannt, dass Daleys Magen den forensischen Wissenschaften nur schlecht gewachsen war.

»Aye, stimmt. Du musst der einzige Cop in ganz Schottland gewesen sein, der nicht da war. War kein hübscher Anblick, das kann ich dir versichern.«

»Umso rätselhafter, dass er es anscheinend geschafft hat, wiederaufzuerstehen«, sagte Daley und seufzte.

»Das ist unmöglich, Jim. Aber heutzutage lässt sich alles Mögliche mit plastischer Chirurgie anstellen. Muss irgendein Bekloppter sein, ein zwanghaft Gestörter oder so was. Scheiße, davon laufen hier doch echt genug rum«, sagte Scott grimmig und rieb weiter am Schritt seiner Hose.

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