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Die Liebe gibt Pfötchen

Als Buch hier erhältlich:

In dem maritimen Lichterhaven hat Thorsten ein Zuhause gefunden. Gemeinsam mit seinem Halbbruder baut er in der Familienwerft hochwertige Holzboote - und erfüllt sich damit einen lang gehegten Traum. Alles, was ihm jetzt noch zu seinem Glück fehlt ist ein Date mit Martina. Doch seit ihrer ersten Begegnung weiß er: Er wird kämpfen müssen, wenn er diese umwerfende Frau für sich gewinnen will. Aber er scheint einen Verbündeten zu haben. Martinas vierbeiniger Begleiter, der ungarische Hirtenhund Capone, schafft es irgendwie immer wieder, dass die beiden sich wie zufällig treffen …


  • Erscheinungstag: 18.02.2020
  • Aus der Serie: Lichterhaven
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679343
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Basti, halt den Hund fest!« Verzweifelt hastete Martina hinter dem beigefarbenen Mudi her, der ihr frisch gewaschenes T-Shirt von der Wäscheleine geklaut hatte. »Capone, bleib stehen! Aus! Au, verdammt.« Sie war auf die Schienen der Spielzeugeisenbahn getreten und konnte sich gerade noch fangen, um nicht der Länge nach hinzufallen. Stöhnend hob sie ihren lädierten Fuß und rieb mit der Hand darüber.

»Man sagt nicht ›verdammt‹, Mama!«, rief Basti und flitzte ebenfalls hinter dem Hund her. Der Siebenjährige war flink, aber nicht flink genug. Capone sauste an ihm vorbei die Treppe ins Obergeschoss hinauf.

Yay, ist das heute wieder lustig bei uns. Ich wusste gleich, dass hier das beste Zuhause ist, das ich jemals haben kann. So spaßig, wenn meine Menschen mir nachlaufen. Fangen spielen könnte ich den ganzen Tag lang. Wau!

»Halt, Capone, warte. Das ist doch Mamas gutes Silber-T-Shirt!«, hörte Martina ihre neunjährige Tochter Annika von oben rufen. Etwas polterte. »Bleib stehen, bleib stehen!«

Nö, bestimmt nicht. Dann wäre das Spiel ja vorbei.

»Mist. Mama, Capone hat dein T-Shirt geklaut!«

»Weiß ich.« Vorsichtig trat Martina auf, stellte fest, dass sie zumindest einigermaßen laufen konnte, und hinkte zur Treppe. »Fang ihn ein. Das T-Shirt wollte ich heute anziehen.«

»Christina hat gesagt, wir sollen Capone nicht nachlaufen, wenn er was angestellt hat.« Annika erschien am oberen Treppenabsatz. »Weil er dann glaubt, wir wollten Fangen spielen.«

Tun wir das denn etwa nicht gerade? Hat doch so viel Spaß gemacht. Was ist denn jetzt? Macht niemand mehr mit? Capone schüttelte sein struppiges Fell und trat neben Annika. Da offenbar tatsächlich niemand mehr mitspielte, ließ er das T-Shirt einfach fallen. Schade. Ich hätte gerne noch weitergespielt.

Annika hob das Kleidungsstück rasch auf. »Äh, Mama, ich glaube, das ziehst du heute nicht mehr an. Das ist total angesabbert.«

»Na, toll.« Seufzend stieg Martina die Treppe hinauf und nahm ihrer Tochter das Shirt ab. »Das hätte so gut zu der schwarzen Hose gepasst.« Noch trug sie einen giftgrünen Schlafanzug mit kurzen Shorts, den ihre Kinder ihr zu Weihnachten geschenkt hatten. Ihr welliges, leuchtend rotes Haar fiel ihr in einem locker geflochtenen Zopf bis über die Schultern. Sie musste es noch waschen. Duschen. Frühstück für die Kinder machen. Die Unterlagen für das Meeting mit der Bank zusammenstellen. Die Notizen für die Stadtratssitzung am Abend ordnen.

Kaffee. Sie brauchte dringend Kaffee. Und etwas Neues zum Anziehen.

»Schatz, steckst du bitte schon mal Toast in den Toaster und deckst den Tisch?« Flüchtig strich sie ihrer Tochter über die Schulter.

»Ich will aber heute Schokopops zum Frühstück!«, kam es prompt von unten. Basti, ebenfalls noch im Schlafanzug, hüpfte vor der Treppe auf und ab. »Schokopops, Schokopops. Mit ganz viel Milch.«

Innerlich seufzend wandte Martina sich um. »Basti, es ist Montag. Schokopops gibt es nur am Wochenende, das weißt du doch.«

»Aber ich will …«

»Du kannst dir was von der Mandelcreme auf deinen Vollkorntoast schmieren, wenn du willst, und ein Glas Milch dazu trinken«, bot Martina rasch eine Alternative an, bevor ihr Sohn seinen Protest aussprechen konnte.

»Aber …«

»Und Erdbeeren sind auch noch welche da. Die magst du doch gerne, nicht wahr?«

Bastis Gesicht hellte sich auf. »Ich darf Erdbeeren zum Frühstück?«

»Na klar, warum denn nicht?«

»Erdbeeren will ich auch.« Annika stieg langsam die Treppe hinab und drehte sich auf halbem Weg noch einmal um. »Du beeilst dich besser, Mama. Wir müssen gleich schon los.«

»Du hast recht.« Sie hatte verschlafen. Das kam selten vor, aber sie war ja auch erst gegen halb zwei ins Bett gefallen, weil sie noch über der Kalkulation für die Erweiterung des Schwimmbads gebrütet hatte. Kein Wunder, dass sie den Wecker überhört hatte. »Ich bin gleich bei euch. Basti, komm mit nach oben. Du musst dich auch noch waschen und anziehen.«

Zu ihrer Erleichterung gehorchte ihr Sohn unverzüglich. »Zähneputzen aber noch nicht. Erst nach dem Frühstück. Oder Mama?«

»Ganz genau.« Zärtlich strich sie ihm über den roten Haarschopf. »Hast du deine Schultasche schon gepackt?«

»Na klar.« Der Junge nickte heftig. »Alles fertig.«

»Dann ab ins Bad!«

Sie wollte gerade die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnen, als sie von unten fröhliches Bellen und das Quietschen und Kichern ihrer Tochter hörte. Dann schepperte etwas. Abrupt hielt sie inne und lauschte. Das Kichern wurde lauter. »Alles okay bei euch, Annika?«

»Ja, Mama. Ich hab nur das Hundefutter ausgekippt. Räume ich wieder auf. Geh duschen.«

Duschen. Ja. Kurz schloss Martina die Augen. Und dann Kaffee. Viel, viel Kaffee.

2. Kapitel

Lächelnd blickte Thorsten vom Deich aus auf das in der Morgensonne glitzernde Watt hinaus. Eine leichte Brise umwehte ihn, gerade genug, um den salzigen Geruch der Nordsee herüberzutragen. In knapp zweieinhalb Stunden erst würde das Wasser den Niedrigstand erreichen, deshalb konnte er von seinem Aussichtspunkt aus das in der Ferne schillernde Wasser in den Prielen sehen.

Vor rund zwei Jahren war er nach Lichterhaven gezogen, um gemeinsam mit seinem älteren Halbbruder Lars das stillgelegte Werftgelände wiederzubeleben und Sportboote und Jachten zu bauen. Seitdem hatte Thorsten es sich zur Gewohnheit gemacht, morgens vor Arbeitsbeginn einen kurzen Moment hier auf dem Deich innezuhalten und eins mit der Welt zu werden.

Er war mehr als zufrieden mit sich, denn er hatte bereits seine morgendliche Joggingrunde hinter sich, ebenso wie ein wenig Krafttraining an der Hantelbank, die er in einer Ecke seines Wohnzimmers aufgestellt hatte. Bei allzu schlechtem Wetter ließ er die Joggingschuhe im Schrank und trainierte lieber auf dem Rudergerät, aber der heutige Morgen war der Inbegriff guten Wetters. Kleine Schäfchenwolken zogen am fernen Horizont vorbei, ansonsten war der Himmel postkartenkitschig blau, und die Sonne wärmte für einen Frühsommermorgen schon recht ordentlich. Noch hatten nirgendwo die Sommerferien begonnen, sodass Lichterhaven vorerst von den großen Touristenmassen verschont blieb. Mit einer erklecklichen Anzahl von Tagesausflüglern würden sie dennoch rechnen können – obwohl heute Montag war.

