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Einsame Schwestern - 4-teilige Titan-Serie + Vorgeschichte

DOPPELT GEKÜSST HÄLT LÄNGER

Willkommen in Titanville, wo küssen schon immer geholfen hat! Die Liebesgeschichte des Ur-Ur-Urgroßvaters der Titan-Schwestern Lex, Skye und Izzy!

Wie alles begann: Zeke Titan ist nicht nur der erfolgreichste Geschäftsmann und größte Wohltäter, sondern auch der charmanteste Schürzenjäger von Titanville. Besonders Lehrerinnen machen ihn schwach, genau genommen eine bestimmte. Doch die bezaubernde und reichlich emanzipierte Alethea Harbaugh erweist sich als echte Herausforderung für den texanischen Schwerenöter. Sie kämpft nämlich nicht nur für die Rechte der Frauen und jagt damit den Männern eine Heidenangst ein. Sondern sie kennt sich auch mit so komplizierten Dingen aus wie der Liebe …

WER ZUERST KOMMT, KÜSST ZUERST

Lexi Titan kann die Schlagzeilen schon förmlich vor sich sehen: Reiche Tochter heiratet noch reicheren Geschäftsmann, um ihr Unternehmen zu retten. Aber sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat. Cruz Rodrigues braucht sie, um in der High Society von Texas akzeptiert zu werden - und sie braucht ihn, um ihre Wellnessfarm nicht zu verlieren. Also willigt Lexi ein, für sechs Monate seine Frau zu werden. Dass sie damit den Zorn ihres einflussreichen Vaters auf sich zieht, ist noch das kleinste Problem. Denn je näher der Tag rückt, an dem ihre Ehe enden soll, desto weniger ist Lexi bereit, Cruz wieder gehen zu lassen.

REDEN IST SILBER, KÜSSEN IST GOLD

Skye Titan dachte immer, aller guten Dinge sind drei ... Ihr Vater will sie erneut an einen reichen Mann verheiraten, der es aber auch auf ihre Schwester abgesehen hat. Über ihre Stiftung werden üble Gerüchte gestreut, die ihr Lebenswerk zerstören könnten. Und Mitch, der einzige Mann, den sie je geliebt hat, kehrt nach neun Jahren endlich wieder in seine Heimat zurück. Nur leider erkennt sie ihn in dem verbitterten Mann überhaupt nicht wieder. Wäre da nicht ihre achtjährige Tochter Erin, hätte Skye überhaupt nichts mehr zu Lachen. Also beschließt Skye, ihr Leben endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen - für Erin, für sich und für ihre große Liebe.

FRISCH GEKÜSST, IST HALB GEWONNEN

Ein klarer Fall von Stockholm-Syndrom! Anders kann Izzy sich nicht erklären, wieso der umwerfende Nick darauf besteht, sie zu lieben. Schließlich hat er sie entführt und ohne ihre Zustimmung auf seine Ranch verschleppt. Hier soll sie sich von der Explosion erholen, bei der sie beinahe komplett erblindet ist - und endlich zustimmen, sich der notwendigen Operation zu unterziehen, die ihr das Augenlicht wiedergeben kann. Doch Izzy hat zum ersten Mal in ihrem Leben Angst. Davor, dass die Operation schief geht und sie nie wieder sehen kann. Und davor, das größte Abenteuer ihres Lebens zu wagen … einen Mann aus ganzem Herzen zu lieben.

WER ZULETZT KÜSST, KÜSST AM LÄNGSTEN

Garth Duncan kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlt, nicht komplett von Rache erfüllt zu sein. Zwanzig Jahre ist es her, dass sein Vater ihn verstoßen hat, und endlich ist der Tag da, an dem er den alten Milliardär zu Fall bringen kann. Wäre da nicht die eifrige Polizistin Dana. Sie ist fest entschlossen, seinen Plan zu vereiteln. Je mehr er versucht, sie einzuschüchtern, desto gewillter scheint sie, die gute Seite an ihm zu sehen. Und je öfter er ihr in die Augen schaut, desto sehnlicher wünscht er sich, der Mann zu sein, den sie verdient.


  • Erscheinungstag: 06.12.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1424
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751871
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Mallery

Einsame Schwestern - 4-teilige Titan-Serie + Vorgeschichte

image

Susan Mallery

Doppelt geküsst hält länger

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Jürgen Welte

Copyright dieser Ausgabe © 2019 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Wild Hearts

Copyright © 2009 by Susan Macias Redmond

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Titelabbildung: Getty Images / Deagreez

ISBN eBook 9783745751659

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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EINLEITUNG

Willkommen zu Doppelt geküsst hält länger, dem exklusiv nur als E-Book erhältlichen Vorläufer der vierteiligen Serie um die Titan-Familie von Bestsellerautorin Susan Mallery!

Wer schafft es, den wildesten Mann in Titanville zu zähmen?

Zeke Titan hat den Ruf, Herzen zu brechen, aber die Einwohner von Titanville können auch nicht bestreiten, wie viel Gutes er für sie getan hat. Also drücken sie ein Auge zu, als er eine Lehrerin nach der anderen verführt. Bis Alethea Harbaugh in die Stadt kommt.

Die Leidenschaft, mit der die neue Lehrerin für die Rechte der Frauen eintritt, wirkt auf die Frauen der Stadt ansteckend – und auf die Männer Furcht einflößend. Zeke hat sich in den Kopf gesetzt, Alethea zu verführen, und sei es nur, damit sie danach Hals über Kopf aus der Stadt flieht und alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Aber Zeke scheint das erste Mal in seinem Leben eine würdige Gegnerin gefunden zu haben … und zwar in mehr als einer Hinsicht!

Treffen Sie den Mann, der eine Dynastie gegründet hat … und lesen Sie danach die in der heutigen Zeit spielenden Romane aus Susan Mallerys Serie um die Familie Titan, die mit Wer zuerst kommt, küsst zuerst beginnt.

1. KAPITEL

Texas, 1882

Zeke Titan hatte lange geglaubt, dass es nichts Schöneres geben könnte als Texas … vielleicht abgesehen von einer willigen Frau. Auf beides musste er nun schon seit gut sechs Monaten verzichten. Das war der Grund, warum er als Fahrgast auf einem Frachtwagen unterwegs war, anstatt auf die tägliche Kutsche zu warten, die zwischen Dallas und Titanville verkehrte.

Seine Geschäfte und der kalte Yankee-Winter hatten ihn viel zu lange von zu Hause ferngehalten. Und die schönen Ladys in New York und Boston hatten ihn auch nicht mehr so in Versuchung geführt wie früher. Er wusste nicht, ob ihm der Spaß an der Jagd abhandengekommen war oder ob er einfach nur Titanville vermisste.

Er war unter einem Glücksstern geboren worden, zumindest behaupteten das alle. Er konnte sich mit jedem anfreunden, dem er begegnete, hatte noch nie Geld bei einem Geschäft verloren und war beim Kartenspielen einfach nicht zu schlagen. Ein gutes Leben, sagte er sich. Aber wieso fühlte er sich trotzdem so rastlos?

Der Frachtwagen bog um eine Kurve. Vor sich sah Zeke die vertraute Silhouette der Stadt. Wie immer hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, um auf die Wagen zu warten, die alle zwei Wochen in Titanville eintrafen. Sie brachten Nachschub für den Lebensmittelladen, ein bis zwei Nähmaschinen, Baumaterial, Stoffe und all die Dinge, die man sonst brauchte, um einen Haushalt zu führen. Was genau das war, wusste Zeke nicht. Er lebte im Titanville Hotel, seit ihn mit sechzehn ein Pikass von einem armen Waisenjungen zu einem reichen Mann gemacht hatte.

Als Erstes fuhren sie an den Ställen vorbei. Billy Wade wollte ihm etwas sagen, aber Zeke konnte ihn nicht verstehen. Dann rief Big John, der Hufschmied, ihm etwas zu. Zeke hielt eine Hand wie einen Trichter an sein Ohr. Aber es half nichts. Big John lief dem Wagen hinterher.

Als Zeke sich umdrehte, sah er weitere Männer auf sich zulaufen. Die meisten kannte er, einige nicht. Die Menge, die dem Wagen folgte, wuchs stetig an. Als der Fahrer die Pferde zum Stehen brachte, sprang Zeke vom Kutschbock. Er hielt seine Winchester locker in der Hand, nur für den Fall, dass es Ärger gab.

Sein Freund Billy erreichte ihn als Erster. Er rang nach Luft und hielt sich die Seite.

„Du bist zurück. Wir haben auf dich gewartet, Zeke. Gewartet und die Tage gezählt. Du musst uns helfen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“

„Weswegen?“ Zeke trat einen Schritt beiseite, um Platz für die Leute zu machen, die ungeduldig ihre Waren aus dem Frachtwagen holten.

„Es gibt Ärger. Großen Ärger.“ Die anderen Männer gesellten sich zu Billy und bildeten einen Kreis um Zeke. Sie nickten.

„Es ist schrecklich“, sagte einer der Männer.

„Du wirst nicht glauben, wozu sie uns zwingen!“

Zeke malte sich mögliche Schreckensszenarien aus: von Indianern bis zu Viehdieben.

„Zwei Tage, nachdem du weggefahren bist, ist die neue Lehrerin angekommen“, sagte Billy. Seine Augen waren geweitet, und er blickte ängstlich drein.

Zeke entspannte sich. „Ihr sprecht von einer Frau?“

Die Männer blickten sich gegenseitig an.

„Nicht von irgendeiner Frau“, erklärte Billy. „Sie ist anders, Zeke. Mrs Harbaugh hat mehr als nur Bücher mit in die Stadt gebracht.“ Er schaute sich um, als hätte er Angst, dass sie belauscht würden. Dann senkte er die Stimme. „Sie hat sie verändert.“

Die anderen Männer nickten.

„Wen verändert?“

„Die Frauen. Molly hat mir nie widersprochen. Jetzt hat sie Flausen im Kopf und …“ Billy schluckte. „Sie will, dass ich ihr gehorche. Ich habe ihr erzählt, dass ich noch mehr Rinder kaufen will, und sie hat Nein gesagt. Sie sagt, wir müssen unser Geld sparen, um unsere Jungs aufs College zu schicken. In Maryland.“

Es erfolgte ein kollektives Aufkeuchen.

„Sie sind Tgfwbuh“, sagte Big John und schüttelte sich.

„Sie sind was?“

„Tgfwbuh“, wiederholte Billy. „Titanvilles Gesellschaft für Wissen, Bildung und Hingabe – Tgfwbuh. Wenn wir etwas tun, das ihnen nicht gefällt, machen sie ‘buh’, um uns daran zu erinnern, uns richtig zu benehmen.“

Die Männer sahen wie geprügelte Hunde aus. Zeke konnte nicht anders: Er lachte. Das Lachen kam aus seinem tiefsten Inneren und fühlte sich gut an.

„Ich bin sechs Monate weg, und ihr alle habt wegen einer Frau die Hosen voll?“ Zeke lachte weiter, bis er Seitenstechen bekam. „Das ist wirklich gut. Hast du dir das ausgedacht, Billy? Wirklich eine nette Art, mich willkommen zu heißen. Gut gemacht.“

Billy packte seinen Arm. „Das ist kein Witz, Zeke. Du musst etwas tun, um uns zu helfen. Du bist der Einzige, der das kann. Wir wollen, dass du Alethea Harbaugh umgarnst. Bring sie dazu, sich in dich zu verlieben. Das sollte dir nicht schwerfallen. Hab deinen Spaß mit ihr, brich ihr das Herz und schick sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist.“

„Ich bin nicht sicher, ob ihr Ehemann es gutheißen wird, wenn ich ihr den Hof mache.“

„Sie ist verwitwet“, warf Big John ein. „Und sie hat diese Gabe, Zeke. Es ist direkt unheimlich, wie sie die Männer ansieht. Als wenn sie alles Schlechte erkennen würde, was man jemals getan hat.“

Zeke glaubte noch immer, dass die Männer einen Witz machten. Es konnte gar nicht anders sein.

„Allein die Bücher, die sie mitgebracht hat“, klagte einer der Männer. „Und Theaterstücke von einem toten Engländer und irgendwas mit einem Hammel. Meine Jungen laufen herum und plappern den Kerl die ganze Zeit nach. Dem müssen wir ein Ende bereiten.“

Billy atmete tief durch. „Zeke, wir sind verzweifelt. Wir tun alles, was du sagst, wenn du nur diese Xanthippe vertreibst.“

Der Kutschfahrer hievte Zekes Reisetruhe vom Wagen. Big John nahm sie auf seine Schulter, als wöge sie weniger als ein Huhn. Die Männer marschierten in Richtung Hotel.

„Du sorgst dafür, dass sie die Stadt verlässt, und dann wird alles wieder so, wie es war“, sagte der alte Sam. „Zeke, wir brauchen dich. Wenn meine preisgekrönte Sau wieder wirft, hast du auch die erste Wahl bei den Ferkeln.“

„Ich werde das Schwein kostenlos für dich schlachten“, bot ein anderer Mann an.

„Wir bauen dir sogar ein Haus, wenn du willst. Das größte Haus, das Titanville je gesehen hat. Aber bitte sorg dafür, dass sie geht.“

Billy nickte. „Alles, was du willst, Zeke. Du kannst deine Stuten vorbeibringen und von meinen besten Hengsten decken lassen.“

Das sind gute Angebote, dachte Zeke. Großzügige. Verzweifelte. Er hatte in seinem Leben oft genug Karten gespielt, um zu merken, wann ein Mann am Ende war. Diese Männer waren am Ende. Er konnte nicht fassen, dass sie solche Angst vor einer Frau hatten. Vor allem vor einer Lehrerin. Frauen, die Bücher den Männern vorzogen, waren normalerweise einsam und in sich gekehrt. Sie ähnelten Knospen, sie benötigen ein wenig Sonnenschein, um aufzublühen, und er war nur zu gerne bereit, für die nötige Hitze zu sorgen. Aber diese Mrs Harbaugh kannte längst die Berührungen eines Mannes. Sie musste also ein anderes Problem haben.

„Die Stadt bezahlt ihr Gehalt“, sagte Zeke. „Warum berufen wir nicht einfach eine Versammlung ein und stimmen darüber ab, sie zu feuern?“

Big John schüttelte den Kopf. „Das können wir nicht. Unsere Frauen haben uns gewarnt. Wenn wir das machen, werden sie nicht mehr das Bett mit uns teilen. Du weißt, wie sehr ein Mann die Wärme seiner Frau braucht, Zeke.“

Ja, Zeke wusste es. Das war eine ernst zu nehmende Drohung. Ihn faszinierte diese Lehrerin, der es in so kurzer Zeit gelungen war, die Frauen der Stadt auf ihre Seite zu ziehen.

„Wie ist sie so?“, fragte er.

Billy verzog das Gesicht. „Sie hat eine unheimliche Ausstrahlung. Ihre Augen sind kalt und dunkel.“

„Ihre Haut ist ganz vernarbt.“

„Sie bewegt sich so steif, als wäre sie tot.“

„Die Katzen laufen vor ihr davon.“

„Meine Bessy hat an dem Tag aufgehört, Milch zu geben, als sie zu Besuch bei uns war.“

Zeke holte seine Taschenuhr heraus. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags. „Wo ist sie jetzt?“

„Im Schulhaus.“

Er wandte sich an die Männer. „Ich kümmere mich um Mrs Harbaugh. In einem Monat wird sie fort sein.“

Die Männer fingen an zu jubeln, hielten dann abrupt inne und blickten sich um. Als wäre es ihnen verboten, Spaß zu haben.

„Schwörst du es?“, fragte Billy.

„In dreißig Tagen wird Mrs Harbaugh kein Problem mehr sein. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

Er ließ die Männer zurück, die sich wie eine Herde Vieh bei Gewitter zusammendrängten, und ging die schmale Straße hinunter. Die Geschäfte schienen gut zu laufen. Anerkennend betrachtete er die beiden neuen Läden und die Menschen auf der Straße. Da ihm mehr als die Hälfte der Stadt gehörte, bedeutete dies, dass sein Konto auf der Bank gut gefüllt war.

Neben dem Aufschwung des Handels hatte es auch allerlei bauliche Verbesserungen in der Stadt gegeben hatte. Die Leute hatten begonnen, hölzerne Gehwege zu bauen, und vor vielen Läden hingen hübsch bepflanzte Blumenkästen. Ein großes Schild im Gemischtwarenladen kündigte eine Lesung von Shakespeares Viel Lärm um nichts für den nächsten Abend an. Er nahm an, dass es sich bei dem „Hammel“, über den sich einer der Männer beschwert hatte, um Hamlet handelte. Nicht viele Lehrerinnen, die nach Titanville kamen, hatten Shakespeare gelesen. Er musste es wissen. In den vergangenen acht Jahren war er mit den meisten von ihnen im Bett gewesen.

An der Titanville First Baptist Church wandte er sich nach links, in Richtung Stadtrand. Dort stand das Schulhaus mit seinen zwei Klassenzimmern. Als das ursprüngliche Gebäude vor drei Jahren niedergebrannt war, hatte er das Geld für einen neuen, größeren Bau gestiftet.

Zwei Jungen rannten über den Schulhof, einen Drachen hinter sich herziehend, der im Wind flatterte. Ein paar Mädchen hockten zusammen und spielten mit Murmeln. Als er sich näherte, trat eine Frau aus dem Schulhaus, blickte kurz in seine Richtung und beschattete dann ihre Augen, um ihn besser sehen zu können.

