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Die Brombeerschwestern

Als Buch hier erhältlich:

Wenn Schwestern (doch noch) Freundinnen werden

Durch die Heirat ihrer Eltern sind Daisy und Sage vor achtzehn Jahren Stiefschwestern geworden. Aber auch wenn Daisy es sich sehr gewünscht hat, wurden sie und ihre Schwester keine Freundinnen, sondern Rivalinnen. Die Lage spitzte sich zu, als Sage öffentlich ihre Liebe erklärte– zu Daisys Ehemann, während Daisys Hochzeitsfeier. Danach herrschte absolute Funkstille. Jetzt aber müssen die beiden Frauen zusammenhalten. Denn ihre gemeinsame Schwester braucht sie. Gelingt es ihnen, alte Wunden zu heilen und zu verziehen?


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000076
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Kelly, MSN, CRNA. Du weißt, wer du bist!

Tausend Dank für deine Unterstützung bei meiner Recherchearbeit. Du hast mir geholfen, Daisys Beruf, der sie auch als Mensch ausmacht, verständlich zu erläutern. Du warst so unglaublich geduldig mit mir. Etwaige Fehler bei technischen Begriffen der Anästhesie liegen allein in meiner Verantwortung.

Und an all die Stiefschwestern da draußen: Es ist oft keine einfache Beziehung, aber ich hoffe, dass sie mit genügend Geduld und Verständnis füreinander für beide Seiten eine großartige Stütze sein kann.

Und last, but not least: Falls irgendjemand tatsächlich eine Hermès Birkin Bag aus Krokodilleder besitzt, möge er/sie bitte ein Bild auf meiner Facebook-Seite posten. Ich würde so gern einmal ein echtes Exemplar in freier Wildbahn sehen! www.facebook.com/SusanMallery

1. KAPITEL

»Mom, ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Daisy Bosarge spürte die Angst, die jedes Elternteil überfiel, wenn das Kind diese sieben Worte aussprach. Noch besorgniserregender war die Tatsache, dass ihr Sohn bereits mit einem Magen-Darm-Infekt zu Hause im Bett lag.

Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen und ihre Tochter heute Morgen gar nicht erst zur Schule gehen lassen dürfen. Doch Krissa hatte gefleht und gebettelt, und da Daisy sowieso schon spät dran gewesen war, war es leichter gewesen, einfach Ja zu sagen. Eine Entscheidung, die ihr nun zum Verhängnis werden würde. Das wurde Daisy klar, als sie, so schnell es der dichte Verkehr zuließ, nach Hause fuhr.

»Nur noch zehn Minuten«, sagte sie und warf ihrer Achtjährigen im Rückspiegel einen Blick zu. »Wir sind in zehn Minuten da.«

»Mir ist schlecht.«

»Ich weiß, Süße. Ich bringe dich sofort nach Hause.«

Sich jetzt auf ihre Tochter zu konzentrieren und ihr gut zuzureden war immer noch besser, als krampfhaft das Unheil verkündende Warnsignal am Armaturenbrett ihres Wagens zu ignorieren, das blinkte, seit Daisy ihre Tochter in der Schule abgeholt hatte. Noch ein Problem, um das sie sich gerade nicht kümmern konnte, weil sie schlicht keine Zeit hatte.

Prioritäten. Zuerst musste sie Krissa nach Hause schaffen und ins Bett stecken, dann nach Ben sehen und danach einen Termin in der Mercedes-Werkstatt machen. Anschließend würde sie …

»Mommy, ich muss jetzt spucken!«

Daisy unterdrückte ein Stöhnen. Schnell blickte sie in den Rück- und die Seitenspiegel, ehe sie das Auto vorsichtig an den rechten Fahrbahnrand lenkte und dort hielt.

»Noch eine Sekunde«, murmelte sie, obwohl sie wusste, dass sich das Unvermeidliche durch keine Worte der Welt mehr aufhalten lassen würde.

Im nächsten Moment nahm ihr ohnehin schon fabelhafter Tag eine weitere unerfreuliche Wendung, als ihre Tochter sich erbrach. Auf sich selbst, die Rückbank und die Fußmatte. Der Geruch und das Schluchzen, als Krissa in Tränen ausbrach, trafen sie gleichzeitig.

Sie schaltete den Warnblinker ein und rannte vorn um den Wagen herum zur Beifahrerseite, wo sie ihrer Tochter aus dem Auto und auf den Gehweg half. Die anderen Fahrzeuge auf der Straße rasten so dicht an ihnen vorbei, dass Daisy den Luftzug spüren konnte. Sie hielt ihre Tochter sicher im Arm, während sie mit ihr zum Kofferraum ging, wo sie eine Notfalltasche mit einer Rolle Küchenpapier, Feuchttüchern und einem Wechselshirt für beide Kinder deponiert hatte.

Sie wischte das Gesicht ihrer Tochter sauber und griff nach dem Saum des T-Shirts.

»Ich ziehe dir das eben aus«, sagte sie. »Hier ist ein frisches T-Shirt für dich.«

Aber Krissa riss ihr das Shirt aus der Hand und zog es wieder herunter.

»Nein!«, kreischte sie und blickte sich hektisch um. »Hier draußen können die Leute mich doch sehen.«

Wer denn? Krissa war acht Jahre alt, das Auto befand sich zwischen ihnen und dem fließenden Verkehr, und Daisy stand so vor ihrem Kind, dass wirklich niemand etwas erkennen konnte.

»Willst du dich auf dem Beifahrersitz umziehen?«, fragte sie und bemühte sich, vernünftig zu klingen und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie kurz davorstand, die Nerven zu verlieren.

»Nein.« Tränen rannen der Kleinen über die erhitzten Wangen. »Mommy, nein!«

Die Kopfschmerzen, die sich gegen Mittag schon angekündigt hatten, wurden schlimmer. Daisy verspürte einen stetig stärker werdenden Druck hinter den Augen. Sie ignorierte den Schmerz und legte ihrer Tochter die Hand auf die Stirn. Das Kind glühte. Bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie nun tun sollte, übergab Krissa sich noch einmal. Diesmal landete alles auf Daisys Arbeitskleidung und ihren Schuhen.

Krissa weinte noch heftiger, und in diesem Moment wollte Daisy am liebsten auch in Tränen ausbrechen. Sie hatte einen anstrengenden Arbeitstag gehabt, ihre Kinder waren krank, und sie würde den Gestank des Erbrochenen wohl nie mehr aus ihrem Wagen bekommen. Und weil das anscheinend noch nicht ausreichte, war vor zwei Tagen ihr Ehemann ausgezogen. Um ihnen beiden »Abstand und Zeit zum Nachdenken« zu geben, wie er es genannt hatte.

In der SMS, die er ihr geschickt hatte.

Idiot, dachte sie, und in die vertraute Wut mischte sich ein Anflug von Panik. Obwohl »Arsch« der viel passendere Ausdruck gewesen wäre als »Idiot«. Wie hatte er ihr das nur antun …

Eines nach dem anderen, ermahnte sie sich. Zuerst musste sie Krissa nach Hause bringen, sich dann um das Auto kümmern und danach …

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen dunkelblauen BMW, der langsamer wurde, als er vorbeifuhr. Sie hätte diesem Gaffer liebend gern irgendein unflätiges Schimpfwort an den Kopf geworfen, aber ihr war klar, dass sie damit kein gutes Vorbild abgeben würde, also zwang sie sich zu einem Lächeln.

»Süße, ich mache kurz die Rückbank sauber, damit du wieder einsteigen kannst. Dann kannst du dich hinten umziehen, und niemand wird dich sehen. Ist das okay?«

Zögerlich nickte Krissa.

Daisy stellte die Kleine neben das Auto, wo sie sie im Blick hatte, und beseitigte das Chaos, so gut sie konnte. Bei den gut und gern siebenundzwanzig Grad, die im Frühling in Los Angeles öfter mal herrschten, fing der Innenraum des Wagens bereits an, sich aufzuheizen. Der Gestank löste bei Daisy Brechreiz aus. Mit Blut kam sie ohne Weiteres zurecht. Bei einer Operation hatte sie überhaupt keine Probleme, doch das hier? Ein Albtraum.

Sie beendete ihre notdürftigen Putzmaßnahmen und redete Krissa gut zu, sich ins Auto zu setzen, als sie wieder den BMW bemerkte, der an ihnen vorbeirollte. Da die Sonne jedoch direkt auf die Seitenscheibe des Wagens fiel, konnte sie nicht erkennen, wer am Steuer saß.

Am besten, sie beachtete den Fahrer nicht weiter. Sie zog ihrer Tochter das Poloshirt der Schuluniform aus und reichte ihr ein T-Shirt mit Elsa, der Eiskönigin. Leider hatte sie für sich selbst keine Wechselkleidung dabei. Daher wischte sie ihre Hose und ihre Schuhe fürs Erste mit Feuchttüchern sauber und wollte Krissa gerade anschnallen, als der BMW hinter ihrem Wagen an der Bordsteinkante hielt.

Daisy versuchte, sich zusammenzureißen und nicht in Panik zu geraten. Hätte sie doch bloß mal einen Kurs in Karate oder einer ähnlich todbringenden Sportart belegt. Oder hätte sie sich wenigstens Pfefferspray besorgt. Ob das in Los Angeles legal war? Bevor sie näher darüber nachdenken konnte, wurde die Fahrertür des BMW geöffnet und eine hochgewachsene, bildschöne blonde Frau stieg aus.

Im Geist ging Daisy alle Schimpfwörter durch, die ihr einfielen, wobei sie sogar noch auf einige interessante Neuschöpfungen kam. Und dann fragte sie sich, wieso der liebe Gott sie zu hassen schien – denn anders ließ sich nicht erklären, warum in diesem Moment ausgerechnet Sage Vitale auf sie zukam. Dabei sah sie so fabelhaft aus, wie nur Sage in Skinny Jeans und einem Top aus weich fließendem Stoff das konnte – sexy und zugleich ätherisch. Ankle Boots mit einem Zehn-Zentimeter-Absatz rundeten den Look ab. Daisy dagegen war seit vier Uhr morgens auf den Beinen, hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geduscht und … ach ja … die Kotze.

Das Letzte, was sie von Sage gehört hatte, war, dass sie in Italien lebte und mit einem Grafen verheiratet war. Denn so sah Sages Leben aus: Rennfahrer und Grafen, diese wundervolle Figur und die unglaubliche Schönheit, mit der sie gesegnet war. Daisy hingegen war klug und hatte eine sprühende Persönlichkeit. Es war einfach nicht fair.

Neugierig blickte Sage zwischen ihr und ihrer Tochter hin und her. »Daisy? Dachte ich’s mir doch, dass du es bist, als ich an euch vorbeigefahren bin. Geht’s dir gut?«

Nein. Nein, es ging ihr alles andere als gut. Jeder Idiot konnte das sehen. Ihr Kind hatte ganz offensichtlich einen Magen-Darm-Infekt und sie selbst war von oben bis unten vollgekotzt. Also nein. Es ging ihr nicht gut.