Für einen Moment schloss Thorsten die Augen und genoss die laue Brise, das Schreien der Möwen, die in halsbrecherischen Kapriolen übers Watt sausten und sich ihr Frühstück suchten, das Knattern der Wetterfahne, die ein Stück weiter rechts von ihm neben einem der Holzhäuschen stand, in denen in der Hauptsaison freiwillige Sanitäter und Rettungsschwimmer ihren Dienst taten. Auch ein Kiosk war in jedem der Häuschen untergebracht. Momentan waren sie alle noch fest verschlossen.

Als er die Augen wieder öffnete, musste er kurz blinzeln, weil die Sonne ihn blendete. Gleichzeitig hörte er von irgendwoher eine wütende weibliche Stimme etwas rufen, das er gegen den Wind nicht verstand. Doch jetzt erkannte er: Es lag keine Wut in der Stimme, sondern Verzweiflung!

Alarmiert blickte er sich um und hielt unwillkürlich die Luft an, als er unten auf dem Uferweg eine rothaarige Frau hinter einem struppigen beigefarbenen Hund herrennen sah. Der Hund schien sich losgerissen zu haben, denn seine Leine schleifte auf dem Boden hinter ihm her. Er bellte fröhlich, drehte sich immer wieder zu der Frau um, machte aber keine Anstalten, auf ihre Rufe zu hören.

Das Lächeln auf Thorstens Lippen vertiefte sich eine Spur. Heute war eindeutig sein Glückstag. Spontan ging er zur nächstgelegenen Deichtreppe und stieg sie eilig hinab, nahm den gepflasterten Weg zwischen den Liegewiesen und erreichte den Uferweg gerade rechtzeitig, als die rothaarige Frau vollkommen außer Atem stehen blieb und damit die Verfolgung aufgab.

»Guten Morgen, Martina.« Immer noch lächelnd trat er auf sie zu.

»Komm zurück, Capone! Hierher. Verdammt noch mal.« Erst jetzt schien sie Thorsten zu bemerken. Irritiert hob sie den Kopf. »Was? Oh, ja, guten Morgen.« Sie richtete ihren Blick wieder in die Ferne. »Capone! Hierher. Oh Mann, das darf doch nicht wahr sein. Heute ist nicht mein Tag.«

»Sagen Sie so was nicht. Es ist ein wunderschöner Tag.« Thorsten hätte ihr am liebsten die Hand auf den Arm gelegt, um sie zu beruhigen, doch ihr gehetzter und wenig freundlicher Blick verriet ihm, dass er besser Abstand hielt. »Ist Capone ausgebüxt? Ich dachte, Sie gehen jetzt mit ihm in Christinas Hundeschule.«

Die Irritation in Martinas Blick steigerte sich noch. »Woher wissen Sie das?«

Er lachte. »Wir sind in Lichterhaven. Hier weiß jeder alles von jedem. Oder doch zumindest fast. Das müssten Sie als Eingeborene doch besser wissen als ich. Abgesehen davon ist meine Schwägerin Christinas Schwester und über irgendwas muss ich ja mit ihr und meinem Bruder reden, wenn wir uns sehen.«

»Aber doch nicht ausgerechnet über mich und meine Misserfolge in der Hundeschule.« Seufzend ließ Martina sich auf das Ufermäuerchen sinken und zupfte an ihrem welligen Haar herum. »So ein Mist. Jetzt ist meine Frisur schon wieder zum Teufel.«

Thorsten musterte sie mit großem Wohlgefallen. Seit er sie vor über einem Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, hielt er sie für eine der schönsten Frauen, die ihm je begegnet waren. »Mit Ihrer Frisur ist alles in Ordnung, Martina. Ein bisschen zerzaust, sonst nichts.«

Verärgert funkelte sie ihn an. »Das beweist wieder einmal, dass Männer von so etwas überhaupt keine Ahnung haben. Ich werde eine halbe Ewigkeit brauchen, bis ich das ›Bisschen zerzaust‹, wie Sie es nennen, wieder in etwas Salonfähiges verwandelt habe.«

»Sie übertreiben.« In seinen Augen war sie perfekt, aber das verschwieg er tunlichst.

»Kein bisschen.« Ihr Blick wanderte an ihm vorbei. »Capone! Komm her. Ich habe weder Zeit noch Lust, noch länger hinter dir herzurennen.«

Langsam drehte Thorsten sich um und sah etwa fünf Schritte hinter sich den Mudi, der Martina und ihn neugierig und abwartend musterte und dabei leicht hechelte, was verdächtig an ein freches Grinsen erinnerte. »Hallo Capone.« Thorsten gab seiner Stimme bewusst einen sehr ruhigen, gleichmütigen Klang. »Lernen wir uns also endlich auch mal kennen. Ärgerst du dein Frauchen?«

Hallo, hallo. Capone kam zwei Schritte näher und hob schnüffelnd die Nase. Wer bist du denn? Du siehst nett aus. Aber eigentlich finde ich fast alle Menschen nett. Dich aber besonders. Du strahlst so was Ruhiges aus. Das mag ich. Obwohl ich eigentlich weiter Fangen spielen wollte. Aber anscheinend kann Frauchen nicht mehr. Sie sieht ein bisschen erschöpft aus. Und wütend. Dabei wollte ich doch nur spielen. Ärgern wollte ich sie ganz bestimmt nicht. Ich hab sie doch lieb, weil ich bei ihr und Basti und Annika ein neues Zuhause gefunden habe. Das ist viel schöner als das Tierheim.

»Stehen Sie mal langsam auf und gehen um mich herum.« Thorsten ging in die Hocke und streckte vorsichtig die Hand aus, damit Capone daran schnüffeln konnte. »Dann können Sie die Leine nehmen. Machen Sie aber keine hektischen Bewegungen.«

»Ich mache nie hektische Bewegungen.« Vorsichtig erhob Martina sich. »Na gut, vielleicht manchmal schon. Aber nur, weil ich gleich einen wichtigen Termin bei der Bank habe und schon viel zu spät dran bin. Und ausgerechnet jetzt ist Capone mir auch noch weggelaufen, weil ich mit dem Fuß umgeknickt bin und mir die Leine aus der Hand gerutscht ist.«

»Sie haben sich den Fuß verletzt?« Besorgt hob Thorsten den Kopf. »Haben Sie Schmerzen?«

»Nicht mehr als heute früh, als ich mit demselben Fuß auf Bastis Spielzeugeisenbahnschienen getreten bin.« Martina winkte ab. »Halb so wild.«

Inzwischen war Capone noch näher gekommen und schnupperte neugierig an Thorstens Hand.

Hm, du riechst auch sehr nett. Also mag ich dich jetzt ganz offiziell. Ich finde es großartig, wenn die Menschen meine Freunde sind. Wuff.

»Du bist ja ein ganz Hübscher, was? Bisschen struppig, aber das gehört wohl so.« Thorsten lächelte Martina zu. »Vielleicht sollten Sie mit dem Fuß sicherheitshalber zum Arzt gehen, wenn Sie sich heute schon zum zweiten Mal wehgetan haben.«

»Was an Ich bin viel zu spät dran haben Sie nicht verstanden?« Genervt verdrehte Martina die Augen. »Für einen Arztbesuch habe ich keine Zeit. Und so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Immerhin bin ich einen halben Kilometer hinter Capone hergerannt.«

»Höchstens dreihundert Meter, wenn Sie vorn an der Hauptstraße über den Deich gekommen sind.«

Martina machte einen Schritt neben ihn und schnappte sich die Leine. »Wie Sie meinen. Mir hat es als Frühsport jedenfalls gereicht.«

»Frühsport und Stress vertragen sich so früh am Morgen nicht.« Thorsten streichelte Capone sachte über Kopf und Hals und erhob sich dann wieder. »Gern geschehen.«

»Was?« Irritiert runzelte Martina die Stirn. Dann räusperte sie sich. »Ach so, ja, danke, dass Sie Capone angelockt haben.«

»Haben Sie schon mal versucht, einfach in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, wenn er ausbüxt? Lars hat das anfangs immer mit Jolie gemacht – und es hat gewirkt.«

Hey, ich büxe nicht aus. Ich spiele nur. Weglaufen würde ich nie, nie tun. Dazu bin ich viel zu glücklich in meinem neuen Zuhause und mit meinen neuen Menschen!