Nach allem, was man ihm erzählt hatte, hatte er erwartet, dass die neue Lehrerin groß, alt und spindeldürr sei. Die Frau, die nun vor ihm stand, reichte ihm jedoch kaum bis zur Schulter. Sie war jung und hatte angenehme Rundungen mit einem vollen Busen. Als er bei ihr ankam, ließ sie ihre Hand sinken. Die Narben, über die jemand geklagt hatte, entpuppten sich als Sommersprossen. Sie passten sehr gut zu ihren flammend roten Haaren. Und die angeblich kalten Augen hatten die Farbe von frischem Frühlingsgras. Sie wirkten sehr groß und wurden von dichten, langen Wimpern eingerahmt.

Ihre vollen Lippen schienen wie fürs Lachen geschaffen zu sein … oder fürs Küssen. Sie war ausgesprochen hübsch, und es überraschte ihn, dass eine so feminine Person die Männer in die Knie gezwungen hatte.

„Mrs Harbaugh? Ich bin Zeke Titan.“ Er tippte sich zum Gruß an den Hut.

„Sind Sie gekommen, um mich zu erschießen, Mr Titan?“

„Wie bitte?“

Sie zeigte auf die Winchester, die er immer noch in der Hand hielt. „Ich erlaube keine Gewehre auf dem Schulgelände. Oder überhaupt irgendwelche Waffen.“

„Welchen Schaden kann ein Junge mit einem Messer schon anrichten?“

„Sehr viel, Sir. Wenn es stimmt, was man über Sie sagt, haben Sie selber ausreichend Erfahrung mit der Gefahr, die von Messern und Schusswaffen ausgeht.“

„Was man über mich sagt?“ Exzellent. „Also haben Sie schon von mir gehört?“

„Es ist unmöglich, in Titanville zu leben und nicht von Ihnen und Ihrem zweifelhaften Ruf zu hören.“ Sie runzelte leicht die Stirn. „Ich gebe zu, ich hatte Sie mir ein wenig älter vorgestellt.“ Sie musterte kurz seinen flachen Bauch. „Und mit etwas mehr Körperumfang.“

Er schenkte ihr ein träges Lächeln. „Enttäuscht?“

Sie kniff die grünen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Das Wort ‘enttäuscht’ würde implizieren, dass Ihre Anwesenheit irgendeine Bedeutung für mich hat. Ich versichere Ihnen, dass dies nicht der Fall ist.“

„Sind Sie allen Ihren Besuchern gegenüber so stachelig?“

„Sie verwechseln meinen Unwillen, Zeit zu vergeuden, mit meinem Temperament, Mr Titan. Sie sind derjenige, der zum Schulhaus gekommen ist. Darf ich erfahren, was der Grund dafür ist?“

„Na, ich wollte Sie kennenlernen, Mrs Harbaugh.“

Dieses Bekenntnis schien sie ein wenig zu verwirren. „Das haben Sie ja jetzt. Ich habe immer noch Schüler hier, die meiner vollen Aufmerksamkeit bedürfen.“

„Dann werde ich Sie nicht weiter stören.“ Er tippte sich erneut an den Hut. „Bis heute Abend.“

„Was ist heute Abend?“

„Wir werden zusammen dinieren, Mrs Harbaugh. Sie wohnen doch auch im Hotel, oder nicht?“

Er wusste bereits, wie ihre Antwort ausfallen würde. Alle Lehrer blieben ihr erstes Jahr im Hotel. Sollte es jemand ins zweite Jahr schaffen – was bislang niemandem gelungen war –, würden die Einwohner dem standhaften Lehrer ein Haus bauen. Zeke übernahm die Kosten für die Unterkunft der Lehrer, was ihm nicht schwerfiel, weil ihm das Hotel ohnehin gehörte. Die Mahlzeiten wurden in einem kleinen Speisesaal im hinteren Bereich des Gebäudes eingenommen.

„Ich wohne dort“, sagte sie, „aber das geht Sie nichts an.“

„Jetzt schon“, widersprach er sanft. „Wir sehen uns um sechs.“

„Ich werde nicht mit Ihnen zu Abend essen. Das ist nicht angebracht.“

„Ein öffentlicher Ort, umgeben von Leuten in einem respektieren Restaurant? Was könnte angemessener sein? Das gibt Ihnen die Möglichkeit, meine Seele zu retten, Mrs Harbaugh. Ich kann mir kein hehreres Ziel vorstellen.“

Verärgerung blitzte in ihren grünen Augen auf. „Ich bin an Ihrer Seele nicht interessiert.“

„Aber das ist der einzige Teil von mir, den Sie haben können … zumindest für den Moment.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Wangen röteten sich. Zeke unterdrückte ein Lachen und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Er wusste alles, was er über Alethea Harbaugh wissen musste. Sie war eine größere Herausforderung als die bisherigen Kandidatinnen. Ein Umstand, der ihm sehr gut gefiel. Doch das Ergebnis stand bereits fest – er würde sie in sein Bett locken. Und damit hätte er das Spiel gewonnen. Sobald sie sich ihm hingegeben hatte, würde sie es vorziehen, die Stadt zu verlassen, anstatt den aufrechten Frauen der Gemeinde gegenüberzutreten. Und als Witwe würde sie vermutlich sehr leise gehen.

Er würde ihr irgendwo ein Haus kaufen. Sie könnte im Osten des Landes als Lehrerin arbeiten. Dort würden die Menschen ihre formelle Art und ihre Liebe zu Shakespeare zu schätzen wissen. Bis es so weit war, würde er jeden Schritt auf dem Weg zu ihrer Verführung genießen – angefangen mit dem Dinner heute Abend.

2. KAPITEL

Es gab nichts, was Alethea mehr hasste als Unentschlossenheit. Ein Mensch sollte eine Entscheidung treffen und dann dazu stehen. Aber in den letzten zehn Minuten hatte sie sich drei Mal auf den Weg zum Dinner gemacht, um dann an der Treppe umzudrehen und in ihr Zimmer zurückzugehen.

Daran war nur dieser Mann schuld. Dieser Zeke Titan – der ihr gesagt hatte, sie würden miteinander essen. Als wenn er darüber zu entscheiden hätte. Typisch Mann! Aufgebracht wanderte sie in ihrem Zimmer auf und ab. Er hatte kein Recht, sich ihr aufzuzwingen. Ohne Zweifel nahm er an, dass sie dankbar für seine Gesellschaft war und jede Aufmerksamkeit begrüßen würde, die dem heutigen Abend folgte.

Oh, sie wusste alles über Zeke Titan. Die Frauen der Stadt liebten es, zu klatschen, und Zeke war ihr Lieblingsthema. Sie hatte davon gehört, dass sein Vater davongelaufen war und Frau und Sohn sich selbst überlassen hatte. Dass Zeke schon als kleiner Junge alle möglichen Arbeiten angenommen hatte, um seine kranke Mutter zu unterstützen. Als sie starb, war er erst sechzehn, ohne Familie, ohne Geld und ohne Zukunft. Die Menschen hatten ihr erzählt, wie eine Spielkarte sein ganzes Leben veränderte.

Seinen Gewinn hatte er benutzt, um Land zu kaufen und in Geschäfte zu investieren. Durch außergewöhnliches Glück oder ein Wissen, das weit über seine Jahre hinausging, war er mit zwanzig Jahren zu einem der wohlhabendsten und erfolgreichsten Männer der Stadt geworden.

Was alles für ihn sprach, wie sie zugeben musste. Sie ging zur Tür, zog sie auf und schloss sie dann doch wieder. Doch Zeke Titan hatte mehr als nur seinen Reichtum. Er hatte einen gewissen Ruf. Über seine Eroberungen wurde immer nur im Flüsterton gesprochen, aber dafür gab es umso mehr zu erzählen. Zu seinen bevorzugten Opfern schienen sämtliche Lehrerinnen zu gehören. Noch keine war ihm entkommen, und sie ahnte, dass das Abendessen nur der Anfang war.

Sie fürchtete diese Herausforderung nicht – so weit, so gut. Aber zu wissen, dass alle Einwohner dem Wettstreit zuschauen und über Zeke Titans Erfolgsaussichten spekulieren würden, war etwas ganz anderes.

Alethea hatte die Stelle als Lehrerin in Titanville angenommen, um ihrer Familie in Baltimore zu entkommen, die sie mittlerweile fast erdrückte. Ihre Mutter hatte nach Wesleys Tod gerade die obligatorischen neun Monate abgewartet, bevor sie Andeutungen machte, dass Alethea über eine Wiederheirat nachdenken sollte. Aletheas beiden Schwestern wollten, dass sie zu ihnen zog – vordergründig zu ihrem eigenen Besten, aber in Wahrheit brauchten sie nur jemanden im Haus, der sich um ihre Kinder kümmerte. Als Einziger hatte Aletheas Vater, ein freundlicher und großzügiger Mann, seine Wünsche beiseitegeschoben und sie gefragt, was sie selbst wollte. Er hatte sie auch ermutigt, in den Westen zu ziehen und ein Leben zu beginnen, das sie wirklich glücklich machen würde.

In den sechs Monaten, die sie schon in Titanville wohnte, hatte sie die kleine Stadt lieben gelernt. Sie hatte Freunde gefunden, ihre Arbeit erfüllte sie und in einem halben Jahr bestand die Aussicht, ein eigenes Haus zu bekommen. Sie hatte noch nie ein eigenes Haus besessen und freute sich schon darauf. Doch all das konnte von einem Mann mit zweifelhaftem Ruf zerstört werden.

Alethea atmete tief durch und hob das Kinn. Sie war noch keiner Herausforderung aus dem Weg gegangen, und sie weigerte sich zuzulassen, dass ein einzelner Mann sie allein durch seine Anwesenheit in ihrem Zimmer gefangen hielt. Sie würde zum Essen gehen, und sollte Zeke Titan sich zu ihr gesellen, würde sie seine Gesellschaft so gut es ging ertragen. Wenn er glaubte, er könnte sie mit seinen Charme und seinem attraktiven Äußerem verführen, unterlag er einem tragischen Irrtum.

Sie verließ ihr Zimmer, stieg die Treppe hinab und betrat den Speiseraum. Die üblichen Besucher hatten sich bereits eingefunden. Ein paar ältere Witwer auf der Suche nach einem schmackhaften Essen und einige Geschäftsmänner auf der Durchreise. Atheas Lieblingstisch stand in der hinten Ecke am Fenster. Hier hatte sie morgens ausreichend Licht, damit sie die Unterrichtsstunden für den Tag noch einmal durchgehen konnte. Abends wurden die Vorhänge vorgezogen, um die Kälte draußen zu halten.

An diesem Abend war der Tisch für zwei Personen gedeckt. In der Mitte stand eine kleine Vase mit zwei Rosen – ein seltener Anblick zu dieser Jahreszeit.

Alethea kniff angesichts dieser intim wirkenden Szenerie die Augen zusammen. Mr Titan ist fleißig gewesen, dachte sie. Glaubte er wirklich, sie wäre so leicht herumzukriegen? Sie war keine junge Unschuld mehr, die sich ohne Weiteres vom Charme eines selbstbewussten Mannes verführen ließ. Aber das wird Mr Titan schon noch selber herausfinden, dachte sie mit grimmiger Befriedigung, während sie zum Tisch ging und sich setzte.

Nur wenige Augenblicke später betrat Zeke den Speisesaal und ging direkt auf sie zu. Er war groß und dunkelhaarig und hatte ein attraktives Gesicht. Seine maßgeschneiderte Kleidung stand ihm vorzüglich. Er bewegte sich mit der Lässigkeit eines selbstsicheren Mannes.

„Mrs Harbaugh.“ Er neigte den Kopf. „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“

„Warum fragen Sie überhaupt? Sie haben doch schon alles vorbereitet. Haben Sie auch schon mein Essen bestellt? Wollen Sie mein Fleisch klein schneiden und mein Glas halten, während ich trinke?“

Zeke überraschte sie mit seinem Lachen. „Das hatte ich zwar nicht vor, aber wenn es Sie glücklich macht, tue ich es gerne.“

„Das würde es nicht.“ Sie musste sich anstrengen, ihren frostigen Ton beizubehalten. Irgendetwas an dem Lächeln des Mannes sprach sie an. Aber auch wenn ihre Lippen drohten, schwach zu werden, würde ihr Geist stark bleiben.

Zeke zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Alethea merkte deutlich, dass die anderen Gäste sie beobachteten, aber sie ignorierte ihre Blicke.

„Ich habe gehört, dass es heute Abend Roastbeef gibt“, sagte er mit einem Lächeln. „Mary macht das beste Roastbeef in der Stadt.“

„Mary?“

„Die Köchin hier im Hotel.“

„Oh.“ Alethea hatte bisher nie daran gedacht, einmal in die Küche zu gehen, um die Köchin kennenzulernen, auch wenn sie ihr nach jedem Essen einen Dankesgruß sandte.

„Lange bevor ich im Hotel gewohnt habe, bin ich immer in die Küche geschlichen und habe die köstlichen zum Abkühlen ausgebreiteten Biskuits und Kuchenstücke geklaut. Eines Tages hat Mary mich erwischt. Ich war damals zehn oder elf. Sie war so wütend, dass ich dachte, sie würde mich auf der Stelle häuten und zum Abendessen servieren.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Ich fing an zu weinen. Was für einen Jungen in dem Alter äußerst beschämend ist, das versichere ich Ihnen. Mary hat meine Entschuldigung angenommen. Im Rückblick denke ich, dass sie wusste, wer ich war und wie wenig wir zu Hause zu essen hatten. Sie fing an, Mahlzeiten für mich zuzubereiten. Seitdem sind wir Freunde.“

Alethea wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der zugab, mit einer Köchin befreundet zu sein. Die Küche war ein Ort, den die meisten Männer mieden.

Eine junge Frau kam mit einem Tablett an ihren Tisch. Darauf befanden sich eine Flasche Wein, ein Korkenzieher und zwei Gläser.

„Falls Sie vorhaben, mich betrunken zu machen“, sagte Alethea, nachdem die Kellnerin gegangen war, „bin ich mehr als enttäuscht.“

„Mein Plan wäre viel subtiler, glauben Sie mir. Aber keine Angst. Ich habe die letzten Monate geschäftlich in New York und Boston zu tun gehabt. Ich hatte die einmalige Gelegenheit, diesen hervorragenden Wein zu kosten und habe mir zwei Kisten mit nach Hause gebracht. Würden Sie mir die Ehre erweisen und ein Gläschen mit mir trinken?“

Eine elegante Einladung, so viel stand fest. Sie nickte, weil ihr kein höflicher Weg einfiel abzulehnen, aber sie würde mit dem Wein sehr vorsichtig sein.

„Welche Art von Geschäft hat sie von hier fortgelockt?“, fragte sie.

Er öffnete die Flasche und goss ihnen beiden einen kleinen Schluck ein. „Ich besitze in beiden Städten Anteile an Reedereien und an einer Eisenbahn, dazu bin ich Teilhaber verschiedener Handelsgesellschaften.“

„Sie sind sehr vielseitig.“ Und sehr interessant, dachte sie. Die Aussicht auf einen finanziellen Erfolg interessierte sie dabei weniger als die Vielfalt seiner Geschäfte. Wie es wohl wäre, so einen Erfolg zu genießen? In der Lage zu sein, auf ein Büro oder ein Ladengeschäft zu zeigen und zu wissen, dass man es aus dem Nichts aufgebaut hat?

„Ich liebe die Herausforderung“, sagte er und schaute ihr tief in die Augen.

Ohne es zu wollen, lachte sie. „Bitte, Sir. Können wir die Verführung bis nach dem Essen aufschieben? Ich habe wirklich Appetit auf Marys Roastbeef.“

Zeke schien ihre Bitte nicht im Geringsten beleidigt zu haben. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm sein Weinglas in die Hand. „Ist es so offensichtlich?“

„Nun, ein wenig ist es auch Ihrem Ruf geschuldet.“

Die junge Frau kam mit zwei Tellern Suppe an ihren Tisch. Sie stellte sie hin und blickte Zeke dabei sehnsüchtig an. Er entließ sie mit einem kurzen „danke, Ella“.

Alethea sah der jungen Frau hinterher. „Noch eine Eroberung?“

Er runzelte die Stirn. „Auf keinen Fall. Sie ist zu jung und hat Familie in der Stadt.“

„Machen Sie sich Sorgen, dass die Familie hinter ihnen her wäre, oder wollen Sie nicht vor ihren Augen Schande über sie bringen?“

„Mir geht es hauptsächlich um ihr Alter und ihren Stand in der Gemeinde.“

„Also gibt es Regeln?“

Da war es wieder, dieses träge, leichte Lächeln. „Es gibt immer Regeln, Mrs Harbaugh. Oder darf ich Sie Alethea nennen?“

„Nein, dürfen Sie nicht.“

Er lachte. „Und wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Name von dem griechischen Wort für Wahrheit abstammt?“

„Beeindruckend“, gab sie zu. „Sie sprechen Griechisch?“

„Ich habe diese Sprache studiert. Meine kümmerlichen Fähigkeiten reichen aber gerade fürs Lesen. Ich bezweifle, dass ich auch nur ein Wort sprechen kann. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

Sie spürte eine seltsame Hitze auf ihren Wangen. Sie wusste, wenn sie ihm erlaubte, sie bei ihrem Vornamen zu nennen, würde sie damit eine Vertraulichkeit zulassen, die er sich nicht verdient hatte und die auch nicht ganz angemessen war. Und doch faszinierte sie die Art, wie er ihren Namen ausgesprochen hatte. Wie jede Silbe einen Augenblick auf seiner Zunge verweilt hatte, als würde er ihrem Namen eine besondere Bedeutung beimessen. Vielleicht hatte sie aber auch nur zu viel Wein getrunken.

