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Die verstummte Frau

Als Buch hier erhältlich:

Der neue Fall für Will Trent und Sara Linton!

Atlanta, Georgia: Eine junge Frau wird brutal attackiert und sterbend zurückgelassen. Alle Spuren verlaufen im Sande, bis Will Trent den Fall übernimmt. Die Ermittlungen führen ihn ins Staatsgefängnis. Ein Insasse behauptet, wichtige Informationen geben zu können. Der Angriff gleicht genau der Tat, für die er vor acht Jahren verurteilt worden ist. Bis heute beteuert er seine Unschuld.
Will muss den ersten Fall lösen, um die ganze Wahrheit zu erfahren. Doch fast ein Jahrzehnt ist vergangen – Erinnerungen sind verblasst, Zeugen unauffindbar, Beweise verschwunden. Nur eine Person kann Will dabei helfen, den erbarmungslosen Killer zur Strecke zu bringen: seine Partnerin Sara. Aber sobald Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen, steht für Will alles, was er liebt, auf dem Spiel …

»Jeder neue Thriller von Karin Slaughter ist ein Anlass zum Feiern!«Kathy Reichs

»Slaughter weiß, wie sie auch Neueinsteiger mit ihrer Mischung aus knallharter Gewalt und Gefühlsverwirrungen bannen kann. Zudem blitzt immer wieder ihr unschlagbar trockener Humor auf, mit dem sie die expliziten Horrorszenarien der gekonnt hochdrehenden Thriller entschärft: ein albernes Codewort etwa, eine romantische Überraschung in einer Big-Mac-Schachtel oder die wirklich abgebrühteste Bestattung aller Zeiten.«kulturnews

»Spannend!«Mein TV & Ich, 08.07.2021


  • Erscheinungstag: 28.07.2020
  • Aus der Serie: Georgia Serie
  • Bandnummer: 8
  • Seitenanzahl: 672
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675338

Leseprobe

Für Wednesday

Speak to me.

Let me have a look inside these eyes while I’m learning. Please don’t hide them just because of tears.

Let me send you off to sleep with a »There, there, now stop your turning and tossing.«

Let me know where the hurt is and how to heal.

Spare me? Don’t spare me anything troubling.

Trouble me, disturb me with all your cares and your worries.

Speak to me and let our words build a shelter from the storm.

Trouble Me

von Natalie Merchant and Dennis Drew,

10,000 Maniacs

Dieser Roman ist ein fiktionales Werk. Ich habe mir einige Freiheiten hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs genommen.

PROLOG

Beckey Caterino spähte in die hintersten Ecken des Wohnheimkühlschranks und suchte wütend nach ihren hingekritzelten Initialen auf den Etiketten der Lebensmittel – Frischkäse, Fertigsnacks, Pizza-Bagels, vegane Hotdogs, Karottensticks.

KP – Kayleigh Pierce. DL – Deneshia Lachland. VS – Vanessa Sutter.

»Diese Miststücke!« Beckey knallte die Kühlschranktür so heftig zu, dass die Bierflaschen darin klirrten. Sie trat gegen den nächstbesten Gegenstand, der zufällig der Abfalleimer war.

Leere Joghurtbecher ergossen sich über den Boden. Zerknüllte Tüten von fettfreiem Popcorn. Ausgespülte Cola-light-Flaschen. Alles mit zwei Buchstaben in schwarzem Textmarker versehen.

BC.

Beckey starrte auf die Verpackungen der Lebensmittel, die sie von ihrem knappen Geld gekauft hatte und die diese Arschlöcher von Mitbewohnerinnen vertilgt hatten, während sie die ganze Nacht in der Bibliothek mit einer Seminararbeit beschäftigt gewesen war, die fünfzig Prozent zu ihrer Note in Organischer Chemie beitrug.

Ihr Blick ging zur Uhr.

4 Uhr 58.

»Ihr verdammten Dreckstücke!«, schrie sie zur Zimmerdecke hoch. Sie machte sämtliche Lichter an. Ihre nackten Füße sengten eine Spur in den Teppichboden im Flur. Sie war am Verhungern. Sie war erschöpft. Sie konnte kaum mehr aufrecht stehen. Ihr einziger Antrieb auf dem Weg von der Bibliothek zum Wohnheim war die Aussicht auf etwas zu essen gewesen.

»Steh auf, du miese Diebin!« Sie schlug so heftig mit der Faust an Kayleighs Tür, dass sie aufsprang.

Marihuanarauch waberte unter der Decke. Kayleigh blinzelte unter den Laken hervor. Der Typ neben ihr wälzte sich herum.

Es war Markus Powell, Vanessas Freund.

»Scheiße.« Kayleigh sprang aus dem Bett, nackt bis auf eine Socke am linken Fuß.

Beckey schlug auf dem Weg zu ihrem eigenen Zimmer mit den Fäusten an die Wände. Ihr Zimmer war das kleinste, und sie hatte es freiwillig genommen, weil sie ein Fußabstreifer war und nicht wusste, wie sie sich gegen drei Mädchen behaupten sollte, die zwar genauso alt waren wie sie, aber mit einem doppelt so dicken Bankkonto versehen.

»Du darfst es Nessa nicht sagen!« Kayleigh rauschte hinter ihr ins Zimmer, immer noch nackt. »Es war nichts. Wir waren betrunken und …«

Wir waren betrunken und …

Jede gottverdammte Geschichte dieser blöden Miststücke fing mit denselben vier Worten an. Als Vanessa dabei erwischt wurde, wie sie Deneshias Freund einen geblasen hatte. Als Kayleighs Bruder versehentlich in den Schrank gepinkelt hatte. Als Deneshia sich Beckeys Unterwäsche geborgt hatte. Sie waren immer betrunken oder bekifft oder vögelten herum oder betrogen einander, denn das war nicht das College hier, es war Big Brother, wo niemand hinausgewählt werden konnte und alle den Tripper hatten.

»Komm schon, Beck.« Kayleigh rieb sich die nackten Arme. »Sie wollte sowieso mit ihm Schluss machen.«

Beckey konnte entweder losschreien und nie mehr aufhören – oder so schnell wie möglich von hier verschwinden.

»Beck …«

»Ich gehe laufen.« Sie riss eine Schublade auf und suchte nach ihren Socken, aber natürlich passten keine zwei zusammen. Ihr liebster Sport-BH lag zerknüllt unter dem Bett. Sie fischte ihre schmutzige Laufhose aus dem Wäschekorb und entschied sich für zwei nicht zusammengehörende Socken, von denen einer ein Loch in der Ferse hatte, aber eine Blase war harmlos gegen die Vorstellung, hierzubleiben und alles kurz und klein zu schlagen, was nach einem lebenden Organismus aussah.

»Beckey, hör auf, dich wie ein Arschloch zu benehmen. Du verletzt meine Gefühle.«

Beckey hängte sich die Kopfhörer um den Hals. Sie war fast schockiert, als sie ihren iPod Shuffle genau dort fand, wo er sein sollte. Kayleigh war die Märtyrerin des Wohnheims, die alle ihre Verbrechen nur zum Wohl der Allgemeinheit beging. Sie hatte nur mit Markus geschlafen, weil Vanessa ihm das Herz gebrochen hatte. Von Deneshia hatte sie bei der Prüfung nur deshalb abgeschrieben, weil ihre Mutter am Boden zerstört wäre, wenn sie in noch einem Fach scheiterte. Und Beckeys Käsemakkaroni hatte sie aufgegessen, weil ihr Vater sich Sorgen machte, dass sie zu dünn war.

»Beck.« Kayleigh versuchte es mit Ablenkung. »Warum redest du nicht mit mir? Worum geht es in Wirklichkeit?«

Beckey griff nach ihrer Haarklammer und erkannte im selben Moment, dass sie nicht auf dem Nachttisch lag wie sonst immer.

Alle Luft wich aus ihren Lungen.

Kayleighs Hände flogen in einer Unschuldsgeste nach oben. »Ich habe sie ehrlich nicht genommen.«

Beckey war kurzfristig wie hypnotisiert von Kayleighs Brüsten mit den perfekt gerundeten Warzenhöfen, die wie ein zweites Augenpaar zu ihr hinaufstarrten.

»Okay«, sagte Kayleigh, »ich habe dein Zeug aus dem Kühlschrank aufgegessen, aber ich würde niemals deine Haarklammer anrühren. Das weißt du.«

In Beckeys Brust tat sich ein schwarzes Loch auf. Die Haarklammer war aus billigem Plastik, eines von den Dingern, die man im Drogeriemarkt kaufte, aber sie bedeutete ihr mehr als alles in der Welt, weil sie das Letzte war, was ihre Mutter ihr gegeben hatte, bevor sie in ihren Wagen stieg, um zur Arbeit zu fahren, und von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde, der auf der Interstate als Geisterfahrer unterwegs war.

»Hey, Blair und Dorota, tuschelt mal leiser.« Vanessas Zimmertür stand offen. Ihre Augen waren zwei Schlitze in dem vom Schlaf verquollenen Gesicht. Sie ignorierte Kayleighs Blöße und wandte sich direkt an Beckey. »Kleines, du kannst nicht um diese Zeit joggen gehen, wenn die Vergewaltiger unterwegs sind.«

Beckey begann zu laufen. An den beiden Miststücken vorbei. Den Flur entlang. Zurück in die Küche. Durch den Wohnraum. Aus der Tür. Noch ein Flur. Drei Treppenabsätze. Der Hauptaufenthaltsraum. Die gläserne Eingangstür, für die man eine Schlüsselkarte brauchte, aber scheiß drauf, denn sie musste unbedingt weg von diesen Ungeheuern. Weg von ihrer beiläufigen Bösartigkeit. Von ihren scharfen Zungen, ihren spitzen Brüsten und ihren schneidenden Blicken.

Tau benetzte ihre Beine, als sie über den grasbewachsenen Campushof rannte. Beckey lief um eine Betonschranke herum und gelangte auf die Hauptstraße. Die Luft war noch kühl. Die Straßenlampen verloschen eine nach der anderen im Dämmerlicht. Schatten schmiegten sich um die Bäume. In der Ferne hörte sie jemanden husten. Ein Schauder lief ihr plötzlich über den Rücken.

Wenn die Vergewaltiger unterwegs sind.

Als würde es die drei kümmern, ob Beckey vergewaltigt wurde. Als würde es sie interessieren, dass sie kaum Geld für Essen hatte, dass sie härter arbeiten musste als sie, fleißiger studieren, sich mehr anstrengen, schneller laufen und sich am Ende doch immer, immer zwei Schritte hinter der Stelle wiederfand, wo alle anderen starten durften. Egal, wie sehr sie sich auch antrieb.

Blair und Dorota. Das beliebte Mädchen und das kriecherische, fette Dienstmädchen aus Gossip Girl. Nicht schwer zu erraten, wer hier welche Rolle spielte.

Beckey setzte ihre Kopfhörer auf. Sie klickte an ihrem iPod auf Play, und Flo Rida ertönte.

Can you blow my whistle baby, whistle baby …

Ihre Füße stampften im Rhythmus des Songs auf den Boden. Sie lief durch das Eingangstor, das den Campus von der trostlosen kleinen Einkaufsstraße im Ortszentrum trennte. Es gab keine Bars oder Studentenkneipen, weil sich die Universität in einem »trockenen« County befand. Es war wie in Mayberry, aber irgendwie weißer und langweiliger. Der Baumarkt. Die Kinderklinik. Die Polizeistation. Der Kleiderladen.

Der alte Typ, dem der Diner gehörte, spritzte den Gehsteig mit einem Schlauch ab, als die Sonne gerade über den Horizont stieg. Das Licht tauchte die Umgebung in einen unheimlichen orangeroten Feuerschein. Der Alte tippte sich an seine Baseballmütze, als er Beckey sah. Sie stolperte über einen Sprung im Asphalt. Fing sich. Sah starr geradeaus und tat, als hätte sie nicht gesehen, wie er den Schlauch fallen ließ und Anstalten machte, ihr zu helfen, denn sie wollte sich unbedingt weiterhin von dem Gedanken beherrschen lassen, dass jeder einzelne Mensch auf Erden ein Arschloch und ihr eigenes Leben beschissen war.

»Beckey«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie die Haarklammer aus ihrer Handtasche nahm. »Das ist mein Ernst jetzt. Ich will sie wiederhaben.«

Die Haarklammer. Zwei Kämme mit einem Scharnier dazwischen, einer der Zähne war abgebrochen. Schildpattmuster, wie bei einer Katze. Julia Stiles trug so eine in dem Film Zehn Dinge, die ich an dir hasse, den Beckey tausendmal mit ihrer Mutter gesehen hatte, weil es einer der wenigen Filme war, die beiden gefielen.

Kayleigh hatte die Haarklammer sicher nicht von ihrem Nachttisch gestohlen. Sie war ein gefühlloses Miststück, aber sie wusste, was die Klammer für Beckey bedeutete, seit die beiden sich eines Abends gemeinsam betrunken hatten und Beckey die ganze Geschichte ausgekotzt hatte. Wie der Direktor sie aus dem Englischunterricht geholt hatte. Wie der Schulpolizist draußen im Flur gewartet hatte und sie einen Mordsschreck bekam, weil sie noch nie in Schwierigkeiten gewesen war. Aber sie war gar nicht in Schwierigkeiten. Irgendwo tief in ihrem Innern musste Beckey gewusst haben, dass etwas Entsetzliches geschehen war, denn als der Polizist zu reden anfing, hatte ihr Gehör immer wieder ausgesetzt, wie bei einer schlechten Handyverbindung, und nur einzelne Worte waren durch das Rauschen zu ihr durchgedrungen.

Mutter … Interstate … betrunkener Fahrer …

Seltsamerweise hatte Beckey an die Haarklammer an ihrem Hinterkopf gefasst. Der letzte Gegenstand, den ihre Mutter berührt hatte, bevor sie das Haus verließ. Beckey hatte die Klammer geöffnet. Sie hatte mit den Fingern durch ihre Haare gestrichen, um sie zu lösen. Sie hatte die Plastikklammer in ihrer Handfläche so kräftig zusammengedrückt, dass ein Zahn abgebrochen war. Sie wusste noch, wie sie dachte, dass ihre Mutter sie umbringen würde … Ich will sie wiederhaben … Aber dann hatte ihr Bewusstsein die Tatsache aufgenommen, dass ihre Mutter sie niemals mehr würde umbringen können, weil ihre Mutter tot war.

Beckey wischte sich die Tränen ab, als sie ans Ende der Hauptstraße kam. Links oder rechts? Zum See, wo die Professoren und reichen Leute wohnten, oder zu dem ärmlicheren Viertel, wo Wohnwagen und Billighäuser auf winzigen Grundstücken standen.

Sie bog rechts ab, fort vom See. Auf ihrem iPod hatte Flo Rida jetzt Nicki Minaj Platz gemacht. Sie schaltete die Musik aus und ließ die Kopfhörer um ihren Hals baumeln. Ihre Lungen zeigten mit einem komischen Zittern an, dass sie genug hatten, aber sie ließ nicht locker und atmete schnell und tief mit offenem Mund, und ihre Augen brannten immer noch, wenn sie daran zurückdachte, wie sie und ihre Mutter auf der Couch gesessen hatten, Popcorn gemampft und zusammen mit Heath Ledger bei »Can’t Take My Eyes Off You« mitgesungen hatten.

You’re just too good, to be true …

Die Luft wurde schal, je tiefer sie in das trostlose Viertel vorstieß. Die Straßennamen orientierten sich seltsamerweise am Thema Frühstück: Omelet Road. Hashbrown Way. Beckey lief nie in diese Richtung, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Das orangerote Licht hatte sich in ein schmutziges Braun verwandelt. Ausgebleichte Pick-ups und alte Schrottkarren sprenkelten die Straßen. Farbe blätterte von den Häusern. Viele Fenster waren mit Brettern vernagelt. Ihre Ferse begann, schmerzhaft zu pochen. Wer hätte das gedacht … Sie rieb sich eine Blase wegen des Lochs in ihrer Socke. Beckeys Erinnerung warf ein Bild aus: wie Kayleigh aus dem Bett sprang, mit nichts als einer Socke bekleidet.