»Uns geht es gut«, sagte Daisy und bemühte sich, nicht die Zähne aufeinanderzubeißen. Ihr Zahnarzt hatte sie gewarnt, dass sie, wenn sie nicht endlich lernen würde, sich zu entspannen, nachts eine Aufbissschiene würde tragen müssen, damit sie nicht mehr mit den Zähnen knirschte. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, dass ihre Abendroutine einiges an Sex-Appeal vermissen ließ, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie keine Aufbissschiene benötigte, um dieses Problem noch zu verschärfen.

»Ihr wirkt aber nicht so, als würde es euch gut gehen«, entgegnete Sage und zog die Nase kraus – anscheinend war ihr der Geruch inzwischen auch aufgefallen.

»Wer bist du?«, wollte Krissa wissen.

»Ich … äh … ich bin …«

»Das ist Sage. Sie ist meine Stiefschwester.« Zumindest war sie früher einmal ihre Stiefschwester gewesen.

Krissa fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, die mit einem Mal lief. »Dann bist du meine Tante?«

»Nein«, erwiderte Daisy sehr entschieden. »Bitte, schnall dich jetzt an, damit wir nach Hause fahren können.«

Ausnahmsweise einmal jammerte Krissa nicht und gab auch keine Widerworte. Stattdessen schnallte sie sich an. Dabei drehte sie den Kopf und ließ Sage nicht aus den Augen. Kurz spielte Daisy mit dem Gedanken, ihre Tochter zu warnen: Denn Sage war wie die Sonne – wenn man sie zu lange ansah, hinterließ das irreparable Schäden.

Später würde sie vielleicht darüber nachdenken, welche Laune des Schicksals es war, dass ihre ehemalige Stiefschwester ausgerechnet in dem Moment, der den absoluten Tiefpunkt in ihrem derzeitigen Leben darstellte, an ihr vorbeifahren musste. Wie viele Einwohner hatte L. A.? Acht Millionen? Wie standen da die Chancen für so einen miesen Zufall? Obwohl sie die Vermutung hatte, dass sie gar nicht weit voneinander entfernt lebten. Irgendwie. Aber trotzdem!

Sie zwang sich zu einem ziemlich angestrengten Lächeln. »Danke, dass du angehalten hast. Das war sehr nett von dir.«

»Ich konnte nicht glauben, dass du es bist, die da am Straßenrand steht«, gab Sage zu. »Ich wusste zwar, dass du Kinder hast, doch dich mit deiner Tochter zu sehen … Das ist irgendwie komisch.«

»Man kann ja auch nicht gerade behaupten, dass wir den Kontakt zueinander gesucht und gepflegt hätten«, erwiderte Daisy und ging langsam zur Fahrertür ihres Wagens.

»Stimmt. Genau genommen haben wir uns seit deiner Hochzeit nicht mehr gesehen.«

Daisy starrte ihre Stiefschwester an. Echt jetzt? Musste Sage ausgerechnet dieses Thema ansprechen? »Ja, seit meiner Hochzeit vor zwölf Jahren, auf der du laut verkünden musstest, dass du immer noch in den Mann verliebt bist, den ich an dem Tag geheiratet habe. Das war einer der schönsten Augenblicke meines Lebens.«

Sage errötete. »So war es ja nun auch nicht …«

Oh doch, genau so war es gewesen. Aber Daisy hatte kein gesteigertes Interesse daran, zu bleiben und mit Sage zu plaudern. »Danke noch mal.«

Sie winkte kurz und stieg in ihr Auto.

»Sie ist so hübsch«, sagte Krissa voller Bewunderung. »Mir gefallen ihre Kleider.«

»Das sind doch nur eine Jeanshose und ein Shirt«, zischte Daisy, ehe sie sich diese Bemerkung verkneifen konnte. »Tut mir leid, Krissa. Ich bin müde und bringe dich jetzt nach Hause.«

Im Rückspiegel sah sie, wie Sage in ihren Wagen stieg. Ihre Blicke trafen sich kurz im Spiegel, ehe Daisy sich daranmachte, den Motor zu starten. Sie drückte den Startknopf … aber nichts passierte. Sämtliche Leuchten am Armaturenbrett blinkten – auch das rote Lämpchen, das anzeigte, dass es ein Problem mit dem Motor gab. Doch ebendieser Motor gab keinen Laut von sich.

Mit beiden Händen umklammerte Daisy das Lenkrad und bemühte sich, nicht laut loszuschreien. Sie wollte ihrer Tochter und auch sich selbst keine Angst einjagen, indem sie dem irren Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, nachgab. Aber warum musste das alles gerade jetzt passieren?

Jemand klopfte ans Seitenfenster, und sie öffnete es.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Sage.

»Nicht so ganz. Der Wagen springt nicht an.«

»Soll ich euch nach Hause bringen?«

Daisy dachte darüber nach, zu entgegnen, dass sie lieber einen Uber oder Lyft oder so was rufen würde. Doch vermutlich spielte das Schicksal ihr gerade übel mit, und deshalb konnte sie sich auch einfach gleich geschlagen geben. Je eher sie dieser Hölle entfloh, in der sie gerade gefangen zu sein schien, desto schneller wäre es vorbei. Später, wenn die Kinder im Bett wären und sie geduscht hätte, würde sie noch einmal über ihr Leben nachdenken und dann vielleicht herausfinden, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt sie es so vermasselt hatte, dass sie es verdiente, derart hart bestraft zu werden. Aber für den Moment sah es so aus: Sie hatte ein krankes Kind und ein kaputtes Auto, und da war jemand, der ihr eine Mitfahrgelegenheit anbot.

»Danke«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und blickte in die wunderschönen grünen Augen der Frau, die sie von allen Menschen auf dieser Welt am meisten hasste. »Das wäre toll.«

»Wie lange kennst du meine Mom schon?«, fragte Krissa, die plötzlich schon wieder viel fitter klang als noch vor fünf Minuten. Noch ein Beweis für Sages unfassbare Macht, dachte Daisy verbittert, als sie ihren Gurt anlegte.

»Seit wir Kinder waren«, antwortete Sage. »Ich glaube, wir waren acht oder neun Jahre alt.«

»Ich bin auch acht!« Krissas Tonfall ließ vermuten, dass da offensichtlich Magie im Spiel sein musste. »Aber ich verstehe das noch immer nicht. Ihr wart Stiefschwestern. Also war Grandpa …«

»… mit Sages Mutter verheiratet«, erklärte Daisy. »Ungefähr sechs Jahre lang. Erinnerst du dich noch an Tante Cassidy?«

»Ich glaube nicht.« Die Kleine klang unsicher. »Ist sie genauso hübsch wie Sage?«

»Ja.« Unglücklicherweise. »Cassidy ist unsere Halbschwester. Mein Vater – dein Großvater – ist ihr Vater, und Sages Mutter ist Cassidys Mom. Ich bin mir sicher, dass du Cassidy mindestens schon einmal getroffen hast.«

Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Krissa die Nase krauszog und die Stirn runzelte, als versuchte sie, das alles zu begreifen.

»Sie ist deine Tante«, sagte Sage.

»Warum kenne ich sie dann nicht?«

Eine sehr gute Frage, dachte Daisy. Das lag zum einen daran, dass Cassidy nach der Scheidung vor all den Jahren sehr eindeutig klargemacht hatte, dass sie Sage Daisy vorzog und dass sie dann, sobald sie achtzehn Jahre alt geworden war, losgezogen war, um die Welt kennenzulernen. Der Kontakt zu Wallace, ihrem gemeinsamen Vater, war zwar nie abgebrochen, doch mit Daisy hatte sie sich nicht mehr in Verbindung gesetzt.

»Hast du nichts von ihr gehört?«, wollte Sage wissen und bog durch eins der Tore, die die Einfahrt nach Bel Air markierten. »Das überrascht mich.«

Echt? Aber Daisy stellte die Frage nicht laut. Wozu auch? Im Krieg der Schwestern hatte sie immer den Kürzeren gezogen. Als sie selbst noch ein Kind gewesen war, hatte sie nicht verstanden, warum sie und Sage keine Freundinnen hatten sein können. Anders als viele andere Kinder hatte sie sich aufrichtig gefreut, als ihr Vater ihr erzählt hatte, dass er Joanne heiraten und sie dadurch eine Stiefschwester bekommen würde. Sie hatte sich vorgestellt, immer jemanden zum Spielen zu haben, eine Freundin, der sie sich anvertrauen könnte. Sie hatte sich gewünscht, dass sie eine Bindung zueinander aufbauen würden, hatte von einer besten Freundin geträumt und davon, dass sie einander so nahestehen würden, wie sie es schon so oft im Fernsehen gesehen oder in Büchern gelesen hatte.

Doch Sage hatte jeden Versuch der Kontaktaufnahme abgeblockt. Und selbst wenn sie einmal einen Nachmittag lang nett gewesen war, hatte sie Daisy am folgenden Tag sofort wieder die kalte Schulter gezeigt und war distanziert gewesen. In der Schule hatte es ihr großen Spaß bereitet, sich über Daisy lustig zu machen. Sage mochte an ihrer exklusiven Privatschule zwar die »Neue« gewesen sein, aber es war Daisy gewesen, die sich ausgeschlossen gefühlt hatte.

Sage warf einen Blick in den Rückspiegel. »Deine Tante Cassidy ist Reisejournalistin. Sie ist auf der ganzen Welt unterwegs und schreibt über interessante Orte und Menschen. Im Augenblick ist sie in Patagonien und besucht dort eine Gruppe von Frauen, die mit Textilien handeln.«

Aus großen Augen sah Krissa sie an. »Klingt, als wäre sie echt cool.«

»Fast schon eine Heilige«, murmelte Daisy leise, bevor sie auf eine Straße zu ihrer Rechten wies. »Da vorn ist es.«

Sage lächelte. »Ich weiß noch, wo das Haus ist.«

»Ich war mir nicht sicher.«

Es war lange her – mehr als zwanzig Jahre –, seit Wallace und Joanne geschieden worden waren, auch wenn sie sich das Sorgerecht für ihre Tochter geteilt hatten. Cassidy war während ihrer gesamten Highschoolzeit zwischen dem Haus ihrer Mutter und dem ihres Vaters hin- und hergependelt. Vermutlich hatte Sage sie dort mehr als einmal hingebracht oder wieder abgeholt.

Instinktiv zeigte Daisy auf die lange Zufahrt zum Haus. Sage lachte und wiederholte: »Ich weiß, wohin ich muss.«

Daisy fühlte sich dumm – wie immer eigentlich, wenn sie in Sages Nähe war.

»Ich bin erstaunt, dass du in Los Angeles bist«, sagte Daisy – vor allem auch, um sich selbst abzulenken. »Lebst du nicht irgendwo in Italien?«

»In Rom«, erklärte Sage. »Da habe ich gelebt.«

»Du lebst in Rom?« Durch Krissas ungläubigen Tonfall klang es fast so, als hätte Sage ihnen gerade eröffnet, eine Zweitwohnung auf dem Jupiter zu besitzen. »Das ist in Europa.«

»Dort ist es wunderschön.« Sie blickte zu Daisy. »Ich bin vor ein paar Wochen zurückgekommen. Meine Mutter hatte Angst, an Krebs erkrankt zu sein.«

Und von einer Sekunde auf die andere war Daisys Wut verraucht, und sie fühlte sich klein und gemein.