„Nicht vor den anderen“, forderte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Danke“, sagte er. „Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich Zeke nennen, außer wenn Sie böse auf mich sind. Dann nennen Sie mich besser Mr Titan.“

„Bitten Sie mich darum oder ordnen Sie es an?“

„Ich sage es voraus.“ Er griff nach seinem Löffel. „Was halten Sie von unserer kleinen Stadt?“

„Ich finde sie ganz bezaubernd.“ Sie war froh über den Themenwechsel. „Hier herrscht so viel Leben. Eine Gemeinde aufzubauen macht viel Arbeit, aber alle hier sind gewillt, mitzuhelfen. Die Kinder wirken auf mich gelehrig, bemüht und gesund. Die Luft ist frisch und der Himmel klar.“ Sie sah ihn an. „Ich glaube, die Stadt ist nach Ihrer Familie benannt?“

Zeke zögerte kurz, bevor er nickte. „Woher kommen Sie?“

„Aus Baltimore.“

„Ich habe gehört, dass Sie verwitwet sind. Mein Beileid für Ihren Verlust.“

„Danke. Mein Ehemann ist seit fast fünf Jahren tot. Der Schmerz über den Verlust hat im Laufe der Zeit etwas nachgelassen, auch wenn ich ihn immer noch vermisse.“

„Fünf Jahre sind eine lange Zeit, um allein zu bleiben. Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Sie aß ein wenig Suppe und legte dann ihren Löffel weg. Sie erinnerte sich an glückliche Tage. „Wesley hat englische Literatur unterrichtet. Er hielt einen Vortrag über Shakespeare. Meine Mutter wollte nicht, dass ich hingehe. Sie fand, dass ich sowieso schon zu viel Zeit mit Lesen verbringe, anstatt mir einen passenden Ehemann zu suchen. Aber schließlich gab sie doch ihre Erlaubnis, und ich ging hin. Er las mit einer solchen Leidenschaft aus Shakespeares Werk vor, dass er die Worte förmlich zum Leben erweckte. Ich wollte nicht, dass der Abend jemals endet. Nach der Lesung gab es noch einen Empfang. Ich war zu schüchtern, um mit ihm zu sprechen.“

Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie sich in den Ecken des Raumes herumgedrückt und sich mit Leuten unterhalten hatte, die sie kannte, während sie gleichzeitig versuchte, Wesley unbemerkt zu beobachten.

„Meine Tante hat uns einander vorgestellt. Wir waren beide unglaublich nervös. Keiner von uns konnte mit dem anderen reden. Ich nehme an, es war Liebe auf den ersten Blick.“

Zeke musterte sie über den Rand seines Weinglases hinweg. „Ihre Schönheit wird noch offenkundiger, wenn Sie über ihren verstorbenen Ehemann sprechen. Er war ein glücklicher Mann.“

„Danke“, murmelte sie. Sie spürte, dass er seine Worte ernst meinte. „Es ist sehr nett von Ihnen, das zu sagen. Wir haben vier Monate später geheiratet. Wesley hat mich ermutigt zu lesen, hat mir Bücher empfohlen und sich nie darüber beschwert, wenn das Abendessen noch nicht fertig war, weil ich ganz vergessen hatte zu kochen. Nachdem er von uns gegangen war, schlug mein Vater vor, dass ich Lehrerin werde, um mein Wissen mit anderen teilen. Und so bin ich hier gelandet.“

„Ein Gewinn für Titanville.“

Sie lachte. „Hoffentlich. Lesen Sie viel, Zeke?“

In seinen braunen Augen blitzte es humorvoll auf. „Sie haben meinen Namen gesagt.“

„Oh, bitte tun Sie nicht so, als hätte das irgendeine Bedeutung.“

„Für mich schon. Ich werde heute die ganze Nacht wach bleiben und bis zum Morgengrauen über diesen Augenblick nachdenken.“

„Das täte mir leid für Sie, weil sich so nur ein sehr dummer Mann verhalten würde. Ich weiß aber, dass Sie das nicht sind. Ein Spieler wie Sie muss über eine gewisse Intelligenz verfügen, um erfolgreich zu sein.“

„Sie wissen von meinem Spiel?“

„Ich weiß vieles.“

„Sie haben mit den Leuten über mich gesprochen.“

„Ich habe zugehört“, korrigierte sie ihn. „Das ist ein Unterschied. Die Frauen aus der Stadt finden, dass Sie ein wunderbares Gesprächsthema abgeben. Ich bin vor Ihnen gewarnt worden.“

Er beugte sich vor. „Ausgezeichnet. Dann ziehen wir als ebenbürtige Krieger in die Schlacht, meine liebe Alethea. Ein glücklicher Umstand für uns beide.“

3. KAPITEL

„Ein glücklicher Umstand? Für Sie vielleicht“, erwiderte Alethea kühl. „Aber ich bin keine Frau, die sich von Ihrem Charme und Ihrem Witz bezirzen lässt, Mr Titan.“

Zeke unterdrückte ein Lachen. „Ich kann mich nicht entscheiden, was ich reizender finde. Ihr Eingeständnis, dass ich Charme und Witz besitze, oder den Beweis dafür, dass sie verärgert sind.“

„Sie wollen mich verärgern?“

„Ich kann mir Sie in keinem Zustand vorstellen, der mich nicht gefallen würde.“

„Wie schön zu wissen, dass ich Ihnen noch auf dem Totenbett Freude bereiten kann.“

Er lachte laut und prostete ihr dann mit seinem Wein zu. „Gut pariert. Sie haben mich geschlagen, aber nur für den Moment.“

„Ich werde meinen kleinen Sieg genießen.“

„Möge er der erste von vielen sein.“

Ella kehrte an ihren Tisch zurück, um die Vorspeisenteller abzuräumen. Keiner von ihnen hatte viel gegessen. Bei Zeke lag es daran, dass er es viel zu sehr genossen hatte, sich mit Alethea zu unterhalten. Sie war intelligent und humorvoll. Er fand Gefallen an ihren Gesichtszügen: die leicht schräg nach oben verlaufenden Augen, die Fülle ihres Mundes. Sie war eine schöne Frau. Er konnte sich nicht an einen Abend erinnern, an dem er sich besser amüsiert hatte. Auch wenn es ihm niemals gelingen sollte, sie in sein Bett zu locken, würde er trotzdem gern Zeit mit ihr verbringen, sich mit ihr unterhalten. So etwas hatte er bisher noch nie empfunden. „Also, Alethea, was haben Sie für Pläne für diese Stadt?“, fragte er. „Die Männer haben Sie schon ganz schön eingeschüchtert. Bei meiner Rückkehr war ich überzeugt, sie wären von Indianern oder Piraten angegriffen worden.“

„Piraten wären hier, wo es kein Meer gibt, ein wenig im Nachteil, finden Sie nicht?“

„Aber die sind ein zäher Haufen. Sie würden schon einen Weg finden.“

„Sie vergleichen mich mit gemeinen Männern, die stehlen und plündern? Ich bin mehr als bestürzt.“ Humor blitzte in ihren grünen Augen auf, während sie ihre Lippen zu einem leichten Schmollmund verzog.

„Dann vergleiche ich Sie lieber mit einem Wirbelsturm oder mit einem Tornado. Sie haben so gut wie alle Männer der Stadt in helle Aufregung versetzt. Ich würde gern wissen, wie so etwas möglich ist.“

„Ganz einfach“, sagte sie. „Ich habe ihren Frauen Ideen in den Kopf gesetzt.“

„Durch Ihre Gesellschaft?“

„Sie haben davon gehört?“

„Es wurde über kaum etwas anderes gesprochen. Sollten Sie mich jetzt nicht ausbuhen?“

Sie lachte. Ihr angenehmes Lachen weckte in ihm den Wunsch, mit einzustimmen. Er genoss es, ihre Belustigung zu sehen. Er wollte sie immer wieder zum Lachen bringen.

„Ich war gerade in der passenden Stimmung“, gab sie zu. „Der Name fiel mir einfach so ein. Es ist nicht so, dass ich die Männer hier nicht mag, aber sie sind typische Beispiele für Männer überall im Land. Warum ist die Vorstellung von einer Frau, die ihren Kopf gebraucht, so entsetzlich? Wussten Sie, dass hier in Texas eine Frau ihren Grundbesitz behalten darf, nachdem sie geheiratet hat? Aber das ist nicht überall der Fall. Meistens ist es so, dass der Besitz einer Frau nach der Heirat an ihren Ehemann übergeht. Warum? Die Frau war vor der Eheschließung klug genug, sich allein um ihre Finanzen zu kümmern, also warum nicht danach? Spricht das nicht eher dafür, dass die Männer sich davor fürchten, ihr Einfluss könnte schwinden, als für die Dummheit der Frauen?“

Sie nahm ihr Weinglas in die Hand, setzte es aber gleich wieder ab. „Ich glaube, dass Frauen genauso fähig sind wie Männer. Wir sind nicht so stark, das stimmt, aber andererseits würden die meisten Männer niemals die Härten einer Geburt überstehen oder die Geduld haben, Kinder großzuziehen. Ist es falsch, dass eine Mutter bezüglich der Zukunft ihrer Kinder ein Mitspracherecht haben möchte? Was, wenn sie intelligenter ist als ihr Mann? Was, wenn sie eine bessere Weltsicht hat? Muss das allein aufgrund ihres Geschlechts ignoriert werden?“

„Sie sind, was dieses Thema betrifft, sehr leidenschaftlich.“ Er wusste, er könnte ihren Ansichten bis tief in die Nacht lauschen. Sie war viel charmanter, als er es für möglich gehalten hatte.

„Ja, aber meine Leidenschaft ändert leider gar nichts. Wenn die Gesellschaft den Männern ein wenig Angst einjagt, bin ich zufrieden. Sollen sie ruhig zittern. Das schadet gar nichts. Vielleicht hören sie dann endlich auf ihre Frauen.“

„Hat Wesley auf Sie gehört?“

„Wenn er nicht damit beschäftigt war zu lesen.“ Sie seufzte. „Er war ein guter Mann.“

„Aber nicht stark genug für Sie.“

Sie blinzelte. „Wie meinen Sie das?“

„Ihrer Beschreibung nach klingt es nicht so, als ob Wesley Sie je herausgefordert hätte.“

Das war nur geraten, auch wenn sein Instinkt ihm verriet, dass er recht hatte. Alethea bestätigte seine Vermutung, indem sie seine Bemerkung einfach ignorierte und an ihrem Wein nippte.

„Der Sieg ist umso süßer, wenn man einen würdigen Gegner hat“, sagte er.

Sie stellte ihr Glas ab. „Das ist das zweite Mal, dass Sie sich auf einen Kampf beziehen. Ist für Sie das ganze Leben eine Schlacht?“

„Nein. Mich interessieren lediglich die Gefechte zwischen Mann und Frau.“ Er senkte die Stimme. „Sie waren verheiratet. Sie wissen, wovon ich spreche. Vielleicht würden Sie es vorziehen, es als Tanz zu betrachten. Er führt, sie folgt. Er drängt, sie widersteht. Aber beide wissen, wie es ausgeht. In der Dunkelheit. Die Vermischung des Atems, die Berührungen, die endgültige Kapitulation.“

Alethea hielt seinem Blick stand. Ihr Körper war stocksteif, abgesehen von den Händen, die ein wenig zitterten. Plötzlich schaute sie weg, dann verschüttete sie beinahe ihren Wein, als sie versuchte, das Glas auf dem Tisch abzustellen.

„Sehen Sie“, sagte sie erleichtert. „Ella bringt unser Essen. Ich freue mich am meisten auf das Roastbeef.“

Sie sprachen wenig, während sie aßen. Oder treffender, während er aß und sie mit ihrem Essen spielte und es auf dem Teller hin und her schob. Sie wirkte nervös.

Er hatte nicht vorgehabt, sie so durcheinanderzubringen, auch wenn es ihn freute, zu sehen, wie heftig sie auf seine Worte reagiert hatte. Das verhieß Gutes für seine Pläne.

Zeke begehrte sie mit einer Leidenschaft, die er lange nicht verspürt hatte. Vielleicht lag es an der seltenen Kombination aus Intelligenz und Schönheit. Oder an dem Umstand, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war. Seine Verführungen hatten immer eher Jungfrauen oder jenen Damen gegolten, die man für einen Abend kaufen konnte. Die einen bedeuteten zu viel Aufwand und die anderen nicht genug. Alethea hingegen kannte den speziellen Zauber bereits, würde die Erfahrung aber dennoch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Eine faszinierende Möglichkeit. Er musste daran denken, Billy dafür zu danken, dass er ihn auf diese Idee gebracht hatte. Auch wenn er glaubte, dass ihm eine Frau wie Alethea unter allen Umständen aufgefallen wäre.

Als sie mit dem Essen fertig waren, erhoben sie sich und verließen den Speisesaal. Am Fuß der Treppe wandte sie sich zu ihm um.

„Ich bin durchaus in der Lage, die Stufen allein zu bewältigen. Danke für das Essen.“

„Mir macht es nichts aus, Sie zu begleiten. Mein Zimmer liegt auf der gleichen Etage.“

Ihre Augen verengten sich. „Auch wenn das stimmen mag, gibt es doch keinen Grund für uns, darüber zu sprechen oder es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.“

„Mr Titan“, flüsterte er.

„Was?“

„Sie haben vergessen, am Ende ‘Mr Titan’ hinzuzufügen. Sie sind genervt, das merke ich.“

„Sie sind genauso anmaßend und überheblich, wie Sie charmant sind. Wie auch immer, ich bin durchaus in der Lage, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.“

Er nahm ihre Hand und genoss das Gefühl ihrer warmen, weichen Haut. „Ich hatte einen zauberhaften Abend, Mrs Harbaugh, und ich freue mich schon auf viele weitere gemeinsame Mahlzeiten mit Ihnen.“

Sie presste die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken. „Ich weiß das zu schätzen, aber ich habe einen sehr vollen Kalender.“

„Haben Sie?“

„Ja. Mit unzähligen Verabredungen.“

„Mein Verlust.“

„Aber einer, den Sie tapfer ertragen werden, da bin ich mir sicher. Gute Nacht.“ Sie entzog ihm ihre Hand und stieg die Treppe hinauf.

Zeke nickte und schaute ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Dann lachte er laut auf. Verdammt, es war gut, wieder zu Hause zu sein.

„Wie war das Abendessen?„, fragte Daisy.

Alethea hielt sich an ihrer Teetasse fest. Sie hatte, wie jeden Morgen vor der Schule, bei ihrer Freundin vorbeigeschaut.

„Du weißt von meinem Dinner mit Mr Titan?“

Daisy sah von dem Brotteig auf, den sie gerade knetete. „Jeder weiß davon. Zeke hat einen gewissen Ruf, wie du weißt, aber …“ Daisy holte tief Luft. „Das wird dir nicht gefallen.“

Alethea verspannte sich. „Erzähl es mir trotzdem.“

„Die Männer schließen Wetten ab. Anscheinend hat Zeke sich bereit erklärt, dich aus der Stadt zu vertreiben.“

„Wie bitte?“ Beinahe hätte Alethea ihre Tasse fallen lassen. „Wer will, dass ich Titanville verlasse?“

War das möglich? Am gestrigen Abend war er so charmant gewesen. Sein vielschichtiger Charakter hatte sie fasziniert und sie sogar glauben lassen, dass sie sich in ihrem vorschnellen Urteil über ihn geirrt hatte.

„Nicht so sehr Zeke als vielmehr die anderen Männer. Die Gesellschaft ist schuld.“

„Natürlich“, murmelte Alethea. „Große, starke Männer wollen niemanden, der ihre Autorität infrage stellt. Aber wie soll Zeke dafür sorgen, dass ich wegziehe?“ Und wenn das sein Ziel war, warum war er dann gestern Abend ihr gegenüber so warmherzig gewesen?

Daisy wischte sich die Hände an einem Tuch ab und trat an den Holztisch, an dem Alethea saß. Sie setzte sich ihrer Freundin gegenüber. „Du weiß, dass Zeke spielt. Er hat schon in ganz jungen Jahren angefangen und damit den Grundstein für sein Vermögen gelegt.“ Sie runzelte die Stirn. „ Heute besitzt er einige erfolgreiche Unternehmen, aber damals hatte er den Ruf weg, unschlagbar zu sein. Von überallher kamen Spieler, um mit ihm Karten zu spielen. Wenn sie verloren, wurden sie wütend. Es gab Schießereien. Die Straßen waren nicht sicher.“

Alethea konnte sich Titanville überhaupt nicht als so einen Ort vorstellen.