Martina fasste sich, nun sichtlich entnervt, an die Stirn. »Warum wissen eigentlich immer alle alles besser, wenn es um meinen Hund geht? Ich habe keine Zeit …«

»Vielleicht sollten Sie sich die Zeit einfach mal nehmen, Martina.« Thorsten bemühte sich, ihren giftigen Ton nicht persönlich zu nehmen, weil er ihr ansah, dass sie wirklich gestresst war. »So ein Hund braucht nun mal viel Zeit und Zuwendung.«

»Weiß ich.« Nun verschloss sich ihre Miene und sie zog den Kopf leicht zwischen die Schultern. »Heute ist nur einfach nicht mein Tag.«

Mitleid regte sich in ihm, obwohl er annahm, dass sie selbiges gar nicht gut vertrug. »Vielleicht ändert sich das ja noch. Der Tag ist jung.«

»Und ich bin wie bereits erwähnt in Eile.« Entschlossen fasste Martina die Leine kürzer. »Ich muss los.«

»Okay.« Er trat bewusst einen halben Schritt zurück. »Wann ist Ihr Termin bei der Bank?«

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »In einer halben Stunde.«

»Und danach?«

Sie hob leicht die Brauen. »Was danach?«

»Was machen Sie danach?«

»Ich habe im Schwimmbad einiges zu tun und muss mich mit den Leuten von der Heizungsfirma besprechen. Eine der Umwälzpumpen scheint bald ihren Geist aufzugeben.«

»Wann machen Sie Mittagspause?«

Sie erstarrte leicht. »Gar nicht.«

Thorsten sah ihr an, dass sie es ernst meinte. Auch wenn er sich auf dünnes Eis begab und sein Bruder ihn schon einmal gewarnt hatte, fasste er spontan einen Entschluss. »Um halb eins. Ich hole Sie am Schwimmbad ab.«

»Was?« Entgeistert riss sie die Augen auf, doch er machte rasch kehrt und lief in großen Schritten den Weg zurück zur Treppe, die den Deich hinaufführte. Als er sie zur Hälfte erklommen hatte, drehte er sich kurz um und stellte fest, dass sie noch immer am selben Fleck stand und ihm hinterhersah. Also hob er kurz zum Abschied die Hand und wandte sich entschlossen ab.

Das war besser gelaufen, als er gedacht hatte. Martina hatte ihn schon des Öfteren abblitzen lassen. Das war allerdings schon eine ganze Weile her, und seitdem hatte er sich der Forderung seines Bruders gebeugt, die junge Witwe in Ruhe zu lassen. Aber was konnte es schon schaden, sie ein wenig aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken? Immerhin sah sie einfach umwerfend aus mit ihrer kurvigen Figur, dem herzförmigen Gesicht mit den strahlend blauen Augen und dem herrlichen feuerroten Haar. Und nett war sie auch, wenn sie nicht gerade unter Stress stand und damit beschäftigt war, ihn in seine Schranken zu weisen. Was konnte also schlimmstenfalls passieren?

Mit diesen Gedanken machte er sich endlich auf den Weg zurück zur Werft, um sich dort an seinen Arbeitsplatz hinter dem Schreibtisch zu begeben und die Materialbestellungen für das Motorboot durchzugehen, das Lars ab kommendem Monat für einen reichen Geschäftsmann aus Hamburg bauen sollte.

3. Kapitel

Zum gefühlt tausendsten Mal schielte Martina auf die Funkuhr an der Wand neben der Bürotür. Der Sekundenzeiger drehte sich lautlos und gleichmäßig im Kreis. Es war Viertel nach zwölf, und in ihrer Magengrube schien ein kleines Vögelchen aufgeregt umherzuflattern. Sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel kein plausibler Grund ein, die Verabredung mit Thorsten Brunner abzusagen. Eigentlich war es ja auch gar keine Verabredung. Sie hatte nicht zugestimmt. Nur einfach den Moment verpasst, ihm einen Korb zu geben – weil er einfach weggegangen war.

Er spielte ganz eindeutig unfair, und darauf würde sie sich nicht einlassen. Dafür hatte sie weder Zeit noch Energie. Außerdem war sie verheiratet.

War verheiratet gewesen. Früher einmal.

Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zurück zu jenem Märztag vor sechs Jahren, als die Polizei bei ihr geklingelt hatte, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann Axel einen tödlichen Autounfall gehabt hatte. Es war selbst verschuldet gewesen. Er war zu schnell gefahren, wie immer, und hatte die Kurve an der Autobahnausfahrt nicht gekriegt. Durch den Schwung hatte er sich mit dem Wagen mehrfach überschlagen. Noch heute wallte manchmal Zorn in ihr auf, wenn sie daran dachte, wie unvorsichtig er gewesen war. Er hatte sie einfach im Stich gelassen. Und wofür? Um ein paar Minuten eher am Ziel zu sein?

Stets war er auf der Überholspur gefahren, nicht nur im wörtlichen Sinne. Schon in der Schule hatte er sich in alles reingehängt, sich mehr als andere angestrengt. Seit sie ein Paar gewesen waren, war er es gewesen, der den Ton und die Richtung vorgegeben hatte. Sie hatten sich verliebt, als sie in der elften Klasse gewesen war und er bereits im dritten Jahr seiner Banklehre, die er nach dem Abitur begonnen hatte.

Niemand hatte zunächst geglaubt, dass ihre Beziehung lange halten würde. Fünf Jahre waren in diesem jungen Alter einfach zu viel Unterschied. Zumindest hatten ihre Schwiegereltern das so gesehen. Doch Martina, die ein wenig schüchtern gewesen war, hatte sich bei dem selbstbewussten, zielstrebigen und geradlinigen Axel wohl und geborgen gefühlt. Und er hatte ihre Nachgiebigkeit und ihr Organisationstalent zu schätzen gewusst – und auch die Tatsache, dass sie ausgleichend auf seine temperamentvolle Art gewirkt hatte. Schon früh hatten sie Pläne für die Zukunft geschmiedet. Dabei war es für sie beide vollkommen klar gewesen, welche Rolle sie beide jeweils einnehmen würden.

Axel hatte etwas Eigenes auf die Beine stellen wollen. Er konnte auf ein nicht geringes Erbe seitens seines Großvaters zurückgreifen und wollte damit einen eigenen Betrieb aufbauen. Etwas Besonderes. Ein Schwimmbad. Oder vielmehr ein Meerwasserwellenbad, wie er es in anderen, größeren Touristenorten gesehen hatte.

Martina war bei ihrer Hochzeit dreiundzwanzig gewesen und vierundzwanzig, als Axel den Kaufvertrag für das Grundstück vor dem Deich unterschrieben hatte. Im selben Jahr war Annika zur Welt gekommen und hatte das Familienglück komplett gemacht. Hatte sie zumindest gedacht. Doch von Familienidylle war kaum etwas zu merken gewesen, weil Axel all seine Zeit und Energie in die Planung des Schwimmbades gesteckt hatte. Martina hatte ihm den Rücken freigehalten. So war es schließlich abgemacht gewesen, und sie hätte es auch niemals infrage gestellt. Sie war glücklich gewesen. Zufrieden. Eine junge Mutter und Ehefrau eines aufstrebenden Unternehmers. Mehr hatte sie gar nicht sein wollen.