Beckeys Socke.

Sie fiel ins Schritttempo. Dann blieb sie mitten auf der Straße stehen. Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie, um zu Atem zu kommen. Ihr Fuß brannte jetzt, als wäre eine Hornisse in ihrem Schuh eingeschlossen. Sie würde es niemals zurück zum Campus schaffen, ohne dass es ihr die Haut von der Ferse schälte.

Kayleigh würde sie abholen müssen. Sie war ein erbärmlicher Mensch, aber man konnte sich immer darauf verlassen, dass sie auftauchte, wenn jemand in Schwierigkeiten war – und sei es nur um des Dramas willen. Beckey tastete nach ihrer Tasche, aber dann spuckte ihre Erinnerung einen neuen Satz Bilder aus: Beckey in der Bibliothek, wie sie ihr Telefon in den Rucksack gleiten ließ. Dann später im Wohnheim, wie sie den Rucksack auf den Küchenboden fallen ließ.

Kein Handy. Keine Kayleigh. Keine Hilfe.

Die Sonne stand jetzt höher über den Bäumen, aber Beckey fühlte sich trotzdem von Dunkelheit eingeschlossen. Niemand wusste, dass sie hier war. Niemand erwartete sie zurück. Sie war in einer fremden Gegend. Einer üblen fremden Gegend. An eine Tür zu klopfen, jemanden zu bitten, das Telefon benutzen zu dürfen, kam ihr wie der Anfang einer Folge von Aktenzeichen XY … ungelöst vor. Sie hörte förmlich die Erzählstimme in ihrem Kopf:

Beckeys Mitbewohnerinnen dachten, sie würde sich einfach Zeit lassen, um herunterzukommen. Dr. Adams nahm an, sie sei nicht in ihrem Kurs erschienen, weil sie mit ihrer Seminararbeit nicht fertig geworden war. Niemand ahnte, dass die wütende junge Studentin an die Tür eines kannibalischen Vergewaltigers geklopft hatte 

Ein beißender Fäulnisgeruch holte sie in die Realität zurück. Ein Lkw der Müllabfuhr rollte in die Kreuzung am Ende der Straße und blieb mit quietschenden Bremsen stehen. Ein Kerl in einem Overall sprang heraus, schob eine Tonne zum Fahrzeug, hakte sie an der Hebevorrichtung ein. Beckey sah die Zahnräder im Innern des Lkw mahlen. Der Overall-Typ hatte nicht in ihre Richtung geschaut, aber dennoch befiel sie plötzlich das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden.

Wenn die Vergewaltiger unterwegs sind.

Sie drehte sich um und versuchte, sich zu erinnern, ob sie in diese Straße links oder rechts abgebogen war. Es gab nicht einmal ein Straßenschild. Das Gefühl, ausgespäht zu werden, wurde stärker. Beckey suchte die Häuser mit den Blicken ab, das Innere von Trucks und Autos. Nichts starrte von dort zurück. Kein Vorhang bewegte sich in den Fenstern. Kein kannibalischer Vergewaltiger trat vor die Tür, um seine Hilfe anzubieten.

Ihr Kopf machte sofort das, was Frauen auf keinen Fall machen sollten: sich für ihre Angst tadeln, nicht auf ihr Bauchgefühl hören, sich einreden, dass man sich der Situation stellen müsse, die einen ängstigte, statt wegzulaufen wie ein kleines Kind.

Beckey konterte die Argumente: Geh weg von der Straßenmitte. Bleib nah an den Häusern, denn darin gibt es Leute. Brüll dir die Lunge aus dem Leib, wenn dir jemand nahe kommt. Lauf zurück zum Campus, denn dort bist du in Sicherheit.

Alles schön und gut, aber wo war der Campus?

Sie verdrückte sich seitlich zwischen zwei geparkte Autos und fand sich nicht auf einem Gehsteig wieder, sondern auf einem schmalen Streifen Unkraut zwischen zwei Häusern. In einer Stadt hätte man es eine Gasse genannt, aber hier war es mehr ein Stück Brache. Zigarettenkippen und zerbrochene Bierflaschen lagen im Gras. Beckey sah eine ordentlich gemähte Wiese hinter den Häusern, dann unmittelbar hinter dem Anstieg den Wald.

In den Wald zu gehen war nicht das, was die Intuition ihr riet, aber Beckey kannte sich gut aus auf den Trampelpfaden, die kreuz und quer darin verliefen. Wahrscheinlich würde sie auf andere Studenten treffen, die mit dem Rad fuhren oder ihr morgendliches Laufpensum absolvierten. Sie blickte auf, um sich an der Sonne zu orientieren. Wenn sie in Richtung Westen ging, käme sie zum Campus zurück. Blase hin oder her, sie musste irgendwann ins Wohnheim zurückkehren, weil sie es sich nicht leisten konnte, in Organischer Chemie durchzufallen.

Als sie zwischen den Häusern durchlief, verhärteten sich die Muskeln in ihren Schultern und ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie erhöhte das Tempo. Es war noch nicht ganz Laufen, aber streng genommen auch nicht mehr Gehen. Die Blase fühlte sich bei jedem Auftreten an, als würde jemand sie in die Ferse kneifen. Zusammenzucken schien zu helfen. Dann biss sie die Zähne zusammen und joggte durch die Wiese, und ihr Rücken brannte von tausend Augen, die sie wahrscheinlich nicht beobachteten.

Wahrscheinlich.

Die Temperatur fiel, als sie die Grenze zum Wald überschritt. Aus den Augenwinkeln sah sie Schatten, die sich bewegten. Sie fand mühelos einen Pfad, wahrscheinlich war sie ihn schon tausendmal gelaufen. Ihre Hand ging zum iPod, aber sie überlegte es sich anders. Sie wollte lieber der Stille des Waldes lauschen. Nur gelegentlich fand ein Sonnenstrahl den Weg durch das dichte Blätterdach. Sie dachte an vorhin, als sie vor dem offenen Kühlschrank gestanden hatte. Die kalte Luft, die über ihre heißen Wangen strich. Die leeren Popcorntüten auf dem Boden. Sie würden ihr Geld geben für das Essen. Sie bezahlten es immer. Sie waren keine Diebinnen. Sie waren nur zu faul, um in den Laden zu gehen, und zu unorganisiert, um eine Liste zu machen, wenn Beckey anbot, für sie einzukaufen.

»Beckey?«

Beim Klang der Männerstimme wandte Beckey den Kopf, aber ihr Körper bewegte sich weiter vorwärts. Sie sah sein Gesicht in dem Sekundenbruchteil zwischen Stolpern und Fallen. Er sah freundlich aus, besorgt. Er streckte die Hand nach ihr aus, als sie fiel.

Ihr Kopf krachte gegen etwas Hartes. Ihr Mund füllte sich mit Blut. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie versuchte, sich herumzudrehen, schaffte es aber nur halb. Ihr Haar hatte sich in etwas verfangen. Es zog. Zerrte. Sie griff hinten an ihren Kopf und erwartete aus irgendeinem Grund, dort die Haarklammer ihrer Mutter zu finden. Was sie stattdessen ertastete, war Holz, dann Stahl, dann tauchte das Gesicht des Mannes in ihrem Blickfeld auf, und sie begriff, dass das Ding, das in ihrem Schädel steckte, ein Hammer war.

ATLANTA

1

Will Trent schob seine eins vierundneunzig zurecht, um eine erträgliche Sitzposition im Mini seiner Partnerin zu finden. Sein Scheitel passte prima in die Aussparung für das Schiebedach, aber der Kindersitz auf der Rückbank schränkte seine Beinfreiheit vorn erheblich ein. Er musste die Knie zusammendrücken, damit er den Schalthebel nicht versehentlich auf Leerlauf stellte. Wahrscheinlich wirkte er wie ein Schlangenmensch, aber Will sah sich eher als Schwimmer, der rhythmisch in die Unterhaltung tauchte, die Faith Mitchell offenbar mit sich selbst führte. Statt Armzug-Armzug-Atmen war es hier Ausblenden-Ausblenden-Was du nicht sagst.

»Da hocke ich also um drei Uhr morgens und poste eine vernichtende Ein-Stern-Beurteilung über diesen eindeutig defekten Bratenwender.« Faith nahm beide Hände vom Lenkrad, um pantomimisch darzustellen, wie sie tippte. »Und dann wird mir klar, dass ich Waschmittel in den Geschirrspüler gefüllt habe, was total bescheuert ist, weil der Wäscheraum im ersten Stock ist, und zehn Minuten später schaue ich aus dem Fenster und denke: Ist Mayonnaise wirklich ein Musikinstrument?«

Will hatte gehört, wie ihre Stimme nach oben ging, aber er wusste nicht zu sagen, ob sie eine Antwort erwartete oder nicht. Er versuchte, die Unterhaltung im Kopf zurückzuspulen. Doch die Übung brachte keine Klarheit. Sie saßen seit fast einer Stunde in diesem Auto, und Faith hatte ohne erkennbares System die exorbitant hohen Preise für Klebestifte und die Kindergeburtstagsindustrie einer Fast-Food-Kette angeschnitten sowie das, was sie Eltern-Folterpornos nannte, wenn Leute Fotos davon posteten, wie ihre Kinder nach den Ferien wieder zur Schule gingen, während ihr eigenes Kleinkind immer noch zu Hause war.

Er legte den Kopf schief und tauchte wieder in die Unterhaltung ein.

»Dann kommen wir zu der Stelle, wo Mufasa in den Tod stürzt.« Faith sprach jetzt offenbar von einem Film. »Emma fängt genauso zu plärren an, wie es Jeremy in ihrem Alter getan hat, und mir wird klar, dass ich es irgendwie geschafft habe, zwei Kinder zur Welt zu bringen, die exakt zwei Versionen von König der Löwen auseinander sind.«

Will blendete sich wieder aus der Unterhaltung aus. Bei der Erwähnung von Emma zog sich sein Magen zusammen, und die Schuldgefühle schmerzten wie eine Schrotladung in seiner Brust.

Er hätte Faiths zweijährige Tochter einmal beinahe getötet.

Das kam so: Will und seine Freundin Sara hatten auf Emma aufgepasst. Sara erledigte in der Küche irgendwelchen Papierkram, und Will saß mit Emma auf dem Wohnzimmerboden und zeigte ihr, wie man die winzige Knopfbatterie in einem HexBug, einem Spielzeugkrabbeltier, auswechselte. Das Spielzeug lag in Einzelteilen auf dem Kaffeetisch. Will balancierte die Batterie, die etwa so groß war wie ein TicTac, auf der Fingerspitze, damit Emma sie sehen konnte. Er erklärte ihr gerade, dass sie besonders sorgfältig darauf achten sollten, sie nicht irgendwo herumliegen zu lassen, damit Betty, sein Hund, sie nicht versehentlich fraß, als Emma sich plötzlich vorbeugte und die Batterie mit dem Mund einsaugte.

Will war Agent beim Georgia Bureau of Investigation. Er hatte sich in Krisensituationen bewährt, in denen es um Leben und Tod ging, und das Einzige, was gezählt hatte, seine schnelle Reaktionsfähigkeit war.

Aber als diese Batterie im Mund des kleinen Mädchens verschwand, war Will wie gelähmt.

Hilflos hielt er immer noch den Finger erhoben, sein Herz faltete sich zusammen wie ein Fahrrad um einen Telefonmast. Er konnte nichts weiter tun, als zusehen, wie sich Emma in Zeitlupe und mit einem triumphierenden Lächeln auf dem engelsgleichen Gesicht zurücklehnte und Anstalten machte, zu schlucken.

Das war der Moment, in dem Sara sie alle gerettet hatte. So schnell, wie Emma die Batterie von seinem Finger gelutscht hatte, stieß Sara nun wie ein Raubvogel herab, fuhr mit dem Zeigefinger in Saras Mund und fischte sie heraus.

»Jedenfalls schaue ich diesem Mädchen in der Kassenschlange über die Schulter, und sie macht ihren Freund in einer SMS zur Schnecke.« Faith war zur nächsten Geschichte übergegangen. »Dann ist sie weg, und jetzt werde ich mich ewig fragen, ob ihr Freund tatsächlich was mit ihrer Schwester angefangen hat.«

Wills Schulter bohrte sich in das Seitenfenster, als der Mini eine scharfe Kurve nahm. Sie waren fast beim Staatsgefängnis angelangt. Sara würde dort sein, ein Umstand, der Wills Schuldgefühle wegen Emma in Angst um Sara umschlagen ließ.

Er veränderte wieder seine Stellung. Sein Hemdrücken schälte sich vom Leder. Will schwitzte nicht vor Hitze – er schwitzte seine Beziehung zu Sara aus.

Alles lief großartig, aber irgendwie lief es auch sehr, sehr schlecht.

Von außen betrachtet hatte sich nichts verändert. Sie verbrachten immer noch die meisten Nächte zusammen. Am vergangenen Wochenende hatten sie Saras Lieblingsmahlzeit genossen: ein Sonntagsfrühstück nackt im Bett. Und später seine Lieblingsmahlzeit: ein zweites Sonntagsfrühstück nackt im Bett. Sara küsste ihn wie immer. Es fühlte sich an, als liebte sie ihn auch wie immer. Sie ließ ihre Schmutzwäsche noch immer knapp neben den Wäschekorb fallen und bestellte noch immer nur einen Salat, um dann die Hälfte seiner Fritten zu futtern. Aber irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

Die Frau, die Will in den letzten zwei Jahren praktisch dazu gezwungen hatte, über Dinge zu reden, über die er nicht reden wollte, erklärte plötzlich ein bestimmtes Gesprächsthema für tabu.

Folgendes war vorgefallen: Vor sechs Wochen war Will von Besorgungen nach Hause zurückgekehrt. Sara saß am Küchentisch. Plötzlich hatte sie davon gesprochen, sein Haus zu renovieren. Nicht nur zu renovieren, sondern es mehr oder weniger abzureißen, damit sie mehr Platz zur Verfügung hätten, was eine verquere Art war, ihm mitzuteilen, dass sie zusammenziehen sollten. Also hatte Will beschlossen, ihr auf eine ebenso verquere Art einen Heiratsantrag zu machen, indem er sagte, sie sollten doch in einer Kirche heiraten, weil es ihre Mutter glücklich machen würde.

Und dann hatte er ein Knacken gehört, als würde die Erde unter seinen Füßen gefrieren, als wäre jede Oberfläche im Raum von Eis bedeckt, als käme Saras Atem in kleinen Wölkchen aus ihrem Mund. Und sie sagte nicht etwa: »O ja, Liebster, ich möchte dich von Herzen gern heiraten«, sondern fragte mit einer Stimme, die frostiger war als die Eiszapfen, die von der Decke herabwuchsen: »Was zum Teufel hat meine Mutter damit zu tun?«

Sie hatten gestritten, was Will in eine schwierige Lage brachte, weil er nicht wusste, worüber genau sie stritten. Er hatte ein wenig gestichelt, dass sein Haus wohl nicht gut genug für sie sei, und daraus war ein Streit über ihre Finanzen geworden, was ihm eine bessere Position verlieh, denn Will war ein armer Staatsbediensteter, und Sara … nun ja, Sara war im Moment ebenfalls eine arme Staatsbedienstete, doch davor war sie eine reiche Ärztin gewesen.

Der Streit war hin und her gegangen, bis es Zeit war, Saras Eltern zum Brunch zu treffen, und Sara hatte für drei Stunden ein Moratorium über alle Gespräche zum Thema Heiraten oder Zusammenziehen verhängt. Diese drei Stunden hatten sich bis zum Rest des Tages ausgedehnt und dann bis zum Rest der Woche; inzwischen waren anderthalb Monate vergangen, und Will lebte mit einer echt scharfen Mitbewohnerin zusammen, die zwar weiter mit ihm schlafen, sich aber über nichts anderes unterhalten wollte als darüber, was sie zum Abendessen bestellen wollten, über ihre kleine Schwester, die sich sehr entschlossen ihr Leben versaute, und darüber, wie leicht es war, die zwanzig Algorithmen zu lernen, die Rubiks Zauberwürfel lösten.