„Zeke hatte außerdem sehr viel Schlag bei den Frauen. Einige Töchter wurden kompromittiert. Auch wenn dabei keine Kinder entstanden, war der Ruf doch erst einmal ruiniert. Die Mädchen wurden fortgeschickt. Irgendwann führten die Mitglieder des Stadtrats ein ernstes Gespräch mit Zeke“, fuhr Daisy fort. „Ihn aus der Stadt zu jagen war unmöglich. Ihm gehört das meiste Land hier. Also schlossen sie einen Kompromiss. Er gab das Spielen auf, bis auf die eine oder andere Partie mit Freunden, und versprach, die Frauen der Stadt nicht mehr zu verführen. Im Gegenzug wurde die Stadt nach ihm benannt und ihm wurde …“ Daisy zögerte. „Das war, bevor wir dich kennengelernt haben, Alethea. Bevor wir Freunde waren. Die anderen Lehrerinnen waren so jung und dumm. Sie waren nicht an unseren Kindern interessiert – sie wollten einfach nur einen Mann finden.“

„Was hat das mit der ganzen Sache zu tun?“

Daisy räusperte sich. „Zeke wurde gestattet, mit den Lehrerinnen zu verfahren, wie er will, allerdings unter der Bedingung, dass er ihnen einen guten, liebevollen Ehemann sucht, wenn er mit ihnen fertig ist.“

Alethea sprang vom Tisch auf. „Wie bitte? Die Stadt unterstützt die Verführung unschuldiger junger Frauen? Ihr konntet euer Problem nicht lösen, also habt ihr die Töchter anderer Leute hergelockt und deren Leben ruiniert?“

„Wir alle mögen Zeke.“

„Und das macht die Angelegenheit akzeptabel? Natürlich. Wie dumm von mir, eure Motive zu hinterfragen.“ Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Abstoßendes gehört. „Ich dachte, Titanville wäre eine ehrbare Stadt. Ich dachte, hier würden gute Menschen leben.“

„Wir sind gute Menschen. Es ist nur …“

„… dass jemand Zeke Titans Lust geopfert werden muss? Und lass mich das Offensichtliche genauso offen aussprechen: Ich bin auserkoren, sein nächstes Opfer zu sein.“ Sie war schockiert, aber mehr noch verletzt. „Ich dachte, du und ich wären Freunde.“ Sie sammelte ihre Handtasche und ihre Bücher ein. „Ich sehe, dass ich mich geirrt habe.“

Daisy stand auf und fasste Alethea am Arm. „Nein, Alethea. Du hast dich nicht geirrt. Unsere Freundschaft ist mir wichtiger als alles andere. Bei deiner Ankunft hat sich niemand über dieses ungewöhnliche Arrangement Gedanken gemacht. Zeke war weg, und du warst so anders. Zum ersten Mal hatten unsere Kinder Spaß am Lernen. Mein eigener Sohn erzählt, dass er aufs College gehen will. Dann hast du mit der Gesellschaft angefangen, und wir Frauen haben uns zusammengeschlossen. Wir haben neue Möglichkeiten für uns entdeckt. Dein Vorbild hat uns inspiriert. Unser Leben hat sich deinetwegen verändert. Wir haben dir nichts erzählt, weil wir dich nicht verlieren wollen.“

Daisy senkte den Kopf. „Es tut mir so leid.“

Alethea wusste nicht, was sie davon halten, was sie glauben sollte. „Soll ich Mr Titan geopfert werden?“

„Nein.“ Daisy sah sie an. „Niemals. Wir wollen, dass du bleibst. Deshalb erzähle ich dir von der Abmachung, die Zeke mit den Männern der Stadt getroffen hat.“

Zeke hatte eine Abmachung getroffen? Er versuchte nicht nur, sie zu verführen, weil er es wollte?

„Er hat einen Monat Zeit, um dich loszuwerden. Die Männer fühlen sich von den Veränderungen durch dich bedroht. Sie mögen es nicht, wenn ihre Frauen ihnen widersprechen.“ Daisy lächelte. „Wir werden zusammen einen Weg finden, um Zeke und die übrigen Männer in ihre Schranken zu verweisen.“

Der gestrige Abend ist nur Teil eines Plans gewesen, der damit zu tun hatte, mich in sein Bett zu locken, dachte Alethea. Sie war überrascht, wie sehr sie diese Erkenntnis enttäuschte. Zeke tat einfach nur, was er tun musste, um eine Wette zu gewinnen. Sein Charme, die interessante Unterhaltung – alles nur Mittel zum Zweck.

„Jeder geht davon aus, dass du beschämt die Stadt verlässt, nachdem er bekommen hat, was er will“, fügte Daisy hinzu.

„So wäre es auch gekommen“, sagte Alethea zögernd. „Da ich schon einmal verheiratet war, wäre ich zwar nicht komplett ruiniert gewesen wie meine Vorgängerinnen. Aber ich hätte niemandem mehr ins Gesicht sehen können. Ich hätte meine Autorität bei den Kindern verloren. Ich bin sicher, die Männer halten mich für leicht verführbar. Eine einfache Frau von zeitweilig schwachem Charakter.“

„Wir zeigen ihnen, dass sie sich irren.“

„Einverstanden.“ Alethea zwang sich zu einem Lächeln. „Auch wenn ich dein Angebot, mir zu helfen, sehr zu schätzen weiß, glaube ich, dass der einfachste Weg zum Erfolg der ist, den ich alleine beschreite. Ich werde Mr Titans Spiel mitspielen. Den nächsten Monat über werde ich so tun, als stünde ich kurz davor, mich ihm hinzuzugeben. Aber das werde ich nicht tun. Und wenn die Zeit reif ist, werden wir die Scharade aufdecken und so die Männer in ihrem eigenen Spiel schlagen.“

Daisy lachte. „Ja. Das ist perfekt! Wenn jemand Zeke widerstehen kann, dann du. Du bist die stärkste Persönlichkeit, die ich kenne.“

„Danke.“ Alethea sah auf die Uhr. „Ich begebe mich dann mal zu meinen Schülern.“

Sie umarmten sich kurz, dann ging Alethea. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich freuen könne. Der Plan war gut, ihr Triumph beinahe sicher. Aber in Wahrheit wollte sie in dieser Angelegenheit gar nicht gewinnen. Vor die Wahl gestellt, hätte sie es vorgezogen, dass Zeke Titan genau der war, als der er sich ihr gestern ausgegeben hatte. Ein charmanter, intelligenter Mann, ein kleiner Schwerenöter, der ihre Gesellschaft so sehr genoss wie sie die seine.

Gestern Abend allein in ihrem Zimmer hatte sie sich erlaubt, ein wenig zu träumen – etwas, das sie seit Wesleys Tod nicht getan hatte. Sie hatte davon geträumt, sich wieder zu verlieben.

Aber es soll nicht sein, ermahnte sie sich energisch, während sie in Richtung Schule marschierte. Am Ende würde sie ein eigenes Häuschen haben. Ein Leben, auf das sie stolz sein konnte. Das würde genügen. Irgendwie würde sie dafür sorgen, dass es genügte.

4. KAPITEL

Zeke betrat die Leihbücherei durch die Hintertür. Er war nach der Lesung mit Alethea verabredet, aber dann hatte er sich dabei ertappt, schon früher zur Bücherei zu schlendern, weil er neugierig auf ihre Fähigkeit war, den Bewohnern von Titanville Shakespeare nahezubringen.

Etwa dreißig Personen saßen auf den Holzstühlen, viele von ihnen beugten sich interessiert nach vorne und hörten Alethea gebannt zu, die gerade den lebhaften Schlagabtausch zwischen Beatrice und Benedickt aus Viel Lärm um Nichts vortrug. Sie lachten über die Dickköpfigkeit der beiden Figuren und ihre Unfähigkeit, das zu sehen, was für jeden anderen offensichtlich war.

Alethea beendete die Szene und schloss das Buch.

„Die Bücherei hat zwei Ausgaben dieses Stücks zum Ausleihen“, sagte sie mit einem Lächeln. „Vielleicht möchte jemand von Ihnen selber herausfinden, wie es weitergeht.“

Es gab einen kräftigen Applaus, dann erhoben sich die Anwesenden. Die Bibliothekarin erwähnte etwas von Eiscreme, die es im Laden nebenan gab.

Zeke wartete, bis die meisten Besucher gegangen waren, und gesellte sich dann zu Alethea. Sie sah ihn kommen und lächelte – ein warmes, einladendes Lächeln, das er bis in seinen Magen spürte. Es weckte in ihm den Wunsch, sie an sich zu ziehen und sie zu küssen. Mehr noch, er wollte Shakespeares Unterhaltung fortführen, die sie in ihrer Lesung begonnen hatte.

Er schüttelte diesen Gedanken ab und stellte sich neben sie.

„Ihre Auswahl überrascht mich“, sagte er anstatt einer Begrüßung. „Kein König Lear?“

„Ich versuche, meine Zuhörer zu unterhalten und zu inspirieren“, erwiderte sie. „Das gelingt mit einer Komödie besser. Die Menschen sind fasziniert von den Welten, die sie in diesen Büchern kennenlernen. Sie lesen erst eins, dann das nächste.“

„Sie locken sie also in die Falle, bis sie ihr Leben dem Lesen verschriebenen haben?“

„Ich sehe darin nichts weiter als ein einziges Vergnügen.“ Sie sah ihn an, in ihren grünen Augen blitzte der Schalk. „Und woher kennen Sie Shakespeare und können Griechisch lesen? War der Schulstoff so viel umfangreicher, als Sie jung waren? Vernachlässige ich meine Schüler, indem ich ihnen nur Englisch beibringe?“

„Ich habe schon immer großen Spaß an Büchern gehabt“, gab er zu. „Allen Arten von Büchern. Als ich noch jünger war, hatte ich viel Zeit zum Lesen.“ Er zeigte auf die Bücher in den Regalen. „Das sind alles alte Freunde von mir.“

„Sie haben sie alle gelesen?“

„Mehr als einmal. Einige der Geschichtsbände waren lang und langweilig, aber ich habe durchgehalten.“

„Beeindruckend.“

Er bot ihr seinen Arm an. „Ich weiß.“

Sie lachte und gestattete ihm, sie aus der Bücherei zu geleiten. Ihre kleine Hand lag in der Beuge seines Armes. Sie blieben auf dem Bürgersteig stehen und schauten auf die Menge, die vor dem Eisladen wartete.

„Haben Sie Hunger?“, fragte Zeke. „Oder möchten Sie lieber einen Spaziergang machen?“

„Ein Spaziergang wäre schön.“

Sie wandten dem Eisladen den Rücken zu und gingen in Richtung Stadtrand. Die Nacht war sternenklar und still, die Luft kühl, aber ohne den eisigen Wind der letzten Tage.

„Was wird Ihr nächstes Stück sein?“, fragte er.

Romeo und Julia.“

„Einer Ihrer Favoriten?“

„Es ist besonders bei den jungen Damen sehr beliebt“, erwiderte sie. In ihrer Stimme lag Humor. „Es gibt nichts, was junge Frauen so sehr genießen wie eine tragische Liebesgeschichte.“

„Und Sie sind dem schon entwachsen?“

„Ich habe meinen eigenen Verlust erlitten. Ich muss nicht auch noch darüber lesen.“

Stimmt. Der tote Ehemann. Den hatte er ganz vergessen.

„Vermissen Sie ihn noch immer?“

„Manchmal“, gab sie zu. „Wenn ich ein neues Buch lese, sehne ich mich danach, mit ihm darüber zu sprechen. Oder wenn es kalt ist und mir einfach nicht warm wird.“ Sie schaute ihn unter ihren langen Wimpern hervor an. „Ein Ehebett hat durchaus auch seine praktischen Seiten.“

Zeke war noch nie verliebt gewesen. Er hatte seine Mutter von Herzen geliebt, aber das war etwas anderes. Einen Ehepartner zu verlieren war etwas, das er sich nicht vorstellen konnte. Wenn Alethea ihren Ehemann vermisste, bedeutete das dann, dass sie ihn immer noch liebte?

„Meine Mutter will, dass ich wieder heirate“, fuhr sie fort. „Ihr Drängen, mich mit einem anderen Ehemann zu sehen, ist einer der Gründe, warum ich Baltimore verlassen habe.“

„Und Sie wünschen nicht, erneut zu heiraten?“

„Doch. Ich dachte immer, dass es irgendwann passieren würde. Ich sehne mich nach Kindern, und dafür brauche ich wohl einen Ehemann.“

Er lächelte sie an. „Fänden Sie es besser, wenn Sie das eine ohne das andere bekommen könnten?“

„Nein. Ich denke, ein Ehemann ist etwas Gutes. Vorausgesetzt, er ist der richtige Typ Mann.“

„Was wünschen sich Frauen denn von einem Mann?“, fragte er.

„Das ist verschieden, nehme ich an. Ich zum Beispiel wünsche mir einen Mann mit gutem Charakter. Jemanden, der stark genug ist, seine Fehler zuzugeben. Der einen regen Geist und so viel Humor besitzt, dass ich nie weiß, was ich von ihm zu erwarten habe. Jemanden, der mich und unsere Kinder liebt. Und natürlich bedarf es dieser unerklärlichen Anziehung.“

Zeke blieb stehen und sah sie an. „Leidenschaft.“

Es war beinahe Vollmond. Das sanfte Licht fiel auf Aletheas Gesicht und ließ ihre geröteten Wangen leuchten.

Sie räusperte sich. „Ja. Leidenschaft.“

„Ein weiterer praktischer Aspekt des Ehebetts?“

Sie wandte sich ab. „Mr Titan, das ist kein angemessenes Thema für eine Unterhaltung.“

Er lächelte. „Vielleicht nicht angemessen, aber interessant. Ich habe gehört, dass manche verheiratete Frauen die Aufmerksamkeit ihres Ehemannes gar nicht genießen.“

„Das habe ich auch gehört. Aber wir sprechen hier nicht von irgendwelchen Frauen, oder? Sie versuchen, herauszufinden, ob ich diesen Teil meiner Ehe genossen habe.“ Sie hob leicht ihr Kinn. „Das habe ich, Sir.“

Sie drehte sich um und ging zurück zum Hotel. Zeke holte sie schnell ein und spazierte neben ihr her. Ihm war bewusst, dass er zu weit gegangen war.

„Es tut mir leid“, sagte er und meinte es beinahe auch so. „Sie haben recht. Das ist kein Thema für eine höfliche Unterhaltung.“

„Was vermutlich der Grund dafür ist, dass Sie darüber sprechen wollen.“

Er lachte. „Wie wahr. Ich spiele nur den Gentleman. Ich kann die richtigen Worte wählen, bei einem vornehmen Dinner die korrekte Gabel benutzen. Ich bin belesen und erfolgreich, aber in meinem Herzen bin ich Texaner. Ich reite lieber, als dass ich mit der Kutsche fahre, schieße mein Essen, anstatt es zu kaufen, und spiele lieber Karten, als ins Ballett zu gehen.“

„Waren Sie schon einmal im Ballett?“

„Nein.“

„Wunderschöne Frauen, die tanzen, Mr Titan. Sie sind elegant und zeigen manchmal sogar ihre Beine. Es würde Ihnen gefallen.“

„Sie glauben, mich zu kennen.“

„Ich kenne Sie.“

„Und?“

Sie hatten das Hotel fast erreicht. Alethea blieb stehen.

„Und es ist an der Zeit, einander gute Nacht zu sagen.“

Auch wenn er wusste, dass er nichts überstürzen sollte, war er noch nicht bereit, sie gehen zu lassen. Alethea überraschte ihn, und es war lange her, seitdem ihn irgendetwas in seinem Leben überrascht hatte. Sie strahlte eine unglaubliche Stärke aus, eine Entschlossenheit. Zu schade, dass sie sich von ihm nicht küssen lassen würde.

Er schaute in ihre großen, grünen Augen und suchte nach einem Zeichen für ihre Gefühle. Entweder war es nicht hell genug, oder sie war sehr gut darin, ihre Gedanken für sich zu behalten.

Er berührte ihre Wange. „Sagen Sie meinen Namen.“

„Wie bitte?“

„Sie haben mich den ganzen Abend Mr Titan genannt. Sagen Sie meinen Namen. Meinen Vornamen. Nur einmal.“

Er betrachtete ihren Mund und stellte sich vor, wie es wäre, seine Lippen auf ihre zu pressen. Ihre Süße zu schmecken. Würde sie zögernd küssen, darauf wartend, überzeugt zu werden? Oder würde sie sich stürmisch und leidenschaftlich zeigen?

„Mr Titan, ich …“

Er legte einen Zeigefinger auf ihre Unterlippe und streichelte sie sanft bis zum Kinn. Ihre Augen weiteten sich.

„Ich sage es zuerst, falls es das einfacher macht“, murmelte er. „Alethea.“

„Gute Nacht“, sagte sie mit fester Stimme. Dann drehte sie sich um und ging ins Hotel.

Er blieb stehen und sah ihr hinterher. Das Spiel war noch nicht vorbei, das spürte er. Und richtig, als sie an der Tür war, drehte sie sich noch einmal um. Sie sah ihm in die Augen, dann auf seinen Mund.

„Zeke“, flüsterte sie und verschwand.

Alethea erwachte erfrischt und bereit, in einen neuen Tag zu starten. Sie war zufrieden mit ihrer gestrigen Vorstellung. Und damit meinte sie nicht so sehr die Lesung als vielmehr das, was danach mit Zeke geschehen war.

Abgesehen von einer unerklärlichen Sehnsucht am Ende ihrer gemeinsamen Zeit, hatte sie die ganze Zeit über die Kontrolle behalten. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um ihn davon zu überzeugen, dass er sich auf dem richtigen Weg befand, sie zu verführen. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ihn nur schwer abweisen könnte, wenn er ihr ernsthaft den Hof machen würde.

Er ist überhaupt nicht wie Wesley, aber dennoch sehr anziehend, dachte sie traurig. Aber sie kannte den wahren Mann ja nicht – sondern nur denjenigen, der sie dazu bringen wollte, die Stadt zu verlassen. Sosehr sie auch seine Gesellschaft genoss, sie musste stets im Hinterkopf behalten, dass Zeke Titan es sich zum Ziel gesetzt hatte, sie zu besiegen, nicht, sie für sich zu gewinnen.