Zwei Jahre später waren sie zwar hoch verschuldet gewesen, doch der Schwimmbadbau war so gut wie abgeschlossen und schließlich Basti zur Welt gekommen. Endlich hatten sie ein paar wenige Wochen für sich gehabt, Zeit zum Aufatmen, um eine Familie zu sein. Wenigstens über die Weihnachtszeit. Im Januar des darauffolgenden Jahres gingen dann die Vorbereitungen für die große Neueröffnung los. Wieder hatte Martina sich alle Mühe gegeben, Axel zu unterstützen, war trotz Übermüdung, weil Basti stets die Nacht zum Tag gemacht hatte, von Pontius zu Pilatus gefahren, hatte organisiert und nebenher auch noch selbst die Internetseite für das Wellenbad erstellt und Flyer und Plakate konzipiert.

Es war eine anstrengende, aber auch aufregende Zeit gewesen. Eine Zeit voller Erwartungen und Hoffnung. Das Schwimmbad musste einfach ein Erfolg werden. Alle Welt schien nur auf den Tag der Eröffnung am fünfzehnten Juni zu warten. Gespannt und voller Vorfreude.

Doch dann kam jener Tag im März, der alles verändert hatte. Manchmal fragte Martina sich, wie sie diese schreckliche Zeit überhaupt überstanden hatte. Es war ihr nicht möglich gewesen, die Eröffnungsfeier zu verschieben. Alles war fest geplant gewesen. Die drei Monate von der Beerdigung bis zu jenem lange vorbereiteten Tag waren in ihrer Erinnerung ein einziger nebliger Albtraum.

Selbstverständlich hatten ihre Eltern ihr beigestanden, ebenso wie ihre Schwiegereltern. Ohne sie wäre sie vermutlich gänzlich verzweifelt. Doch sie hatten unter dem Verlust genauso gelitten und waren ebenfalls wie betäubt gewesen, sodass vieles am Ende doch auf Martinas Schultern gelastet hatte. Die zweijährige Annika, Basti, der noch so winzig gewesen war, ein Schwimmbadbetrieb, von dem sie so gut wie gar nichts verstanden hatte. Nach dem Abitur hatte sie zwar angefangen, Betriebswirtschaft zu studieren, das Studium aber nie abgeschlossen. Schnell hatte sie festgestellt, dass ihr andere Themen, wie zum Beispiel Tourismus, mehr lagen. Nach ihrer Hochzeit hatte sie den Studiengang wechseln wollen, doch dann war sie schwanger geworden und hatte ihre Zukunftspläne auf Eis gelegt.

Mit Axels Lebensversicherung hatte sie sich über Wasser halten können, aber viel Geld war in die Abtragung der Schulden geflossen, und sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, wie man einen Betrieb leitete und was es hieß, ganz allein für so vieles verantwortlich zu sein.

Axel hatte die Erfüllung seines Traumes nicht mehr erlebt, doch über die Jahre war das Schwimmbad nun auch zu Martinas Traum, zu ihrem Leben geworden. Sie konnte sich inzwischen nicht mehr vorstellen, den Betrieb wieder herzugeben. Zu viel Schweiß und Herzblut steckten darin – von Axel natürlich, aber jetzt auch von ihr selbst.

Als Martina nach nicht ganz zwei Jahren endlich angefangen hatte, die roten Zahlen in ihren Büchern durch schwarze zu ersetzen, und der Erfolg ihr Mut machte, hatte sie begonnen, sich für den Lichterhavener Tourismus einzusetzen, mit dem Touristikverband und dem Gewerbeverein Projekte anzustoßen und Kooperationen zu schließen. Seit vergangenem Sommer war sie Mitglied des Stadtrates und engagierte sich noch mehr für die Zukunft ihrer Heimatstadt.

Sie hatte ihr Leben im Griff, nun schon seit gut sechs Jahren. Etwas anderes wollte sie nicht. Schon gar nicht einen Mann, der sie von ihren Zielen ablenkte. Auch wenn Thorsten zugegebenermaßen gut aussah. Sie konnte und wollte nichts riskieren. Der Schmerz und die Trauer in ihrem Herzen waren abgeklungen, zu einer dumpfen, unangenehmen Erinnerung verblasst. Sie hatte Axel geliebt. Sehr. Auch wenn sie vielleicht aus heutiger Perspektive einiges anders gemacht hätte. Ihr Leben damals war für sie richtig gewesen und wäre es bestimmt auch heute noch, wenn er noch leben würde. Doch alles war anders gekommen, und das, was sie jetzt hatte, war gerade so viel, wie sie stemmen konnte – und wollte.

Unwillkürlich griff sie nach dem goldenen Ring, den sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ihr Ehering, den sie etwa ein Jahr nach Axels Tod vom Finger genommen hatte. Sein eigener war mit ihm zu Grabe getragen worden. So hatten sie es einmal, ganz früh in ihrer Ehe, eher spaßeshalber verabredet. Wenn einer von ihnen stürbe – und sie hatten gedacht, dass sie dann mindestens achtzig Jahre alt wären –, würde der Ehering mit begraben und der überlebende Partner würde den eigenen Ring nach der Trauerzeit ablegen, aber weiterhin bei sich tragen. Sie erinnerte sich noch, dass sie scherzhaft hinzugefügt hatte, dass Axel ruhig nach ihrem Tod wieder heiraten dürfe und dann den Ring in den Safe legen solle, um seine neue Frau nicht damit zu belästigen. Doch das hatte für ihn außer Frage gestanden, denn für ihn war sie, so hatte er gesagt, die einzige perfekte Frau und nach ihrem potenziellen Tod würde er nie eine andere ansehen.

Trotzdem – oder gerade deswegen – war ihr Ehering so etwas wie ein Anker, eine Motivation. Sie hatte alle Schwierigkeiten nach Axels Tod überwunden. Der Ring erinnerte sie daran, dass sie alles schaffen konnte, wenn sie wollte – oder musste. Und das war momentan wieder einmal mehr denn je vonnöten.

»Sie sehen aus, als würden Sie jetzt wirklich eine Pause brauchen.«

Beim Klang von Thorstens Stimme hob Martina ruckartig den Kopf und den Blick von ihrem Computerbildschirm, den sie seit mehr als zehn Minuten angestarrt hatte, ohne auch nur ein Detail darauf zu erkennen. Ihr Herz machte einen unangemessenen Satz – vor Schreck natürlich –, als sie ihn im Türrahmen stehen sah. Automatisch suchte sie Zuflucht in Verärgerung. »Du meine Güte, haben Sie mich erschreckt.« Sie richtete sich ein wenig auf, straffte ihre Schultern. »Was tun Sie denn hier?«

»Ich hole Sie ab, wie ausgemacht.« Er lächelte sie friedfertig an, wodurch sich neben seinem linken Mundwinkel ein winziges Grübchen bildete. Es war anbetungswürdig!

Nein. Rigoros schob sie jegliche aufwallende Anziehung beiseite. »Wir hatten nichts ausgemacht.«

»Doch, hatten wir.«

»Ich habe Ihrem Vorschlag nicht zugestimmt.«

»Ihn aber auch nicht abgelehnt.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Kommen Sie, ein bisschen frische Luft und gutes Essen werden Ihnen guttun. Sie sind ganz blass. Schlafen Sie nicht genug?«

»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, Herr Brunner.«

Er trat dicht an den Schreibtisch heran. »Wir waren schon einmal bei unseren Vornamen angelangt, Martina. Machen Sie das bitte nicht rückgängig, nur weil ich Sie ein bisschen überrumpelt habe.«

»Ein bisschen ist gut.« Am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt, aber das kam ihr dann doch zu kindisch vor.

»Ihr Magen knurrt.« Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. »Leugnen Sie es nicht. Ich habe gute Ohren.«

»Ich werde Sie nicht los, bevor Sie Ihren Willen bekommen haben, oder?«

Seine Miene wurde bei ihrem defensiven Ton ernst. »Sie können mich jederzeit vor die Tür setzen, wenn ich Ihnen zu aufdringlich bin. Damit kann ich leben, Martina, denn ich bin schon ein großer Junge.« In seinen Augen funkelte der Schalk. »Natürlich würde ich vermuten, dass Sie einfach Schiss haben.«

»Schiss?« Empört runzelte sie die Stirn. »Wovor? Doch nicht vor Ihnen!«

»Vielleicht nicht vor mir, aber davor, dass Ihnen meine Gesellschaft nicht so unangenehm sein könnte, wie Sie gerade hoffen.«

»Das ist vollkommener Quatsch und noch dazu paradox.«

»Finde ich nicht.« Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. »Lassen Sie es auf einen Versuch ankommen. Ich beiße auch nicht.« Er hüstelte. »Zumindest nicht beim ersten Date.«

Das Vögelchen in ihrer Magengrube flatterte wieder. »Das ist kein Date. Nur eine Mittagspause.«

»Besser als nichts.«

Seufzend erhob sie sich. Sie hatte sich selbst ein Bein gestellt. Aber Hunger verspürte sie tatsächlich. »Ich nehme an, Sie haben etwas geplant?«

»Nur einen Tisch im Möwennest reserviert. Draußen an der Straße. Das Wetter ist zu schön, um drinnen zu sitzen.«

»Im Möwennest kann man keine Tische reservieren.« Sie griff nach ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne hing.