Faith fuhr auf den Gefängnisparkplatz und sagte gerade: »Und natürlich – es kann ja nicht anders sein bei mir – bekomme ich genau in diesem Moment endlich meine Periode.«

Sie verstummte, während sie auf einen freien Platz rollte. Ihr letzter Satz hatte nichts Abschließendes an sich gehabt. Erwartete sie eine Antwort? Sie erwartete definitiv eine Antwort.

Will entschied sich für: »Das ist natürlich beschissen.«

Faith sah erschrocken aus, als wäre ihr soeben bewusst geworden, dass er mit im Auto saß. »Was ist beschissen?«

Er konnte jetzt deutlich sehen, dass sie keine Antwort erwartet hatte.

»Himmel noch mal, Will!« Wütend stellte sie den Schalthebel auf Parken. »Das nächste Mal solltest du mich vorwarnen, wenn du tatsächlich zuhörst.«

Faith stieg aus und stapfte zum Angestellteneingang. Sie hatte Will den Rücken zugekehrt, aber er stellte sich vor, dass sie bei jedem Schritt vor sich hin grummelte. Sie hielt ihren Ausweis in die Kamera vor dem Tor. Will rieb sich übers Gesicht. Er atmete die heiße Luft im Wagen ein. Hatten alle Frauen in seinem Leben den Verstand verloren, oder war er der Idiot?

Nur ein Idiot stellte sich diese Frage.

Er öffnete die Tür und schaffte es, den Mini abzustreifen und auszusteigen. Seine Kopfhaut juckte vom Schweiß. Es waren die letzten Oktoberwochen, und die Hitze außerhalb des Wagens war nicht viel besser als im Innern. Er fand sein Jackett zwischen Emmas Kindersitz und einer Tüte abgestandenem Goldfischli-Knabberzeug. Er verputzte den gesamten Inhalt und schielte zu einem Gefangenentransportbus, der in die Straße einbog und mit Karacho in ein Schlagloch fuhr. Die Gesichter der Insassen hinter den vergitterten Fenstern zeigten verschiedene Schattierungen von Elend.

Will warf die leere Goldfischli-Tüte auf den Rücksitz. Dann holte er sie wieder hervor und nahm sie mit zum Angestellteneingang. Er sah zu dem gedrungenen, deprimierenden Gebäude hinauf. Das Phillips State Prison war eine Einrichtung der mittleren Sicherheitsstufe in Buford, rund eine Fahrtstunde außerhalb von Atlanta. Fast tausend Männer waren in zehn Wohneinheiten mit jeweils zwei Schlaftrakten untergebracht. In sieben der Einheiten gab es Zweimannzellen. Der Rest setzte sich aus Einzel-, Doppel- und Isolationszellen für die sogenannten MP und SH zusammen. MP stand für Insassen mit mentalen Problemen. SH stand für Schutzhaft, zumeist für Cops und Pädophile, die beiden meistgehassten Typen von Insassen in jedem Gefängnis.

Es gab einen Grund, warum MP und SH zusammengefasst waren. Für einen Außenstehenden hörte sich eine Einzelzelle nach Luxus an. Für einen Insassen in Isolationshaft bedeutete es, zwanzig Stunden am Tag allein in einem fensterlosen Betonkasten von zwei mal vier Metern eingesperrt zu sein. Und das nach einem bahnbrechenden Prozess, in dem die Regeln, die vorher für eine Isolationshaft in Georgia galten, als unmenschlich eingestuft worden waren.

Vor vier Jahren war der Phillips-Knast zusammen mit neun anderen Staatsgefängnissen Georgias von einer FBI-Razzia durchsucht worden, bei der siebenundvierzig korrupten Vollzugsbeamten das Handwerk gelegt wurde. Alle restlichen Vollzugsbeamten hatte man innerhalb des Systems versetzt. Der neue Direktor ließ sich nicht für dumm verkaufen, was sowohl gut als auch schlecht war, je nachdem, wie man die ausgehenden Gefahren von wütenden, isolierten Männern einschätzte, die zusammengepfercht auf engstem Raum lebten. Das Gefängnis befand sich derzeit nach zwei Tagen voller Unruhen im Lockdown, das hieß, die Gefangenen blieben den ganzen Tag in ihren Zellen. Sechs Vollzugsbeamte und drei Insassen waren schwer verletzt worden. Einen weiteren Häftling hatte man in der Cafeteria ermordet.

Und dieser Mord hatte Faith und Will hierhergeführt.

Nach dem Gesetz war das GBI für die Untersuchung aller Todesfälle in Haft zuständig. Die Insassen, die das Gefängnis in dem Transportbus verließen, würden nicht direkt mit dem Mord in Verbindung gebracht werden, aber sie hatten vermutlich eine Rolle bei den Aufständen gespielt. Sie erhielten das, was man die Diesel-Therapie nannte. Der Direktor ließ die Großmäuler, die Aufrührer, die Schachfiguren bei den Bandenkämpfen wegbringen. Sich der Unruhestifter zu entledigen war gut für das Gefängnis, aber es war nicht gerade toll für die Männer, die weggeschickt wurden. Sie verloren den einzigen Ort, den sie als eine Art Zuhause betrachten konnten, und sie waren auf dem Weg zu einer Einrichtung, die weitaus gefährlicher war als die, die sie gerade verließen. Es war, als ob man an eine neue Schule wechselte, nur dass es dort statt fieser Mädchen und Schlägertypen Vergewaltiger und Mörder gab.

Ein Metallschild war am Eingangstor befestigt: GDOC. Georgia Department of Corrections. Will warf die leere Goldfischli-Tüte in den Abfalleimer an der Tür. Er wischte die Hände an der Hose ab, um die gelblichen Krümel loszuwerden. Anschließend musste er an den Fettspuren herumrubbeln, bis sie nicht mehr ganz so schlimm aussahen.

Die Kamera befand sich fünf Zentimeter über Wills Kopf. Er musste einen Schritt zurücktreten, um seinen Ausweis zu zeigen. Ein lautes Summen und ein Klicken, dann war er im Gebäude. Er verstaute seine Waffe in einem Spind und steckte den Schlüssel ein, nur um ihn gleich darauf zusammen mit allem anderen wieder herauszunehmen, als er durch den Scanner musste. Ein schweigsamer Vollzugsbeamter führte ihn durch die Sicherheitsschleuse und kommunizierte mithilfe seines Kinns: Deine Partnerin ist da hinten im Flur, Bro. Mir nach.

Der Vollzugsbeamte schlurfte, statt zu gehen, eine Gewohnheit, die der Job mit sich brachte. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen, wenn es dort, wo man hinging, exakt so aussah wie dort, wo man herkam.

Das Gefängnis klang wie ein Gefängnis. Insassen brüllten, schlugen an die Gitter, protestierten gegen den Ausnahmezustand oder die allgemeine Ungerechtigkeit auf der Welt. Will lockerte seine Krawatte, als sie tiefer ins Innere der Einrichtung vordrangen. Schweiß lief ihm in den Kragen. Gefängnisse waren aufgrund ihrer Bauart schwer zu kühlen und zu heizen. Wegen der breiten, langen Flure und scharfen Winkel. Wegen der Betonwände und Linoleumböden. Weil jede Zelle ein offenes Kanalisationsrohr als Toilette hatte und weil die Männer in ihnen genügend Angstschweiß produzierten, um den sanften Fluss des Chattahoochee River in reißende Stromschnellen zu verwandeln.

Faith wartete vor einer geschlossenen Tür auf ihn. Sie hielt den Kopf gesenkt und schrieb in ihr Notizbuch. Ihre Gesprächigkeit war eine sehr nützliche Eigenschaft in diesem Job. Sie hatte bereits fleißig Informationen gesammelt, während Will seine Hose mit Goldfischli-Krümeln eingesaut hatte.

Nun nickte sie dem schweigsamen Vollzugsbeamten zu, der seinen Platz auf der anderen Seite der Tür einnahm, und sagte zu Will: »Der ermordete Insasse ist in der Kantine. Amanda ist gerade vorgefahren. Sie will den Tatort sehen, bevor sie mit dem Direktor spricht. Sechs Agents des Außenbüros Nord durchleuchten seit drei Stunden mögliche Tatverdächtige. Wir geben alles zum Saubermachen frei, sobald wir eine brauchbare Liste mit Verdächtigen haben. Sara sagt, sie ist fertig, wenn wir es sind.«

Will schaute durch das Fenster in der Tür.

Sara Linton stand in einem weißen Schutzanzug in der Mitte der Kantine. Ihr kastanienrotes Haar steckte unter einer blauen Baseballkappe. Sie war Rechtsmedizinerin beim GBI. Diese jüngste Entwicklung hatte Will bis vor etwa sechs Wochen äußerst beglückend gefunden. Sie sprach mit Charlie Reed, dem leitenden Kriminaltechniker des GBI. Er kniete nieder, um einen blutigen Schuhabdruck zu fotografieren. Gary Quintana, Saras Assistent, hielt ein Lineal neben den Abdruck, um einen Größenbezug herzustellen.

Sara sah müde aus. Sie bearbeitete den Tatort schon seit vier Stunden. Will war bei seiner morgendlichen Joggingrunde gewesen, als der Anruf Sara aus dem Bett geholt hatte. Sie hatte ihm einen Zettel mit einem Herz in der Ecke hinterlassen.

Er hatte dieses kleine Herz länger angestarrt, als er es je zugeben würde.

»Okay«, sagte Faith. »Die Revolte fing also vor zwei Tagen an, am Samstag um elf Uhr achtundfünfzig.«

Will riss sich von Saras Anblick los und wartete darauf, dass Faith fortfuhr.

»Zwei Häftlinge gingen mit den Fäusten aufeinander los. Der erste Vollzugsbeamte, der versucht hat, sie zu trennen, wurde ausgeknockt. Ellbogen an den Kopf, Kopf auf den Boden, see ya later alligator. Nachdem der Beamte zu Boden gegangen war, fing es erst richtig an. Der zweite Vollzugsbeamte wurde bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Ein dritter, der zu Hilfe eilte, wurde mit einem Schlag niedergestreckt. Dann schnappte sich jemand die Elektroschocker, und ein anderer schnappte sich die Schlüssel, und schon war der ganze Laden in hellem Aufruhr. Der Mörder war eindeutig vorbereitet.«

Will nickte, denn Gefängnisunruhen fingen meistens wie ein Hautausschlag an. Es gab immer ein verräterisches Jucken, und es gab immer einen Kerl oder eine Gruppe von Kerlen, die dieses Jucken spürten und zu überlegen anfingen, wie sie den Aufruhr zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Den Gefängnisladen plündern? Ein paar Wärter in ihre Schranken verweisen? Einen Rivalen ausschalten?

Die Frage war, ob das Opfer ein Kollateralschaden gewesen war oder ob es jemand gezielt auf ihn abgesehen hatte. Das war von außerhalb der Kantine schwer zu beurteilen. Er zählte dreißig Tische, alle mit Sitzplätzen für jeweils zwölf Personen, alle im Boden festgeschraubt. Tabletts lagen überall im Raum herum. Papierservietten. Faulendes Essen. Jede Menge eingetrocknete Flüssigkeiten, das meiste davon Blut. Ein paar Zähne. Will konnte eine erstarrte Hand unter einem der Tische sehen, und er nahm an, dass sie ihrem Opfer gehörte. Die Leiche des Mannes lag unter einem anderen Tisch in der Nähe der Küche, sie kehrte der Tür den Rücken zu. Die ausgeblichene Gefängnisuniform mit den blauen Streifenakzenten verlieh dem Tatort die Atmosphäre eines Massakers in einer Eisdiele.

»Hör zu«, sagte Faith, »wenn du noch wegen Emma und der Batterie aus dem Häuschen bist, lass es sein. Es ist nicht deine Schuld, dass sie so lecker aussehen.«

Will nahm an, dass er bei Saras Anblick ein Signal aussandte, das Faith aufgefangen hatte.

»Kleinkinder sind wie die schlimmsten Gefängnisinsassen«, fuhr sie fort. »Wenn sie dir nicht ins Gesicht lügen und dein Zeug kaputtmachen, schlafen sie, pupsen oder denken sich sonst irgendwas aus, wie sie dich verarschen können.«

Der Vollzugsbeamte hob das Kinn. Stimmt.

»Können Sie unseren Leuten Bescheid geben, dass wir hier sind?«, fragte Faith den Mann.

Der Typ nickte à la Klar, Lady, stets zu Diensten, bevor er davonschlurfte.

Will beobachtete Sara wieder durch das Fenster, wie sie etwas auf einem Clipboard notierte. Sie hatte den Reißverschluss ihres Overalls geöffnet und die Ärmel um die Taille geknotet. Die Baseballkappe hatte sie abgesetzt und trug das Haar jetzt zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden.

»Ist es wegen Sara?«, fragte Faith.

Will sah auf seine Partnerin hinunter. Oft vergaß er, wie winzig sie war. Blondes Haar. Blaue Augen. Grenzenlose Enttäuschung im Blick. Wie sie da so stand, die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf so weit hochgereckt, dass ihr Kinn sich auf Höhe seiner Brust befand, erinnerte sie ihn an die Zeichentrickfigur Pearl Pureheart, die Freundin von Mighty Mouse – sofern Pearl mit fünfzehn schwanger geworden wäre und dann mit zweiunddreißig noch einmal.

Was der primäre Grund war, warum Will nicht mit ihr über Sara reden wollte. Faith zwangsbemutterte jeden in ihrer Umlaufbahn, ob es nun ein Verdächtiger in U-Haft oder die Kassiererin im Supermarkt war. Wills Kindheit war ziemlich hart gewesen. Er hatte eine Menge Dinge über die Welt gelernt, mit denen die meisten Kinder nie in Berührung kamen, aber er wusste definitiv nicht, wie es war, bemuttert zu werden.

Der zweite Grund für sein Schweigen war, dass Faith eine verdammt gute Polizistin war. Sie würde nur ungefähr zwei Sekunden brauchen, um den Fall der plötzlich verstummten Freundin zu lösen.

Hinweis Nummer eins: Sara war ein äußerst logisch denkender und konsequenter Mensch. Anders als Wills psychotische Ex-Frau war Sara nicht vom Höllenschlund einer Geisterbahn ausgespien worden. Wenn Sara böse, gereizt, verärgert oder auch glücklich war, dann konnte Will sich darauf verlassen, von ihr die Gründe dafür zu erfahren – und was sie gegebenenfalls dagegen zu unternehmen gedachte.

Hinweis Nummer zwei: Sara spielte keine Spielchen. Es gab kein Schweigen, Schmollen oder schnippisches Getue, das es zu interpretieren galt. Will musste nie erraten, was sie dachte, weil sie es ihm sagte.

Hinweis Nummer drei: Sara war eindeutig gern verheiratet. In ihrem früheren Leben war sie zweimal verheiratet gewesen, beide Male mit demselben Mann. Sie wäre in diesem Augenblick wohl noch immer mit Jeffrey Tolliver verheiratet, wenn man ihn nicht vor fünf Jahren ermordet hätte.

Schlussfolgerung: Sara hatte nichts gegen eine Ehe und auch nichts gegen verquere Heiratsanträge.

Sie hatte nur etwas dagegen, Will zu heiraten.

»Voldemort«, sagte Faith genau in dem Moment, in dem das Klackediklack der High Heels von Deputy Director Amanda Wagner an Wills Ohr drang.

Amanda hatte ihr Telefon in der Hand, während sie den Flur entlangging. Sie schrieb ständig Kurznachrichten oder telefonierte, um Informationen über ihr Freundinnennetzwerk einzuholen, einer Furcht einflößenden Gruppe von Frauen, von denen die meisten schon im Ruhestand waren und die in Wills Fantasie in einer geheimen Höhle herumsaßen und Handgranatenwärmer strickten, bis sie aktiviert wurden.