Sie machte sich auf den Weg zur Schule und beschloss, ihre ganze Aufmerksamkeit den Schülern zu widmen. Matthew kam auf sie zugerannt und drehte sich dann vor ihr im Kreis. Sie bemerkte sein neues Hemd und den Mantel. Er lächelte verlegen, aber stolz.

„Du siehst heute Morgen ja ganz besonders schmuck aus“, lobte sie den Achtjährigen.

„Meine Mom hat eine neue Nähmaschine“, verkündete er stolz. „Sie hat Tag und Nacht gearbeitet, um mir das hier zu machen.“

Eine beeindruckende Leistung für die knappe Zeit, dachte Alethea. „Ich hoffe, du hast dich bei ihr bedankt.“

„Ja, Ma’am, das habe ich. Sie wird jetzt Arbeit als Näherin annehmen.“

„Ausgezeichnet.“ Sie wusste, dass Matthews verwitwete Mutter, mit sehr wenig Geld auskommen musste. Jetzt, da sie länger darüber nachdachte …“Eine Nähmaschine ist sehr teuer“, sagte sie mehr zu sich als zu dem Jungen. „Sie muss sehr lange dafür gespart haben.“

Matthew grinste. „Onkel Zeke hat sie ihr gekauft. Sie ist mit dem letzten Wagen gekommen, genau wie er. Er besucht uns oft zu Hause.“

Matthew entdeckte einen seiner Freunde und rannte davon. Alethea blickte ihm nachdenklich hinterher. Onkel Zeke? Da ihr bisher nicht zu Ohren gekommen war, dass Zeke in der Gegend noch Familie hatte, musste es sich wohl um einen Ehrentitel handeln. Aber was genau hatte Mr Titan getan, um ihn sich zu verdienen?

Später am Vormittag musste sie zwei Mädchen trennen, die nicht aufhören wollten, miteinander zu schnattern. Sie merkte schnell, dass die beiden auch neu eingekleidet waren. Kleider frisch aus Boston, dank Onkel Zeke.

Alethea ignorierte das ungute Gefühl in ihrer Magengegend und gab den Kindern ihre morgendliche Leseaufgabe. Während sie zwischen den Tischen umherging und einigen Schülern bei den besonders schwierigen Wörtern half, suchte sie nach Ähnlichkeiten zwischen Matthews braunen Haaren und Augen und denen der Mädchen. In Anbetracht von Zekes Ruf, was Frauen betraf, sollte es sie nicht überraschen, dass er uneheliche Kinder gezeugt hatte. Offensichtlich waren die guten Menschen von Titanville gewillt, die Ergebnisse seiner Indiskretionen mit offenen Armen aufzunehmen. Ein sehr fortschrittliches Denken, auch wenn es sie ein wenig schockierte.

Vor dem Mittagessen verteilte sie die Henkelmänner, mit Suppe gefüllte Blechdosen, die die Schüler von zu Hause mitgebracht hatten. Die Kinder liefen nach draußen, um zu essen, während Alethea drinnen blieb und weiter darüber nachdachte, dass Zeke anscheinend Kinder gezeugt hatte, ohne verheiratet zu sein. Schwere Schritte erklangen. Sie sah auf und entdeckte den fraglichen Mann in der Tür zum Klassenzimmer. Er lächelte sie an.

„Es ist so ein schöner Tag“, sagte Zeke. „Ich habe uns ein Picknick mitgebracht.“

Er hielt einen großen Korb hoch, der mit einem farbenfrohen Tuch abgedeckt war.

Sie musterte erst den Korb, dann ihn. „Für Sie muss das Leben hier das reinste Paradies sein. In der Stadt werden Sie angebetet. Gesellschaftliche Regeln scheinen für Sie nicht zu gelten. Und Sie üben die Rechte eines Ehemannes aus – nur ohne die dazugehörigen Pflichten.“

Ich bin nicht böse, dachte sie, während sie ihn betrachtete. Sie war enttäuscht. Sie hatte mehr erwartet. Nein. Das stimmte nicht. Sie hatte auf mehr gehofft, doch das war eine dumme Hoffnung gewesen. Zeke war nichts Besonderes. Er besaß nur eine charmante Hülle.

„Wovon sprechen Sie?“ Er wirkte ernsthaft verwirrt.

„Sie haben Ihr eigenes Königreich erschaffen.“ Sie erhob sich. „Sie scheinen alles Gute in einem Mann zu verkörpern, aber das ist nur Fassade. Sie mögen Frauen vielleicht nicht schlagen oder schlecht über sie sprechen, aber trotzdem missbrauchen Sie ihre Körper und ihre Seelen.“

Der Humor und die Vorfreude schwanden aus seinen dunklen Augen. „Sie urteilen ziemlich vorschnell.“

„Matthew trägt neue Kleidung, die auf einer Nähmaschine genäht wurde, die Sie zur Verfügung gestellt haben. Die Mädchen freuen sich über neue Kleider von ihrem Onkel Zeke. Und doch haben Sie keine Beziehung zu ihren Müttern, zumindest nicht im traditionellen Sinne.“

Zeke verzog seinen Mund zu einer dünnen Linie. „Sie sprechen über meine Fehler, dabei sind Sie doch diejenige, die das Schlimmste annimmt, ohne die Umstände zu kennen. Matthews Mutter war mit einem Freund von mir verheiratet. Als er starb, wollte Elizabeth sich von niemandem helfen lassen. Ich brauchte sechs Monate, um sie davon zu überzeugen, die Nähmaschine von mir anzunehmen. Und was die Mädchen und ihre Kleider angeht, ja, ich habe hübsche Sachen für die Töchter einiger Witwen mitgebracht.“

Er stellte den Korb ab und ging auf sie zu. In seinen dunklen Augen loderte Wut. „Sie sind sehr schnell damit, Dinge zu verurteilen, die sie nicht verstehen. Ein weitverbreiteter Fehler unter kleingeistigen Menschen. Wenn Sie etwas über meine Vergangenheit wissen wollen, tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie mich direkt. Hat es in meinem Leben Frauen gegeben? Ja. Habe ich Sie ohne die Vorzüge einer Ehe geliebt? Nur, wenn sie dazu bereit waren. Ich mag mein Vergnügen suchen, Mrs Harbaugh, aber ich habe meiner Verantwortung nie den Rücken gekehrt. Ich habe keine Bastarde, die an meinem Gewissen nagen.“

Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu Alethea um. „Man sollte annehmen, dass eine Frau mit Ihrem Verstand etwas vorsichtiger wäre, wenn sie sich eine Meinung bildet. Offensichtlich ist diese Annahme falsch.“

Und dann war er fort. Alethea blickte ihm hinterher. Sie spürte, wie ihre Wangen sich vor Scham röteten und ihre Seele vor Bedauern brannte.

5. KAPITEL

Schuld war ein ihr unbekanntes Gefühl und es gefiel Alethea überhaupt nicht. Sie hatte immer geglaubt, fair zu sein, sich beide Seiten anzuhören. Nachdem Zeke wegen ihres vorschnellen Urteils so wütend reagiert hatte, beschloss sie, mit Daisy zu reden.

„Zeke war sehr umsichtig“, versicherte ihre Freundin. „Sogar bevor er die Vereinbarung mit der Stadt getroffen hat, hat er sich niemals mit verheirateten Frauen eingelassen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das besser oder schlimmer ist“, murmelte Alethea. Sie sortierte die Wolle, die frisch mit der letzten Lieferung eingetroffen war. Der Frühling war die ideale Zeit, um neue Strickprojekte anzufangen, damit sie rechtzeitig vor den kühlen Herbstnächten fertig wurden.

„Er hat den Menschen hier viel gegeben“, erklärte Daisy weiter. „Vieles davon sogar, ohne darüber zu sprechen.“ Sie schaute sich um, als wollte sie sichergehen, dass sie allein im Hinterzimmer des Ladens waren. Dann sprach sie mit gesenkter Stimme weiter. „Wann immer eine Frau einen Ehemann verliert, schicken wir ihr eine große Kiste mit allem, was sie brauchen kann. Lebensmittel, Stoffe, was auch immer sie benötigt. Zeke bezahlt die Sachen. Er schlachtet jedes Jahr ein halbes Dutzend Kühe und verschenkt das Fleisch. Er ist derjenige, der das neue Schulhaus finanziert hat.“

Was ihn wie einen ehrenwerten Bürger erscheinen ließ. „Aber was ist mit dem Glücksspiel?“

„Das war nicht gut“, gab Daisy zu. „Er hat vor Jahren damit aufgehört, aber während er noch aktiv gespielt hat, ging es der Stadt nicht gut. Ich schätze, er ist erwachsen geworden und hat Verantwortung übernommen.“

„Nur nicht, was die Lehrerinnen betrifft.“ Alethea presste ihre Lippen aufeinander.

Ihre Freundin lachte. „Mach dir keine Sorgen um deinen Ruf. Je besser wir dich kennen, desto mehr sind wir überzeugt, dass du die Frau bist, die es mit Zeke Titan aufnehmen kann.“

Alethea hoffte, dass das stimmte. „Die anderen Frauen, mit denen er zusammen war, diejenigen, die ihr fortgeschickt habt. Waren sie …“ Sie räusperte sich. „Waren da Kinder mit im Spiel?“

Daisy schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Zeke war, was das angeht, immer sehr vorsichtig.“ Sie setzte eine Kiste mit Wolle ab. „Ich weiß, dass er wild ist und gern mal die Regeln beugt. Aber trotzdem hat er etwas an sich, das wir alle mögen.“

„Er ist hochmütig.“

Daisy grinste. „Zeig mir einen Mann, der das nicht ist.“ Ihr Blick wurde ernst. „Du wirst bei Zeke doch nicht schwach werden, oder? Wir zählen darauf, dass du ihn besiegst.“

Alethea dachte an ihre letzte Begegnung mit Zeke. Es war wohl sehr unwahrscheinlich, dass er ihr weiter den Hof machen würde.

„Nein. Ich gebe nicht nach. Hab keine Angst.“

„Aber er ist ein charmanter Teufel. Ich kann dir sagen, dass mehr als eine Lady hier in der Stadt gehofft hatte, diejenige zu sein, die ihn ändern kann. Eines Tages wird auch er sesshaft werden und seine Auserwählte sehr glücklich machen.“ Daisy beugte sich vertraulich vor. „Ich habe Geschichten von den jungen Frauen gehört, mit denen er zusammen war. Die Begegnung hat sie für immer verändert. Anscheinend kennt Zeke den weiblichen Körper sehr genau.“

„Es kann sich dabei nur um unmoralisches Wissen handeln“, erwiderte Alethea schnell, wobei sie sich insgeheim fragte, was genau das wohl sein mochte. Die intimen Stunden mit ihrem Ehemann hatte sie immer als angenehm empfunden. Eine warme Vereinigung von Körper und Seele. Sie hatte sich darauf gefreut, von ihm gehalten und geküsst zu werden. Der eigentliche Akt hatte ihr weniger gefallen, außer einmal, als er sie minutenlang zwischen den Beinen gestreichelt hatte. Dabei hatte sie etwas ganz Erstaunliches gefühlt, einen Rausch, der ihr den Atem nahm.

Es war dunkel gewesen, und sie hatte ihr Gesicht in das Kopfkissen gedrückt, damit Wesley ihren Schrei nicht hörte. Er hatte sie danach nie wieder so berührt, und sie hatte nicht den Mut gehabt, ihn darum zu bitten.

Das ist jetzt überhaupt nicht relevant, schalt sie sich. Sie fragte sich, warum es hier im Lagerraum auf einmal so warm war. Es schien, als hätte sie Zeke falsch beurteilt. Die Tatsache, dass er sie verführen wollte, damit sie danach die Stadt verließ, ließ anscheinend keine Rückschlüsse auf sein sonstiges Verhalten zu. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Hatte das Schlimmste von ihm angenommen. Sie schuldete ihm eine Entschuldigung, und die würde er auch bekommen.

Alethea schickte Zeke eine sorgfältig formulierte Einladung zum Abendessen, die mit einer ebenso höflichen Absage beantwortet wurde. Sie nutzte Daisys Ofen, um einen Kuchen zu backen, den sie Zeke überbringen ließ. Er wurde unangerührt zurückgeschickt. Am folgenden Tag begegneten sie einander auf der Straße, und Zeke tippte sich höflich an den Hut, zeigte aber keinerlei tiefer gehendes Interesse an ihr.

Alethea gefiel es nicht, im Unrecht zu sein. Wenn Zeke ihr allerdings nicht einmal erlaubte, sich zu entschuldigen, war sie nicht sicher, wie sie die Angelegenheit bereinigen sollte. Als letzten Ausweg schob sie ihm einen Zettel unter seiner Hotelzimmertür hindurch.

„Zu irren ist menschlich, zu vergeben göttlich.“ Alexander Pope.

Später am Abend bemerkte sie, dass der Zettel zurückgegeben worden war. Unter ihre Zeile hatte Zeke geschrieben:

„Es ist einfacher, einem Feind zu vergeben als einem Freund.“ William Blake.

Was bedeutete das? Dass sie Freunde waren? Oder zog er es vor, sie als seinen Feind zu betrachten?

Sie verbrachte die halbe Nacht damit, sich eine angemessene Antwort zu überlegen.

„Taten sagen mehr als Worte.“ Englisches Sprichwort. Darunter schrieb sie sorgfältig: „Es tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Auf dem Weg zum Frühstück schob sie den Zettel erneut unter seiner Tür hindurch.

Es war ein wunderschöner Samstagmorgen. Alethea hatte sich selbst versprochen, heute das Schulhaus zu putzen, aber das warme, sonnige Wetter lockte sie. Vielleicht putze ich nur ein paar Stunden, dachte sie. Dann wäre sie frei, den Rest des Tages zu genießen.

Sie zog sich ihre älteste Bluse an und band sich ein Tuch um die Haare. Bewaffnet mit einem Eimer, Lappen und einem Besen ging sie zur Schule und begann, alle Oberflächen abzustauben. Mit einem feuchten Lappen wischte sie danach die Tische und Fensterbänke ab.

In einem Monat würde die Schule den Sommer über geschlossen werden. Dann würde das gesamte Gebäude leergeräumt werden, um die Räume neu zu streichen und alle notwendigen Reparaturen durchzuführen. Bis dahin musste diese morgendliche Reinigung genügen.

Sie fegte den Holzfußboden und hustete, als sie den Staub um sich herum aufwirbelte. Dann wickelte sie ein feuchtes Tuch um den Besen und wischte damit die schlimmsten Schmutzflecken weg. Gegen Mittag war sie erhitzt und leicht verschwitzt von der Arbeit. Sie sammelte ihre Sachen ein, um zum Hotel zurückzukehren. Als sie die Tür hinter sich abschloss, bemerkte sie jemanden auf der Bank vor dem Fenster. Der Mann hatte seine langen Beine von sich gestreckt und seinen Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass es vollständig beschattet wurde.

Aber selbst ohne sein Gesicht zu sehen, erkannte sie Zeke. Alethea war sich nur zu deutlich bewusst, dass sie nicht sonderlich vorteilhaft aussah, und sie dachte über die Möglichkeit nach, sich heimlich fortzuschleichen, während er noch schlief. Aber der Drang, mit ihm zu sprechen und sich noch einmal persönlich zu entschuldigen, war größer. Sie ging zu ihm hinüber.

Bevor sie ihn erreicht hatte, richtete er sich auf und rückte seinen Hut zurecht.

„Sind Sie hier fertig?“, fragte er.

„Sie haben mir bei der Arbeit zugesehen?“

„Sie fegen mit einigem Elan, Mrs Harbaugh.“

„Ich versuche, mich all meinen Aufgaben mit Hingabe zu widmen“, erwiderte sie. Sie sah ihm in die Augen. „Einschließlich des Versuchs, mich bei Ihnen zu entschuldigen …“ Sie zögerte und fügte dann hinzu: „Zeke.“

„Ich habe Ihre Nachrichten erhalten.“ Er musterte sie. Erst betrachtete er ihr Gesicht, dann ihre Bluse und ihren Rock.

„Und den Kuchen.“

„Ja, den auch. Sie sind sehr entschlossen, das muss ich Ihnen lassen.“ Er stand auf und schenkte ihr dieses träge Lächeln, das sie innerlich schmelzen ließ. „Und ich verzeihe Ihnen, Alethea.“

Die Erleichterung schmeckte süß. „Es war ein gut nachvollziehbarer Fehler“, sagte sie.

„Ach, müssen Sie unbedingt eine perfekte Entschuldigung ruinieren?“ Er nickte in Richtung Stadt. „Nun, ich werde darüber hinwegsehen, wenn Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen.“

Sie dachte an den Staub auf ihrer Kleidung und die Schmutzflecken, die sich wahrscheinlich auf ihrem Gesicht befanden. „Ich bin bestimmt kein schöner Anblick.“

„Ich könnte auf das Tuch in Ihren Haaren verzichten“, räumte er ein.

„Oh.“ Das hatte sie ganz vergessen. Sie löste das Tuch und erinnerte sich zu spät daran, dass sie heute Morgen darauf verzichtet hatte, sich die Haare hochzustecken. Die langen, losen Locken fielen über ihre Schultern und ihren Rücken. Sie versuchte, sie mit den Fingern zu glätten.

„Ich sehe aus wie ein Schulmädchen“, sagte sie verlegen.

„Sie sehen wunderschön aus“.

Diese Bemerkung ließ sie erröten. Zeke deutete auf ein Baumgrüppchen, das ein Stück weit entfernt am Wegesrand stand. „Lassen Sie uns dorthin gehen.“

Sie stellte ihre Reinigungsutensilien neben der Bank ab und spazierte mit ihm zu den Bäumen. Er blieb an der Wasserpumpe stehen.