»Kann man sehr wohl, wenn man die richtigen Argumente vorbringt.« Galant bot er ihr seinen Arm an, doch sie ignorierte ihn und ging entschlossen an Thorsten vorbei durch die Tür.

»Sie haben Sonja bestochen.«

Er lachte. »Nein, Kai. Er war gerade zufällig dort, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen und hat versprochen, dass er sich höchstpersönlich um unser Essen kümmern wird.«

»Angeber.« Sie konnte sich ein Lächeln nun doch nicht mehr verkneifen. »Ich liebe Kais Matjessalat.«

»Wer nicht?« Thorsten folgte ihr die Treppe hinab zum Hinterausgang des Schwimmbadgebäudes. »Dazu knusprige Bratkartoffeln und ein schöner gemischter Rohkostsalat. Sie werden sehen, das weckt Ihre Lebensgeister im Nullkommanichts wieder auf.«

»Mit meinen Lebensgeistern ist alles in Ordnung.«

Als sie auf der Straße standen, musterte Thorsten sie eingehend von der Seite. »Ich glaube, da haben Sie unrecht. So wie ich es sehe, sind Ihre Lebensgeister noch blasser als Sie selbst. Vermutlich, weil Sie sie seit Ewigkeiten im Keller einsperren.«

»Ich tue was?« Mehr verblüfft als verärgert hob Martina den Kopf.

»Sie vergraben sich in Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement für die Stadt. Nicht, dass ich das nicht zu schätzen wüsste. Es ist bewundernswert, was Sie alles schaffen, vor allem mit zwei kleinen Kindern.«

Sie verzog leicht die Lippen. »Ich höre, dass gleich ein Aber folgt.«

»Und das gefällt Ihnen nicht.« Er lachte leise. Ein warmer Ton. Viel zu angenehm.

»Ich wüsste einfach nicht, was Sie meine Lebensart angeht«, schoss sie deshalb umso heftiger zurück.

Langsam gingen sie nebeneinanderher in Richtung Hafen und Lichterhavener Hauptstraße.

Thorsten warf ihr erneut einen Seitenblick zu. »Sie haben die Verteidigung Ihrer Festungsmauern gut im Griff. Lassen Sie auch irgendwann mal locker?«

»Nein. Wozu auch?«

Er legte den Kopf etwas schräg. »Ist das eine Fangfrage?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein.«

»Okay, dann probieren Sie es aus, und ich zeige Ihnen, wozu es gut sein könnte.«

Das Vögelchen in ihrem Bauch war ein mieser kleiner Verräter. Sein beständiges Flattern ließ sie unvorsichtig werden. »Wie oft muss ich Sie abblitzen lassen, bevor Sie kapieren, dass ich kein Interesse an Ihnen habe, Thorsten?«

»Sie gehen mit mir essen, also nehme ich an, dass zumindest ein Fünkchen Interesse Ihrerseits besteht, mich näher kennenzulernen.«

Sie verdrehte die Augen. »Sie haben mich praktisch genötigt, mitzugehen.«

Er stieß sie ganz leicht mit dem Ellenbogen an. »Sie sind viel zu selbstbewusst, um sich von mir zu irgendetwas nötigen zu lassen, was Sie nicht wollen.«

Selbstbewusst? So kam sie sich im Augenblick ganz und gar nicht vor. Aber sie konnte es vortäuschen – zumindest solange sie nicht in seine herausfordernd funkelnden Augen blickte.

»Weshalb gehen Sie mit mir essen, wenn nicht aus Interesse?«

»Public Relations.« Sie richtete ihren Blick vorsichtshalber geradeaus.

»Was?«

Sie schluckte an ihrem erneuten Lächeln. »Sie haben mich in den Stadtrat gewählt. Zumindest haben Sie gesagt, ich hätte Ihre Stimme.«

»Hatten Sie und haben Sie.« Neugierig musterte er sie. »Also ist dieses Mittagessen für Sie so eine Art Wählerstimmenfang?«

»Wählerstimmenpflege. Die nächste Wahl findet erst in vier Jahren statt.«

»Na, das ist doch immerhin etwas. Denn wenn Sie wollen, dass ich Sie weiterhin unterstütze und Ihnen meine Stimme gebe, müssen Sie mich verdammt gut kennenlernen. Wie sonst wollen Sie wissen, wie Sie mich zukünftig am besten im Stadtrat vertreten?«

Ein unfreiwilliges Lachen stieg in ihr auf. »Sie drehen sich alles immer so hin, wie es Ihnen am besten in den Kram passt, oder?«

»Wenn es sich einrichten lässt. Aber Sie müssen doch zugeben, dass ich nicht ganz unrecht habe.« Er grinste breit. »Und Sie haben damit angefangen. Mit den Public Relations, meine ich. Bedenken Sie, wenn Sie eine gute Beziehung zu mir aufbauen, kann ich eine Menge anderer Menschen positiv in Ihrem Sinne beeinflussen. Meinen Bruder.«

»Er würde mich auch ohne Ihre Hilfe wählen.«

»Seine Frau und deren gesamte Familie.«

»Dito. Ich bin schon mein Leben lang mit ihnen befreundet.«

»Unsere Angestellten und Kunden«, zählte er unermüdlich weiter auf. »Die Handwerker, die manchmal bei uns aushelfen. Die Leute vom Gewerbeverein. Alle Restaurant- und Imbissbudenbesitzer, bei denen wir tagtäglich Essen ordern.«

»Schon gut, schon gut!« Lachend winkte sie ab. »Ich hab’s verstanden. Sie geben so leicht nicht auf.«

»Warum sollte ich auch, wenn sich das Ziel, das ich vor Augen habe, so dermaßen lohnt.«

Ihr Herzschlag holperte. »Es mag Ihr Ziel sein, aber nicht meines.«

»Nur weil Sie noch nicht an der richtigen Weggabelung angekommen sind, die Sie auf meinen Pfad führt.« Inzwischen hatten sie das Café und Bistro Möwennest erreicht, und auf einem der kleinen Tische vor dem Eingang stand tatsächlich ein Reserviert-Schildchen mit dem Namen Brunner. Zuvorkommend zog Thorsten einen der beiden Stühle für Martina hervor. »Bitte sehr, schöne Frau. Nehmen Sie Platz.«

Zögernd setzte sie sich. »Haben Sie etwa auch schon für mich bestellt?«

»Würde mir niemals in den Sinn kommen.« Er zwinkerte ihr zu, als er sich ihr gegenübersetzte. Der Tisch war so klein, dass ihre Knie leicht gegeneinanderstießen, was ein leichtes Kribbeln in Martina auslöste. »Sie sind keine Frau, die sich bevormunden lässt.«

»Gut, dass Sie das einsehen.« Martina griff nach der Speisekarte, die auf dem Tisch bereitlag, obwohl sie längst wusste, was sie essen wollte. Kais Matjessalat mit Bratkartoffeln war zu verführerisch, auch wenn er Gift für ihre Figur sein würde. Beiläufig blätterte sie die Seiten um und musste seltsamerweise daran denken, dass Axel sehr oft einfach für sie mitbestellt hatte, wenn sie ausgegangen waren. Weil er sie so genau gekannt und genau gewusst hatte, was ihr schmeckte.