Faiths Mutter war eine von ihnen.

»So.« Amanda machte Wills fettfleckige Hose schon aus zehn Metern Entfernung aus. »Agent Trent, sind Sie der einzige Landstreicher, der vom Güterzug gefallen ist, oder sollen wir noch weitersuchen?«

Will räusperte sich.

»Okay.« Faith blätterte in ihrem Notizbuch und kam sofort zur Sache. »Das Opfer heißt Jesus Rodrigo Vasquez, ist achtunddreißig und Hispano, hatte sechs von zehn Jahren wegen Angriffs mit einer tödlichen Waffe abgerissen. Nachdem er vor drei Monaten nach seiner vorzeitigen Entlassung den Drogentest nicht bestanden hat, wurde er ins Gefängnis zurückgeschickt, um den Rest seiner Strafe abzusitzen.«

»Zugehörigkeit?«, fragte Amanda.

War er Mitglied einer Bande? übersetzte sich Will lautlos.

»Schweiz«, antwortete Faith. Neutral sollte das heißen. »Wurde mehrmals erwischt, wie er Handys im Arsch geschmuggelt hat. Der Kerl wühlte anscheinend ständig irgendeinen Dreck auf. Ich vermute, er wurde umgelegt, weil er den Mund nicht halten konnte.«

»Problem gelöst.« Amanda klopfte an die Glastür, um sich bemerkbar zu machen. »Dr. Linton?«

Sara hielt inne, um etwas aufzuheben, ehe sie die Tür öffnete. »Wir sind fertig mit der Bearbeitung des Tatorts. Sie brauchen keine Anzüge, aber hier gibt’s eine Menge Blut und andere Flüssigkeiten.«

Sie gab Schuhschoner und Gesichtsmasken aus. Sie drückte Wills Finger, als er an der Reihe war.

»Die Leichenstarre ist vorbei, der Körper beginnt zu verwesen«, sagte sie. »Zusammen mit der Lebertemperatur des Opfers und der höheren Umgebungstemperatur kommen wir damit auf eine physiologische Todeszeit, die mit den Berichten übereinstimmt, dass Vasquez vor rund achtundvierzig Stunden angegriffen wurde. Der Todeszeitpunkt dürfte also am Beginn der Unruhen liegen.«

»In den ersten Minuten oder den ersten Stunden?«, fragte Amanda nach.

»Grob geschätzt zwischen Mittag und vier Uhr nachmittags am Samstag. Wenn Sie es genauer eingrenzen wollen, werden Sie sich auf Zeugenaussagen verlassen müssen.« Sara rückte Wills Maske zurecht und rief Amanda ins Gedächtnis: »Die Wissenschaft allein kann den exakten Todeszeitpunkt natürlich nicht bestimmen.«

»Natürlich«, erwiderte Amanda, die kein Fan grober Schätzungen war.

Sara verdrehte die Augen in Wills Richtung. Sie wiederum war kein Fan von Amandas Tonfall. »Der Tatort umfasst drei verschiedene Punkte: zwei hier im Hauptbereich, einen in der Küche. Vasquez hat sich gewehrt.«

Will griff hinter Sara, um die Tür aufzuhalten. Der Geruch nach Scheiße und Urin, die Visitenkarte der randalierenden Insassen, durchdrang jedes Molekül im Raum.

»Großer Gott.« Faith presste den Handrücken auf ihre Gesichtsmaske. Tatorte waren generell nicht ihre Stärke, aber der Geruch war so beißend, dass selbst Wills Augen tränten.

Sara wandte sich an ihren Assistenten. »Gary, könnten Sie bitte die kleinere Wasserpumpenzange aus dem Wagen holen? Wir werden den Tisch abschrauben müssen, bevor wir die Leiche entfernen können.«

Garys Pferdeschwanz hüpfte unter dem Haarnetz, als er beglückt einen schnellen Abgang machte. Er war seit weniger als einem halben Jahr beim GBI. Dies hier war nicht der schlimmste Tatort, den er bearbeitet hatte, aber in einem Gefängnis wirkte alles viel bedrückender.

Der Blitz an Charlies Kamera flammte auf. Will blinzelte gegen das Licht.

»Ich konnte einen Blick auf die Bilder der Überwachungskamera werfen«, sagte Sara zu Amanda. »Es gibt neun Sekunden Material, die den Beginn des Streits einfangen, und man sieht, wie die Situation sofort kippt und in den Tumult übergeht. An diesem Punkt hat dann eine unbekannte Person, die nicht auf dem Bild zu sehen ist, die Aufzeichnung unterbrochen.«

»Keine verwertbaren Fingerabdrücke an der Wand, dem Kabel oder der Kamera«, ergänzte Charlie.

Sara fuhr fort. »Der Streit fing im vorderen Teil des Raums an, bei der Servicetheke. Er kochte sehr schnell hoch. Sechs Insassen von einer rivalisierenden Gang stürzten sich in den Kampf. Vasquez blieb an dem Ecktisch dort drüben sitzen. Die elf anderen Männer an seinem Tisch rannten nach vorn, um einen besseren Blick auf die Auseinandersetzung zu haben. Dann endet die Aufzeichnung.«

Will schätzte die Entfernungen ab. Die Kamera befand sich an der Rückwand, keiner der elf Männer konnte sich also zurückgeschlichen haben, ohne erfasst zu werden.

»Hier entlang.« Sara führte sie zu einem Tisch in der Ecke. Zwölf Essenstabletts standen vor zwölf Plastikstühlen. Das Essen war verdorben. Saure Milch hatte sich über den Tisch ergossen. »Vasquez wurde von hinten angegriffen. Einwirkung stumpfer Gewalt führte zu einem Schädelbruch. Die Waffe war wahrscheinlich ein kleiner, schwerer Gegenstand, der mit hoher Geschwindigkeit geschwungen wurde. Die Wucht des Schlags ließ seinen Kopf nach vorn schnellen. In dem Tablett stecken Fragmente, die offenbar von Vasquez’ Vorderzähnen stammen.«

Will warf einen Blick zur Kamera zurück. Das Ganze sah nach einer Zwei-Mann-Unternehmung aus – einer, der die Aufzeichnung unterbrach, und einer, der die Zielperson ausschaltete.

Faiths Maske wölbte sich vor und zurück, da sie durch den Mund atmete. »Sollte der erste Schlag töten oder nur kampfunfähig machen?«

»Zur Absicht kann ich nichts sagen«, erwiderte Sara. »Der Schlag war erheblich. Ich konnte keine Platzwunde feststellen, aber es sieht nach einer eingedrückten Fraktur aus – der zertrümmerte Knochen drückt auf das Gehirn.«

»Wie lange war er bei Bewusstsein?«, fragte Amanda.

»Wir können aus den Spuren folgern, dass er bis zu seinem Tod bei Bewusstsein war. Zu seinem Zustand kann ich nichts sagen. War ihm übel? Mit Sicherheit. Sah er verschwommen? Wahrscheinlich. Wie viel hat er noch mitbekommen? Unmöglich zu sagen. Jeder Mensch reagiert anders auf ein Schädeltrauma. Aus medizinischer Sicht ist es so, dass wir bei Gehirnverletzungen immer nur wissen, dass wir nichts wissen.«

»Natürlich.« Amanda hatte die Arme verschränkt.

Will verschränkte ebenfalls die Arme. Jeder Muskel in seinem Körper zog sich zurück. Seine Haut fühlte sich unnatürlich straff an. Egal, wie viele Tatorte er untersuchte, sein Körper würde nie akzeptieren, dass es eine natürliche Situation war, sich in der Nähe eines gewaltsam ums Leben gekommenen Menschen aufzuhalten. Er kam mit dem Gestank von verdorbenem Essen und Exkrementen zurecht. Aber der metallische Geschmack von Blut, wenn das Eisen oxidierte, würde noch eine Woche lang hinten in seinem Gaumen haften.

»Vasquez wurde niedergeschlagen«, sagte Sara. »Drei linksseitige Backenzähne sind an der Wurzel abgebrochen. Außerdem Fraktur des Kiefer- und Augenhöhlenknochens auf der linken Seite. Man sieht, dass die Blutspritzer an der Wand und der Decke ein halbkreisförmiges Muster aufweisen. Es gibt drei verschiedene Fußabdrücke; Sie suchen also nach zwei Angreifern, beide wahrscheinlich Rechtshänder. Ich vermute, dass ein Sockenschloss verwendet wurde, es wird also keine erkennbaren Tatspuren an den Händen des Angreifers geben.«

Ein Sockenschloss war ziemlich genau das, wonach es sich anhörte – ein Vorhängeschloss in einer Socke.

Sara fuhr fort. »Vasquez war aus irgendeinem Grund barfuß nach dem ursprünglichen Angriff, wir haben seine Schuhe und Socken nirgendwo in der Kantine gefunden. Seine Angreifer trugen die Turnschuhe, die an die Gefangenen ausgegeben werden, beide Paare mit identischem Waffelmuster an der Sohle. Wir konnten aus den Schuh- und Fußabdrücken eine ganze Menge folgern: Der nächste Ort, an den sie ihn brachten, war die Küche.«

»Was ist mit dieser Tätowierung?« Amanda war auf der anderen Seite des Raums und sah auf die abgetrennte Hand hinunter. »Ist das ein Tiger? Eine Katze?«

»Die Tattoo-Datenbank sagt, ein Tiger kann Hass auf die Polizei symbolisieren, eine Katze versinnbildlicht einen Dieb, einen Fassadenkletterer.«

»Ein Sträfling, der die Polizei hasst. Bemerkenswert.« Amanda machte eine rollende Handbewegung in Richtung Sara. »Lassen Sie uns rasch weitermachen, Dr. Linton.«

Sara bedeutete ihnen, ihr in den vorderen Teil der Kantine zu folgen. Auf dem Förderband standen leere Tabletts, zumindest einige Insassen hatten ihr Mittagessen also bereits beendet, als der Tumult losbrach.

»Vasquez war rund eins fünfundsiebzig groß und siebzig Kilo schwer«, sagte Sara. »Unterernährt, aber das ist nicht überraschend, da er starker Drogenkonsument war. Es gibt Einstiche am linken Arm, zwischen den Zehen des linken Fußes und an seiner rechten Halsschlagader. Wir können also davon ausgehen, dass er Rechtshänder war. Im Küchenbereich haben wir ein Fleischerbeil und eine Menge Blut gefunden, was darauf hinweist, dass ihm die linke Hand dort abgetrennt wurde.«

»Er hat sie sich nicht selbst abgehackt?«, fragte Amanda.

Sara schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Schuh- und Fußabdrücke weisen darauf hin, dass er festgehalten wurde.«

Charlie ergänzte: »Die Waffelmuster der Sneakersohlen weisen keine Unterscheidungsmerkmale auf. Wie Sara schon sagte, sind sie hier Standard. Jeder Insasse hat ein Paar.«

Sara hatte Vasquez’ letzten Ruheort erreicht. Sie ging vor einem weiteren Tisch in die Hocke. Alle außer Amanda folgten ihr.

Will blähte die Nasenlöcher. Die Leiche hatte fast zwei volle Tage in der Hitze gelegen. Die Verwesung war weit fortgeschritten, das Fleisch löste sich von den Knochen. Man hatte Vasquez’ Körper offenbar mit den Füßen unter den Tisch geschoben, so wie man schmutzige Socken unters Bett kickt, damit sie aus dem Weg sind. Blutige Streifen auf dem Boden und Schuhabdrücke zeigten, wie ihn mindestens zwei Männer dorthin verfrachtet hatten, wo er nun lag.

Verkrustetes Blut bedeckte Vasquez’ nackte Füße. Er lag auf der Seite, in der Hüfte eingeknickt. Die verbliebene Hand war nach vorn ausgestreckt. Der blutige Stumpf am anderen Arm steckte buchstäblich in seinem Bauch. Vasquez’ Mörder hatten so oft auf ihn eingestochen, dass sich seine Eingeweide wie eine groteske Blüte geöffnet hatten. Den Armstumpf hatte man ihm wie einen Stängel in die Bauchhöhle gerammt.

»Mangels gegenteiliger Hinweise ist die Todesursache wahrscheinlich Verbluten oder Schock.«

Der Mann sah weiß Gott geschockt aus. Seine Augen standen weit offen. Die Lippen waren leicht geöffnet. Er hatte ein gewöhnliches Gesicht, wenn man davon absah, dass es aufgedunsen war und sich ein dunkler Halbmond gebildet hatte, wo sich das Blut an der tiefsten Stelle des Schädels gesammelt hatte. Kahl geschorener Kopf. Pornobalken-Schnauzbart. Ein Kreuz hing an einer dünnen goldenen Kette um seinen Hals, was die Gefängnisleitung gestattete, da es ein religiöses Symbol war. Die Kette war sehr feingliedrig. Vielleicht ein Geschenk seiner Mutter, Tochter oder Freundin. Es hatte für Will etwas zu bedeuten, dass die Mörder Vasquez’ Schuhe und Socken mitgenommen, aber die Halskette zurückgelassen hatten.

»Scheiße. Das ist Scheiße.« Faith presste beide Hände auf die Gesichtsmaske und würgte. Vasquez’ Eingeweide hingen wie rohe Würste aus dem Unterleib. Fäkalien hatten sich auf dem Boden gesammelt und waren zu einer schwarzen Masse von der Größe eines Basketballs, dem die Luft ausgegangen war, eingetrocknet.

»Schau nach, ob sie Vasquez’ Zelle schon auf den Kopf gestellt haben«, sagte Amanda zu Faith. »Falls ja, will ich wissen, wer es getan hat und was sie gefunden haben. Falls nicht, dann hast du die Ehre.«

Man musste Faith nicht zweimal sagen, dass sie sich nicht weiter mit der Leiche beschäftigen sollte.

»Will.« Amanda tippte schon wieder in ihr Handy. »Schließen Sie das hier ab, dann starten Sie die zweite Runde der Befragungen. Diese Männer hatten genug Zeit, sich ihre Geschichten zurechtzulegen. Ich möchte, dass die Sache schnell aufgeklärt wird. Wir suchen hier nicht nach einer Nadel im Heuhaufen.«

Nach Wills Dafürhalten taten sie genau das. Es gab rund tausend Verdächtige, samt und sonders überführte Kriminelle. »Ja, Ma’am.«

Sara bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr in die Küche zu folgen. Sie zog ihre Maske herunter. »Faith hat länger durchgehalten, als ich gedacht hätte.«

Will entledigte sich ebenfalls seiner Maske. In der Küche herrschte das gleiche Durcheinander wie draußen. Überall Tabletts, Essen, Blut. Gelbe Plastikmarkierungen auf der Schneidefläche zeigten an, wo man Vasquez’ Hand abgehackt hatte. Ein Fleischerbeil lag auf dem Boden. Blut hatte sich wie ein Wasserfall von der Anrichte ergossen.

»Keine Fingerabdrücke auf dem Messer«, sagte Sara. »Sie haben den Griff mit Plastikfolie umwickelt, die sie dann in den Ausguss gestopft haben.«

Will sah, dass der Abfluss unter der Spüle zerlegt worden war. Saras Vater war Installateur – sie kannte sich mit einem Siphon aus.

»Alle meine Befunde zeigen, dass sie die Geistesgegenwart besessen haben, ihre Spuren zu verwischen«, sagte Sara.

»Wieso haben sie die Hand in die Kantine gebracht?«

»Ich vermute, sie haben sie einfach durch den Raum geschleudert.«

Will versuchte, eine brauchbare Theorie zu der Tat aufzustellen. »Als der Streit anfing, blieb Vasquez am Tisch sitzen. Er stand nicht auf, weil er neutral war.« Gefängnisinsassen hatten ihre eigene Art NATO. Ein Angriff auf einen Verbündeten bedeutete, dass man mitkämpfte. »Nur zwei Kerle sind auf ihn losgegangen, keine Bande.«

»Engt das den Kreis deiner Verdächtigen ein?«, fragte Sara.