„Sie müssen nach all der Arbeit durstig sein. Trinken Sie einen Schluck.“

Er betätigte den Pumpenhebel, und Wasser strömte in den bereitstehenden Eimer.

Alethea formte ihre Hände zu einer Schale, um die Flüssigkeit aufzufangen, aber ihre Haare fielen nach vorn und waren ihr im Weg. Ehe sie das Problem lösen konnte, hatte Zeke aufgehört zu pumpen. Er fuhr mit seiner Hand über ihr Haar, wobei er gleichzeitig ihre Schulter und ihren Rücken berührte, fasste ihre Strähnen in einer Hand zusammen und pumpte mit der anderen Hand weiter.

Es war eine sehr intime Geste, und Alethea war ein wenig nervös. Sie schluckte zu viel Wasser auf einmal und bekam kaum noch Luft. Als sie sich wieder aufrichtete, ließ Zeke ihr Haar los. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie viel zu nah beieinander standen.

„Besser?“, fragte er.

Sie nickte.

Er beugte sich vor und strich ihr über die Wange. „Sie haben da ein wenig Schmutz.“

Seine Berührung fühlte sich warm und zärtlich an. Sie merkte, dass sie sie genoss. Seine Augen waren zwar von dunkler Farbe, strahlten im Licht aber auf eine Art, die sie nicht erklären konnte. Der Anblick verwirrte sie.

„Sie lieben es, das Schlimmste von mir anzunehmen“, murmelte er.

„Ich liebe es nicht“, korrigierte sie ihn. „Ich finde es nur sehr leicht. Was bei Ihrem Ruf kein Wunder ist.“

„Meinem Ruf, soweit er Lehrerinnen betrifft.“

Sie nickte. „Dass eine Stadt solche Ausschweifungen gutheißt und sogar unterstützt, ist abstoßend.“

Um seinen Mundwinkel zuckte es. „Es wird Sie freuen zu hören, dass man mich gewarnt hat, mit Ihnen sei nicht zu spaßen, meine liebe Alethea. Sie haben viele Freunde in der Stadt, die verlangen, dass ich mich anständig benehme.“

Sie standen so nah beieinander, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte. Der süße Duft von Minze vermischt mit Kaffee.

„Werden Sie auf sie hören?“, wollte sie wissen.

„Sie haben mir versichert, wenn ich es nicht tue, wird das ernste Konsequenzen haben, um es milde auszudrücken.“

„Das ist doch aber nichts, was Sie fürchten.“

Er hob fragend die Augenbrauen. „Man könnte beinahe meinen, Sie wollen, dass ich ihre Warnungen ignoriere.“

„Ich versichere Ihnen, Sir, ich habe keinerlei Interesse daran, dass Sie mit mir spielen. Meine Arbeit bedeutet mir alles. Die Schüler liegen mir am Herzen, und ich habe nicht vor, sie zu verlassen.“

„Wieso verlassen?“

„Wie Sie sehr genau wissen, würde ich gehen müssen, sollte mein Ruf Schaden nehmen. Ich wäre gezwungen, nach Baltimore zurückzukehren.“ Die Worte waren mehr für sie als für ihn gedacht. Zeke führte sie auf eine Weise in Versuchung, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie fürchtete, es würde jeden Augenblick zerspringen. Alles außer dem Mann vor ihr wirkte verschwommen und bedeutungslos. Sie sehnte sich nach etwas … nach …

Er überbrückte die fehlenden Zentimeter zwischen ihnen und küsste sie. Eine sanfte, zärtliche Berührung seiner Lippen an ihren. Sie spürte ihn bis hinunter in die Zehen. Jeden Teil ihres Körpers zog es zu ihm hin, und ohne zu wissen, was sie tat, schlang sie Zeke die Arme um den Hals und öffnete den Mund.

Er gehorchte, indem er den Kuss vertiefte und sie näher an sich zog. Ihre Brüste wurden gegen seine Brust gepresst, ihr Bauch an seinen Bauch. Ihre Beine streiften sich. Aber nichts davon konnte ansatzweise mit dem süßen Tanz seiner Zunge konkurrieren.

Zeke küsste mit dem lässigen Selbstbewusstsein eines Mannes, der sich mit einer Frau in seinen Armen rundum wohlfühlte. Es gab kein zögerliches Innehalten, keine Entschuldigungen. Nur einen aufwühlenden, Funken erzeugenden Kuss.

Ich will mehr, dachte sie verträumt und gab sich ganz der Empfindung hin, die ihren Körper durchflutete. Sie wollte wissen, wie es war, mit ihm so zusammen zu sein, wie sie es mit …

Alethea gestattete sich nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Das wäre nicht nur gefährlich, sondern auch dumm. Sie riss sich los und kämpfte das Glück nieder, das sie in Zekes Armen empfand. Sie musterte ihn eindringlich.

Dieser Mann versuchte nicht, sie für sich zu gewinnen. Ganz im Gegenteil. Sein sorgfältig ausgeklügelter Plan bestand darin, sie zu blamieren, damit sie gezwungen wäre, die Stadt zu verlassen. Er war nicht ihr Freund oder ihr Liebhaber. Er war ihr Gegner.

Wie bedauerlich, dachte sie. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zurück in die Stadt. Es war nur zu ärgerlich, dass sie sich anscheinend gerade in Zeke verliebte.

6. KAPITEL

Zeke mischte die Karten mit gewohnter Lässigkeit. Er hatte als Kind jeden Tag Stunden damit zugebracht, hatte gelernt, welche Karten in einem gut durchmischten Deck mit der größten Wahrscheinlichkeit als Nächstes kamen. Er hatte sich beigebracht, in den Augen der Menschen zu lesen, anhand ihrer Gesten zu durchschauen, wann die Wette auf dem fußte, was sein Gegner in der Hand hatte, und wann es ein Bluff war.

Während er auf seine Freunde wartete, um mit ihnen ein kleines Spielchen zu wagen, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er viel lieber mit Alethea zu Abend essen würde, als seine Zeit mit Billy, Big John und Evan zu verbringen. Sie würde ihn mit all ihren Ansichten von ihrer Meinung über Literatur bis hin zum Wetter zum Lachen bringen. Sie würde ihn herausfordern und später, wenn er sie küsste, würde er dieses unwiderstehliche Verlangen spüren.

Er musste zugeben, dass sie ihn faszinierte. Sie hatte etwas … Einzigartiges. Er hatte in seinem Leben viele Frauen kennengelernt – und ihre Gegenwart genossen. Aber keine war wie sie. Allein der Gedanken, sie in seinem Bett zu haben, reichte, um ihn …

Seine Finger stockten und die Karten flogen durch den Raum. Die Unterhaltung im Saloon erstarb, als alle Gäste den Blick auf ihn richteten. Er zuckte mit den Schultern und beugte sich hinunter, um die Karten aufzuheben.

„Verdammte Gesellschaft“, murmelte einer der Männer. „Bald wird noch der Fluss anfangen, rückwärts zu fließen.“

Zeke hob gerade die letzte Karte, als seine Freunde an den Tisch kamen. Billy setzte sich neben ihn, während John und Ethan gleich weiter zur Bar gingen.

„Ich hätte es fast nicht geschafft“, grummelte Billy. „Sie wollte, dass ich zu Hause bleibe und den Kindern etwas vorlese. Vorlesen!“ Er klang empört. „Ich habe ihr gesagt, die Jungen aufzuziehen ist Frauenarbeit.“ Er senkte die Stimme und beugte sich vor. „Weiß du, was sie daraufhin zu mir gesagt hat?“

Zeke schüttelte den Kopf.

„Wenn ich will, dass sie zu Männern heranwachsen, sollte ich besser anfangen, ihnen Aufmerksamkeit zu widmen.“

„Und hat sie damit unrecht?“

„Was?“ Billy zog die Stirn kraus. „Was meinst du?“

„Können deine Jungen ohne deinen Einfluss zu Männern werden?“

„Verdammt will ich sein, wenn ich das weiß. Aber darum geht es doch gar nicht. Sie widerspricht mir, Zeke. Sagt mir die ganze Zeit, was sie denkt. Als wenn sie was zu sagen hätte. Ich bin der Mann. Ich habe das Sagen.“

„Warum glaubst du, dass Männer das Sagen haben sollten?“

Billy blieb der Mund offen stehen. „Das steht so in der Bibel.“

„In der Bibel stehen eine ganze Menge Dinge, die du nicht beachtest.“

„Hat sie dich jetzt auch verhext?“, fragte Billy besorgt. „Geht sie dir so unter die Haut und verändert dich?“

„Nein. Ich frage mich nur, was daran so schlimm ist, wenn deine Frau dir sagt, was sie denkt? Macht es die Sache besser, wenn sie es dir nicht sagt?“

„Das macht es zumindest nicht schlimmer. Ich will nicht wissen, was sie denkt.“

„Warum hast du sie dann geheiratet?“

„Das war der einzige Weg, um sie ins Bett zu kriegen.“

Zeke schüttelte den Kopf. „Du hast sie nie geliebt?“

Billy rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum. „Vielleicht ein wenig. Damals.“

„Also liebst du sie heute nicht mehr?“

„Warum stellst du mir all diese Fragen? Schaffst du es nun, die Lehrerin loszuwerden oder nicht?“

Zeke lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute seinen Freund an. „Das ist eine gute Frage“, gab er zu.

„Und?“

„Ich weiß es nicht.“

„Was?“ Billy sprang auf. „Du hast es versprochen. Wir hatten eine Vereinbarung.“

Zeke nickte langsam. „Ich schätze, die hatten wir. Bist du bereit, mich herauszufordern, Billy?“

Billy schluckte. „Nein. Natürlich nicht.“ Er sank zurück auf seinen Stuhl. „Es ist nur so, ich dachte, dass sie die Stadt bald verlassen würde. Es war besser, bevor sie hergekommen ist.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich da mit dir übereinstimme. Mir gefällt es irgendwie, wie es jetzt ist.“

Am folgenden Samstag spazierte Alethea wieder in Richtung Schulgebäude, aber dieses Mal war sie nicht allein. Sie und Zeke gingen an dem Haus vorbei zu dem kleinen Wäldchen, das an diesem warmen, sonnigen Tag ein wenig Schatten versprach. Beide trugen sie einen Korb in der Hand. Seiner war größer und enthielt ihre Mittagessen, während sie den Kuchen mitbrachte, den sie extra für diesen Anlass gebacken hatte.

„Die meisten Männer mögen keine Picknicks“, sagte sie zu Zeke, während er die Decke auf dem frischen Frühlingsgras ausbreitete. „Ich nehme an, sie fürchten sich davor, zu viel Konversation betreiben zu müssen.“

Er nahm ihre Hand und half Alethea, sich zu setzen, dann ließ er sich neben ihr nieder. „Ich bin nicht wie die meisten Männer.“

Das stimmte. Er war lustig und intelligent und charmant. Sie ertappte sich mehrmals am Tag dabei, in den seltsamsten Momenten an ihn zu denken. Sie erinnerte sich an etwas, das er gesagt hatte, und merkte, wie sie lächelte. Bei dem Gedanken an seinen Kuss wurde ihr jedes Mal ganz heiß und unbehaglich. Aber mehr als alles andere wünschte sie sich, dass er Zeit mit ihr verbrächte, weil er sie mochte, und nicht, weil er eine Wette eingegangen war.

Manchmal glaubte sie, dass er sie doch wenigstens ein kleines bisschen leiden mochte. Denn niemand konnte so gut schauspielern, oder? Aber dann dachte sie an all die Lehrerinnen, die vor ihr hier gewesen waren. Alle Versuche, sich von seinen ernsthaften Absichten zu überzeugen würden nur dazu führen, dass er ihr das Herz brach. Außerdem hieße es dann, dass sie sich dumm benehmen würde, und was könnte schlimmer sein?

Während sie gemeinsam im Schatten saßen, schaute Zeke auf die Stadt, die vor ihnen ausgebreitet lag.

„Das habe ich vermisst“, gab er zu. „Ich war zu lange weg.“

„Reisen Sie oft in den Osten?“

„Alle paar Jahre. Ich verfolge dort einige geschäftliche Interessen.“

„Ich war einmal in New York“, sagte sie und fragte sich, ob sie das lieber nicht hätte sagen sollen.

Zeke streckte sich aus und stützte sich auf seine Ellbogen. „Mit Wesley?“

Sie nickte nur, weil sie nicht sagen wollte, dass es ihre Hochzeitsreise gewesen war. „Baltimore ist groß und befindet sich ständig im Wachstum, aber es ist kein Vergleich zu New York. Trotzdem ziehe ich Titanville vor.“

„Warum? Ich hätte gedacht, Ihnen gefällt das kulturelle Angebot einer großen Stadt.“

„Hier gibt es genug, was mich unterhält. Haben Sie mal gesehen, wie eines von Big Johns Pferden sich losreißt und durch die Stadtmitte galoppiert? Oder wie die Kinder freitags nach Hause laufen, froh, dass die Schule vorbei ist?“ Sie lächelte. „Ich nehme ihren Enthusiasmus nicht persönlich. Ich weiß, dass sie die Zeit mit mir genießen.“

Sie atmete tief ein. „Die Stürme hier sind so viel aufregender als alle, die ich je in Baltimore erlebt habe. Es gefällt mir, wenn der Wind bläst und es laut donnert und alle sicher in ihren gemütlichen, warmen Häusern sitzen. Ich mag es, fast jeden beim Namen zu kennen. Und die Geburt eines Kindes ist in Titanville ein Fest für jedermann. Ich gehöre hierher. Ich habe nie zuvor irgendwohin gehört.“

Sie lächelte ihn an. Bis zu diesem Augenblick war Zeke nicht aufgefallen, wie wunderschön sie aussah. Er wusste, dass sie ansprechend und hübsch war, aber er hatte ihre Schönheit noch nicht bis in seine Seele hinein gespürt. Nun, während er den Schwung ihres Wangenknochens und die Form ihres Mundes betrachtete, sann er darüber nach, wie sie wohl mit einem Kind unter dem Herzen aussähe. Oder in fünfzehn bis zwanzig Jahren, mit ersten grauen Strähnen im Haar.

Er wollte ihr gegenübersitzen – vor einem offenen Kamin –, lesen und danach über die Bücher sprechen. Er wollte mit ihr in seinen Armen einschlafen und am nächsten Morgen neben ihr aufwachen.

„Ich bin zu enthusiastisch“, sagte sie und senkte den Blick.

„Wieso sagen Sie das? Sollte man den Ort nicht mögen, an dem man lebt?“

Sie beugte sich zu ihm vor. „Es ist mehr als das. Ich sehe hier so viel Potenzial. So viele Möglichkeiten. Ich habe hier Freundschaften geknüpft, was ich nie erwartet hätte. Und diese Menschen schätzen meine Meinung. Es ist … inspirierend, von Kindern und Erwachsenen umgeben zu sein, denen das Lernen so viel Spaß bringt.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch mehr gebildete Mitglieder Ihres Geschlechts benötigen.“

„Haben Sie Angst vor der Herausforderung?“, fragte sie mit einem Lächeln.

„Ich und jeder andere Mann.“

„Ich werde nicht einmal so tun, als wäre ich überrascht.“

Er nahm ihre Hand und bemerkte, wie geschmeidig ihre Finger zwischen seine glitten.

„Ich spiele mit dem Gedanken, ein Haus zu bauen“, entfuhr es ihm, ohne dass er wusste, woher diese Worte kamen.

Sie musterte ihn interessiert. „Für Sie selbst?“

Er nickte. „Ein großes Haus mit einer umlaufenden Veranda und viel Vieh.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Rinder im Haus eine gute Idee sind.“

Er grinste. „Die sind natürlich draußen.“

„Sind Sie sicher? Denn das ist nicht das, was sie gesagt haben. Sie sagten, Sie wollen eine umlaufende Veranda und Vieh. Ich muss Ihnen raten, Mr Titan, Sie sollten sich etwas klarer ausdrücken.“

Ihre grünen Augen funkelten amüsiert.

„Lachen Sie mich aus?“, fragte er.

„Nein. Wie kommen Sie darauf? Eine einfache Frau, die einen Mann wie Sie auslachen würde? Einen so mächtigen und weit gereisten Mann? Ich zitterte in Ihrer Gegenwart.“

Jetzt lachte sie wirklich. Er drehte sich um und packte sie. Sie versuchte zu entkommen, aber er war zu schnell. Er umfing ihre Taille und zog Alethea an sich. Dann lag er auf ihr, schaute in ihre weit aufgerissenen Augen und wusste, dass dies der beste Anblick auf der ganzen Welt war.

„Alethea“, murmelte er, bevor er sie küsste.

Alethea tat nicht einmal so, als würde sie Widerstand leisten. Sie gab sich ganz dem Gefühl von Zekes Mund hin. Seine Lippen waren fest, aber zart, sie bewegten sich langsam, als wolle er ihr Zeit geben, sich an seine Aufmerksamkeit zu gewöhnen. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und schloss die Augen.

Er küsste sie mit einer Hingabe, als hätte er alle Zeit der Welt. Als seine Zunge ihre Unterlippe berührte, öffnete Alethea leicht den Mund. Vielleicht hätte sie sich wehren sollen, aber sie sehnte sich danach, zu fühlen, wie die Hitze ihren Körper erfüllte. Sie wollte das Ziehen spüren, an das sie sich aus ihrer Zeit im ehelichen Bett erinnerte. Selbst als sie sich in Erinnerung rief, dass Zeke alles tat, um sie zu verführen, wollte sie sich nicht von ihm lösen.