»Das tut mir leid«, sagte sie. »Wenn du eine Empfehlung für einen fähigen Onkologen benötigst, kann ich dir ein paar Namen geben.«

In Sages makellosem Gesicht flackerte etwas auf – allerdings zu kurz, als dass man es hätte benennen können. »Danke. Zum Glück hat sich herausgestellt, dass die Angst unbegründet war. Es geht ihr wieder gut.« Sie erreichte das Ende der langen Zufahrt und starrte das riesige Haus an. »Es sieht noch immer so aus wie früher.«

Innen hat sich einiges verändert, dachte Daisy. Sie hatten die Küche und das Wohnzimmer renoviert. Das große Elternschlafzimmer und das Bad waren ebenfalls neu gestaltet worden. Das alles war nach Wallace’ Auszug passiert, damit Daisy und Jordan sich in dem großen Haus wohlfühlten. Nicht, dass sie Lust verspürte, das mit Sage zu erörtern.

»Die Nachbarschaft hat sich kaum verändert«, meinte Daisy, als Sage anhielt. »Ein paar Häuser sind abgerissen worden, doch im Grunde genommen mögen wir es hier in der Gegend, wenn alles so bleibt, wie es ist.« Sie öffnete ihren Gurt und holte tief Luft. »Danke, dass du angehalten und uns hier vorbeigebracht hast. Das wäre nicht nötig gewesen.«

Sage runzelte die Stirn. »Kein Problem. Ich hatte nicht vor, euch allein an der Straße stehen zu lassen.«

Eine Information, die Daisy überraschte. Noch vor einer halben Stunde hätte sie alles darauf verwettet, dass Sage an ihr vorbeigefahren wäre, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen.

Sie half Krissa beim Aussteigen. »Danke noch mal.«

Sage winkte ihnen zu und setzte zurück, während Daisy ihrer Tochter die Treppe zur Haustür hinaufhalf.

Nachdem die Kleine sich nun nicht mehr in Sages exklusivem Dunstkreis befand, schien der Infekt, den sie sich eingefangen hatte, wieder mit voller Wucht durchzuschlagen. Krissa sackte in sich zusammen und klammerte sich an Daisys Taille fest.

»Mir geht’s immer noch nicht gut.«

»Ich weiß, Süße. Ich bringe dich jetzt ins Bett.«

Sie wollte gerade ihren Schlüssel hervorkramen, als die Haustür aufging. Esmerelda, die Haushälterin/Nanny/der Klebstoff, der alles bei ihnen zusammenhielt, winkte sie hinein.

»Was ist passiert?« Sie streckte den Arm aus und legte die Hand auf Krissas Stirn. »Ich wusste, dass du dich bei deinem Bruder anstecken würdest. Du musstest dich übergeben, oder?«

Krissas Augen füllten sich mit Tränen. »Im Auto.«

»Das ist ja nicht so schön.« Esmerelda zog sie in die Arme. »Du arme Kleine. Aber jetzt bist du ja wieder zu Hause, und ich kümmere mich um dich.«

Krissa schmiegte sich an sie und beruhigte sich etwas.

Esmerelda blickte in Richtung der Haustür. »Wo ist Ihr Auto?«

»Steht irgendwo am Straßenrand. Nachdem ich rechts rangefahren war, weil Krissa spucken musste, ist es nicht mehr angesprungen. Ich muss im Autohaus anrufen.«

»Und wer hat Sie nach Hause gebracht?«

»Sage.«

Esmerelda hatte erst lange nach der Scheidung angefangen, für die Familie zu arbeiten, trotzdem verengte sie die braunen Augen zu schmalen Schlitzen und presste die Lippen aufeinander.

»Ihre Stiefschwester?«

Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie Sage ungefähr genauso gut leiden konnte wie … Kakerlaken.

»Sie hat angehalten, um zu helfen. Unter den Umständen war ich ihr wirklich dankbar.« Verwirrt, aber dankbar.

»Mommy, ich …«

Mehr konnte Krissa nicht sagen, denn sie musste sich erneut übergeben. Esmerelda war geistesgegenwärtig genug, um zur Seite zu springen, und den Marmorfußboden würde man leicht reinigen können. Und so war Daisy ganz zuversichtlich, dass der Tag vielleicht doch noch eine glückliche Wendung nehmen würde.

Sie streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. »Ich mache sie kurz sauber und stecke sie ins Bett. Wenn Sie dann bitte ein Glas Ginger Ale nach oben bringen könnten?«

Esmerelda nickte und schrieb bereits einer der Hausangestellten eine Nachricht, damit sie das Malheur im Eingangsbereich beseitigen konnte. Daisy nahm sich vor, den Buchhalter zu bitten, den Angestellten in dieser Woche wegen der Extrawäsche und der Kinder, die sich ständig und überall übergeben mussten, einen kleinen Bonus zu überweisen.

Daisy hatte noch keine zwei Schritte gemacht, als Sheba und Lucky die Treppe heruntergejagt kamen. Schnurstracks stürmten sie auf Krissa zu und schnüffelten aufgeregt an ihr. Lucky sah die Kleine besorgt an, ehe er zu Daisy blickte, um von ihr die Bestätigung zu bekommen, dass tatsächlich etwas nicht stimmte.

»Es geht ihr bald wieder gut«, versicherte Daisy dem gelben Labrador. »Genau wie Ben. Sie hat sich bei ihm angesteckt.«

Als Daisy ihre Tochter gewaschen und ihr ein Nachthemd angezogen hatte, stand Esmerelda bereits in Krissas Zimmer, hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und ihr einen Becher mit Ginger Ale auf das Nachttischchen gestellt. Während Daisy ihrer Tochter die Kopfkissen aufschüttelte, sprang Lucky am Fußende auf das Bett, als wollte er die Kleine vor etwaigen Gefahren beschützen.

»Meinst du, du kannst einen Schluck Ginger Ale trinken?«, fragte Daisy ihre Tochter.

Krissa nickte.

Nach ein paar kleinen Schlucken betrachtete Daisy das errötete Gesicht ihres Kindes. Der Infekt schien ungefähr achtundvierzig Stunden zu dauern. Die Kleine würde sich also hoffentlich schon am nächsten Tag deutlich besser fühlen.

Krissa reichte ihrer Mutter den Becher und kuschelte sich in die Kissen. »Ich bin so müde.«

»Ja, das glaube ich.«

Zärtlich strich Daisy der Kleinen die Haare aus der Stirn. Die dunkelbraune Haarfarbe hatte sie von beiden Elternteilen, aber die haselnussbraunen Augen hatte sie von ihrem Vater – genau wie die Form des Gesichts und des Mundes. Sie war so kräftig gebaut wie ihre Mutter, was sie später bestimmt einmal verfluchen würde.

Zumindest war Krissa in der Lage, zu sagen, was ihr fehlte. Daisy erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als ihr Sohn krank geworden war. Ben hatte mit vier Monaten Fieber bekommen. Damals war sie total in Panik geraten. Sich einzureden, die Situation einfach durchzustehen und stark zu bleiben, hatte nichts gebracht.

Jordan dagegen hatte die Sache wie ein Profi in die Hand genommen. Er hatte mit einem Kinderarzt telefoniert und ihn um Rat gefragt, hatte Ben dann Paracetamol verabreicht und ihn behutsam mit einem Schwamm abgewaschen. Innerhalb weniger Stunden war das Fieber gesunken, und der Kleine war eingeschlafen.

»Aber ich bin doch Krankenschwester«, hatte sie gesagt und sich unfähig und nutzlos gefühlt. »Ich hätte damit zurechtkommen müssen.«

»Du bist vor allem eine junge Mutter. Es ist ganz normal, in einer solchen Situation in Panik zu geraten. Wenn es wieder passiert, wirst du die Lage im Griff haben.«

Damit hatte er recht gehabt. Als Ben das nächste Mal gefiebert hatte, hatte sie das nicht aus der Bahn geworfen. Das erste Mal war allerdings ein absoluter Albtraum gewesen. Ein Albtraum, den sie ohne ihren Mann an ihrer Seite nicht überstanden hätte. Früher hatten sie alles gemeinsam gemeistert … Wann genau hatte es angefangen, so verdammt schiefzulaufen?

Sie wandte sich der Haushälterin zu.

»Wenn sie das Ginger Ale bei sich behält, können Sie ihr in zwanzig Minuten Paracetamol geben. Das hilft gegen das Fieber.« Sie lächelte Krissa an. »Esmerelda hat das Babyfon schon geholt und aufgestellt. Falls du irgendwas brauchst, ruf einfach, dann kommen wir schnell angerannt.«

Krissa lächelte matt. »Im Haus wird nicht gerannt. So sind die Regeln.«

»Du hast recht. Versuch jetzt zu schlafen, meine Kleine. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch, Mommy.«

Daisy und Esmerelda traten in den Flur hinaus.

»Ich bleibe in der Nähe«, versprach Esmerelda. »Zwanzig Minuten und Paracetamol.«

»Danke. Ich sehe noch mal nach Ben.«

Das Zimmer ihres Sohnes war auf der anderen Seite des Korridors. Wie Krissas Zimmer war es ein großer Raum mit riesigen Fenstern und hohen Decken. Das angrenzende Bad war geräumiger als die meisten Hauptbadezimmer in anderen Häusern – das war nun einmal so, wenn man in einem Gebäude lebte, das fast eintausendfünfhundert Quadratmeter maß. Es gab zwar nicht übermäßig viele Zimmer, aber alle waren sehr geräumig.

Ben war noch immer im Bett, saß allerdings aufrecht und las etwas auf seinem Tablet. Sheba lag an ihrem Stammplatz mitten auf dem Bett. Simba, die Katze, hatte sich an ihren Lieblingshund gekuschelt.

Als er seine Mutter sah, lächelte Ben. »Hey, Mom.«

»Selber hey.«

Er war zehn Jahre alt, hatte sandbraunes Haar und die gleichen haselnussbraunen Augen wie seine Schwester. Er war ernster als seine Schwester und hatte schon immer älter und reifer gewirkt, als er es war.

»Deine Schwester ist krank. Du hast wirklich sehr robuste Bazillen, junger Mann.«

Er grinste und beugte den rechten Arm, um seine Muskeln zu präsentieren. »Ich bin superstark.«

»Stimmt.« Sie setzte sich auf die Bettkante und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Wie geht’s dir?«

»Besser. Ich habe zum Mittagessen Suppe und Toast gegessen. Esmerelda meint, dass ich heute Abend zum Essen nach unten kommen kann.« Er sah seine Mutter an. »Mom, ich möchte meine Hausaufgaben machen. Wenn ich das nicht tue, verliere ich den Anschluss.«

»Ich glaube ja, dass die Chancen, dass du den Anschluss verlierst, sehr gering sind.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Also gut. Du kannst aufstehen und dich eine Stunde lang an deinen Schreibtisch setzen. Allerdings nur eine Stunde lang. Dann gehst du wieder ins Bett.«

Er grinste und stand auf. Sheba beobachtete genau, was vor sich ging. Als Ben jedoch nur zum Schreibtisch tapste, schloss sie wieder die Augen.