»Insassen neigen dazu, Rassentrennung zu praktizieren. Vasquez wird sich vermutlich nicht offen mit Insassen anderer Herkunft verbrüdert haben.« Der Heuhaufen war geringfügig kleiner geworden. »Ich vermute, das Verbrechen war abhängig von einer passenden Gelegenheit geplant: Wenn es zu einem Aufruhr kommt, töten wir ihn folgendermaßen …«

»Chaos erzeugt Möglichkeiten.«

Will rieb sich das Kinn und studierte die blutigen Schuh- und Fußabdrücke auf dem Boden. Vasquez hatte sich nach Leibeskräften gewehrt. »Er muss über Informationen verfügt haben, die sie aus ihm herausquetschen wollten, oder? Man hackt nicht jemandem einfach so die Hand ab. Man hält ihn fest, man droht ihm, und wenn er einem dann noch immer nicht gibt, was man haben will, nimmt man ein Fleischerbeil und hackt ihm die Hand ab.«

»So würde ich es machen.«

Will lächelte.

Sara lächelte zurück.

Wills Handy summte in seiner Tasche. Er ignorierte den Anruf. »Vasquez war dafür bekannt, dass er Telefone im Körper versteckt hat. Haben sie ihn vielleicht deshalb ausgeweidet?«

»Ich weiß nicht, ob sie ihn wirklich ausgeweidet oder nicht eher wiederholt auf ihn eingestochen haben. Wenn sie nach einem Telefon gesucht haben, dürfte das Einprügeln mit dem Sockenschloss auf die Rippen wahrscheinlich zu einer Art Valsalva-Effekt geführt haben. Es hat ja einen Grund, warum Gefängniswärter einen husten lassen, wenn man vornübergebeugt steht. Der erhöhte Unterleibsdruck verringert die Kraft des Schließmuskels. Das Telefon wäre schon beim ersten Schlag herausgerutscht«, sagte Sara. »Außerdem ergibt es nicht viel Sinn, durch den Bauch zu schneiden. Wenn ich nach einem Telefon in deinem Arsch suche, sehe ich doch genau in deinem Arsch nach.«

Faiths Timing war perfekt. »Wollt ihr ungestört sein?«

Will nahm sein Handy aus der Tasche. Der verpasste Anruf vorhin war von Faith gekommen. »Wir glauben, dass Vasquez’ Mörder nach etwas gesucht haben. Informationen. Vielleicht ein Versteck.«

»Vasquez’ Zelle war sauber«, sagte Faith. »Keine Schmuggelware. Seiner Kunstsammlung nach zu schließen war er ein Freund nackter Damen und unseres Herrn Jesus Christus.« Sie winkte Sara zum Abschied und führte Will durch die Kantine zurück. Ihre Hand hatte sie zum Schutz vor dem Gestank auf die Nase gelegt. »Nick und Rasheed haben unsere Liste der Verdächtigen auf achtzehn Kandidaten eingegrenzt. Keiner wegen Mordes vorbestraft, aber wir haben zwei Totschläger und einen Fingerbeißer.«

»Sein eigener Finger oder der von jemand anderem?«

»Von jemand anderem«, sagte Faith. »Überraschenderweise gibt es keine zuverlässigen Zeugenaussagen, aber jede Menge Verräter haben idiotische Verschwörungstheorien ausgeplaudert. Wusstest du, dass der Schattenstaat über das System der Gefängnisbibliotheken einen Pädophilenring unterhält?«

»Ja«, sagte Will. »Denkst du, hinter dem Mord steckt ein persönlicher Aspekt?«

»Ganz sicher. Wir suchen nach zwei Hispanos, etwa in Vasquez’ Alter und aus dem engeren Kreis seines sozialen Umfelds?«

Will nickte. »Wann wurde Vasquez’ Zelle das letzte Mal gründlich durchsucht?«

»Es gab vor sechzehn Tagen eine Durchsuchung im gesamten Gefängnis. Der Direktor hat acht CERT-Teams hinzugezogen, um die Zellen auf den Kopf zu stellen. Das Sheriffbüro hat zwölf Deputys zur Verfügung gestellt. Shock and awe – die klassische Taktik von Schrecken und Furcht. Niemand hat es kommen sehen. Mehr als vierhundert Telefone wurden konfisziert, vielleicht zweihundert Ladegeräte, dazu die üblichen Drogen und Waffen, aber die Telefone waren natürlich das eigentliche Problem.«

Will wusste, was sie meinte. In einem Gefängnis konnten Mobiltelefone sehr gefährlich sein, auch wenn nicht alle Insassen sie für strafbare Zwecke nutzten. Der Staat sahnte bei allen Festnetzgesprächen ab, indem er ein Minimum von fünfzig Dollar für den Erwerb einer Telefonkarte verlangte, dann rund fünf Dollar für ein fünfzehnminütiges Gespräch und fast noch einmal fünf, wenn man sein Guthaben aufstockte. Ein Handy von einem anderen Insassen konnte man hingegen für etwa fünfundzwanzig Dollar die Stunde mieten.

Dann gab es die strafbare Verwendung. Smartphones konnte man dazu benutzen, um persönliche Informationen über Vollzugsbeamte zu sammeln, kriminelle Organisationen über verschlüsselte Nachrichten zu überwachen, Schutzgelderpressungen bei Familien von Mithäftlingen zu organisieren und – am wichtigsten – Geld einzusammeln. Apps wie PayPal und Venmo hatten Zigaretten und irgendwelche Geräte als Gefängniswährung abgelöst. Die anspruchsvolleren Gangs benutzten Bitcoins. Die Aryan Brotherhood, die Irish Mob Gang und die United Blood Nation strichen Millionen über das staatliche Strafvollzugssystem ein.

Handysignale zu blockieren war in den Vereinigten Staaten verboten.

Will hielt Faith die Tür auf, als sie das Gebäude verließen. Die Sonne brannte auf den leeren Gefängnishof hinunter. Er sah Schatten hinter den schmalen Fenstern der Zellen. Ein paar Männer brüllten. Der Druck aufgrund des Lockdowns war beinahe mit Händen zu greifen.

»Die Verwaltung.« Faith deutete auf ein einstöckiges Gebäude mit Flachdach. Sie nahmen den langen Weg um den Hof herum, statt quer über den gewalzten roten Sandplatz zu gehen.

Dort kamen sie an drei Vollzugsbeamten vorbei, die am Zaun lehnten und ins Leere starrten. Es gab nichts zu bewachen. Sie schienen genauso gelangweilt wie die Insassen. Oder vielleicht ließen sie sich nur Zeit. Sechs ihrer Kollegen waren bei dem Aufruhr verletzt worden. Als eingeschworene Gruppe waren Vollzugsbeamte nicht gerade dafür bekannt, dass sie leicht vergaben und vergaßen.

Faith sprach mit gesenkter Stimme. »Der Direktor ist total ausgerastet wegen der Telefone. Rassentrennung galt bereits bei voller Belegung. Er hat alle Hofgänge ausgesetzt, den Gefängnisladen geschlossen, Besuchszeiten gestrichen, Computer und Fernseher abgestellt und sogar die Bibliothek geschlossen. Zwei Wochen lang konnten die Typen hier drin nichts weiter tun, als sich gegenseitig hochzuschaukeln.«

»Klingt nach einer schlauen Methode, um einen Tumult auszulösen.« Will öffnete eine weitere Tür. Sie gingen an Büros mit Sichtfenstern zum Flur vorbei. Alle Stühle waren leer. Statt Schreibtischen gab es Klapptische, damit niemand etwas verstecken konnte. Die meisten Verwaltungsjobs wurden von Insassen erledigt. Ihr Stundenlohn von drei Cent war schwer zu unterbieten.

Das Büro des Direktors hatte kein Fenster zum Gang, aber Will erkannte Amandas täuschend ruhigen Tonfall hinter der geschlossenen Tür. Er stellte sich vor, dass der Mann schäumte. Direktoren mochten es nicht, überprüft zu werden. Ein weiterer Grund, warum der Mann wegen der vielen konfiszierten Telefone ausgeflippt war: Nichts war demütigender, als einen deiner Insassen live aus deiner eigenen Anstalt mit einem Fernsehsender sprechen zu hören.

»Wie viele Anrufe gingen während der Unruhen raus?«, wollte Will von Faith wissen.

»Einer zu CNN und einer zu 11Alive, aber es gab gerade eine Wahlskandalgeschichte, deshalb achtete niemand darauf.«

Sie hatten einen langen, breiten Flur mit einer noch längeren Schlange von Insassen erreicht. Es waren ihre achtzehn Mordverdächtigen, nahm Will an. Die Männer waren wie traurige gleichschenklige Dreiecke aufgestellt. Ihre Oberkörper waren nach vorn geneigt, die Beine gerade, und ihr ganzes Gewicht ruhte auf ihrer Stirn an der Wand, weil die beiden für sie zuständigen Vollzugsbeamten offenbar Riesenarschlöcher waren.

Die Regeln bei einem Lockdown schrieben vor, dass jeder Insasse außerhalb seiner Zelle auf eine Weise gefesselt wurde, die sich vierteiliger Anzug nannte. Die Hände mit Handschellen gesichert und die Handschellen vor dem Bauch an einer Kette befestigt. Die Fußknöchel waren mit einer dreißig Zentimeter langen Kette verbunden, was die Männer zu einem tänzelnden Gang zwang. Wenn man so gefesselt war und gezwungen wurde, sich mit der Stirn an eine Betonwand zu lehnen, lastete eine Menge Druck auf dem Hals und den Schultern. Die Bauchkette belastete das Kreuz zusätzlich, da die Hände durch die Schwerkraft nach vorn gezogen wurden. Offenbar standen die Männer schon eine ganze Weile so. Schweiß lief an den Wänden hinab. Will sah zitternde Gliedmaßen. Ketten rasselten wie Münzen in einem Wäschetrockner.

»Du lieber Himmel«, murmelte Faith.

Während Will ihr die Reihe entlang folgte, sah er eine Phalanx von Tätowierungen, allesamt im üblichen wackligen Gefängnisstil. Die Insassen schienen alle über dreißig zu sein, was logisch war. Will wusste aus Erfahrung, dass Männer unter dreißig eine Menge Dummheiten machten. Wenn ein Mann nach seiner dritten Lebensdekade immer noch im Gefängnis war, dann hatte er entweder richtig Scheiße gebaut, oder er war richtig verscheißert worden, oder aber er traf bewusst die Art von schlechten Entscheidungen, die ihn in dem Kreislauf festhielten.

Faith machte sich nicht die Mühe, an die geschlossene Tür des Vernehmungszimmers zu klopfen. Die Special Agents Nick Shelton und Rasheed Littrell saßen mit einem Stapel Akten vor sich am Tisch.

»… sag dir, die Kleine hatte einen Hintern wie ein Zentaur.« Rasheed unterbrach seine Geschichte, als Faith eintrat. »Sorry, Mitchell.«

Faith machte ein finsteres Gesicht, als sie die Tür schloss. »Ich bin doch kein halbes Pferd!«

»Scheiße, bedeutet es das etwa?« Rasheed lachte gutmütig. »Was läuft, Trent?«

Will hob zur Begrüßung kurz das Kinn.

Faith blätterte durch die Akten auf dem Tisch. »Sind das alle Dossiers?«

Das Dossier eines Insassen war praktisch ein Tagebuch seines Lebens – Berichte über Festnahmen, Verurteilungen, Einzelheiten zu Verlegungen, Krankenblätter, Beurteilung des geistigen Zustands, Einschätzung seiner Gefährlichkeit, Bildungsniveau, Behandlungsprogramme, Aufzeichnungen seiner Besuche, Disziplinarstrafen, religiöse Orientierung, sexuelle Präferenz.

»Sieht irgendwer verheißungsvoll aus?«, fragte Faith.

Rasheed klärte sie über die achtzehn Gefangenen im Flur auf. Will hatte dem Special Agent die ganze Zeit das Gesicht zugewandt, als würde er genau zuhören, aber in Wirklichkeit überlegte er, was er zu Nick Shelton sagen sollte.

Vor etlichen Jahren, als Nick dem südöstlichen Außenbüro des GBI zugeteilt war, hatte er sehr eng mit Jeffrey Tolliver, Saras totem Ehemann, zusammengearbeitet, dem Polizeichef von Grant County. Er hatte auf dem College Football gespielt, und nach allem, was man hörte, war er ein toller Hecht. Manche von Nicks Zusammenfassungen ihrer Fälle lasen sich wie ein Filmdrehbuch. Jeffrey Tolliver war der Lone Ranger, und Nick war sein Tonto gewesen – ein Tonto, der so lässig wie Barry Gibb von den Bee Gees mit Goldkettchen und viel zu engen Jeans daherkam. Die beiden Cops hatten Pädophilenringe, Drogenhändler und Mörder zur Strecke gebracht. Jeffrey hätte seine Verdienste in einen wesentlich höheren Gehaltsscheck in einer größeren Stadt ummünzen können, aber er hatte auf Ruhm und Ehre verzichtet, um Grant County zu dienen.

Wahrscheinlich hätte Sara ihn auch ein drittes Mal geheiratet, wenn er nicht während der zweiten Runde ums Leben gekommen wäre.

»Damit kann man arbeiten«, sagte Faith. Anders als Will hatte sie bei Rasheeds Zusammenfassung tatsächlich aufgepasst. »Sonst noch etwas?«, fragte sie.

»Nö.« Nick kratzte sich seinen Barry-Gibb-Bart. »Ihr könnt den Raum hier übernehmen. Rash und ich müssen noch mal ein paar Zeugen befragen.«

Faith setzte sich auf Rasheeds frei gewordenen Platz und griff sofort nach den Disziplinarberichten. Sie glaubte fest daran, dass sich Geschichte immer wiederholte.

Nick fragte Will: »Was treibt Sara so?«

Will hetzte in Gedanken durch eine Reihe demütigender Antworten, dann entschied er sich für: »Sie ist in der Kantine. Du solltest ihr Hallo sagen.«

»Danke, Mann.« Nick packte Wills Schulter und tätschelte sie kurz, bevor er hinausging.

Will schenkte der Nummer mit dem Schulterklopfen zu viel Beachtung. Das Ganze lag irgendwo zwischen dem Todesgriff eines Vulkaniers und dem Kraulen eines Hundearschs.

Faith wartete, bis die Tür zugefallen war. »War das unangenehm?«

»Kommt darauf an, welche Hälfte des Pferdes du fragst.« Will legte die Hand auf den Türgriff, drückte ihn jedoch nicht herunter. »Wie ziehen wir die Sache auf? Ich weiß nicht, ob diesen Kerlen wohl dabei ist, wenn sie von einer Frau befragt werden.«

»Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie holte ein Dossier aus dem Stapel. »Maduro.«

Will öffnete die Tür. Der Vollzugsbeamte wartete draußen. Will sprach mit gedämpfter Stimme. »Lassen Sie die Männer sofort von der Wand zurücktreten, sonst sorge ich dafür, dass Sie Ihre Lunge rauspissen.«

Der Mann starrte Will an, aber wie die meisten, die gern Schwächere schikanierten, war er ein Feigling. Er drehte sich zu den Gefangenen um und brüllte: »Insassen! Auf den Boden!«

Es erklang ein kollektives erleichtertes Aufstöhnen. Die Männer mussten sich förmlich von der Betonwand schälen. Alle hatten grelle rote Flecken auf der Stirn und glasige Augen. Manche setzten sich mühsam hin, andere plumpsten einfach entkräftet zu Boden.

»Maduro, Sie sind dran«, rief Will.

Ein kleiner Hydrant von einem Mann, der sich gerade hinhocken wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Er drehte sich auf einem Fuß und verhedderte sich dabei in der kurzen Kette. Dreißig Zentimeter waren nicht viel, ungefähr die Länge von zwei Ein-Dollar-Noten, hintereinandergelegt. Maduros Gang war steif und mühsam. Er hielt seine Bauchkette hoch, damit sie sich nicht in seine Hüftknochen bohrte. Auf der Stirn hatte er blutige Spuren von der Betonwand, die wie Nadelstiche aussahen. Er schlurfte durch die Tür und wartete vor dem Tisch.