Er eroberte ihren Mund. Sie lag auf der Decke, den harten Boden im Rücken, und doch wollte sie sich nicht von der Stelle rühren. Nicht wenn seine Zunge so köstlich mit ihrer tanzte.

Er legte eine Hand auf ihre Hüfte und zog Alethea näher zu sich heran. Ihre Hüfte wurde gegen seinen Bauch gepresst – und gegen die Stelle ein wenig weiter unten. Sie hätte zu gern gewusst, ob er erregt war, aber durch die vielen Lagen Stoff und ihren Petticoat konnte sie es nicht spüren.

Er fuhr mit seiner Hand von ihrer Hüfte zu ihrem Rippenbogen und noch ein wenig höher. Der Weg schien bewusst gewählt, und Alethea spürte, wie sie vor Erwartung den Atem anhielt.

Auf ihrer Brust ließ er seine Hand ruhen, ein leichtes Gewicht. Mit den Fingern streichelte er auf ihrem Körper auf und ab, neckte ihre Brustspitzen, bis sie sich straff zusammenzogen. Jede Berührung wurde von einem Ziehen in ihrem Unterleib begleitet, einer mächtigen Sehnsucht, die in ihr den Wunsch weckte, ihm noch näher zu kommen.

Sie ermahnte sich, dass sie dem Einhalt gebieten musste, dass er das alles mit Hintergedanken tat. Wenn sie ihn weitermachen ließ, würde er gewinnen, und sie wäre gezwungen, die Stadt zu verlassen. Aber sie konnte nicht widerstehen, erst recht nicht, als er seine Hand über ihren Körper zu ihrer intimsten Stelle gleiten ließ.

Er fuhr fort, sie zu küssen, wie um sie abzulenken, aber sie war sich nur allzu bewusst, wie er ihre Röcke hochschob. Mit der Hand glitt er unter die vielen Lagen Stoff und blieb auf ihrem Oberschenkel liegen. Nur eine hauchdünne Lage Baumwollstoff trennte ihre Haut von seiner, seine Finger von ihrem heißen Zentrum der Lust.

Sie musste es wissen. Das war ihre Schwäche, der Forscherdrang. Sie wollte Gewissheit, ob das, was sie in jener Nacht vor so langer Zeit erlebt hatte, tatsächlich passiert oder nur ein Trick ihrer Einbildungskraft gewesen war. War ihr Körper wirklich in der Lage, diese erotischen Freuden zu empfinden, die sie damals ins Kissen hatten schreien lassen? Wenn jemand ihr helfen konnte, die Antwort darauf zu finden, dann dieser Mann Zeke.

Mit den Fingern tänzelte er über ihren Oberschenkel und bewegte sich langsam, oh, so sehr langsam, zwischen ihre Beine. Er küsste sie immer noch, während er mit der Hand tiefer und tiefer glitt, als suche er etwas. Als …

Er strich über eine Stelle, die eine flammende Hitze durch ihren Körper schickte. Ihr stockte der Atem, als er die Stelle erneut rieb und dann mit dem Finger umkreiste.

Lust durchflutete sie. Ihre Kleidung war zu eng, und sie hatte viel zu viel an. Sie sehnte sich danach, sich die Sachen vom Leib zu reißen und sich ihm nackt zu präsentieren. Sie wollte mehr von ihm spüren, wollte die Beine weit spreizen.

Stattdessen hielt sie jedoch die Augen geschlossen und fuhr fort, ihn zu küssen, als ob er sie nicht genau da berührte und sie näher und näher an einen Ort brachte, den sie nicht verstand.

Zeke streichelte sie mit einer Sicherheit, die es ihr erlaubte, sich fallen zu lassen. Er bewegte sich schneller, übernahm die Kontrolle über sie, bis sie ihren Kopf zurückfallen ließ und sich nur noch auf das konzentrierte, was er mit ihr machte.

Wieder und wieder, bis sie vom Antlitz der Erde geschleudert wurde und in eine wogende, wundervolle Welt der Gefühle stürzte. Sie klammerte sich an ihn, ohne zu begreifen, was genau mit ihr geschah, aber sie war sich sicher, dass es niemals aufhören sollte.

Und dann renkte sich die Welt wieder ein. Alethea befand sich wieder auf der Decke in den Armen von Zeke, der mit den Händen ihren Rock glatt strich. Errötend zwang sie sich, die Augen zu öffnen.

Sie dachte, er würde lächeln oder ihr diesen Blick voll männlicher Überlegenheit schenken, den sie so lästig fand. Stattdessen war sein Gesichtsausdruck sehr ernst, vielleicht sogar ein wenig zärtlich.

„Meine Alethea“, flüsterte er.

Sie schluckte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Dann werden wir gemeinsam schweigen.“

„Aber wir … du …“

„Pst.“ Er strich ihr eine Strähne aus der Stirn. „Es ist nichts passiert. Du bist noch genau die, die du vorher warst.“

Sie nahm an, dass das stimmte. Sie hatten nicht beieinandergelegen, wie es verheiratete Paare taten. Aber was er mit ihr gemacht hatte, war so intim gewesen. So perfekt.

Warum hatte er es überhaupt getan? Weil er es wollte? Konnte sie ihm vertrauen?

Welche Bedeutung hatte das schon? Da sie ihm ohnehin längst ihr Herz geschenkt hatte, war es ein wenig spät, sich über so etwas wie Vertrauen Gedanken zu machen.

7. KAPITEL

Alethea sehnte sich den Rest des Wochenendes nach einem weiteren Treffen mit Zeke, aber er ließ sich nirgendwo blicken. In der Kirche sah sie sich verstohlen um, ob sie ihn irgendwo entdecken konnte. Ohne Erfolg. Danach hoffte sie, ihn am Sonntagabend im Speisesaal anzutreffen, aber vergeblich.

Am Montag nach Schulschluss rief einer ihrer Schüler ihr zu, dass jemand den kleinen Hügel zum Schulgebäude hinaufkäme. Ein Mann. Ihr Herz hüpfte aufgeregt in ihrer Brust, beruhigte sich aber sofort wieder, als Timmy ergänzte, es sei der Bürgermeister.

Geht Zeke mir aus dem Weg, fragte sie sich und strich sich den Rock glatt, bevor sie ihrem Besucher entgegenging. Bereute er, was geschehen war? Schämte er sich ihretwegen?

Sie nahm an, dass sie sich selber auch ein wenig dafür schämen sollte, dass sie einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, erlaubt hatte, sie so zu berühren. Aber das Schamgefühl wollte sich nicht einstellen. Mit Zeke zusammen zu sein hatte sich so richtig angefühlt. In seinen Armen war sie völlig sie selbst. Es gab nichts zu verbergen. Sie liebte ihn. Die Frage war nur, was er für sie empfand. Sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob er sich ihr gegenüber nun so benahm, weil ihm wirklich etwas an ihr lag oder weil er mit seinen Freunden gewettet hatte.

Darüber werde ich später nachdenken, sagte sie sich. Der Bürgermeister betrat das Schulhaus und begrüßte sie.

Nachdem sie sich höflich nach dem gegenseitigen Befinden erkundigt hatten, sagte er: „Mrs Harbaugh, wir sind alle sehr zufrieden mit Ihrer Leistung hier in Titanville. Nicht nur, dass sie hervorragende Arbeit als Lehrerin unserer Kinder leisten, Sie sind auch ein wertvolles Mitglied unserer Gemeinde geworden.“

Der Bürgermeister, ein älterer Herr mit einem grauen Schnurrbart, lächelte. „Es gibt einige, die sich über Ihre Gesellschaft für Wissen beschweren, aber ich denke, sie tut uns ganz gut. Eine Stadt wird erst wachsen, wenn die Frauen die Dinge in die Hand nehmen und für ein wenig Zivilisation sorgen. Und Sie haben den ersten wichtigen Schritt in diese Richtung getan.“

Alethea strahlte vor Freude. „Danke, Sir. Ich mag die Menschen aus Titanville sehr und ich hoffe, dass ich hier für viele weitere Jahre eine Heimat finde.“

„Das wünschen wir uns auch.“ Er legte einige Zeichnungen auf den Tisch. „Ihr Vertrag besagt, dass Ihnen ein Haus zur Verfügung gestellt wird, wenn Sie sich entscheiden, nach Ihrem ersten Jahr als Lehrerin hier zu bleiben. Das Haus wird Ihnen gehören, und Sie können damit machen, was Sie wollen. Auch wenn das Schuljahr noch ein paar Wochen dauert, haben wir beschlossen, schon einmal mit dem Bau Ihres Hauses anzufangen. Vorausgesetzt, Sie wollen bleiben.“

Alethea starrte ihn an. Ein Haus? Sie baten sie, hierzubleiben und boten ihr ein Haus an? Sie hatte von diesem Teil ihres Vertrages gewusst, aber nicht wirklich darüber nachgedacht, was nach ihrem ersten Jahr passieren würde. Anfangs war sie zu sehr damit beschäftigt, die Menschen kennenzulernen, zu unterrichten und die Gesellschaft ins Leben zu rufen, sodass ihr fürs Grübeln und Träumen keine Zeit geblieben war. Und in der jüngeren Vergangenheit hatte sie sich ganz darauf konzentriert, sich von Zeke nicht vertreiben zu lassen. Offensichtlich war ihr das gelungen. Bedeutete dieses Angebot, dass er sich seine Niederlage eingestand?

„Natürlich möchte ich bleiben“, erwiderte sie. „Hier ist mein Zuhause.“

„Ausgezeichnet. Dann lasse ich Ihnen die Pläne da. Schauen Sie sie sich in Ruhe an und entscheiden Sie, welcher Entwurf Ihnen am meisten zusagt. Dieser hier ist für ein zweistöckiges Haus mit zwei Wohneinheiten. Dann könnten Sie eine für sich behalten und die andere vermieten und sich somit ein zweites Einkommen sichern.“

„Das ist sehr großzügig von Ihnen.“

„Sie sind uns ja auch sehr wichtig, Mrs Harbaugh. Wir wollen, dass Sie hier glücklich werden.“

Nachdem er gegangen war, studierte Alethea die Entwürfe für ihr künftiges Zuhause genau. Zur Auswahl standen zwei einstöckige Häuser und das zweistöckige Gebäude mit den separaten Räumen zum Vermieten. Am Ende des Dokuments befand sich eine Auflistung der infrage kommenden Grundstücke.

Immer noch ganz aufgeregt griff sie nach ihrer Tasche und eilte zu ihrer Freundin Daisy.

Während sie über die gefegten Bürgersteige der Stadt spazierte, kam sie an mehreren Männern vorbei. Obwohl sie höflich nickten, sahen die Männer sie irgendwie seltsam an. Sie wirkten beinahe resigniert, als seien sie endgültig besiegt worden. Am Kaufmannsladen traf sie auf den Hufschmied, der gerade aus der Tür kam. Er schaute sie an, seufzte schwer und hielt ihr dann die Tür auf.

Alethea dankte ihm und betrat den geräumigen Laden.

Daisy stand hinter dem Tresen und verhandelte gerade mit einem Kunden. Sie winkte Alethea zu.

„Hast du es schon gehört?“, fragte sie lachend. „Du hast gewonnen! Es machen Gerüchte die Runde, dass du bleibst und die Gesellschaft fortbestehen wird. Die Ehemänner in Titanville sind besiegt, und das haben wir ganz allein dir zu verdanken.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir da zustimmen kann“, sagte sie langsam und etwas verwirrt von den Ereignissen des Nachmittags. „Es ist alles so seltsam. Der Bürgermeister hat mich aufgesucht, um mit mir über mein Haus zu sprechen, obwohl der Vertrag besagt, dass die Entscheidung erst am Ende des Schuljahres fällt.“

Daisy berührte ihren Arm. „Das kommt daher, dass du gewonnen hast. Zeke Titan hat es nicht geschafft, dich zu verführen.“

Alethea dachte an ihren gemeinsamen Nachmittag und an die Gefühle, die Zeke in ihr ausgelöst hatte. „Woher wollt ihr wissen, ob er mich verführt hat oder nicht?“

„Er hat allen gesagt, dass du gegen seinen Charme immun bist und in der Stadt bleiben wirst. Stattdessen ist er derjenige, der geht.“

„Wie bitte?“

„Zeke zieht weg. Es ist wirklich schade. Ich weiß, dass du ihn nicht sonderlich schätzt, aber der Stadt hat er gutgetan.“

Daisy plapperte weiter, aber Alethea hörte ihr nicht mehr zu. Zeke verließ Titanville? Wie konnte er? Das hier war sein Zuhause, hier gehörte er hin. Außerdem war Titanville ein besserer Ort, wenn er da war.

Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie der Grund für seinen Umzug war. Schuldgefühle flammten in ihr auf. Sie wusste, dass seine Entscheidung mit ihrem gemeinsamen Nachmittag zusammenhing, aber sie war nicht sicher, inwiefern genau. Selbst wenn er enttäuscht oder wütend wäre, würde er die Stadt nicht einfach so verlassen. Nein, es musste einen anderen Grund geben.

Sie musterte die Papiere, die sie in der Hand hielt. Das Haus. Daran hat er auch seinen Anteil, dachte sie. Aber warum wollte er ihr ein Haus geben und dann wegziehen?

„Das kann er nicht machen“, unterbrach sie den Redefluss ihrer Freundin. „Er kann nicht weggehen.“

„Er scheint aber entschlossen zu sein.“

„Dann werde ich dafür sorgen, dass er seine Meinung ändert.“

Sie verließ den Laden und ging zum Hotel. Sie stieg die Treppe hinauf und klopfte entschlossen an Zekes Tür. Er öffnete.

Sie hatte ihn seit zwei Tagen nicht gesehen und hatte in der Zeit beinahe vergessen, wie sehr sie seinen Anblick genoss. In seinen warmen, braunen Augen blitzte Freude auf. Er verzog den Mund zu einem zaghaften Lächeln. Sie sehnte sich danach, in seine Arme zu sinken und für immer dort zu bleiben.

„Mrs Harbaugh“, sagte er. „Was für eine unverhoffte Freude.“

„Mein Namen ist Alethea“, erwiderte sie entschlossen. „Willst du mich nicht hineinbitten?“

Er blickte in Richtung Flur. „Ich bin mir nicht sicher, ob das schicklich wäre. Das hier ist immerhin mein Schlafzimmer.“

Sie hob ihr Kinn. „Ich bin mir sehr bewusst, wo wir hier sind, Zeke. Bitte, lass mich hinein.“

Er trat beiseite, und sie stürmte in sein Zimmer. Es sah ihrem sehr ähnlich, nur war es vielleicht ein wenig größer und hatte ein nach Osten zeigendes Fenster. Das Bett war gemacht, die Kommode wirkte aufgeräumt, aber neben dem Schrank stand eine offene Truhe.

Sie drehte sich zu ihm um. „Also stimmt es. Du gehst fort.“

Sein Lächeln erstarb. „Ich muss mich anderswo um meine Geschäfte kümmern.“

„Du warst gerade erst für sechs Monate weg. Wie kannst du da schon wieder abreisen?“

„Ich bin dir keine Erklärung schuldig.“ Er ging ans Fenster und schaute hinaus. „Gibt es sonst noch etwas?“

Es gibt so viel, was ich sagen will, dachte sie traurig. In ihrem Inneren tat alles weh. „Willst du so verzweifelt von mir fort, dass du dafür sogar deine Heimat verlässt? Du gehörst hierher, Zeke. Die Stadt braucht dich mehr, als sie mich braucht.“ Sie schluckte, weil sie wusste, dass das alles irgendwie ihr Fehler war. „Ich werde gehen.“

„Nein.“ Er sah sie eindringlich an. „Du musst bleiben. Du sorgst hier für Veränderungen. Gute Veränderungen. Du liebst es, hier zu sein.“

„Du aber auch.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann überall leben. Ich habe hier keine Bindungen.“

Das alles war so schrecklich. „Ich weiß, dass es an mir liegt, aber ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe. Ist es, weil ich …“ Sie räusperte sich. „Ist es, weil ich zugelassen habe, dass du mich berührst? Ist die Erinnerung daran so peinlich, dass du …“

Mit einem Schritt war er bei ihr, zog sie in seine Arme und küsste sie mit einer hungrigen Verzweiflung, die ihr alle Kraft und jeglichen Willen raubte.

„Nein“, keuchte er. „Nein. Es ist nicht deinetwegen, Alethea. Du bist perfekt. Schön und intelligent, und mit dir zusammen zu sein …“ Er gab sie frei. „Ich kann nicht hier bleiben, ohne dich weiter sehen zu dürfen. Ich kann nicht in deiner Nähe sein, ohne Dinge zu wollen, die ich nicht haben kann. Meine Bewunderung für dich wächst mit jedem Augenblick. Also ist es besser, wenn ich mich der Situation entziehe.“

Sie schnappte nach Luft und wagte zu hoffen, dass ihre Gefühle erwidert wurden. „Wenn du so empfindest, dann bleib.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie bauen dir ein Haus, hat man dir das schon gesagt? Es wird ein stabiles Haus sein, in dem du geschützt bist.“

„Du baust mir ein Haus“, flüsterte sie. „Das kommt alles von dir.“

Er ignorierte sie. „Wenn du dich eingerichtet hast, werde ich ein paar Professoren hierher schicken. Männer des Wissens. Männer, die keine solch schändliche Vergangenheit haben. Männer, die deinem ersten Ehemann mehr ähneln.“

„Zeke, nein.“

Er zog ein Kartenspiel aus seiner Tasche und reichte ihr die oberste Karte. Die Herzkönigin. „Du verdienst das Beste, aber ich bin nun einmal ich. Herausgeputzt und manchmal in teuren Zwirn gekleidet, aber trotzdem bin ich immer noch das arme Kind, das nie zur Schule gegangen ist und das Essen für seine Familie erbettelt hat. Ich werde akzeptiert, weil ich Geld habe, aber ich bin nie ein wahrer Gentleman gewesen. Das ist aber das, was du willst, Alethea. Ein Mann, der zu Höherem geboren wurde.“

Und mit einem Mal begriff sie alles. Ihr wurde klar, dass er ging, weil ihm an ihr etwas lag. Es war das größtmögliche Opfer, wenn auch ein sehr dummes. Aber es war ehrenhaft und kam aus tiefstem Herzen.