Daisy sah sich im Zimmer um. Als Ben bereit gewesen war, das Kinderzimmer hinter sich zu lassen und ein »Jugendzimmer« zu beziehen, hatte sie den Raum vollkommen umgestalten lassen. Die neutralen, eher maskulinen Farben würden ihn bis zum College begleiten. Das Bett und die Kommoden waren neu. Nur der Kapitänsschreibtisch war alt – geborgen von einem Segelschiff aus dem achtzehnten Jahrhundert. Der Tisch war elegant und hatte gerade genug Kratzer, um interessant zu wirken.

Plötzlich schoss Daisy durch den Kopf, dass es früher einmal Sages Zimmer gewesen war. Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie der Raum damals ausgesehen hatte. Die Möbel waren zierlicher, die Gardinen mit Rüschen besetzt gewesen. Sie erinnerte sich an ein großes Puppenhaus in der Zimmerecke. Ein Puppenhaus, das aus dem Spielzimmer in Sages Zimmer gestellt worden war – etwas, das Daisy ihr immer übel genommen hatte.

Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass der Umzug für Sage nicht leicht gewesen wäre. Er hatte gesagt, dass sie alles, was sie kannte, hinter sich gelassen hätte, um bei ihnen zu leben. Und dann hatte er noch hinzugefügt, dass es an Daisy läge, ihr das Gefühl zu geben, in ihrem neuen Zuhause willkommen zu sein. Es hatte nicht lange gedauert, bis Daisy begriffen hatte, dass die einzige Person, die nicht mehr in dieses Zuhause gehörte, sie selbst gewesen war.

Sogar nach der Scheidung war es nicht besser geworden. Wegen des geteilten Sorgerechts für Cassidy waren Sage und ihre Mutter in ein Haus ganz in der Nähe gezogen, und Sage war auch weiterhin auf dieselbe Privatschule gegangen. Daisy hatte Sages Herrschaft als »Queen der gemeinen Mädchen« nicht entkommen können. Klug zu sein spielte keine Rolle, wenn man zugleich auch etwas übergewichtig und nicht gerade hübsch war.

»Das ist schon lange her«, flüsterte Daisy, als sie das Schlafzimmer verließ. Mittlerweile waren sie und Sage praktisch Fremde. Sie musste nicht länger über die Vergangenheit nachgrübeln. Ihrer ehemaligen Stiefschwester in die Arme zu laufen war ein dummer Zufall, eine einmalige Sache gewesen. Wie hoch standen schon die Chancen, dass das in einer Stadt wie Los Angeles noch einmal passieren würde? Eine Million zu eins, versicherte sie sich selbst.

2. KAPITEL

Nachdem Daisy telefonisch vereinbart hatte, dass jemand ihren Wagen abholte und in die Werkstatt des Autohauses brachte, sah sie noch einmal nach Krissa, bevor sie ans entgegengesetzte Ende des Korridors im oberen Stockwerk lief. Der elterliche Wohnbereich war riesengroß und umfasste mehrere Räume – inklusive eines Arbeitszimmers, das sie als häusliches Büro nutzte, je eines Badezimmers für sie und für ihn und einiger Schränke.

Sie schnappte sich eine Jeans und ein T-Shirt, frische Unterwäsche und einen neuen BH, ehe sie in ihr Badezimmer ging. Dort steckte sie sich das Haar hoch und trat dann in die Dusche.

Zum ersten Mal an diesem Tag war sie allein und erlaubte es sich, an Jordan zu denken. Irgendwann würde sie ihm mitteilen müssen, dass Krissa krank war. Er war immerhin der Vater der beiden Kleinen.

Sie fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen. Ja, er war ihr Vater. Und der Mann, der seine Frau und seine Kinder vor zwei Tagen ohne jede Vorwarnung verlassen hatte. Sie hatte gerade ihre Schicht im Krankenhaus beendet, war zu ihrem Spind gegangen und hatte dort seine Nachricht auf ihrem Handy entdeckt, in der er ihr mitgeteilt hatte, dass er für ein paar Tage aus dem gemeinsamen Haus ausziehen würde. Einfach so. Kein Gespräch, keine Erklärung. Er war einfach abgehauen.

Sie hatte sich überrumpelt gefühlt, war verletzt, empört, wütend, verängstigt gewesen. Glücklicherweise hatte die Wut gesiegt, sodass sie nicht an der neuen Situation zerbrochen war. Denn während Jordan irgendwo in ein Hotel eingecheckt hatte, hatte sie mit allem allein dagestanden. Auch mit der Tatsache, dass sie ihren Kindern hatte erklären müssen, dass ihr Vater jetzt erst einmal nicht mehr zurückkehren würde.

Sie hatte ihm gesagt, dass es unfair wäre, die beiden mit der Situation zu überfordern und ihnen Angst einzujagen. Er war ihrer Meinung gewesen, und sie hatten beschlossen, Ben und Krissa erst einmal zu sagen, dass er auf einer Konferenz wäre. Aber diese Ausrede werden sie uns nicht lange abkaufen, dachte sie, als sie aus der Dusche stieg und sich ein Handtuch schnappte. Irgendwann würden sie und Jordan mit den Kindern darüber reden müssen, was gerade mit ihrer Ehe passierte. Leichter gesagt als getan – angesichts der Tatsache, dass sie selbst keine Ahnung hatte, was los war.

Sicherlich stritten sie sich von Zeit zu Zeit, und in den vergangenen Wochen war Jordan ziemlich still gewesen. Auch waren sie in letzter Zeit so beschäftigt gewesen, dass sie sich kaum umeinander hatten kümmern können. Doch das war normal. In einer Ehe stieß man immer wieder auf Probleme, die es zu bewältigen galt. Und normalerweise fanden sie immer eine Lösung. Doch im Moment hatte sie eher das Gefühl, dass Jordan nicht daran interessiert war, ihr Problem aus der Welt zu schaffen. Stattdessen hatte er sich für diese dramatische Geste entschieden.

Während sie sich anzog, versuchte sie dahinterzukommen, was ihm durch den Kopf gehen mochte. Die Wut überschattete ihr Urteilsvermögen und weckte das dringende Bedürfnis in ihr, ihn zu packen und zu schütteln, damit er zur Vernunft kam. Angesichts der Tatsache, dass sie nicht besonders stark und er gute zwanzig Zentimeter größer war als sie, waren die Chancen, dass das klappte, allerdings eher gering.

Sie zog sich flache Schuhe an und schnappte sich ihr Handy, um der Schule mitzuteilen, dass sie die Kinder noch …

Sie starrte auf die Nachricht. Zorn überflügelte ihre Entrüstung. »Nein, das hast du nicht getan.«

Sie drückte auf den Anruf-Button und wartete, obwohl sie wusste, dass er wahrscheinlich nicht rangehen würde. Das Telefon klingelte und klingelte. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr einfach aus dem Weg gehen wollte oder ob er gerade in einer Behandlung war. Sie wollte schon wieder auflegen, als er sich doch noch meldete.

»Du hast meine Nachricht anscheinend erhalten«, sagte Jordan statt einer Begrüßung.

»Ja, hab ich. Echt jetzt? Willst du mir so sagen, was los ist? Mit einer SMS? Du kannst nicht mit mir reden oder anrufen? Lass mich deine Frage beantworten. Was mit uns los ist, willst du wissen? Du bist abgehauen – das ist mit uns los. Du bist ohne jede Vorwarnung verschwunden und hast mich mit allem alleingelassen. Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass deine Unfähigkeit zu kommunizieren vielleicht ein Grund dafür sein könnte, dass wir überhaupt Probleme haben?«

»Warum bist du immer so?«

Diese ungerechte Bemerkung machte sie sprachlos. »Du bist in ein Hotel gezogen. Du hast nicht mit mir geredet, du hast mir eine Nachricht geschickt. Als ich versucht habe, dich anzurufen, bist du nicht rangegangen. Ich weiß noch immer nicht, warum du überhaupt gegangen bist. Eigentlich wolltest du nur ein paar Tage wegbleiben. Jetzt teilst du mir – übrigens wieder per SMS – mit, dass du bis auf Weiteres in ein Hotel für Langzeitgäste ziehst. Nicht, dass wir über irgendetwas geredet hätten. Du bist einfach weg. Und jetzt willst du wissen, warum ich so bin?«

»Ich kann nicht mit dir reden, wenn du so unvernünftig und unangemessen reagierst.«

Wut kochte in ihr hoch. Zugleich verspürte sie Angst. Weil es irgendwie immer so war – egal, wie es anfing, er fand einen Weg, sie zum Schweigen zu bringen, zu übertönen. Wenn sie ihn jetzt anschrie, was gerade ihr erster Impuls war, würde sie ihn nur in seiner Meinung bestätigen. Wie also sah die angemessene Reaktion aus?

»Krissa ist krank«, sagte sie stattdessen. »Sie übergibt sich immer wieder und hat Fieber. Ben geht es besser, aber offensichtlich hat er die Kleine angesteckt. Ist es unvernünftig und unangemessen zu fragen, ob du mal nach deinen Kindern sehen möchtest?«

»Dein Sarkasmus hilft uns nicht weiter.«

»Genauso wenig wie dein Versuch, mir die ganze Schuld für alles in die Schuhe zu schieben und einfach abzuhauen. Wenn du darüber reden möchtest, was wir unseren Kindern wegen deines Auszugs erzählen, schlage ich vor, dass wir dafür einen Termin vereinbaren.«

»Nach der Arbeit bin ich da.«

»Toll.« Sie machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, doch er hatte den Anruf bereits beendet.

Genau wie in den Straßen von Bel Air hatte sich an der Privatschule, die Sage Vitale von der dritten bis zur zwölften Klasse besucht hatte, überraschenderweise kaum etwas verändert. Die hölzerne Vertäfelung glänzte wie eh und je, und die Schüler trugen noch immer schwarze Hosen und weiße Polohemden als Uniform. Die Computer wirkten moderner, aber ansonsten hätte sie fast denken können, sie wäre in der Zeit zurückgereist. Selbst Mrs. Lytton hatte sich äußerlich kaum verändert. Ihr praktischer Kurzhaarschnitt zeigte erste graue Strähnen, und sie trug inzwischen eine Lesebrille, doch ansonsten sah die strenge Leiterin der Sprachenabteilung noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren.

»Sie sind zu spät«, sagte Mrs. Lytton statt einer Begrüßung, als Sage in ihr Büro kam und sich setzte. »Fast eine halbe Stunde. Ich sollte Sie nicht daran erinnern müssen, dass wir von unseren Schülern Pünktlichkeit erwarten und dass das Schulpersonal mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Vor allem die Lehrenden und Nachhilfelehrer.«

Als Teenager hätte Sage sich gelangweilt auf den Stuhl gefläzt. Ihre Haltung und ihr Augenrollen hätten deutlich gezeigt, wie egal es ihr war, was Mrs. Lytton von ihr hielt. Aber da Sage inzwischen älter und (hoffentlich) auch klüger war, wusste sie, dass ein solches Verhalten sie nicht weiterbringen würde.