Die Gefängnisse in Georgia wurden nach paramilitärischen Grundsätzen geführt. Wenn die Insassen nicht angekettet waren, hatten sie die Hände beim Gehen auf dem Rücken verschränkt zu halten. Man erwartete, dass sie strammstanden, ihre Zellen tadellos sauber hielten und ihre Bettlaken straff zogen. Vor allem aber verlangte man von ihnen, dass sie die Vollzugsbeamten respektvoll ansprachen: Ja, Sir! Nein, Sir! Darf ich mich am Sack kratzen, Sir?

Maduro sah Will an und wartete darauf, dass man ihm sagte, was er tun solle.

Will verschränkte die Arme und ließ bewusst Faith die Führung übernehmen, denn diese Kerle standen unter Mordverdacht – sie hatten kein Wahlrecht, von wem sie vernommen werden wollten.

»Setzen Sie sich«, kommandierte Faith. Sie verglich den Ausweis und das Foto des Gefangenen mit seinem Dossier. »Hector Louis Maduro. Verbüßt vier Jahre wegen einer Reihe von Einbrüchen. Sieht weiteren achtzehn Monaten Haft wegen seiner Teilnahme an der Revolte entgegen. Hat man Sie über Ihre Rechte belehrt?«

»Español.« Der Mann lehnte sich schwerfällig zurück. »Tengo derecho legal a un traductor. O te podrías sacar la camisa y te chupo esas tetas grandes.«

Emmas Vater war Amerikaner mexikanischer Abstammung in der zweiten Generation. Faith hatte Spanisch gelernt, damit sie ihn in zwei Sprachen anpissen konnte. »Yo puedo traducir por ti, y puedes hacerte la paja con esa verguita de nada cuando vuelves a tu celda, pendejo de mierda.«

Maduros Augenbrauen gingen in die Höhe. »Verdammt noch mal, Süße, dieses dreckige Zeug haben sie dir aber nicht in der Schule für weiße Mädchen beigebracht.«

Faith kam zur Sache. »Sie waren als Kumpel von Jesus Vasquez bekannt.«

»Hören Sie.« Maduro beugte sich vor und umfasste die Tischkante. »Hier drin gibt es viele Häftlinge, die Ihnen erzählen werden, dass sie unschuldig sind, aber ich bin nicht unschuldig, okay? Ich habe diese Einbrüche verübt, für die ich verurteilt wurde, aber ich sage Ihnen mal was: Ich habe eine Menge Ungerechtigkeiten in dieser Anstalt gesehen – vom Personal an Insassen begangen, von Insassen an Insassen –, und Sie sollten wissen, dass ich ein Christenmensch bin, und Recht ist Recht und Unrecht ist Unrecht. Als ich gesehen hab, wie sich Insassen zu einem gemeinsamen Zweck zusammengetan haben, um die Menschenrechte von …«

»Wenn ich Ihren Vortrag unterbrechen darf«, sagte Faith. »Sie kannten Jesus Vasquez?«

Maduro schielte nervös zu Will.

Will bewahrte einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Er hatte gelernt, dass Schweigen bei einer Vernehmung sehr wirksam ein Gespräch in Gang setzen konnte.

»Sie wurden früher schon mit Mobiltelefonen erwischt«, sagte Faith zu dem Häftling. »Sie haben zwei Einträge in Ihrer Akte, weil Sie Streit mit …«

Nick platzte in den Raum wie eine Waffel aus dem Toaster. Er war sichtlich aus der Puste, Schweiß tropfte von seinen Koteletten, und er hielt ein verknittertes Blatt Papier in der Hand. »Raus«, sagte er zu Maduro.

Faith sah fragend zu Will, doch der zuckte nur die Achseln. Nick war seit zwanzig Jahren Agent. Er hatte von abscheulich bis dämlich alles gesehen. Wenn ihn etwas erschütterte, sollten sie alle erschüttert sein. Wenn ihn etwas nervös machte, dann sollten sie alle nervös sein.

»Beweg dich.« Nick schob Maduro zur Tür hinaus. »Bringen Sie die Männer in ihre Zellen zurück«, sagte er zu dem Vollzugsbeamten.

Die Tür wurde geschlossen. Nick sagte nichts. Er glättete das Papier auf dem Tisch. Schweiß tropfte darauf. Er atmete schwer.

Faith warf noch einen fragenden Blick zu Will.

Der zuckte genauso die Achseln wie fünf Sekunden zuvor.

Faith öffnete den Mund, um ihm die Information zu entlocken, aber Nick fing schon zu reden an.

»Ein Insasse namens Daryl Nesbitt hat mir diesen Zettel gegeben. Er will einen Deal. Er sagt, er weiß, wer Vasquez getötet hat und wie sie die Telefone ins Gefängnis schmuggeln.«

Diesmal war es Will, der Faith fragend ansah. Das war eine äußerst positive Entwicklung. Warum aber sah Nick dann so panisch aus?

Faith hatte die Geistesgegenwart, zu fragen: »Was steht noch auf dem Zettel?«

Nick antwortete ihr nicht, was noch merkwürdiger war. Stattdessen drehte er den Zettel herum und schob ihn zu Faith hinüber.

Sie überflog ihn und verkündete die wichtigsten Punkte. »Er will einen Deal machen. Er weiß, wo die Handys versteckt …«

»Dritter Absatz«, fiel ihr Nick ins Wort.

Faith las: »›Ich bin das Opfer einer Verschwörung, eingefädelt von der Polizei einer Kleinstadt, um mich für den Rest meines Lebens für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe, ins Gefängnis zu bringen.‹«

Will sah ihr beim Lesen nicht über die Schulter. Er sah Nick an. Der Mann war das Paradebeispiel für einen Zwiespalt. Das Einzige, was offenbar für ihn feststand: Er hatte nicht die Absicht, in Wills Richtung zu schauen.

Faith fuhr fort. »›Dieses beschissene County war ein Dampfkochtopf. Man hatte eine weiße Studentin überfallen, und der Campus war in heller Aufregung. Keine Frau fühlte sich mehr sicher. Der Chief musste also jemanden verhaften. Irgendwen. Sonst würde er seinen Job verlieren. Er zimmerte einen Grund zusammen, um mich dranzukriegen.‹«

Faith drehte den Kopf und sah Will an. Sie hatte offenbar schon ein Stück weitergelesen, und ihr gefiel nicht, worauf das Ganze zusteuerte.

Will konzentrierte sich weiter auf Nick, der plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürte, die kunstvollen Metallkappen an seinen blauen Cowboystiefeln zu säubern. Will sah ihm zu, wie er ein Taschentuch hervorzog, sich bückte und das Silber polierte.

Faith las weiter. »›Ich bin unschuldig. Ohne diesen korrupten Cop und seine noch korruptere Truppe wäre ich nicht hier. In Grant County haben alle die hirnrissigen Lügen des Chiefs geglaubt.‹«

Faith las noch weiter, aber Will hatte gehört, was er wissen musste.

Campus. Grant County. Der Chief.

Nesbitt sprach von Jeffrey Tolliver.

2

Faith musste die Männertoilette benutzen, weil die einzige Damentoilette zehn Gehminuten entfernt im Besucherflügel lag. Sie wusch sich die Hände in dem schleimig aussehenden Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Aber um den Gefängnisdreck aus den Poren zu bekommen, brauchte es mindestens einen Topfreiniger.

Selbst im Verwaltungsgebäude war die Verzweiflung mit Händen zu greifen. Sie hörte Geschrei aus dem Isolationstrakt. Weinen. Heulen. Betteln. Faiths Haut kribbelte wegen der widersprüchlichen Impulse, die sie verspürte – Flucht oder Kampf? Sie war im Fluchtmodus, seit sie durch das Gefängnistor getreten war. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie meistens die einzige Frau im Raum war. Die einzige Frau in einem Männergefängnis zu sein war allerdings noch eine ganz andere Geschichte. Sie durfte sich nicht zu weit von den Männern entfernen, von denen sie wusste, dass sie die Guten waren. Und mit den Guten waren die Typen gemeint, die sie nicht gleich zum Opfer einer Gruppenvergewaltigung machen würden.

Sie schüttelte das Wasser von den Händen und verdrängte ihre Angst. Sie brauchte ihre ganze Geisteskraft, um Daryl Nesbitt fertigzumachen, denn sie würde keinesfalls zulassen, dass Sara ihr ganzes Leben um die Ohren flog, weil irgendein dreckiger Sträfling um Aufmerksamkeit buhlte.

Faith öffnete die Tür. Nick und Will saßen mit versteinerten Gesichtern da. Sie konnte ihnen ansehen, dass sie nicht miteinander gesprochen hatten – wozu reden, wenn man auch schweigend vor sich hin brüten konnte?

»Dieses Arschloch Nesbitt«, sagte sie, »erzählt bestimmt nur Scheiße, oder? Er ist ein Sträfling. Es ist nie ihre Schuld. Sie sind immer unschuldig. Die Bullen sind immer korrupt. Scheiß auf den Kerl. Hab ich recht?«

Nicks Kopfbewegung ließ sich zur Not als Nicken deuten.

Will schaute finster.

»Was wissen Sie über Nesbitt?«, fragte sie Nick.

»Ich weiß, dass er wegen Pädophilie verurteilt wurde, aber ich habe mich nicht intensiver mit seiner Akte beschäftigt.«

Bei Daryl Nesbitt genau nachzubohren wäre das Erste gewesen, was Faith getan hätte, statt wie ein kopfloses Huhn loszurennen.

»Warum nicht?«, fragte sie.

Faith beobachtete, wie Nick den Kiefer vorschob, bis er wie ein Kropf aus dem Gesicht ragte. Das war also der Grund, warum Will so finster dreinschaute. Nick wäre nicht so aufgebracht, wenn er wirklich glaubte, dass Nesbitt log. Dann wäre er vorhin auch nicht so in den Vernehmungsraum gestürmt. Und seine Haut hätte nicht die Farbe von Wurstwasser. Jede von Nicks Reaktionen war wie ein riesiges Neonschild mit einem blinkenden Pfeil, der auf die Worte ES KÖNNTE SEIN! zeigte.

»Bringen wir es hinter uns.« Faith machte sich auf den Weg. Sie fragte erst gar nicht nach, wie es Will ging. Will würde nicht wegen eines vertraulichen Gesprächs innehalten. Aufgrund früherer Erfahrungen konnte sie ziemlich genau einschätzen, was ihm durch den Kopf ging: Er überlegte, wie er Sara das alles verschweigen konnte.

Faith war absolut an seiner Seite bei diesem Schweigekomplott. Herrgott noch mal, Sara hatte ihren Mann vor fünf Jahren sterben sehen. Sie war durch ein Höllenfeuer gekrochen, bis sie den Schmerz hinter sich gelassen hatte. Sie war endlich glücklich mit Will. Die beiden würden wahrscheinlich heiraten, falls Will je den Mut aufbrachte, sie zu fragen. Es gab keinen Grund, Sara von Daryl Nesbitt zu erzählen, solange es nichts zu erzählen gab.

Faith bog nach links in das letzte Büro am Ende des Flurs ab.

Nesbitt saß auf einem Stuhl hinter dem Klapptisch. Er war ein Weißer, Mitte dreißig, hatte braunes Haar mit grauen Strähnen, seine Brille war am Steg mit Klebeband geflickt. Er war nicht gefesselt. Keine Handschellen, keine Ketten. Die untere Hälfte eines Beins fehlte; eine Unterschenkelprothese lehnte an der Wand. Er sah aus wie ein Kiffer, der davon geträumt hatte, ein Skateboard-Star zu werden, aber am Ende wegen eines Überfalls auf einen Donut-Laden verhaftet wurde. Zeitungsausschnitte lagen ordentlich gestapelt vor ihm auf dem Tisch.

Nick stellte die Anwesenden vor. »Daryl Nesbitt, Special Agents Trent und Mitchell.«

Nesbitt kam sofort zur Sache. »Die hier …«, sein Finger stieß in einen Stapel von Artikeln, »sie war zweiundzwanzig.« Er zeigte auf einen anderen Stapel. »Und die neunzehn.«

Faith setzte sich auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, gegenüber von Nesbitt. Sie fand, der Mann roch nach Verwesung, aber vielleicht miefte auch sie selbst. Ihre Kleidung und ihr Haar hatten den Tatortgeruch in der Kantine angenommen. Das Büro war klein, nur geringfügig größer als eine der Zellen. Nick stellte sich direkt hinter den Häftling, den Rücken an die Wand gepresst. Will blieb in der Tür hinter Faith stehen.

Sie schwieg weiter, damit Nesbitt wusste, wer das Sagen hatte. Demonstrativ hatte sie nicht auf die Zeitungsausschnitte geblickt, aber sie hatte genug gesehen, um im Wesentlichen Bescheid zu wissen. Zehn Stapel insgesamt, mit jeweils vielleicht fünf, sechs Artikeln. Zwei der Stapel sahen neu aus, die anderen acht waren mit der Zeit vergilbt. Ein Satz war fast völlig ausgebleicht. Die graue Schrift war nur noch schemenhaft erkennbar. Sie sah das Zeitungslogo des Grant Observer. Von den Artikeln hatte Nick nichts gesagt. Andererseits sagte Nick nie viel über irgendwas.

»Wenn Sie lesen …«, fing Nesbitt an.

»Moment.« Sie stellte die Befragung auf eine offizielle Basis. »Sie sind zwar in Haft, aber Sie haben trotzdem das Recht, zu …«

»Ich verzichte auf meine Rechte.« Nesbitt zeigte die offenen Handflächen. »Ich bin hier, um einen Deal zu machen. Ich habe nichts zu verbergen.«

Daran hatte Faith ernsthafte Zweifel. Wäre sie Nesbitt auf der Straße begegnet, sie hätte ihn sofort als Kriminellen eingestuft. Die tief liegenden Augen. Die angriffslustig gesenkten Schultern. Wenn dieser Mann nichts verbarg, dann hatte sie den falschen Beruf gewählt.

Er zeigte wieder auf die Artikel. »Sie müssen die lesen. Dann werden Sie verstehen.«

Sie las einige der Schlagzeilen vom ersten Stapel der Ausschnitte: Teenagerleiche im Wald gefunden – Studentin für vermisst erklärt – Mutter fordert von Polizei, nach verschwundener Tochter zu suchen.

Sie blätterte die anderen Stapel durch. Immer das Gleiche, und immer in umgekehrter zeitlicher Abfolge, sodass es mit dem Fund einer Leiche anfing und damit aufhörte, dass eine Frau nicht zur Arbeit, zur Vorlesung oder zu einem Familienessen erschienen war. Jemand musste diese Ausschnitte für Nesbitt gesammelt haben, denn es gab keine Zeitungen im Gefängnis. Die Artikel waren ihm wohl mit der Post geschickt worden. Und da es tatsächlich Artikel aus Printmedien waren, nahm sie an, dass eine ältere Verwandte diese ehrenvolle Aufgabe übernommen hatte.

Faith schaute nach den Datumsangaben. Die Grant-County-Ausschnitte waren acht Jahre alt. Die anderen stammten aus der Zeit danach. »Diese Artikel sind nicht direkt aktuell.«

»Meine Recherchemöglichkeiten sind durch die Umstände beschränkt.« Nesbitt zeigte auf die beiden jüngsten Fälle. »Die hier ist vor drei Monaten verschwunden. Ihre Leiche wurde letzten Monat gefunden. Die hier wurde gestern Morgen entdeckt. Gestern Morgen!«

Seine Stimme war bei den letzten Worten schrill geworden. Faith ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie antwortete, um klarzumachen, dass sie Geschrei nicht dulden würde. »Wie haben Sie von der Leiche erfahren, wenn Sie seit den Unruhen in Ihrer Zelle bleiben mussten?«

Nesbitt öffnete schmatzend den Mund und schloss ihn sofort wieder. Er musste Zugang zu einem Handy gehabt haben. »Die Frau heißt Alexandra McAllister. Ihre Leiche wurde von zwei Wanderern aufgefunden.«

Faith wollte nach Will sehen. Sie warf einen Blick über die Schulter und sagte ihm den Namen der Stadt, wo die Tote gefunden worden war. »Sautee Nacoochee.«

Er nickte, blieb aber auf Nesbitt fokussiert. Will war gut darin, Lügner aufzudecken. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen sah er hier keinen vor sich.