»Hallo Thorsten, da bist du ja wieder.« Sonja, die abwechselnd an der Theke bediente und kellnerte, war neben dem Tisch erschienen und lächelte ihnen zu. »Und wie ich sehe, hast du es geschafft, deine Eroberung mitzubringen. Guten Tag, Martina. Lange nicht gesehen.«

»Hallo.« Martina stellte instinktiv die Stacheln auf, obwohl sie Sonja mochte. »Ich bin nicht seine Eroberung. Wir essen nur zu Mittag.«

»Public Relations«, ergänzte er grinsend.

»Hä?« Sonja schüttelte verwirrt den Kopf. »Na, was soll’s! Nennt es, wie ihr wollt. Kann ich euch schon etwas bringen?«

Martina schob Thorsten die Karte zu. »Eine Cola light und den Matjessalat mit allem Drum und Dran.«

»Für mich auch, und bitte ein alkoholfreies Bier dazu.« Thorsten hatte die Karte unbesehen beiseitegeschoben und hob die Brauen, nachdem Sonja wieder verschwunden war. »Cola light?«

Martina zuckte mit den Achseln. »Irgendwie muss ich mir vorgaukeln, dass ich wenigstens ansatzweise auf meine Kalorienbilanz achte.«

»Kalorienwas?«

»Bilanz. Bratkartoffeln sind Gift für meine Figur.«

Verblüfft starrte er sie an. »Ihre Figur ist perfekt.«

Fieses Vögelchen! »Annehmbar. Solange ich regelmäßig Sport treibe und vernünftig esse.«

»Tun Sie doch.«

»Matjessalat und Bratkartoffeln sind nicht vernünftig.«

»Aber lecker.«

Sie seufzte. »Das ist das Problem. Zu viel davon und ich kann mich von der Kleidergröße vierzig verabschieden. Was glauben Sie, wie hart ich nach den Geburten kämpfen musste, um wieder zurückzuschrumpfen?

Thorsten runzelte die Stirn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick verriet neben Verwunderung auch leichten Ärger. »Kann es sein, dass Sie einen ziemlich falschen Eindruck von sich selbst haben? Seien Sie mutig. Bestellen Sie eine richtige Cola. Das Leben ist zu kurz für Lightprodukte. Zumindest, wenn sie wie in Ihrem Fall alles andere als angebracht sind.«

»Sie würden anders reden, wenn ich vor Ihren Augen wie ein Hefekuchen aufgehen würde.«

»Was Sie nicht tun werden, nur weil Sie mal etwas essen, das Ihnen schmeckt.«

»Ich neige nun mal zu Übergewicht. Aber das geht Sie überhaupt nichts an.«

Er sah sie sehr eingehend an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube eher, Sie neigen dazu, sich selbst fertigzumachen. Was war denn die größte Kleidergröße, die Sie jemals getragen haben?«

Wärme stieg in ihre Wangen und kurz erwog sie, ihm einfach nicht zu antworten. Aber andererseits war das vielleicht ein Weg, ihn endlich zu desillusionieren. »Vierundvierzig, jeweils nach Annikas und Bastis Geburt. Ich habe in beiden Fällen über ein Jahr gebraucht, um wieder knapp in eine Vierzig zu passen. Und beim zweiten Mal noch länger, um aus dem Knapp ein Bequem zu machen.« Das hatte allerdings damit zu tun gehabt, dass sie mit dem Stress nach Axels Tod nicht gut zurechtgekommen war und zum Trost viel zu viel Schokolade in sich hineingestopft hatte.

»Und Sie halten sich allen Ernstes für fett?«

»Wie bitte?« Entgeistert riss sie die Augen auf.

Er lachte trocken. »Zumindest für zu dick. Was der größte Humbug ist, den ich je gehört habe. Schauen Sie doch mal in den Spiegel.«

»Tue ich. Jeden Tag.« Sie zog die Schultern hoch.

Erneut schüttelte er den Kopf. »Dann sehen Sie nicht, was ich sehe. Eine wunderhübsche Frau mit einer Wahnsinnsfigur. Von den grandiosen roten Haaren ganz zu schweigen.«

Am liebsten hätte sie das Flattervögelchen erschlagen, doch da das nicht ging, flüchtete sie sich in Sarkasmus. »Nun sagen Sie bloß noch, ich bin der Traum Ihrer schlaflosen Nächte.« Er sah sie nur schweigend an, und sie erschrak. »Machen Sie sich nicht lächerlich.«

»Mache ich nicht, keine Sorge.« Er lächelte leicht. »Und falls doch, ist es allein mein Problem. Wo haben Sie eigentlich Capone gelassen?«

Sie entspannte sich wieder ein wenig. »Bei meinen Eltern. Wenn ich im Schwimmbad bin, kümmern sie sich meistens um ihn – und auch oft um Annika und Basti. Sie wechseln sich mit meinen Schwiegereltern ab.«

»Das ist gut. Schön, dass Sie eine Familie haben, die Sie unterstützt.« Anerkennend nickte er. »Und wie war der Termin bei der Bank?«

»Nervig.« Erleichtert folgte sie ihm auf sicheres Gesprächsterrain. »Ich brauche eine solide Finanzierung für meine Erweiterungspläne. Aber die kriege ich wohl nicht.«

»Warum nicht?« Überrascht hob er den Kopf. »Der Schwimmbadbetrieb scheint doch gut zu laufen. Oder schreiben Sie rote Zahlen?«

»Nein, glücklicherweise nicht.« Sie seufzte unterdrückt. »Was ein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie es vielen öffentlichen Schwimmbädern geht. Aber solange ich keine Zusage für das betreffende Grundstück habe, hänge ich in der Luft. Woandershin kann ich ja nicht expandieren.«

Thorsten kräuselte die Lippen. »Das Grundstück gleich neben dem Schwimmbad?«

»Ja.« Sie zuckte mit den Achseln. »Es gehört Ihrem Vater.«

»Ich dachte, Lars hätte ihn überredet, es Ihnen zu verkaufen.«

»Das dachte ich auch, aber jetzt fängt Verhoigen, Verzeihung, Ihr Vater, wieder damit an, dass er eigene Pläne hat. Er zögert die Unterschrift immer wieder hinaus und hat neulich sogar ein Team von Architekten losgeschickt, um das Grundstück zu besichtigen. Er …« Sie schloss kurz die Augen. »Er will das Schwimmbad haben.«

»Ihr Schwimmbad?« Thorsten hielt inne, weil Sonja ihnen in diesem Moment ihre Getränke brachte. Erst als sie wieder gegangen war, fuhr er fort: »Er will es kaufen?«

»Sogar zu einem lächerlich hohen Preis.«

»Was will mein Vater mit Ihrem Schwimmbad?« Verständnislos runzelte er die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Doch, tut es. Carl Verhoigen will alles, was in Lichterhaven Geld bringt, an sich reißen. Das war schon immer so.« Sie hielt kurz inne. »Er wollte damals schon bei Axel mit einsteigen, als er das Schwimmbad geplant hat. Mit einundfünfzig Prozent wohlgemerkt.«

Thorsten maß sie mit einem eindringlichen Blick. »Axel war Ihr verstobener Mann?«

Sie griff unwillkürlich nach dem Ring an der Kette und nickte vage.

»Aber er wollte nicht mit meinem Vater zusammenarbeiten.«

»Nein, Axel wollte es allein schaffen. Hat er ja auch. Oder hätte er, wenn nicht …« Sie schluckte.

»Und jetzt versucht mein Vater es bei Ihnen.« An Thorstens Miene war abzulesen, dass ihm dieser Gedanke missfiel. »Wenn es Ihnen hilft, werde ich mal mit ihm reden.«

»Sie?« Ebenso verblüfft wie verärgert schüttelte sie den Kopf. Da Sonja nun das Essen brachte, entstand erneut eine kurze Pause. »Haben Sie vielleicht einen besseren Draht zu Ihrem Vater als Lars?«

Thorsten griff ruhig nach seiner Gabel, kaum dass Sonja wieder verschwunden war. »Ich habe gar keinen Draht zu ihm.«

»Gar keinen …?« Nun überwog die Verblüffung.

»Wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«

Martina, die ebenfalls nach ihrem Besteck gegriffen hatte, ließ es auf den Tisch zurückfallen. »Sie haben, seit Sie in Lichterhaven wohnen, noch nicht mit ihm geredet?«

»Ich sah keine Veranlassung dazu, und er offensichtlich ebenso wenig.«

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Nicht einmal auf Lars’ Hochzeit?«

»Mein Vater ist nicht lange dort gewesen. Seine derzeitige Frau ist aber recht angenehm.«

»Und dann glauben Sie, dass Sie Ihren Vater überreden können, mir das Grundstück zu verkaufen und mich mit seinen Übernahmeangeboten in Ruhe zu lassen?«

»Das kann ich wohl kaum glauben, aber einen Versuch ist es allemal wert.«

»Nein danke.« Entschlossen griff sie erneut nach dem Besteck. »Ich komme schon zurecht.«

»Meinen Bruder haben Sie letztes Jahr um Hilfe gebeten.« Interessiert musterte er sie. »Warum jetzt nicht mich? Immerhin bin ich der gelernte Banker in der Familie. Und ich hege, im Gegensatz zu meinem Bruder, keinen Groll gegen unseren Vater.«

»Wirklich nicht?«

Thorsten hob die Schultern und griff nach seinem Bierglas. »Weshalb sollte ich ihm grollen? Abgesehen davon, dass er meine Mutter nicht gerade wie ein Gentleman behandelt hat. Aber sie war es, die mir von klein auf eingetrichtert hat, dass das ihre Sache ist und nicht mein Problem. Er hat ihr damals eine Menge Geld gegeben, das sie in meine Ausbildung gesteckt hat. Ich bilde mir sogar ein, dass es diese Ausbildung und mein Werdegang gewesen sind, die meinen Weg schließlich den von Lars haben kreuzen lassen.« Lächelnd trank er einen Schluck. »Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Ich bin endlich an dem Ort angekommen, den ich mein Zuhause nennen kann.« Er hielt kurz inne. »Mag sein, dass um meiner Mutter willen noch eine gewisse Wut auf ihn in mir schlummert, aber andererseits muss ich dagegenhalten, dass meine Kindheit wohl deutlich besser war als die meines Bruders, weil ich sie ohne Carl Verhoigen verbringen durfte. Lars hatte es nicht leicht und musste sich jeden Tag mit unserem Vater arrangieren – bis er es nicht mehr ausgehalten hat und weggegangen ist. Ich bin dieser seelischen Tortur entgangen.«

»So habe ich das noch nie betrachtet.« Nachdenklich begann sie zu essen – und befand sich augenblicklich im siebten Himmel. »Dieser Matjessalat ist Weltklasse! Ich schwöre, Kai mixt da irgendwas hinein, das süchtig macht.«

Thorsten aß ebenfalls einen Happen und grinste dann. »Liebe.«

»Wie bitte?« Ihr wurde unnatürlich warm.

»Er mixt eine ordentliche Portion Liebe mit hinein. Deshalb können wir davon nicht genug bekommen.«

Erleichtert und irritiert zugleich atmete sie auf. »Ja, vielleicht haben Sie recht.«

»Erzählen Sie mal, was genau Sie überhaupt vorhaben. Hinsichtlich der Schwimmbaderweiterung meine ich.« Auffordernd nickte er ihr zu und für den Rest des Essens beschrieb sie ihm genau, was sie für die Zukunft ihres Betriebes geplant hatte.

4. Kapitel

»Wieder nur die Spitzen schneiden?« Prüfend griff Henrike Liebherr in Martinas üppige Wellen und wuschelte sie einmal durch. »Ich könnte sie ein klein wenig stufen, dann hätten sie mehr Fasson. Was meinst du? Von der Grundlänge würde ich nur höchstens zwei oder drei Zentimeter wegnehmen.«

Martina lehnte sich in dem drehbaren Friseurstuhl zurück und betrachtete sich selbst im Spiegel. »Ja, warum nicht! Mach das mal.«

»Waaaas?« Ungläubig starrte Henrike sie im Spiegel an und fasste sich an ihre eigenen, derzeit blauschwarz marmorierten Haare, die zu einem Pagenkopf geschnitten waren. Ihre Frisuren wechselten mindestens einmal pro Monat, oder zumindest kam es Martina so vor. Henrike war seit vielen Jahren ihre Lieblingsfriseurin und ihr Salon, der am oberen Ende der Lichterhavener Hauptstraße lag, stets gut besucht. Für heute hatte Martina hier einen Termin gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester ausgemacht, doch Hannah war noch nicht da. Vermutlich war sie wieder einmal von einem Kunden aufgehalten worden.

Martina zuckte nur mit den Schultern. »Mach mal, was du gesagt hat. Das mit dem Stufen und so.«

»Ist das dein Ernst?« Immer noch machte Henrike große Augen.

»Was ist dein Ernst?« Gerade kam Hannah hereingehastet und warf sich ächzend in den Stuhl neben Martina. »Entschuldige, aber Frau Maibrecht war wieder mal total anstrengend und hatte Änderungswünsche in letzter Sekunde. Diese Goldhochzeitsfeier ihrer Eltern wird mega. Ihre Worte, nicht meine. Ich bin nur megaerschöpft.« Lachend richtete sie sich wieder auf und zupfte an ihrem schon etwas verwachsenen Pixie-Haarschnitt herum, dessen Rot mit dem von Martinas Haaren um die Wette leuchtete. »Wo ist Aisha? Sie muss meine Haare in Ordnung bringen, sonst kriege ich hier und jetzt sofort eine Krise!«

»Bin doch schon da.« Die schlanke schwarzhaarige Friseurin trat aus dem Hinterzimmer, in der Hand noch ein letztes Stückchen eines belegten Brotes, das sie sich rasch zwischen die Lippen schob. »Geh doch schon mal zu den Waschbecken, Hannah, dann legen wir gleich los.«

»Okay, aber zuerst will ich wissen, warum Henrike meine Schwester wie ein Mondkalb anstarrt.« Spielerisch stieß Hannah Henrike an. »Was ist los? Hat sie dich hypnotisiert?«

»Wohl eher paralysiert.« Henrike schüttelte sich leicht, ohne ihren Blick von Martina abzuwenden. »Noch mal zum Mitschreiben: Ist das dein Ernst?«

Martina seufzte. »Nun mach doch nicht so ein Drama daraus!«

»Okay, jetzt will ich es wirklich wissen.« Hannah beugte sich so weit zu Martina herüber, dass ihre Nase beinahe gegen deren Wange stieß. »Was ist dein Ernst, und warum fällt deine Friseurin deshalb fast in Ohnmacht?«

»Sie will, dass ich ihr die Haare schneide.« In Henrikes Augen glitzerte es seltsam.

»Die Spitzen, wie immer, deswegen sind wir hier«, folgerte Hannah und runzelte ratlos die Stirn. »Na und?«

»Nein.« Henrike wuschelte erneut durch Martinas Haare, diesmal regelrecht liebevoll. »Richtig schneiden! Mit Stufen und Fasson und allem.«

»Guter Gott!« Nun riss auch Hannah die Augen weit auf und starrte Martina ungläubig an. Dann sprang sie unvermittelt auf und hüpfte jauchzend herum. »Wow, wow, wow! Meine Schwester lässt sich die Haare schneiden! Ich werd nicht mehr.« Schon saß sie wieder auf dem Stuhl und beugte sich erneut zu Martina herüber. »Das hat einen Grund. Sag schon!«

»Hört auf damit.« Martina wand sich. Sie hätte damit rechnen müssen, dass Henrike ausflippte. Und natürlich sprang ihre Schwester ebenfalls darauf an. Dabei war doch überhaupt nichts Unnormales dabei, wenn man sich die Haare ein wenig zurechtschnippeln ließ. »Ich dachte bloß, es wäre mal eine nette Abwechslung.«

»Ich predige dir schon seit Jahren, dass du deine Haare ein bisschen aufhübschen sollst!« Verärgert und überglücklich zugleich gestikulierte Henrike hinter ihr und rupfte an den roten Strähnen herum, als gälte es, sie mit bloßen Fingern in Form zu ziehen. »Aber du wolltest ja nie. ›Spitzen schneiden reicht‹«, äffte sie Martinas Worte überspitzt nach. »Dabei kann man aus deinen Haaren sooo viel mehr machen! Und das sage ich nicht nur, weil ein neuer Haarschnitt teurer ist als das Einkürzen der Haarspitzen. Du, nein, deine Haare, haben einfach mehr verdient. Und jetzt ist es endlich so weit!« Sie vollendete ihren Satz mit einem seligen Seufzen.