»Ja, ich bin zu spät«, sagte sie und lächelte Mrs. Lytton gewinnend an. Dieses Lächeln nutzte sie auch bei schwierigen Kundinnen. »Aber nur, weil ich unterwegs angehalten habe, um jemandem mit einer Autopanne zu helfen.«

Mrs. Lytton presste die ohnehin schon dünnen Lippen zusammen. »Wirklich, Sage? Ist das alles, was Ihnen einfällt? Früher haben Sie immer sehr kreative Ausreden benutzt. Meine Lieblingsausrede war die, als Sie erklärt haben, dass Sie anhalten mussten, um ein paar Entenküken vor einem Rotluchs zu retten, der durch die Straßen von Bel Air gestreift ist.«

»Ich habe Daisy geholfen«, sagte Sage. Es war zwar etwas früh, diesen Trumpf auszuspielen, doch Mrs. Lytton ließ ihr keine andere Wahl. »Krissa hat sich im Auto übergeben, und Daisy musste rechts ranfahren. Ich habe sie gesehen und angehalten, um zu helfen. Dann sprang Daisys Wagen nicht mehr an, also habe ich die beiden schnell nach Hause gebracht. Darum bin ich zu spät.« Entschuldigend lächelte sie Mrs. Lytton an. »Sie können sich gern bei ihr erkundigen, ob die Geschichte stimmt, wenn Sie mögen. Offenbar war zuerst Ben krank und hat die arme Krissa dann angesteckt.«

Mrs. Lytton zog die Augenbrauen hoch. »Tja, wenn Sie Daisy helfen mussten, ist das natürlich in Ordnung. Ich wusste nicht, dass Sie zwei sich noch immer nahestehen.«

Das taten sie eigentlich nicht. Weder als ihre Eltern verheiratet waren noch nach der Scheidung und ganz sicher nicht jetzt. Wenn Sage ihre ehemalige Stiefschwester für den Rest ihres Lebens nicht mehr sehen würde, würde sie trotzdem als glücklicher Mensch sterben.

»Wir sind eine Familie«, sagte Sage einfach. Diese Lüge ging ihr leicht über die Lippen.

»Also gut, dann wollen wir mal loslegen.« Mrs. Lytton schlug einen Ordner auf ihrem Schreibtisch auf und sagte dann auf Italienisch: »Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie fast drei Jahre lang in Italien gelebt. Können Sie sich in der Landessprache unterhalten?«

Sage antwortete auf Italienisch: »Ja, und ich habe auch Grundkenntnisse der Grammatik. Mein Französisch ist allerdings besser. Ich habe fast fünfzehn Jahre lang in Frankreich gelebt. Ich spreche beide Sprachen fließend.«

Mrs. Lytton machte auf Französisch weiter. »Ihr erster Ehemann war Franzose?«

»Ja.« Der dritte war Italiener gewesen. Über den zweiten Mann sprach sie nicht.

Die Leiterin der Sprachenabteilung ging mit ihr ein paar Grammatikübungen durch, ließ sie einige Gedichte auf Französisch vortragen und aus einem italienischen Modemagazin vorlesen. Als sie fertig waren, lehnte sich die alte Dame auf ihrem Stuhl zurück.

»Sie beherrschen beide Sprachen ganz ordentlich«, sagte sie etwas widerwillig. »Das Stundenhonorar für Nachhilfelehrer beträgt fünfundzwanzig Dollar, wobei die Stunde mindestens dreißig Minuten dauern muss. Wir fügen Ihren Namen in die Schul-App ein, sodass die Schüler Nachhilfe bei Ihnen buchen können, wenn Sie verfügbar sind.«

Ihr Blick fiel auf die Prada-Handtasche, die Sage neben sich auf den Stuhl gestellt hatte. »Sind Sie sicher, dass Sie das hier machen wollen, Sage? Gibt es nicht andere Dinge, die Sie lieber mit Ihrer Zeit anfangen möchten?«

»In Frankreich und Italien habe ich Englischunterricht gegeben und glaube, es könnte mal ganz unterhaltsam sein, den Spieß quasi umzudrehen.«

»Sie werden damit keine Reichtümer verdienen.«

Sage lächelte weiter. »Ja, das ist mir bewusst. Aber manchmal ist die Dankbarkeit derjenigen, denen man etwas geben kann, schon Lohn genug.«

Mrs. Lytton stieß einen Laut aus, der verdächtig nach einem Schnauben klang. »Also schön. Ich bringe Sie ins Schulbüro, wo wir Sie in die App einfügen können. Dann sollten Sie etwaige Buchungen direkt sehen können.«

Sage folgte der Dame den langen Korridor hinab. Ihr war klar, dass niemand ihren Wunsch, Kinder in Französisch und Italienisch zu unterrichten, nachvollziehen konnte. Und manchmal war sie sich selbst auch nicht sicher, warum sie das tun wollte. Dennoch war sie hier.

Die Idee, die ihr auf dem langen Flug von Italien nach Los Angeles gekommen war, hatte sie selbst überrascht – nicht nur, weil sie ihr überhaupt gekommen war, sondern auch, weil sie bereit war, alles dafür zu tun, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Sie wusste, der Grund dafür war, dass Nachhilfeunterricht der Tätigkeit als Lehrerin schon recht nahe kam. Außerdem wäre es vielleicht an der Zeit, auszuprobieren, ob sie dazu überhaupt in der Lage war. Wobei die Betonung auf »vielleicht« lag. Sich einen Ehemann zu suchen, solange sie noch einigermaßen gut aussah, war wahrscheinlich noch sinnvoller. Doch ab und zu musste ein Mädchen auch etwas Verrücktes tun, oder? Also würde sie ein paar Kids Nachhilfeunterricht geben und mit ihnen Verben konjugieren. Wenn es ihr zu langweilig wurde oder sie einen interessanten Mann kennenlernte, könnte sie den Nachhilfeunterricht auch wieder aufgeben. Kein Mensch – und erst recht nicht Mrs. Lytton – wäre überrascht, wenn sich herausstellte, dass sie kein Durchhaltevermögen hatte.

Um sieben Uhr fing Daisy an zu glauben, dass sie die Krisen, die gerade ihr Leben beherrschten, schon etwas besser im Griff hatte. Krissa hatte sich seit dem Nachmittag nicht mehr übergeben, und Ben befand sich eindeutig auf dem Wege der Besserung.

Sie lehnte sich an die Küchenanrichte und dachte darüber nach, ob sie zu Abend essen oder einfach ein Glas Wein trinken und dann ins Bett gehen sollte. Vernünftiger wäre es, etwas zu essen, und sie war meistens vernünftig. Aber sie würde sich in der nächsten Stunde noch mit Jordan treffen müssen, und im Augenblick fühlte sie sich dafür schlecht gewappnet.

»Wann kommt Mr. Jordan vorbei?«, erkundigte sich Esmerelda und wischte zum sechsten Mal über die bereits blitzblank polierte Anrichte.

»Das hat er nicht gesagt.«

Daisy hatte der Haushälterin bereits von dem Telefonat erzählt. Trotz der enormen Größe des Hauses konnte man darin kaum irgendetwas geheim halten – jedenfalls nicht vor Esmerelda. Die Haushälterin hatte schon vor Daisy gewusst, dass Jordan gegangen war. Sie hatte die leeren Kleiderbügel in seinem Kleiderschrank entdeckt und gesehen, dass ein Koffer fehlte.

»Ich habe ein schönes Schweinskotelett für Sie«, sagte sie. »Mit grünen Bohnen und Mandeln. Ich könnte Ihnen allerdings auch schnell einen Salat machen. Ich habe die gelben Rüben geröstet, die Sie so mögen.«

»Danke. Ich kann mir auch selbst etwas zum Abendessen machen.«

»Sie können einiges. Das heißt jedoch nicht, dass ich nicht hier stehe und meine Arbeit machen möchte.«

Daisy lächelte. »Sie sind sehr nett zu mir.«

»Sie sind Familie.«

Angestellte/Chefin, aber auch Familie. Esmereldas ältere Cousine war Daisys Nanny gewesen, als sie noch ein Kind gewesen war. Daisy hatte Esmerelda kurz vor der Hochzeit mit Jordan eingestellt. Esmerelda managte das Haus und half ihr mit den Kindern. Ohne sie wäre Daisy aufgeschmissen.

»Jordan ist in ein Hotel für Langzeitgäste gezogen«, sagte sie.

Esmereldas besorgte Miene änderte sich nicht. »Und wie lange will er dort bleiben?«

»Keine Ahnung. Er ist auf dem Weg hierher, damit wir reden und uns überlegen können, was wir den Kindern sagen. Ich werde etwas essen, nachdem ich mit ihm gesprochen habe.«

Esmerelda presste die Lippen aufeinander. »Nachdem Sie mit ihm gesprochen haben, werden Sie keinen Hunger mehr haben.«

»Tja, hey, ein ganz neuartiges Diätprogramm. Wir könnten damit sicher ein Vermögen verdienen.«

Esmerelda murmelte etwas, das Daisy nicht verstehen konnte, und begann, einige Dinge aus dem Kühlschrank zu holen. Sie stellte ein kleines Schälchen mit Oliven, einige Scheiben Käse und ein paar Kräcker ans Ende der großen Kochinsel. Während Daisy sich ein Glas Rotwein einschenkte, schnitt Esmerelda einen Apfel auf und gab noch ein paar Weintrauben dazu.

»Damit der Wein Ihnen nicht in den Kopf steigt«, sagte sie und legte eine Stoffserviette dazu.

»Sie denken mit – wie immer.«

Auf nüchternen Magen vertrug Daisy keinen Alkohol. Und es wäre sicher besser, wenn sie alle Sinne beisammenhätte, wenn sie mit Jordan sprach. Er war besser im Streiten als sie. Zwar hatte sie die UCLA mit einem perfekten Notenschnitt abgeschlossen, doch ihr fehlte einfach der Killerinstinkt, um sich am Ende auch durchzusetzen – zumindest was ihre Ehe betraf.

Während sie ein Stück Brie auf einen Rosmarinkräcker legte, schoss ihr durch den Kopf, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, wenn man nicht so gut im Sticheln war. Wenn sie doch nur nicht immer diejenige wäre, die die Schläge in die Magengrube abbekommen und sozusagen am Rand der ehelichen Straße liegen gelassen würde.

Gerade aß sie ihren Snack, als Jordan ankam. Esmerelda ließ ihn ins Haus, während Daisy mit dem Gedanken spielte, sich noch ein zweites Glas Wein einzuschenken.

»Vielleicht keine so gute Idee«, murmelte sie, während sie sich innerlich für die bevorstehende Unterhaltung wappnete. Sich darauf zu einigen, was sie ihren Kindern über die Trennung sagen wollten, würde nicht so einfach werden. Vermutlich hätte sie sich vorher ein paar Notizen machen sollen. Sie brauchten eine Strategie.