Faith überflog den acht Tage alten Artikel über Alexandras Verschwinden. Die Frau war wandern gegangen und nicht zurückgekehrt. Die Suche war wegen rauen Wetters eingeleitet worden. Sautee lag im White County, was bedeutete, dass das Sheriffbüro die Ermittlung leitete. Faith hatte in den Nachrichten einen Bericht über den Fund der Frauenleiche im Wald gesehen. Der Reporter hatte gesagt, man gehe nicht von einem Verbrechen aus.

»Wer hat Ihnen die geschickt?«, fragte sie Nesbitt.

»Ein Freund, aber das spielt keine Rolle. Ich habe wertvolle Informationen einzutauschen.« Nesbitt verschränkte die Hände. Seine Nägel hatten schwarze Ränder, wie Schimmel um die Fliesen in einer Dusche. »Ich weiß, wer Jesus Vasquez getötet hat.«

»Das wissen wir bis heute Abend wahrscheinlich sowieso.« Faith bluffte, aber nicht zu sehr. Sie war sich nach Durchsicht der Akten ihrer achtzehn Verdächtigen ziemlich sicher, dass sie nahe dran waren, ihre Täter festzunageln. »Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karten sind sehr teuer.«

»Ich kann Ihnen die Zeit ersparen. Alles, was ich verlange, ist eine faire Chance.«

Er hielt etwas zurück. Natürlich. Sträflinge hielten sogar den Glückwunsch zurück, wenn sie ihre Mutter zum Geburtstag anriefen.

»Sehen Sie sich die an.« Nesbitt zeigte wieder auf die Artikel. »Sie könnten die Polizistin sein, die einen Serienmörder verhaftet. All diese Frauen wurden nach meiner Verhaftung gekillt. Das ist der Kerl, den Sie suchen, nicht ich. Ich bin unschuldig.«

»Das unterscheidet Sie von allen anderen Häftlingen in diesem Gefängnis.«

»Sie hören mir nicht zu, verdammt noch mal!« Nesbitts Stimme war laut genug, damit sie in dem engen Raum hallte. Er biss die Zähne zusammen, um einen Wortschwall zurückzuhalten, denn er hatte genug Zeit in Anstalten verbracht, um zu wissen, dass Wut ihn nirgendwohin brachte. Aber da er jede Menge Zeit in Anstalten verbracht hatte, hieß das auch, dass Selbstbeherrschung eher nicht zu seinen Stärken zählte.

»Ich gehöre nicht in diese Einrichtung«, sagte er. »Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Die dortige Polizei hat mich eingelocht, weil eine junge weiße Frau getötet wurde, und sie mussten es jemandem anhängen. Das war offensichtliches Profiling.«

»Statistisch gesehen werden weiße Frauen am wahrscheinlichsten von weißen Männern ermordet«, sagte Faith.

»Das meine ich nicht mit Profiling!« Nesbitt verlor endgültig die Beherrschung. »Warum hörst du mir nicht zu, du dummes Miststück?«

Faith spürte, dass sich Will hinter ihr anspannte wie eine Klapperschlange.

Nick hatte sich von der Wand abgestoßen.

Nesbitt war umstellt, aber er ballte noch immer die Fäuste. Sein Hintern berührte kaum den Stuhl. Faith schoss durch den Kopf, was er alles mit ihr anrichten konnte, bevor Nick und Will ihn stoppten. Dann verbannte sie diesen Gedanken. Sie hatte zu Will gesagt, dass Insassen wie Kleinkinder waren. Und wenn Faith sich mit etwas auskannte, dann mit ungezogenen Kindern.

»Auszeit.« Faith bildete ein T mit den Händen. »Nesbitt, wenn wir weiterreden sollen, dann müssen Sie etwas für mich tun.«

Nesbitt schäumte weiter auf seinem Stuhl, aber er hörte immerhin zu.

»Atmen Sie tief ein, und dann lassen Sie die Luft langsam wieder raus.«

Er sah verwirrt aus, und genau darum ging es.

»Fünf Mal. Ich mache mit.« Faith atmete tief ein, damit er anfing. »Ein – und aus.«

Nesbitt gab endlich nach, seine Brust hob und senkte sich, dann ein zweites Mal, und schließlich wich die rasende Wut aus seinen Augen.

Faith stieß geräuschvoll ihren fünften Atemzug aus und spürte, wie ihr Puls sich allmählich verlangsamte. »Okay, erklären Sie mir das genauer. Warum haben Sie Agent Shelton darauf angesprochen und nicht den Direktor?«

»Der Direktor ist ein Schlappschwanz, ein einziges Stück Scheiße. Ich kenne das Gesetz. Das GBI ist für Ermittlungen gegen korrupte Polizeibeamte zuständig.« Nesbitt hatte die Worte förmlich ausgespuckt, aber er bemühte sich jetzt sichtlich um einen ruhigeren Ton. »Ich bin ein Opfer polizeilicher Korruption. Ich bin ins Visier geraten, weil ich arm bin. Weil ich vorbestraft war. Weil ich zu viel Zeit mit Mädchen verbracht habe.«

Mädchen.

»Wie alt waren diese jungen Damen?«, fragte Faith.

»Das ist nicht der Punkt. Himmel noch mal.« Nesbitts Faust schwebte über dem Tisch. Er fing sich, bevor er sie niedersausen ließ. Unaufgefordert atmete er wieder tief ein und stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor. Sein Atem roch faulig. Faith bemerkte, dass seine Haut klamm war.

Sie warf einen raschen Blick hinter Nesbitt. Nick hatte seine Brille aufgesetzt, damit er die Artikel über den Fall in Grant County lesen konnte. Acht Jahre fühlten sich wie ein ganzes Leben an. Die Zeitung war so alt, dass er sie vorsichtig mit beiden Händen hielt, um sie nicht zu zerreißen. Sie erkannte an seinem Gesicht, dass er jedes Wort, das er las, wie einen Hieb in die Magengrube empfand.

Faith sagte zu Nesbitt: »Wie gesagt, wir haben die Sache mit Vasquez so ziemlich aufgeklärt, und wenn wir uns entscheiden, diese Fälle hier zu untersuchen, dann haben Sie uns die Artikel ja schon gegeben, deshalb brauchen wir eigentlich …«

»Warten Sie!« Er wollte nach ihrer Hand greifen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. »Warten Sie einfach, okay? Ich hab noch mehr.«

Faith ließ die Hand auf dem Tisch, auch wenn der Impuls, sie zurückzuziehen, fast unwiderstehlich war. Sie sah auf ihre Uhr. »Ich gebe Ihnen eine Minute.«

»Vasquez wurde wegen seinem Vertriebsnetz getötet.« Nesbitt fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, er war begierig auf eine Reaktion. »Ich kann Ihnen verraten, wie sie die Telefone ins Gefängnis schaffen. Wo sie sie verstecken. Wie das mit dem Geld läuft. Ich werde nicht vor Gericht aussagen, aber ich kann Sie genau zu ihrem Übergabeort führen, wo die Telefone eintreffen.«

Auch wenn es offensichtlich war, fühlte sich Faith verpflichtet, darauf hinzuweisen. »Wir können das Vertriebsnetz selbst auseinandernehmen. Wir haben es vor vier Jahren getan. Fast fünfzig Vollzugsbeamte sitzen deshalb im Augenblick hinter Gittern.«

»Haben Sie noch ein Jahr Zeit, um eine Untersuchung anzuleiern?«, fragte Nesbitt. »Will das GBI wirklich so viel Zeit, Geld und Ressourcen vergeuden und das FBI, die DEA und das Sheriffbüro einbeziehen? Wollt ihr eine verdeckte Operation starten, die Millionen Dollar kostet und euch Armleuchter am Ende nur in Verlegenheit bringt, weil ihr jedes Mal, wenn ihr die Nachrichten im Fernsehen einschaltet, diese schlimmen Cops vor Gericht seht?«

Der Kerl hatte seine Hausaufgaben gemacht. Geld. Bundesbehörden. Öffentliche Demütigung. Was er sagte, hätte jedem Polizisten vom Rang eines Sergeanten aufwärts eine Heidenangst eingejagt.

»Ich kann Ihnen den Telefonschmuggel auf dem Silbertablett präsentieren«, sagte Nesbitt. »Ich gebe Ihnen eine Woche, um sich diese Fälle in den Zeitungen anzusehen. Eine Woche statt einer jahrelangen Ermittlung. Und Sie nageln zusätzlich einen Serienmörder fest. Alles, was Sie tun müssen, ist …«

»Schluss jetzt mit dem Quatsch!« Ohne Warnung riss Nick Nesbitts Stuhl zurück und ließ ihn gegen die Wand krachen.

Faith erschrak dermaßen, dass sie hochschoss und ihre Hand zum Gürtel zuckte, aber ihre Waffe lag in einem Schließfach beim Metalldetektor. »Agent Shelton!«, dröhnte sie mit ihrer Polizeistimme. »Lassen Sie den …«

»Du schleimiger Kinderficker.« Nick packte Nesbitt am Hemd und zerrte ihn hoch. »Du weißt, du kommst hier nicht raus. In deinem eigenen Artikel steht, dass deine Verurteilung zweimal bestätigt wurde. Niemand hat deinen Blödsinn geglaubt. Nicht die Jury. Nicht das Berufungsgericht. Nicht der Oberste Gerichtshof des Bundesstaats.«

»Na und?«, schrie Nesbitt zurück. »Sandra Bland ist tot! John Hinckley ist ein freier Mann. O. J. Simpson spielt Golf in Florida. Wollen Sie mir erzählen, dass unsere Justiz gerecht ist?«

Nicks Gesicht kam seinem so nah, dass sich ihre Nasen fast berührten. Er holte mit der Faust aus. »Ich will dir erzählen, dass du dein verdammtes Maul halten sollst, sonst schlag ich dich verflucht noch mal zusammen.«

Wills Hand lag jetzt auf Nicks Schulter. Faith hatte gar nicht gesehen, dass er sich bewegt hatte, aber plötzlich war er da. Sie sah, wie er die Finger beugte und streckte. Es war fast so wie vorhin im Vernehmungszimmer, als Nick seine Schulter getätschelt hatte.

Faith gingen bereits sämtliche Möglichkeiten durch den Kopf, wie die Situation weiter eskalieren könnte, als sich die Atmosphäre im Raum veränderte.

Nick drehte sich langsam um und sah Will an. Sein Blick war wild – und dann plötzlich nicht mehr. Seine Muskeln waren angespannt – und dann plötzlich nicht mehr. Er öffnete die geballten Fäuste. Er trat einen Schritt zurück.

»Himmel!« Nesbitt hüpfte auf einem Bein und versuchte, ein wenig Abstand zwischen sich und Nick zu bringen.

Will stellte den Stuhl auf und half Nesbitt, sich wieder zu setzen.

Faith flehte Nick wortlos an, zu gehen, aber er nahm wieder seinen Platz hinter dem Häftling ein, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben.

»Arschloch.« Nesbitt strich sein zerknittertes Shirt glatt. Er war sichtlich mitgenommen. Faith ging es nicht besser. So lief das nicht. Sie hatte Nick noch nie so explodieren sehen, und sie wollte es auch nie mehr sehen.

»Okay.« Faiths Herz schlug so laut, dass sie ihre eigene Stimme kaum hörte. Sie musste die Vernehmung wieder aufs richtige Gleis bringen, nicht zuletzt deshalb, um in einem Prozess gegen Nick wegen tätlichen Angriffs auf einen Häftling nicht als Zeugin auftreten zu müssen.

»Nesbitt, ich höre Ihnen zu. Erzählen Sie mir von den Artikeln. Wonach suchen wir?«

Nesbitt wischte sich über den Mund. »Sie wollen ihm das durchgehen lassen?«

»Was durchgehen lassen?« Faith schüttelte gespielt ahnungslos den Kopf, als gehöre sie zur beschissensten Sorte Cop, die es gab. »Ich hab nichts gesehen.«

Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Will ebenfalls den Kopf schüttelte.

»Nesbitt«, sagte sie. »Das ist Ihr großer Moment. Entweder Sie fangen an zu reden, oder wir gehen.«

»Ich wurde reingelegt.« Nesbitt wischte sich wieder über den Mund. »Das ist die reine Wahrheit. Ich wurde gelinkt.«

»Okay.« Faith spürte, wie ihr der Schweiß in Strömen über den Rücken lief. Sie musste diesem Mann das Gefühl vermitteln, dass man ihm zuhörte. »Wer hat Sie reingelegt? Erzählen Sie mir davon.«

»Es waren diese verdammten Kleinstadtbullen, okay? Sie hatten alles, was in diesem County lief, unter Kontrolle. Der Staatsanwalt, die Richter, die Jury – alle haben diesen selbstgerechten Cowboy-Bockmist geglaubt.«

Er drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass sie alle wussten, welche Art Cowboy-Bockmist er meinte.

»Vorsicht, Kleiner«, grollte Nick mit heiserer Stimme. »Lass hier lieber nichts raus, was du nachher nicht wieder zurück in die Flasche kriegst.«

Nesbitts Zorn war tiefer Verzweiflung gewichen. »Du blödes Hinterwäldlerarschloch! Was, glaubst du, hab ich zu verlieren?«

Faith war darauf gefasst, dass Nick wieder etwas Dummes tat, aber er hob nur das Kinn und starrte in den Flur hinaus.

Sie studierte Nesbitts Gesicht. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und tiefe Furchen in der Stirn. Er sah aus wie ein alter Mann. Ein Aufenthalt im Knast ließ fast jeden schneller altern, aber mit einer Körperbehinderung inhaftiert zu sein musste erst recht die Hölle sein.

Faith trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Woher wissen Sie über Vasquez’ Telefongeschäft Bescheid?«, fragte sie.