»Ich bin baff.« Auch Aisha grinste breit. »Dass ich diesen Tag noch erleben darf.«

»Nun lasst es endlich gut sein!« Allmählich wurde es Martina zu bunt. »Wenn ihr so weitermacht, überlege ich es mir wieder anders.«

»Nein, bitte nicht!« In gespieltem Entsetzen ließ Henrike die Haare los und umarmte Martina stattdessen sanft von hinten. »Ich bin ja schon still. Die Kundin ist Königin.«

»Danke.« Martina atmete auf.

»Aber du musst uns trotzdem sagen, was der Anlass ist«, forderte Hannah energisch.

»Es gibt keinen.« Martina winkte betont gleichmütig ab.

»Na, na, wenn das nicht mal geflunkert ist«, kam es in diesem Moment von der anderen Seite des Salons, wo Francesca Hayderoglu, die Ehefrau des früheren Besitzers des internationalen Imbisses Alibaba und zugleich Aishas Mutter, unter einer Infrarothaube saß. Inzwischen hatte zwar ihr Sohn Mustafa das Geschäft übernommen, doch Akbay stand immer noch täglich mit in der Küche, ebenso wie Francesca, die mit ihrem italienischen Temperament nicht selten Leben in die Bude brachte, wie sie es selbst bezeichnete. Außerdem hatte sie viele der italienischen Rezepte beigesteuert, die die Speisekarte des Alibaba so bunt machten. Wenn sie nicht dort aushalf, beschäftigte sie sich mit dem Stadtklatsch – und sie liebte es, gute Ratschläge zu geben und sich als Kupplerin zu betätigen. Sie schien das gesamte Gespräch belauscht zu haben und lächelte nun breit. »Wenn ihr mich fragt, hat dieser plötzliche Sinneswandel eine Menge mit Martinas neuem Freund zu tun.«

Im Salon wurde es totenstill.

Martina fluchte innerlich. »Ich habe keinen Freund.«

»Na, na, das sah aber vorgestern ganz anders aus.« Francesca lachte ihr fröhliches, wissendes, ansteckendes Lachen. »Ich bin zwar recht schnell am Möwennest vorbeigelaufen, weil ich es eilig hatte, aber trotzdem war ich – wie sagt ihr das heutzutage? – ganz von den Socken, als ich dich mit dem Verhoigen-Jungen gesehen habe. Oder Brunner heißt er ja. Thorsten. Ein wirklich netter junger Mann. Kauft regelmäßig Akbays Pizza. Das nächste Mal kommt ihr hoffentlich zum Essen zu uns.«

»Es gibt kein nächstes Mal. Es war nur ein Mittagessen. Nichts weiter.« Martina hörte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang.

»Du hattest ein Date mit Thorsten? Zum Mittagessen?« Vollkommen entgeistert starrte Hannah sie an. »Und du sagst mir kein Wort davon? Seit wann geht das mit euch denn schon?«

»Seit gar nicht.« Zwischen Ärger und Resignation schwankend, schlug Martina die Hände vors Gesicht. »Da läuft überhaupt nichts zwischen uns. Er hat mich mehr oder weniger gezwungen, mit ihm zu Mittag zu essen …«

»Gezwungen?« Francesca schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das sieht ihm so gar nicht ähnlich. Ich werde mich doch nicht in ihm getäuscht haben? Andererseits … du hast nicht ausgesehen, als wärst du gegen deinen Willen dort gewesen. Ihr habt gelacht. Das habe ich gesehen und gehört. Und außerdem hat mir Sonja gestern beim Bäcker bestätigt, dass ihr eine nette Zeit zusammen hattet.«

Wieder seufzte Martina. Man musste höllisch aufpassen, was man in Francescas Gegenwart sagte, denn sie hatte ihre ganz eigenen Vorstellungen von Sitte und Moral. »Natürlich hat er mich nicht mit vorgehaltener Pistole gezwungen. Es war nur einfach … Er hat mich überrumpelt, und da ich sowieso Hunger hatte, bin ich eben mitgegangen.«

»Überrumpelt, soso.« Hannah grinste.

»Hinterher wart ihr außerdem noch bei Eisträume und habt jeder eine große Eiswaffel gegessen.« Aisha grinste triumphierend, als alle Blicke sich auf sie richteten. »Hab ich gestern Abend von Gabriella gehört. Wir sind im selben Pilateskurs. Und sie muss es ja wissen, schließlich hat sie das Eis selbst an euch beide verkauft.«

»Dafür gebührt ihm das Bundesverdienstkreuz.« Hannah machte große Augen. »Nein wirklich, guck nicht so böse, Martina. Bisher ist es noch keinem Mann gelungen, dich auch nur zu einem Spaziergang zu bewegen. Und Thorsten ergattert gleich ein ganzes Mittagessen plus Eis zum Nachtisch. Hat er dich eingeladen?«

»Ja, aber ich habe abgelehnt.«

»Sehr gut.« Francesca lächelte wieder. »Eine Frau muss für sich selbst einstehen. Zumindest ganz zu Anfang einer Beziehung. Man darf den Männern nicht gleich alles in den Schoß werfen.«

»Es gibt keine Beziehung …«, wandte Martina erneut ein, doch niemand hörte darauf.

Henrike beugte sich vertraulich über ihre Schulter. »Er sieht unglaublich gut aus, genau wie Lars. Aber der ist ja längst vergeben. War er schon immer. Wusste er bloß selbst nicht.«

»Genau«, pflichtete Francesca ihr sogleich bei. »Das mit Lars Verhoigen und Luisa Messner war und ist eine epische Liebesgeschichte. Ich wusste immer, dass die beiden mal zueinanderfinden würden. Es hat zwar länger gedauert, als die Polizei erlaubt, aber sieh sie dir jetzt an! Und die Hochzeit war so unglaublich schön! Hach, ich wünsche den beiden alles Glück der Welt. Und jede Menge Babys. Na ja, zwei oder drei mindestens.«

»Francesca!« Kichernd schlug Hannah die Hand vor den Mund. »Die beiden sind gerade mal aus den Flitterwochen zurück. Sie müssen doch nicht gleich mit dem Kindermachen anfangen. Wo Luisas Tierarztpraxis gerade so gut anläuft.«

»Ja, ja, stimmt schon.« Francesca nickte gnädig. »Luisa ist ja auch noch jung, und Männer können eh bis ins hohe Alter …« Nun kicherte auch sie. »Ach was, Lars ist ja bloß zehn Jahre älter. Die beiden haben noch eine Menge Zeit, eine Familie zu gründen. Erst mal ist ja wohl auch Christina dran, sie ist schließlich die ältere Schwester. Sie wird doch nach ihrem Bruder Alex sicher auch bald Nachwuchs bekommen. Das werden ganz bestimmt zauberhaft süße Kinder. Und allesamt Künstler, ganz wie Ben.«

»Das kann man doch überhaupt nicht wissen«, widersprach Aisha ihrer Mutter. »Solche Begabungen überspringen auch oft eine Generation.«

»Ach, selbst wenn. Trotzdem werden die Kinderchen zuckersüß aussehen!«

Dem widersprach keine der Frauen. Martina überlegte indes fieberhaft, wie sie aus dem verfänglichen Thema wieder herauskommen sollte. Doch sie hatte kein Glück. Hannah klebte wie eine Klette an ihrer Seite.

»Nun sag schon, Schwesterherz! Wie war das Date?«

»Es war kein Date!«

»Dann eben Mittagessen? Was gab es denn zu essen?«

»Kais Matjessalat mit allem.« Das war zumindest eine unverfängliche Information. Hatte sie gedacht.

»Du hast Matjessalat gegessen?« Hannah grinste breit. »Mit Bratkartoffeln?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Und er?«

»Das Gleiche.«

»Und hinterher auch noch Eis. Also hattet ihr Spaß.«

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