Jordan kam in die Küche. In der Vergangenheit hatten der Anblick seines hochgewachsenen, schlanken Körpers und seine Art, sich unglaublich elegant zu bewegen, ihr Herz schneller schlagen lassen. Auch nach einigen Ehejahren hatte er immer noch die Fähigkeit besessen, ihr Herz zum Hüpfen zu bringen. Allerdings nicht in letzter Zeit. Als ihre Blicke sich nun trafen, empfand sie nur noch Angst und sehnte sich nach der Zeit, als es vielleicht nicht leicht, aber zumindest einigermaßen entspannt und angenehm zwischen ihnen gewesen war.

»Wie geht es den Kindern?«, erkundigte er sich und schenkte sich ein Glas Wein ein.

»Besser.« Sie wies auf die Treppe. »Willst du selbst nachsehen?«

Er nahm einen großen Schluck, stellte das Glas ab und ging die Treppe hinauf. Sie folgte ihm, weil sie wissen wollte, was er mit den Kindern zu besprechen hatte. Nicht gerade ein Beweis für ein ungetrübtes Vertrauensverhältnis zwischen ihnen beiden.

Zuerst betrat er Krissas Zimmer. Ihre Tochter schlug die Augen auf und lächelte ihn an.

»Daddy, du bist wieder da! Wie war die Konferenz?«

Er setzte sich auf die Bettkante und strich der Kleinen das dunkle Haar aus dem Gesicht. »Wichtiger ist doch, mein kleines Streifenhörnchen, wie es dir geht? Mom sagte, du wärst krank?«

»Ja. Ben hatte einen Virus.«

»Und er hat dich damit angesteckt? Darüber müssen wir noch mal mit ihm reden.«

Sie setzte sich auf, um ihn zu umarmen. Lucky musste seine Stimme gehört haben, denn der gelbe Labrador kam ins Zimmer gestürmt und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Sheba sprang vom Bett und wollte ebenfalls etwas Aufmerksamkeit. Selbst die für gewöhnlich so reservierte Katze Nala schien sich zu freuen, Jordan zu sehen. Zumindest interpretierte Daisy so den leichten Schwung des Schwanzes.

Jordan streichelte beide Hunde und verbrachte einige Minuten damit, Ohren zu kraulen und feuchte Küsse zu bekommen. Dann hob er Krissa hoch und stand auf.

»Wir besuchen mal deinen Bruder.«

Daisy wollte ihm gerade sagen, dass Krissa im Bett bleiben sollte. Aber dann fiel ihr ein, dass die beiden ihr nur wieder diesen Blick zuwerfen würden, der ihr sagte, dass sie es anscheinend nicht ertragen konnte, wenn sie beide Spaß miteinander hatten. Wahrscheinlich dachten die beiden das gar nicht, doch es schoss ihr durch den Kopf, wenn Vater und Tochter so vertraut miteinander waren.

Alle gemeinsam gingen sie in Bens Zimmer. Die Hunde trotteten voran. Ben lag im Bett und spielte mit seinem Tablet. Er blickte hoch und grinste, als er Jordan sah.

»Dad! Du bist wieder da!«

Jordan setzte Krissa ab und umarmte Ben. »Wie fühlst du dich, mein Junge?«

»Besser. Jetzt ist Krissa krank.«

»Das ist deine Schuld«, sagte Krissa, kletterte ins Bett und kuschelte sich unter die Decke. Lucky sprang neben ihr auf die Matratze, und Sheba machte es sich am Fußende des Bettes bequem. Mit einem Mal wirkte das große Bett doch ziemlich klein.

Daisy setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Vermutlich würden sie jetzt erst mal ein bisschen reden. Danach würden sie und Jordan sich entschuldigen und die nächsten Schritte miteinander besprechen. Das dachte Daisy zumindest. Deshalb war sie auch so überrascht, als Jordan nun sagte: »Ich möchte, dass ihr beide wisst, dass wir euch sehr lieben.«

Daisy sprang auf und starrte ihn an. »Was machst du da?«

Er hob die Hand, ohne sie anzusehen. Es wirkte beinahe, als wollte er sie mit der Geste zum Schweigen bringen.

»Ihr kennt ja die Situation, dass manchmal einfach alles zu viel wird und ihr euch in eure Zimmer zurückziehen müsst, um Ruhe zu finden, oder?«, fuhr er fort.

Beide Kinder blickten ihn mit großen Augen an, und Ben nickte langsam.

»Jordan«, sagte Daisy eindringlich und machte einen Schritt auf ihn zu. »Wir müssen uns zuerst unterhalten.«

»Ich schaff das schon.« Er lächelte die Kinder an. »Manchmal brauchen auch Eltern eine Auszeit.«

Sie fluchte unterdrückt. »Jordan, die beiden sind krank. Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.«

Tränen stiegen Krissa in die Augen. »Was s…sagst du da?« Ihre Stimme brach. »Daddy, nein!«

»Ist schon okay«, sagte er zu ihr.

Bens Unterlippe zitterte, und er blickte zwischen ihnen hin und her. »Mom?«

Sie kam näher und warf ihm ein, wie sie hoffte, tröstliches, beruhigendes Lächeln zu. »Es ist schon in Ordnung. Alles ist gut. Wir lieben euch, wie Dad eben gesagt hat. Es ist nur …«

Sie hielt inne – vor allem, weil sie selbst nicht wusste, was überhaupt los war.

Krissa begann zu schluchzen, und Ben wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Daisy wünschte sich sehnlichst, sie wäre stark genug, um ihrem Ehemann einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen – ein unreifer und wenig hilfreicher Wunsch, der allerdings von Herzen kam.

Sie scheuchte Lucky und Sheba von Bens Bett, setzte sich und breitete die Arme aus. Beide Kinder kamen zu ihr, und sie umarmte sie.

»Euer Dad wohnt für eine Weile ganz in der Nähe«, erklärte sie und ärgerte sich maßlos darüber, dass sie hier improvisieren musste und dass Jordan ihr nicht die Chance gegeben hatte, sich vorher zu besprechen. Aber so war Jordan – er verursachte ein Problem und überließ es ihr, hinter ihm die Scherben aufzulesen und alles wieder in Ordnung zu bringen. »Ihr werdet ihn so oft sehen, wie ihr wollt. Sobald er und ich einige Dinge besprochen haben, wird alles wieder so wie früher.«

Während sie sprach, funkelte sie ihn an und wollte ihn stumm dazu herausfordern, ihr zu widersprechen. Doch er zuckte nur mit den Achseln.

»Lasst ihr euch scheiden?«, fragte Ben.

»Nein. Gott, nein. Wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen.«

Was der Wahrheit entsprach. Sie hatten noch gar nichts besprochen.

»Für euch wird sich nichts ändern, und ihr bleibt da, wo ihr jetzt seid«, fuhr sie fort. »Ihr geht weiterhin zur Schule und verbringt Zeit mit euren Freunden.«

»Bist du denn da?«, wollte Krissa mit ernstem Gesicht wissen.

Daisy gab ihr einen Kuss. »Natürlich. Ich werde immer da sein.«

»Und Esmerelda?«

Jordan erstarrte bei der Frage.

»Und Esmerelda auch«, bestätigte Daisy. »Es ist ja nur vorübergehend. Wie gesagt, ihr könnt euren Vater so oft sehen, wie ihr möchtet. Und ihr könnt ihm auch jederzeit Nachrichten mit meinem Handy schicken.«

Jordan näherte sich dem Bett. »Ich liebe euch. Das wisst ihr doch, oder?«

Die Kinder ließen sie los, streckten sich auf dem Bett aus, blickten ihren Dad an und nickten. Daisy erhob sich und gab den Hunden ein Zeichen, wieder ihre Plätze einzunehmen.

Es dauerte noch fünfzehn Minuten, in denen sie sich miteinander unterhielten und die Kinder beruhigten, bis die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war. Krissa bestand darauf, in Bens Bett zu bleiben, und ausnahmsweise einmal hatte ihr Bruder keine Einwände. Das zeigt, wie aufgewühlt die beiden sind, dachte Daisy bitter, als sie und Jordan schließlich wieder nach unten gingen. Sobald sie in der Küche waren, ging Daisy auf Jordan los.

»Wie konntest du nur so mit der Tür ins Haus fallen, ohne dass wir vorher miteinander geredet haben? Verdammt, Jordan, sie sind noch Kinder. Das ist kein Problem, mit dem sie sich auseinandersetzen sollten. Ich wollte, dass wir miteinander reden, nicht, dass du vor den Kindern die Bombe platzen lässt. Wir hätten uns einen Plan zurechtlegen sollen.«

Er trank seinen Wein aus. »Manchmal ist das Leben einfach so, Daisy. Du sagst mir doch immer, wie beschäftigt du bist. Ich wollte dir nur helfen, deine To-do-Liste abzuarbeiten, damit ich dir nicht mehr im Weg stehe. Kein Grund, mir zu danken.«

Die Härte seiner Worte erschreckte sie. Jordan konnte manchmal schwierig sein, aber für gewöhnlich war er nicht so gemein zu ihr.

»Du hast dich geirrt, und das weißt du auch«, zischte sie. »Okay, versuch nur, mit dieser idiotischen Masche davon abzulenken, doch das ändert nichts an dem, was du getan hast.«

Statt sich mit ihr zu streiten, grinste er schief. »Klar, ich mache ja ständig alles falsch. Ich wüsste gar nicht, was ich tun sollte, wenn es mal anders wäre.«

»Also ist dir das alles egal? Wir sind ein Witz für dich?«

Sein Grinsen verblasste. »Du hast keine Ahnung, was ich hier durchmache. Du weißt nicht, wie es ist, mit dir und deinem Leben zurechtkommen zu müssen. Ich stehe auf deiner Liste der wichtigen Dinge ganz unten. Der einzige Witz hier bin ich, und du gibst dir alle Mühe, dafür zu sorgen, dass ich das auch ja nicht vergesse.«

Damit ging Jordan hinaus. Ihn aufzuhalten kam nicht infrage, weil es Daisy die Sprache verschlagen hatte. Und den Atem. Und sie hatte keine Ahnung, was hier gerade passiert war.

Er war kein Witz – er war ihr Ehemann. Sie waren verheiratet, und sie hatte keinen Schimmer, warum er sich so verhielt. Irgendetwas stimmte nicht – so viel hatte sie mitbekommen –, aber sie wusste nicht, was es war.

Sie ließ sich auf einen Hocker an der Kochinsel sinken und schenkte sich Wein nach. Sie war müde und traurig und hatte Angst, und unzählige Emotionen, die sie nicht einmal benennen wollte, durchströmten sie. Am nächsten Morgen musste sie zur Arbeit, und zum ersten Mal verspürte sie keine Lust hinzugehen.

Esmerelda kam in die Küche. »Ist er weg?«

Daisy nickte. »Er hat es den Kindern gesagt.« Sie spürte, wie sie die Kiefer aufeinanderpresste, und versuchte, sich bewusst zu entspannen.