»Ich putze seit sechs Jahren in diesem Laden. Niemand nimmt mich wahr, deshalb kriege ich alles mit.« Nesbitt zählte an den Fingern ab. »Ich kann Ihnen Namen, Orte, Lieferanten und Händler nennen. Sie glauben, der Direktor hat alle Handys gefunden? Hier drin kannst du nicht mal scheißen, ohne dass ein Handysignal rausgeht.«

Faith überflog die Grant-County-Artikel und fand bestätigt, was Nick gesagt hatte. »Sie haben bereits zwei Berufungsverfahren verloren. Sie wissen, Richter geben nicht gerne zu, dass sich ihre Kollegen geirrt haben. Was haben Sie davon, wenn die Fälle untersucht werden?«

»Davon haben alle etwas. Das sind schmutzige Cops. Sie haben den Falschen eingelocht. Sie haben mich reingelegt und den wahren Mörder davonkommen lassen. Die Seuche hat im Grant County angefangen, aber sie hat sich über den ganzen Bundesstaat ausgedehnt, und jetzt sind diese anderen Frauen deswegen tot.« Nesbitt lehnte sich mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck zurück. Er spürte, wie sich die Stimmung drehte. »Wir sind noch eine Woche im Lockdown. Wie gesagt, ich gebe Ihnen so lange Zeit, sich die Sache anzusehen.«

»Sie müssten uns etwas anbieten«, sagte Faith. »Etwas, das beweist, dass Sie liefern können, was Sie versprechen.«

»Ich werde Ihnen ein Versteck verraten, sobald ich weiß, dass Sie die Fälle ernsthaft untersuchen.«

»Definieren Sie das genauer«, sagte Faith. »Was verstehen Sie unter ›ernsthaft untersuchen‹?«

Der selbstgefällige Blick wurde noch selbstgefälliger. »Ich werde es wissen.«

Faith trommelte weiter mit den Fingern auf dem Tisch und versuchte, dieses Spiel zu einem Ende zu bringen. »Nehmen wir, rein hypothetisch natürlich, einmal an, wir finden einen Beweis dafür, dass Strafverfolger unangemessen gehandelt haben. Das garantiert Ihnen aber noch nicht, dass Sie hier rauskommen.«

Nesbitt bestätigte ihre Vermutung. »Wenn ich schon nicht aus diesem Höllenloch rauskomme, wäre das Zweitbeste, dass diese korrupten Scheißkerle hier drin landen.«

»Ich sage Ihnen das nur ungern«, erwiderte Faith. »Aber Chief Jeffrey Tolliver ist vor fünf Jahren gestorben.«

»Glauben Sie, das weiß ich nicht? Das ganze verdammte County war bei seiner Beerdigung. Mitten auf der Main Street gibt es so eine beschissene Gedenktafel an einem Gebäude, als wäre er ein Held gewesen, aber ich sage Ihnen, er war das reinste Gift.« Nesbitt zeigte sich wieder aufgewühlt, diesmal aus rechtschaffener Empörung. »Tolliver war der Rädelsführer. Er hat der ganzen Polizei im County beigebracht, wie man das Gesetz bricht und ungestraft davonkommt, und sie treiben es immer noch so. Ich will, dass diese verdammte Ehrentafel runtergerissen wird. Dann scheiße ich auf seinen Namen und stecke sie in Brand.«

Faith musste zu einem Abschluss kommen, bevor Nick wieder explodierte.

»Egal, wie solide Ihre Informationen sind«, sagte sie, »aber der Staat wird keine Ressourcen für einen Rachefeldzug aufwenden. Wir untersuchen Verbrechen. Wir bereiten Anklagen vor. Wir können nicht im Nachhinein Tote anklagen.«

»Dieses dreckige Miststück wird Tolliver in der Sekunde verpfeifen, in der Sie ihr die Handschellen zeigen.« Nesbitt tippte mit dem Zeigefinger auf einen der Grant-County-Artikel.

DETECTIVE IM ZEUGENSTAND!

»Sie ist immer noch Polizistin«, sagte er. »Sie treibt immer noch ihr schmutziges Spiel da draußen, das sie von Tolliver gelernt hat, und macht alles kaputt, was sie anfasst. Es ist Ihre Aufgabe, korrupte Cops zur Strecke zu bringen. Ich garantiere Ihnen, wenn Sie sie zu Fall bringen, wird sie Tolliver und alle anderen mit sich in den Abgrund reißen.«

Selbst ohne Kenntnis des Artikels wurde durch das sie eindeutig klar, wer gemeint war. In der gesamten Geschichte von Grant County hatte es nur einen einzigen weiblichen Detective gegeben. Lena Adams war seinerzeit direkt von der Polizeischule rekrutiert worden. So vielversprechend sie auch gewirkt hatte, ihr anfänglich guter Ruf hatte sich bald in einem Morast aus Fehlleistungen wegen Faulheit und schmutzigen Tricks aufgelöst.

Faith wusste das, weil das GBI schon früher gegen Lena Adams ermittelt hatte. Will war der zuständige Agent gewesen. Sara hätte ihn beinahe verlassen, als sie es herausfand. Und das aus gutem Grund. Nesbitt lag gar nicht falsch damit, dass Lena Adams alles zerstörte, was sie anfasste.

Ihretwegen war Jeffrey Tolliver ermordet worden.

Faith stützte den Kopf in die Hände, als sie Daryl Eric Nesbitts Akte durchlas. Die war dick wie eine Bibel, größtenteils ging es um medizinische Aufzeichnungen wegen seiner Amputation. Faith schwindelte von dem unverständlichen Fachjargon. Ihr Rücken schmerzte. Sie balancierte mit dem Hintern auf einer Art Kirchenbank in der Gefängniskapelle, sitzen konnte man das kaum nennen. Sie hob den Kopf, um nach Will zu sehen. Er tat das, was er immer tat: Er lehnte an einer Wand und hörte zu, ohne zuzuhören. Nick fasste für Amanda zusammen, was Nesbitt ihnen in dem engen Büro erzählt und warum er, Nick, bis jetzt gewartet hatte, ehe er ihr davon erzählte.

Faith fragte sich, ob er erwähnen würde, dass er den Häftling körperlich angegriffen hatte, aber Nick schien sich hauptsächlich auf Nesbitts selbstgefälliges Auftreten zu konzentrieren. Später am Abend, wenn Faith dann schlaflos in ihrem Bett lag, würde sie jede Sekunde der Vernehmung aus dem Gedächtnis noch einmal durchgehen und sich heftig dafür kritisieren, dass sie Nick geschützt hatte. Es war instinktiv geschehen, aus dem Bauch heraus, so wie Kotzen bei einer Lebensmittelvergiftung.

Und das Schlimmste war: Sie wusste, sie würde beim nächsten Mal wieder so handeln.

Faith blinzelte, um klarer zu sehen. Sie ignorierte das leise Grollen Amandas, als sie eine ihrer pointierten Fragen stellte. Sie sah sich in dem Raum um, der für sämtliche Konfessionen eingerichtet war, mit Jesus-Abbildungen aller Art sowie einem Metallsieb, das vermutlich für Pastafaris gedacht war, eine Weltanschauung, die nach mehreren Prozessen vom Staat gesetzlich anerkannt wurde. In die Kanzel waren Graffiti geritzt. Bunte Aufkleber verliehen dem einzigen schmalen Fenster einen Buntglaseffekt. Der feuchtkalte kleine Raum war so deprimierend, dass er den Papst zum Atheisten gemacht hätte.

»Ma’am.« Nick rang erkennbar um Beherrschung. »Tolliver war so solide, wie man nur sein kann. Das wissen Sie. Er war einer der besten Cops – der besten Menschen – im ganzen verdammten Staat. Ich habe ihm mein Leben mehr als einmal anvertraut. Und ich würde es mit Freuden wieder tun, wenn er noch unter uns weilte. Himmel, ich würde sogar auf der Stelle mit ihm tauschen!«

Faith sah wieder nach Will. Es war schwer genug, mit einem Geist zu konkurrieren. Zu hören, wie Jeffrey hier in den Heiligenstand erhoben wurde, musste qualvoll für ihn sein.

Amanda fragte: »Es gibt keine Möglichkeit, beides zu trennen? Adams vor den Bus zu stoßen – und Tolliver aus der Sache herauszuhalten?«

Nick schüttelte den Kopf.

Genau wie Faith. Daryl Nesbitt war offenbar entschlossen, Tollivers Namen zusammen mit Lenas in den Dreck zu ziehen. Was mit einem besonderen Talent dieses abscheulichen Miststücks zusammenhing. Sie brachte es immer fertig, ihre gesamte Umgebung mit Dreck zu besudeln.

»Also gut.« Amanda nickte knapp. »Nesbitt bietet zwei Dinge an. Erstens die Namen von Vasquez’ Mördern. Zweitens Informationen darüber, wie Handys in diese Einrichtung gelangen. Im Gegenzug räumt er uns eine Frist von einer Woche ein, um die Fälle der toten Frauen aus den Zeitungsartikeln neu aufzurollen und gegen Grant County zu ermitteln. So weit richtig?«

»Ja«, sagte Nick.

Faith nickte.

Will hielt weiter die Wand aufrecht.

»Fangen wir mit dem Mord an Vasquez an«, sagte Amanda. »Zwei Verdächtige. Maduro und wer noch?«

»Ich tippe auf Michael Padilla«, sagte Nick. »Er ist ein Knochenbrecher mit einem psychotischen Einschlag. Wurde aus Gwinnett hierherverlegt, nachdem er einem anderen Häftling einen Finger abgebissen hat.«

Faith erinnerte sich an den Namen aus dem Aktenstapel, den sie durchgearbeitet hatte. »Es ist nicht so weit hergeholt, wenn man einem Fingerbeißer zutraut, dass er eine Hand abhackt.«

»Nick, sehen Sie zu, ob Sie Maduro dazu bringen, dass er sich gegen Padilla wendet. Wenn wir den Vasquez-Fall aufklären, ziehen wir Nesbitt die Füße weg.«

Faith zuckte zusammen. Amanda wusste nichts von Nesbitts Prothese, und Faith fiel keine Möglichkeit ein, es unbefangen zur Sprache zu bringen.

»Sara darf von alldem nichts erfahren«, rief Amanda Nick hinterher. »Verstanden?«

»Ja, Ma’am.« Nick trug einen grimmigen Zug um den Mund. Beim Verlassen der Kapelle tätschelte er wieder Wills Schulter. Faith wusste nicht, ob er ihm damit seine Unterstützung anbieten oder ihm für sein Eingreifen bei Nesbitt danken wollte. Tollivers Namen möglichst selten zur Sprache zu bringen war das Mindeste, was sie tun konnten.

Amanda sagte: »Faith, fass das Ganze für mich zusammen.«

»Okay. Jetzt wird es verzwickt. Grant County hat Nesbitt nie wegen Mordes angeklagt.«

Amanda zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nein?«

»Die Ermittlung läuft theoretisch noch, und der Fall gilt als ungelöst. Es gab eine Fülle von Indizienbeweisen, die zu der Annahme führten, dass Nesbitt der Mörder war. Was am dringlichsten gegen ihn sprach, war der Umstand, dass nach seiner Inhaftierung keine Taten mehr vorkamen.«

»Das Wayne-Williams-Paradigma.«

»Richtig. Nesbitt wurde wegen anderer Verbrechen verhaftet und verurteilt, die mit dem Mord nichts zu tun hatten, sondern im Zuge der Ermittlungen aufgedeckt wurden. Aber mutmaßlich hat er die zugrunde liegenden Taten begangen«, fügte Faith an. »Wenn ich ein übles Klischee bemühen darf, würde ich sagen, Nesbitt spielt Schach statt Dame. Er denkt, wenn wir ihn von dem Mordverdacht reinwaschen, eröffnet es ihm die Möglichkeit, seinen nächsten Schritt zu tun und auch die anderen Anklagen niederzuschlagen.«

»Die da wären?«

»Auf seinem Laptop wurden tonnenweise Kinderpornos entdeckt. Wir reden hier von Acht- bis Elfjährigen.« Faith schob den Gedanken an ihre eigenen Kinder beiseite. »Nesbitt wurde zu fünf Jahren mit der Möglichkeit einer Begnadigung nach drei Jahren verurteilt, aber dazu kam es nie. Der Idiot ist ein wahrer Meister darin, sich selbst zu schaden. Er machte von der ersten Minute an Ärger hier drin. Hat sich mit anderen geprügelt, wurde mit Schmuggelware erwischt, hat die falschen Leute bestohlen. Schließlich hat er einen Vollzugsbeamten k. o. geschlagen, der erst nach zwei Wochen wieder aus dem Koma erwacht ist. Dafür bekam er zwanzig Jahre wegen versuchten Mordes zusätzlich zu seiner ursprünglichen Strafe aufgebrummt.«

»Er sitzt also eine Buck-Rogers-Strafe ab«, sagte Amanda. Das war altmodischer Slang für ein Entlassungsdatum, das so weit in der Zukunft lag, dass es sich nach Science-Fiction anhörte. »Nesbitt hat nicht viel zu verlieren. Er ist als Unruhestifter berüchtigt. Wie ist dein Eindruck? Glaubt er wirklich, dass er am Ende hier rausspaziert?«

»Er ist unterschenkelamputiert.«

»Ändert das etwas an deiner Antwort?«

»Nein.« Faith versuchte, sich in Nesbitts Lage zu versetzen. »Er sitzt wegen des Angriffs auf den Vollzugsbeamten hinter Gittern, egal, was aus seinem ursprünglichen Fall wird. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem angeblichen Verfassungsbruch und seiner Tat gegen den Wärter. Aber jetzt kommt der Schachzug ins Spiel. Wenn die dunkle Wolke wegen der Grant-County-Ermittlung über seinem Kopf verschwindet und wenn er die Anklage wegen Kinderpornografie aus seinem Register kriegt, dann ist er aus der Schutzhaft raus. Dann kann er sich um eine Verlegung bemühen. Sicher, es gibt den Mordversuch an dem Vollzugsbeamten, aber ich kann mir ein Szenario vorstellen, bei dem er auf verminderte Schuldfähigkeit wegen seiner Behinderung plädiert. Das könnte ihm ein Ticket in eine Einrichtung mit niedriger Sicherheitsstufe einbringen, was im Vergleich zu der hier wie ein Country Club wäre.«

»Du denkst, er benutzt uns, um besser untergebracht zu werden?«

»Ich denke, er benutzt uns in jeder Beziehung. Nesbitt würde das alles nicht tun, wenn er nicht wenigstens zwanzig verschiedene Gründe dafür hätte. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Rache an Grant County sein Hauptmotiv ist, aber er zieht eine Menge andere Vorteile daraus, wenn wir seinen ursprünglichen Fall neu aufrollen. Aufmerksamkeit. Spezialbehandlung. Fahrten zur Polizei, zum Gericht.«

»Will?«, sagte Amanda. »Wollen Sie etwas hinzufügen?«

»Nein.«

Amanda wandte sich wieder an Faith. »Erzähl mir von Nesbitts Revisionsgesuchen.«

»Er hat aus zwei unterschiedlichen Gründen Berufung gegen die Verurteilung wegen Kinderpornografie eingelegt.« Faith konsultierte ihre Unterlagen, damit sie alles richtig darstellte. »Erstens behauptete er, die Durchsuchung seines Hauses, die den Inhalt seiner Festplatte zutage förderte, sei unrechtmäßig erfolgt. Die Polizei hätte keinen Durchsuchungsbeschluss gehabt und keinen hinreichenden Grund, in sein Haus einzudringen. Nichts wies auf ihn als Verdächtigen hin.«

»Zweitens?«

»Selbst wenn die Polizei einen hinreichenden Grund gehabt hätte, sein Haus zu betreten, hätten sie nur nach einem Verdächtigen, einer Waffe oder einer Geisel suchen dürfen, nicht nach Computerdaten. Sie hätten einen separaten Durchsuchungsbeschluss für den Computer gebraucht.«

Amandas Augenbrauen hoben sich einmal mehr, weil sich Nesbitts Anwälte auf sichererem Terrain befanden. »Und?«

Faith merkte, wie sie errötete. Will hörte auf einmal sehr genau zu. Er besaß einen irrwitzigen sechsten Sinn dafür, wann aus Blödsinn Ernst wurde. »Vor Gericht hat eine Polizistin ausgesagt, sie hätte in der Schreibtischschublade nach Waffen gesucht, als sie versehentlich gegen den Laptop stieß. Der Bildschirm sei angesprungen, sie habe Kinderpornofotos gesehen und sie hätten Nesbitt daher wegen Besitzes illegaler Bilder angeklagt.«

»Lena Adams.« Amandas angewiderter Tonfall sagte alles. Keiner von ihnen glaubte die Geschichte. Das war der Grund, warum Nick so überaus gereizt war, als sie Nesbitt vernahmen. Faith würde Lena Adams nicht einmal glauben, dass die Sonne im Osten aufging, selbst wenn sie auf einen Stapel Bibeln schwor.

Sie konnte dem Verlangen nicht widerstehen, das auszusprechen, was alle wussten. »Wenn wir bei einer Ermittlung feststellen, dass Lena Adams gelogen hat, was die Entdeckung der Pornos auf Nesbitts Computer angeht, dann wird jeder einzelne Fall, an dem sie je gearbeitet hat, genau unter die Lupe genommen. Und Nesbitt hätte verdammt gute Karten, diesen Kinderpornovorwurf loszuwerden. Wir würden mehr oder weniger einem Pädophilen helfen.«

»Du hast eben noch gesagt, er würde im Gefängnis bleiben.«

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