»Ich dachte, Sie wollten sich gemeinsam einen Plan zurechtlegen.«

»Jordan ist kein Fan meiner Pläne.«

Esmerelda trat näher und legte beruhigend die Hand auf Daisys Schulter. »Sie sind stark genug, um mit der Situation fertig zu werden.«

»Im Augenblick fühle ich mich alles andere als stark.«

»Das spielt keine Rolle. Die Wahrheit ist, dass Sie es überstehen werden, weil Sie es überstehen müssen. Ihre Kinder brauchen Sie.«

Daisy wusste, dass sie zumindest so tun müsste, als würde sie sich zusammenreißen. Die Alternative wäre loszuschreien, und das würde kein gutes Ende nehmen. »Warum sagen Sie eigentlich immer das Richtige?«

»Ich bin eben mit Weisheit gesegnet.« Doch Esmereldas Lächeln erstarb sofort wieder. »Daisy, ich mache mir Sorgen um Sie.«

»Mir geht’s gut.« Eine glatte Lüge, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie war diejenige, auf die sich alle verließen. Wie ihre Haushälterin schon gesagt hatte, war es immer ihre Aufgabe gewesen, die Familie zusammenzuhalten. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ehrlich. Sie haben recht. Wir werden es überstehen.«

»Gut. Soll ich Ihnen etwas zu essen machen?«

Essen war jetzt das Letzte, was Daisy wollte, doch sie wusste, dass sie wenigstens vorgeben musste, dass alles gut wäre – solange es ging. »Ja, bitte. Ich nehme das Schweinskotelett. Klingt lecker.«

3. KAPITEL

Auf der Rückfahrt nach Hause tat Sage ihr Bestes, um den dumpfen Schmerz in ihrem Kreuz zu ignorieren. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein war eigentlich kein Problem. Aber dabei auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen zu stehen war eine echte Herausforderung. Vor zehn Jahren hätte sie nicht weiter darüber nachgedacht, doch inzwischen war sie Ende dreißig. Ein unglaublich deprimierender Gedanke, den sie nun entschlossen beiseiteschob.

Sie sah sich um, als sie vor einer Ampel stand und wartete. Dabei fiel ihr auf, dass im restlichen Land noch kühler März war, während in Los Angeles bereits sommerliche Temperaturen herrschten und die Sonne schien. Das hatte ihr gefehlt, wie sie sich selbst eingestehen musste. Paris war aufregend, doch im Winter konnte es trostlos sein. Und Italien war zwar wunderschön, aber eben nicht ihr Zuhause. Vor allem nicht, nachdem ihr Mann sie um die Scheidung gebeten hatte. Sie war zurück – in jeder Hinsicht eine Versagerin –, doch wenigstens war sie jetzt an einem Ort, wo der Himmel makellos blau war und eine gewisse Oberflächlichkeit erwartet wurde und nicht verpönt war.

Sie fuhr in das Stadtgebiet, in das sie und ihre Mutter vor vielen Jahren nach deren Scheidung gezogen waren. Die gutbürgerlichen Häuser waren zwar nicht weit von der Enklave namens Bel Air entfernt, doch was die Klasse und den Komfort betraf, lagen sie Lichtjahre auseinander. »Bel-Air-benachbart« hatten sie und ihre Freundinnen es im Spaß immer genannt.

Das Haus hatte Joanne als Abfindung nach der Scheidung erhalten. Wallace hatte ein Familienvermögen mit in die Ehe gebracht, auf das Joanne laut Ehevertrag keinerlei Anspruch gehabt hatte. Aber er war ein erfolgreicher Internist gewesen, und sein Gehalt sowie die Teilhabe an der Praxis flossen in die Scheidung mit ein. Joanne hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um nicht nur das Haus, sondern auch so viel Unterhalt von ihm zu bekommen, wie sie konnte. Schließlich war sie mit der Scheidung nicht einverstanden gewesen und hatte Wallace auch übel genommen, dass er weiter für Sage aufgekommen war, obwohl sie nicht seine Tochter war. Er hatte weiterhin das Schulgeld für die Privatschule gezahlt, die sie seit der Hochzeit von Joanne und ihm besucht hatte, und hatte auch Geld fürs College beiseitegelegt. Mit dem Geld hatte Sage in dem Sommer, als sie neunzehn geworden war, ihren Umzug nach Europa finanziert.

Sage bog auf die Zufahrt und hielt neben dem Lexus ihrer Mutter an. Sie mussten vielleicht kämpfen, um die Grundsteuer für ihr Haus zu bezahlen, doch sie fuhren schöne Autos. Typisch L. A., dachte sie, als sie ihre Handtasche und die High Heels zusammenklaubte, die sie ausgezogen hatte, sobald sie ins Auto gestiegen war. Geld zu haben war natürlich immer besser – aber selbst wenn man keins besaß, war es wichtig, zumindest so auszusehen, als hätte man welches. Hier zählten Äußerlichkeiten mehr als alles andere.

Sage stieg aus und schloss ihren Wagen ab, bevor sie zur Haustür ging. Einen Moment lang hielt sie inne, um sich das eingeschossige Haus im Ranchstil mit dem riesigen Panoramafenster und der schmalen Eingangsterrasse anzusehen. Ganz anders als Daisys Anwesen, dachte sie. Joannes gesamtes Haus würde mühelos in Daisys Küche und den Wohnbereich passen – wobei noch etwas Platz übrig wäre. In diesem Haus gab es drei Schlafzimmer und zwei Bäder. Der Garten hatte für die Gegend eine gute Größe. Es war ein normales, durchschnittliches Haus. Nichts, wofür man sich hätte schämen müssen. Und doch hatte sie sich geschämt. Nach der Scheidung hatte der Gedanke an einen Umzug sie erschreckt, und sie hatte nach der Schule nie Freunde mit nach Hause gebracht. Wie hätte sie auch? Ihre Freunde hatten schließlich Daisys Haus gesehen.

Komisch, wie die Zeit und eine gewisse Distanz alles verändern, dachte sie, als sie ins Haus ging. Heutzutage war sie dankbar dafür, eine Bleibe zu haben. Sicher, sie musste ihrer Mutter monatlich tausend Dollar bezahlen, um das Privileg ihres Zimmers genießen zu können, aber das war es wert. Zumindest für den Augenblick.

»Ich bin’s«, rief sie und schloss die Haustür hinter sich.

Das »gute« Wohnzimmer, in dem Gäste empfangen wurden und das nur selten genutzt wurde, führte in eine Küche von durchschnittlicher Größe, von der ein zweites Wohnzimmer nach rechts abging. Zwei Gästezimmer und ein Gäste-WC befanden sich auf der anderen Seite.

»Hier bin ich«, antwortete ihre Mutter.

Sage fand ihre Mutter im Wohnbereich. Sie las ein Magazin. Joanne blickte hoch und lächelte sie an.

»Wie war dein Tag?«

»Gut. Ich habe den Morgen über Inventur gemacht.«

Für die jährliche Inventur hatte sie heute um acht Uhr morgens anfangen müssen und bis um vier Uhr am Nachmittag gearbeitet. Natürlich hatte sie auf diese Weise in den ersten drei Stunden keine Provision verdienen können, was sie sehr geärgert hatte.

Sie wollte gerade in ihr Zimmer gehen, um sich umzuziehen, als ihr die rote Seidenbluse auffiel, die ihre Mutter trug.

»Interessantes Oberteil«, stellte Sage trocken fest. »Hast du dich in meinem Schrank bedient?«

»Ich wollte nur mal schauen. Die Bluse gefällt mir richtig gut. Ist das Seide?«

»Ja. Sie hat fast vierhundert Euro gekostet.«

»Mir gefällt die Qualität.« Ihre Mutter lächelte. »Ich weiß, dass es dir nichts ausmacht. Wir haben schließlich fast die gleiche Größe.«

Joanne war Ende fünfzig, sah allerdings zehn Jahre jünger aus. Sie arbeitete hart an sich, um ihre Figur zu erhalten, doch sie hatte zwei Kleidergrößen mehr als Sage. Daran ließ die Art, wie die Bluse an den Schultern und der Knopfleiste spannte, keinen Zweifel. Nicht, dass Sage das laut gesagt hätte. Stattdessen war sie einfach nur dankbar dafür, dass ihre Mutter sich nicht in ihre Hosen quetschen konnte. Und auch bei den meisten Kleidern hätte Joanne kein Glück. Ihre Schuhe waren ebenfalls vor ihrer Mutter sicher, denn Joannes Füße waren eineinhalb Nummern kleiner.

Ihre Handtaschen waren allerdings auch in Gefahr, aber Sage hatte nur ein paar mitgenommen. Joanne wusste jedoch nichts von den sechs Handtaschen, die Sage im Kofferraum ihres Wagens aufbewahrte. Oder von den zwanzig Taschen, die sie bei einer vertrauenswürdigen Freundin in Rom eingelagert hatte. Ihre Mutter wusste nur von der Prada-Tasche, die sie ständig benutzte.

In den kommenden Wochen würde Sage sich überlegen müssen, wie sie die Taschen aus Italien am besten nach L. A. schaffte, um einige der Stücke zu Geld zu machen. Doch zuerst musste sie einen sicheren Ort auftun, wo sie ihre Schätze lagern konnte. Unter keinen Umständen wollte sie sie im Haus verstecken – nicht, wenn ihre Mutter auch hier lebte.

»Wenn du sie behalten willst, zahle ich dir diesen Monat dreihundert Dollar weniger Miete«, sagte Sage.

»Das ist nicht fair. Ich könnte eine Aufmunterung gut gebrauchen.« Joanne seufzte. »Anderson und ich sind nicht mehr zusammen.«

Sage rieb sich das Kreuz. »Anderson ist der aktuelle Freund?«

Joanne schürzte die Lippen. »Nicht mehr. Er meinte, er sähe keinen Grund, die Beziehung mit mir zu vertiefen und den nächsten Schritt zu wagen. Er wäre zufrieden damit, wie es ist.«

»Also Sex und keine Hochzeit.«

»Männer sind solche Schweine.« Joanne warf das Magazin auf den Couchtisch. »Er ist fast siebzig. Offen gesagt wird er keine Bessere als mich finden, aber ich schätze, das muss er selbst herausfinden.«

Übersetzt bedeutete das: Joanne war mit Anderson zusammen gewesen, weil er reich und alt war. Eine wundervolle Kombination, wenn es nach ihrer Mutter ging, die fest davon überzeugt war, dass man vor allem wegen des Geldes heiraten sollte. Sie hatte zwar nie den großen Wurf gelandet, so wie sie es sich erträumt hatte, kam aber ganz gut zurecht.

Verschenke niemals dein Herz. Das war Joannes Motto. Sage hatte ebenfalls nach diesem Grundsatz gelebt. Nicht, dass es ihr viel gebracht hätte. Sie stand wieder ganz am Anfang, arbeitete als Verkäuferin und lebte bei ihrer Mutter. Es war so deprimierend, dass man davon glatt Falten bekommen konnte.

»Ich treffe mich heute Abend mit ein paar Freundinnen«, sagte Joanne und warf einen Blick auf die Uhr. »Wir trinken Cocktails und schauen mal, ob wir jemanden finden, der uns zum Essen einlädt.«

»Viel Glück dabei.«

Ihre Mutter lächelte. »Warte nicht auf mich.«

Sage nickte und ging in ihr Zimmer. Der Raum, der mit einem Bett, einer Kommode und einem Schreibtisch ziemlich vollgestellt war, war viel unordentlicher, als sie ihn am Morgen zurückgelassen hatte. Einige der Schubladen standen offen. Ebenso die Schranktüren. Kleider lagen auf dem Bett und dem Sessel verstreut. Ihre ordentlich aufgestellten Schuhe waren ganz hinten in den Einbauschrank geschoben worden.

Sage riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen. Ihre Mutter würde sich niemals ändern. Die Realität war manchmal ätzend – und ihre ganz besonders. In den vergangenen achtzehn Jahren hatte sie in Europa gelebt. Sie hatte keine Kredit- und auch keine Jobgeschichte in den USA, und das machte es fast unmöglich, ein Apartment zu ergattern. Eine kleine Eigentumswohnung zu kaufen stand nicht zur Debatte – so viel Geld besaß sie einfach nicht.

Ihr einziger Weg aus diesem Schlamassel bestand darin, ein Jahr lang zur Miete bei ihrer Mutter zu wohnen, ihren Job zu behalten und sich so eine gewisse Kreditwürdigkeit zu erarbeiten. Wegen einer Seidenbluse würde sie diesen Plan ganz sicher nicht über den Haufen werfen.

Sie zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an und räumte ihr Zimmer auf. Als sie damit fertig war, war ihre Mutter verschwunden. Sage ging in die Küche und füllte Eis und Wasser in ein Trinkglas. Das nahm sie mit nach draußen und setzte sich auf einen der bequemen Liegesessel in den Schatten. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, schloss sie die Augen und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass alles gut werden würde. Sie war keine fürchterliche Versagerin, die nichts vorzuweisen hatte als ein paar Handtaschen und zwei oder drei gescheiterte Ehen.

Sie hätte es beinahe geschafft, sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde, als ihr ein leise klapperndes Geräusch auffiel. Sie schlug die Augen auf. Das Haus auf der rechten Seite stand hinter einer hohen Mauer aus Betonschalsteinen. Aber das Haus zu ihrer Linken trennte nur ein niedriger Holzzaun von ihrem Grundstück. Sie konnte die Bäume und den Rasen sehen. Und auch die überdachte Terrasse, wo ein Mann an einem Klapptisch saß und am Computer arbeitete.

Sage verzog das Gesicht. Die Anwesenheit eines Nachbarn missfiel ihr. Warum musste er ausgerechnet draußen arbeiten, wenn sie sich nach etwas Ruhe und Ungestörtheit sehnte? Wenigstens hatte er sie nicht angesprochen.

Erneut schloss sie die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Sie kannte das Nachbarhaus. Ihr Freund Adam hatte dort gelebt, als sie beide noch zur Schule gegangen waren. Sie hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war.

Sie machte die Augen wieder auf und betrachtete ihren Nachbarn. Er war ungefähr in ihrem Alter und hatte blondes Haar wie Adam. Doch er konnte es nicht sein. Oder?

Der Mann hob den Blick und ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. Er lächelte.

»Hallo, Sage.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?« Vielleicht hatte ihre Mutter es ihm verraten. Wobei ihre Mutter eigentlich nicht der Typ Mensch war, der die Nähe zu seinen Nachbarn suchte.

»Ich kenne dich, seit wir dreizehn waren.« Er legte die Hand auf die Brust. »Du hast mich vergessen. Ich bin am Boden zerstört.«

Das kann er doch unmöglich sein, oder? »Adam? Bist du es?«

Er lächelte. »Bingo.«

Sie grinste. »Bingo? Hast du das tatsächlich gerade gesagt?«

»Das sage ich immer, wenn ich überrascht bin.«

»Du musst dir ein anderes Wort überlegen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass du es wirklich bist.« Verwirrt betrachtete sie seine breiten Schultern und seine scharf geschnittenen Gesichtszüge. »Du siehst irgendwie anders aus.«

»Und du bist noch genauso wie früher.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Wasser. »Schön wär’s. Also lebst du noch immer zu Hause?« Das war traurig. Hatte er sich nie nach einem eigenen Leben gesehnt?

Adam lächelte sie an. »Nein. Ich habe das Haus von meiner Mom gekauft, nachdem Dad gestorben war und sie nach Las Vegas gezogen ist. Von uns beiden bist du die Einzige, die noch zu Hause lebt.«

Sie hatte keine Ahnung, wie er die Worte gemeint hatte, aber sie trafen sie wie eine Ohrfeige. Sie schenkte ihm ein angespanntes Lächeln, nahm ihr Glas und erhob sich.

»Und da bist du nun, zurück in der Nachbarschaft«, sagte sie so lässig, wie sie konnte. »War echt toll, dich wiederzusehen, Adam.«

»Sage, warte«, sagte er und sprang auf. »Ich habe es nicht so gemeint. Bitte.«

Sie winkte ihm noch einmal zu, während sie zur Terrassentür ging und ins Haus trat.

Nachdem sie die Schiebetür hinter sich geschlossen hatte, rannte sie in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Sie war keine Versagerin – sie war keine Versagerin. Und es war ihr egal, was so ein gewöhnlicher und dummer Typ wie Adam von ihr hielt. Alle anderen Menschen waren ihr egal. Das war schon immer so gewesen. So war es sicherer. Und sicher zu sein war das Wichtigste.

Am Samstag hatten Ben und Krissa sich von ihrem Magen-Darm-Infekt erholt. Die beiden standen früh auf und begannen den Morgen mit einer lauten Interpretation von »Marco Polo im Pool«. Als Daisy sie wieder abgetrocknet, ihnen etwas zu essen gemacht hatte und mit den Hunden draußen gewesen war, war es an der Zeit, Ben zum Fußballtraining zu bringen. Jordan würde sie dort treffen und danach die Kinder mitnehmen, um mit ihnen den Tag zu verbringen.

Daisy tat ihr Bestes, um sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als wäre es ganz normal, dass die Kinder ihre Zeit zwischen ihren Eltern aufteilten. Doch im Grunde ihres Herzens war sie vollkommen durcheinander. Ihr Magen brannte, sie war unendlich müde, weil sie nicht mehr schlafen konnte, und von einer Sekunde auf die andere war sie sich nicht mehr sicher, ob sie alle um sich herum anschreien oder in Tränen ausbrechen sollte.

An den meisten Tagen machte ihr das Chaos in ihrem Leben nichts aus. Aber in letzter Zeit war es sehr belastend für sie – und zweifellos war es ein Grund dafür, dass Jason einfach abgehauen war. Sie wusste nicht, wie es mit ihrer Ehe weitergehen sollte. Schlimmer noch: Sie hatte überhaupt keine Ahnung, warum er gegangen war oder was passieren musste, damit er wieder zu ihnen zurückkehrte. Bis jetzt hatten sie nicht miteinander gesprochen. Ihr Kontakt beschränkte sich auf ein paar Kurznachrichten über das Handy. Auch das verunsicherte sie – jedoch nicht so sehr, dass sie dem ein Ende gesetzt hätte. Sie vermutete, dass ein Teil von ihr Angst davor hatte, was Jordan sagen würde, wenn sie tatsächlich einmal miteinander reden würden.

Wie feige ich doch bin, dachte sie, als sie nun durch den Flur zu den Kinderzimmern ging. Doch damit konnte sie leben, denn die Alternative wäre, genau zu wissen, was ihr Ehemann dachte – und sie fürchtete, dass es dann kein »Wir« mehr geben würde.

Was war nur geschehen? Was war aus dem »Wir« geworden? Früher einmal hatten sie einander so nahegestanden. Sie erinnerte sich noch sehr genau an die Zeit, als Ben fast fünf gewesen war und unbedingt Fußball hatte spielen wollen. Damals hatte sie Jordan gestanden, dass sie rein gar nichts über diesen Sport wusste.

Sofort war er mit ihr in den riesigen Garten hinter dem Haus gegangen und hatte ihr die Grundlagen des Spiels beigebracht. Sie hatten einige Wochen lang zusammen trainiert, bis sie gut genug gewesen war, um mit ihrem Fünfjährigen zu kicken. Jordan war so freundlich, liebevoll und fürsorglich gewesen. Wo war dieser Mensch nur hin?

»Bist du fertig?«, fragte sie, als sie Bens Zimmer betrat. Er hatte sich seine Fußballklamotten angezogen und hielt einen Rucksack in den Händen.

»Habe ich das Richtige eingepackt?«, fragte er und klang verunsichert. »Dad meinte, ich solle Kleidung für nach dem Fußballtraining mitbringen.«

Ihr Magen zog sich beinahe schmerzhaft zusammen. Es hatte schon begonnen – die Veränderung in ihrer täglichen Routine. Was kam als Nächstes?

Schnell schob sie die Sorgen beiseite und lächelte ihren Sohn an. »Ich bin mir sicher, dass du das Richtige mitgenommen hast. Aber ich sehe gern noch mal nach. Außerdem bist du ja nur … zwanzig Minuten von hier entfernt, oder? Falls du was vergessen haben solltest, kann ich es dir schnell vorbeibringen.«

Bei ihren Worten entspannte er sich sichtlich. »Du hast recht. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Dafür hast du ja mich.«

Sie warf einen Blick in den Rucksack. Er hatte Sportschuhe eingepackt, Socken, eine Jeans, Unterwäsche und ein sauberes T-Shirt.

»Perfekt«, sagte sie und wuschelte ihm durchs Haar. »Wir packen noch ein paar Flaschen Wasser ein, damit du nicht verdurstest. Und denk dran: Wenn dir schwindelig oder übel wird, sag dem Coach Bescheid. Ich erkläre ihm, dass du gerade eine Grippe überstanden hast und vielleicht noch nicht hundertprozentig auf dem Damm bist.«

»Ich falle schon nicht in Ohnmacht, Mom.« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er die Vorstellung interessant und Furcht einflößend zugleich fand.

»Das wäre gut.«

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter zu Krissa, die im Wohnzimmer wartete. Die beiden Hunde lagen ausgestreckt neben ihr, und sie versuchte gerade vorsichtig, Sheba einen großen Hut aufzusetzen. Lucky trug bereits einen schwarzen Bowler auf dem Kopf und sah sehr lustig aus. Als er Daisy bemerkte, warf er ihr einen ergebenen Blick zu – fast als wollte er sagen: »Kinder. Was soll man machen?«

Daisy lächelte ihre geduldigen Hunde an, bevor sie Krissa ansprach. »Wir wollen los.«

Krissa gab den Hunden einen liebevollen Kuss auf die Nasen, erhob sich und ging zu ihrem Bruder.

»Mommy, denkt Daddy daran, dass wir noch Mittag essen müssen?«, wollte Krissa wissen.

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