Sie trat einen Schritt näher und griff nach seiner Hand. „Ich hatte Glück, dass ich Wesley wirklich geliebt habe. Er war ein guter Mann und ja, er war gebildet und fühlte sich in der besseren Gesellschaft sehr wohl. Ich war siebzehn, als wir uns kennenlernten, achtzehn, als wir heirateten, und nicht ganz neunzehn, als er starb. Ich war ein Mädchen, und was ich von einem Ehemann wollte und brauchte, spiegelte genau das wider.“

Sie sah Zeke tief in die Augen, wollte ihn zwingen, ihr zu glauben. „Jetzt bin ich eine Frau. Ich habe andere Bedürfnisse. Ich weiß, was bei einem Mann wirklich zählt, sind sein Herz und sein Charakter. Ich bewundere dich, Zeke. Das Wissen über deine Vergangenheit macht meine Gefühle für dich nur noch stärker. Deine Freundlichkeit mir und der Stadt gegenüber wecken in mir den Wunsch, deiner würdig zu sein.“

Er starrte sie ungläubig an. „Wie solltest du das nicht sein?“

Sie lächelte. „Ich bringe so wenig mit.“

„Du hast alles! Du bist perfekt. Dich in meinen Armen zu halten, dich zu berühren, dir Freude zu bereiten … ich könnte mir nicht mehr wünschen. Dich lachen zu hören, dir zuzuhören, wenn du sprichst – mehr will ich gar nicht.“

Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Warum verlässt du mich dann?“

„Alethea.“

„Sag es mir. Ich habe Liebe erlebt, aber noch nie war mein Herz so erfüllt. Es fließt über vor Liebe zu dir, Zeke.“

Er umschloss ihre Finger mit seinen. Leidenschaft und noch etwas anderes, etwas Wundervolles, flammte in seinen Augen auf. „Bist du sicher?“

Sie nickte, und während sie mit den Tränen kämpfte, keimte Hoffnung in ihr auf.

Er ließ ihre eine Hand los, um ihre Wange zu berühren. „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt.“

„Aber es stimmt.“

Er lächelte, dann küsste er sie. „Willst du mich heiraten? Mit mir gemeinsam hier bleiben?“

Eine nie gekannte Freude strömte durch ihren Körper und gab ihr das Gefühl, leichter als Luft zu sein. „Ja, ja, tausend Mal ja.“

Er packte sie an der Taille und wirbelte sie im Kreis herum. „Ich werde dir das größte Haus bauen, das Titanville je gesehen hat.“

Sie lachte. „Ich wäre auch mit etwas Kleinerem zufrieden.“

„Ich nicht. Wir werden Rinder züchten und Kinder haben und gemeinsam alt werden.“

„Wie könnte ich so ein Angebot ablehnen?“, neckte sie. „Es wird fabelhaft.“

Er setzte sie sanft auf dem Boden ab und küsste sie noch einmal. Seine Lippen verweilten auf ihren. „Du bist fabelhaft, meine Liebe.“

„Genau wie du. Du bist alles, was ich will, Zeke. Für immer.“

„Dann sollst du mich auch für immer haben.“

1. KAPITEL

Es sind doch nur zwei Millionen. Ist das etwa ein Problem?“

Lexi Titan zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich nicht“, log sie, während sie sich fragte, ob John, ihr Bankberater, den Verstand verloren hatte. Zwei Millionen Dollar? Sie sollte zwei Millionen Dollar in einundzwanzig Tagen aufbringen? Na klar. Sie würde einfach nach Hause gehen und die Sofaritzen absuchen. Irgendwo zwischen den Kissen musste doch noch der eine oder andere zerknüllte Eine-Million-Dollar-Schein stecken.

„Zur Not kannst du ja deinen Vater fragen“, schlug John vor und studierte dabei die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, als wären sie das Interessanteste auf der Welt.

Lexi lächelte. „Vielen Dank für den Tipp“, erwiderte sie, als sie aufstand. Ihren Vater fragen? Eher nicht. Selbst wenn Jed Titan gewillt wäre, sie aus der Sache herauszuhauen – ihn um Hilfe zu bitten würde ihren sorgfältig ausgeklügelten Dreijahresplan mit einem Schlag zunichte machen. „Ich melde mich wieder.“

„Warte nicht zu lange, Lexi.“ John erhob sich und schüttelte ihr die Hand. „Wenn du das Geld in drei Wochen nicht aufgetrieben hast, verlierst du alles.“

John hatte es tatsächlich geschafft, die Katastrophe ihres Lebens in einem einzigen Satz zusammenzufassen.

„Ich überlege mir was“, sagte sie. „Du hörst in ein paar Tagen von mir.“

John wirkte verlegen. „Eigentlich sehen wir uns ja schon heute Abend, auf der Benefizveranstaltung deiner Schwester.“

Wo er allen und jedem die Nachricht über ihr Unvermögen auf die Nase binden würde? „Gilt für Bankberater eigentlich dasselbe wie für Anwälte? Hast du so etwas wie eine Schweigepflicht?“

„Ja“, versicherte er ihr. „Wir halten uns an einen Ehrenkodex. Meine Lippen sind versiegelt.“

Hoffentlich sagte er die Wahrheit. „Dann bis heute Abend“, verabschiedete sie sich mit gespieltem Enthusiasmus. Sie nahm ihre Tasche und verließ das elegante Büro.

Frust und Verärgerung jagten sie den mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Sie schlüpfte durch den nächsten Ausgang und ging über den Parkplatz zu ihrem Auto. Als sie auf dem Fahrersitz saß, musste sie sich zusammenreißen, um nicht die Stirn gegen das Lenkrad zu schlagen. Sie konnte es akzeptieren, wenn es mal schlecht lief. Aber sie fand es unerträglich, wenn sie selbst schuld daran war.

„Wenn du Mist baust, musst du stark sein.“

Sie stöhnte, als sie in ihrem Kopf eine Stimme aus der Vergangenheit hörte, die diese Familienweisheit vortrug. Sie steckte in großen Schwierigkeiten, und die Einzige, der sie die Schuld daran geben konnte, war sie selbst.

Dreißig Minuten später hatte sie Dallas hinter sich gelassen und die Stadtgrenze von Titanville erreicht. Sie ignorierte das Schild, das sie mahnte, fünfzig zu fahren, und düste die Schnellstraße hinunter. Ihr Leben war ein riesiger Misthaufen, der noch viel größer wurde, als sie hinter sich eine Sirene hörte.

Lexi fuhr an den Straßenrand und ließ die Scheibe herunter. Sie wartete, bis der Deputy Sheriff neben ihr stand, nahm dann die Sonnenbrille ab und seufzte.

„Falls Sie mich verhaften wollen – könnten Sie mich vorher bitte ein bisschen vermöbeln? Dann könne ich nämlich die Polizei verklagen.“

„Weil es so eine lahme Woche ist?“, fragte die Polizistin.

„Weil ich ein wenig Geld brauche.“

„Über welche Summe reden wir?“

„Zwei Millionen Dollar.“

Deputy Dana Birch stieß einen Pfiff aus. „Ich habe im Auto noch einen Rabatt-Coupon von einem Einrichtungsladen, aber das wird wohl kaum reichen.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Willst du darüber reden? Ich habe in fünfzehn Minuten Mittagspause. Wir könnten uns bei Bronco Billy’s treffen.“

Lexi nickte. „Das wäre toll. Aber ich werde dir nur die Ohren volljammern.“

„Das bin ich ja schon gewohnt“, erwiderte Dana unbekümmert. „Und jetzt hör auf so zu rasen. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann.“

„Schon gut. Tut mir leid.“

Eine Viertelstunde später setzte sich Dana zu Lexi an den Tisch. Es war noch früh, halb zwölf, weshalb in dem Restaurant nicht viel los war. Lexi hatte sich die Wartezeit damit vertrieben, sich die zahlreichen Clint-Eastwood-Poster an den Wänden anzusehen. Bronco Billy’s feierte Clint auf jede erdenkliche Art. Seine Filme liefen in Endlosschleifen in den scheinbar wahllos aufgestellten Fernsehern, es gab T-Shirts und DVDs zu kaufen, und der „Ist heute dein Glückstag, Penner?“-Eisbecher war in der Gegend der absolute Knaller.

Dana schaute gar nicht erst in die Karte, sondern fragte sofort: „Was ist passiert? Hat dir jemand zu unsanft die Bikinizone gewachst?“

Lexi tat, als hätte sie die schnippische Bemerkung nicht gehört. Normalerweise hatten sie und Dana großen Spaß daran, sich wegen ihrer extrem unterschiedlichen Auffassungen von weiblicher Schönheit zu kabbeln. Lexi war Inhaberin eines luxuriösen Wellnesstempels und überzeugt davon, dass eine Frau das Beste aus sich machen sollte. Dana hingegen fand, dass es völlig ausreichend war, wenn sie während ihrer täglichen dreiminütigen Dusche eine Pflegespülung in den Haaren verteilte. Lexi war sich nicht mal sicher, ob Dana wusste, wozu man Mascara benutzte.

Dana hatte dunkle, kurze Haare, trug während der Arbeit eine Uniform und in ihrer Freizeit Jeans und T-Shirt. Die beiden Frauen kannten sich, seit sie zehn waren, und Lexi hatte Dana in all den Jahren erst dreimal im Kleid gesehen.

Dana lehnte sich zurück. „Alles klar, du hast also ernste Sorgen. Was ist los?“

„Das mit den zwei Millionen vorhin war kein Spaß. Ich muss mir überlegen, wie ich sie in drei Wochen auftreibe.“

„Wirst du erpresst oder so?“

Lexi musste lächeln. „Du bist wirklich durch und durch ein Cop. Keine Erpressung. Nur ich, eine dämliche und gierige Kuh.“ Sie seufzte. „Als ich aus der Firma meines Vaters ausgestiegen bin, um mein eigenes Geschäft aufzuziehen, hatte ich ein kleines Erbe von meiner Großmutter. Das reichte zwar, um das Venus Envy zum Laufen zu bringen, aber für mehr auch nicht. Abgesehen von meiner Wohnung hatte ich keinerlei Privatvermögen. Und ohne die richtige Bilanz ist es weit weniger von Bedeutung, eine Titan zu sein, als die Leute denken. Auf jeden Fall kam ich gehörig ins Schlingern. Vor ungefähr zwei Jahren rief mich eines Tages mein Bankberater an. Einer seiner Kunden wolle mir für die Vergrößerung meines Geschäfts zwei Millionen Dollar leihen. Die Bedingungen waren simpel – ich brauchte bloß meine Raten direkt an ihn zu zahlen. Er wollte nicht mal einen Geschäftsanteil. Mit dem Geld kaufte ich das Gebäude und vergrößerte und renovierte mein Day Spa. Ein Traum hatte sich erfüllt. Aber es gab einen Haken.“

„Wie fast immer“, warf Dana ein.

„Der Investor hielt seine Identität geheim, und das Darlehen war rückforderbar. Er konnte jederzeit die Rückzahlung der vollen Summe binnen einundzwanzig Tagen verlangen.“ Sie zuckte die Achseln. „Der Countdown hat heute begonnen.“

Dana fluchte. „Steckt dein Dad dahinter? Das klingt verdächtig nach Jed.“

„Ich weiß es nicht“, gestand Lexi. „Aber ich habe mich das auch schon gefragt.“ Jed Titan war in der Geschäftswelt von Texas eine lebende Legende. Hatte ihr Vater ihr einen Kredit gewährt, nur um ihn zurückzuverlangen? Gewissermaßen als Test?

„Aber ich tendiere zu Nein“, fuhr Lexi fort, „weil Jed nicht so subtil ist. Wenn er mich fertigmachen wollte, würde er es offen tun.“

„Wer ist es dann?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Und mein Bankberater wird es mir auch nicht verraten.“

Dana schnaubte verächtlich.

„Was?“, fragte Lexi.

„Dein Bankberater. Du hast einen Bankberater. Ich kenne da so einen kleinen Geldautomaten neben der Drogerie, aber wir waren nie mehr als flüchtige Bekannte.“

„Alle Geschäftsleute haben Bankberater“, erklärte Lexi, doch sie wusste, dass Dana ihr nicht glaubte, wenn auch zu Unrecht. Jeder dachte, es bedeutete etwas, eine Titan zu sein. Vielleicht stimmte das ja sogar – aber was es auch bedeuten mochte, es war nicht zwangsläufig gut.

„Was hast du denn jetzt vor?“, wollte Dana wissen. „Im Ernst, ich habe fünftausend Dollar gespart. Die kannst du gern haben, aber das dürfte dir wohl kaum eine Hilfe sein.“

„Lieb von dir, dass du es mir anbietest, aber danke. Das ist die Ironie an der Sache. Jeder geht davon aus, dass die Titan-Mädchen im Geld schwimmen, aber so ist es nicht. Na gut, Skye hat das Erbe von ihrer Mutter, aber Izzy und mir geht es wie jedem anderen auch: Wir hangeln uns von einem Gehaltsscheck zum nächsten. Jed verfügt über das gesamte Familien-vermögen, und er will, dass wir uns beweisen, bevor wir einen Teil vom Familiengeschäft bekommen. Deshalb habe ich das Day Spa ja überhaupt erst aufgebaut. Es war mein großartiger Plan, um zu zeigen, dass ich es auch allein schaffe. Und ich denke gar nicht daran, jetzt alles an irgendeinen gesichtslosen Mistkerl zu verlieren. Ich werde einen Weg finden, die zwei Millionen aufzutreiben. Ich werde alles tun. Ganz egal, was.“

Dana tippte auf das Namensschild auf ihrer linken Brusttasche. „Vorsicht, kleine Lady. Du willst doch nicht etwa gegen das Gesetz verstoßen?“

„Falls doch, werde ich es dir nicht auf die Nase binden.“

„Immerhin.“

Die Kellnerin kam. Sie bestellten Burger mit Pommes Frites und Cola light, schließlich war die richtige Balance das A und O.

„Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich so dumm war“, sagte Lexi, als sie wieder alleine waren. „Das macht mich besonders wütend. Dass ich es doch eigentlich besser weiß.“ Sie seufzte. „Okay. Ich verspreche dir, dich für den Rest der Mittagspause nicht mehr vollzujammern. Wie geht es dir denn?“

„Deine Schwester ist eine wahre Nervensäge“, grummelte Dana. „Skye gibt heute Abend im Haus oben eine ihrer extravaganten Partys, um Geld für ihre Stiftung zu sammeln, und sie erwartet von mir, dass ich komme. Dabei weiß sie genau, dass ich solche Veranstaltungen nicht ausstehen kann.“ Sie verdrehte die Augen. „Meine Freundin besitzt eine Stiftung. Das ist wie ein Leben in einem Paralleluniversum.“

„Wenigstens kannst du ihr absagen“, erinnerte Lexi sie. „Ich muss hingehen. Aber ich will mich gar nicht beschweren. Vielleicht verliert ja jemand ein wertvolles Diamantcollier, das ich mir krallen kann.“

Dana hob die Augenbrauen, und Lexis Blick fiel auf ihr Dienstgradabzeichen.

„’Tschuldigung“, murmelte sie. „Du hast nichts gehört.“

„Zum Glück glaube ich nicht, dass du so was tun würdest. Denk mal positiv: Dort wird ein ganzes Rudel langweiliger, stinkreicher Typen auflaufen. Vielleicht kannst du einen davon überreden, dir ein Darlehen zu geben.“

„Ich weiß aber nicht, ob ich denen wirklich das geben will, was sie für so ein Darlehen verlangen würden.“

„Das ist wieder eine andere Sache.“

Lexis Gesicht hellte sich auf. „Los, komm doch mit. Das wird sicher lustig. Du kannst über jeden lästern. Das wird dir Spaß machen.“

„Nein danke“, erwiderte Dana. „Ich habe eine Verabredung.“

„Mit Martin?“ Lexi zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen.

„Warum sagst du das so komisch?“

„Weil Martin genauso ist wie all die anderen Typen, mit denen du was hattest. Er ist viel zu nett, und du kommandierst ihn nur herum.“

„Mache ich gar nicht.“

„Tust du wohl. Du suchst dir immer diese netten, bescheidenen Männer, die dich anhimmeln und zugleich Angst vor dir haben. Du gibst in der Beziehung den Ton an und beschwerst dich dann darüber, dass du dich langweilst. Du brauchst mal jemanden, der dich etwas herausfordert.“

„Sagt die Frau, die seit einem halben Jahr kein Date mehr hatte. Du bist nicht gerade eine Expertin in Sachen Beziehungen.“

„Ich muss mich um meine Karriere kümmern. Um mein Geschäft.“

Dana warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

Lexi ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Das ich in drei Wochen verlieren werde, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.“

„Deiner Schwester gehört eine Wohltätigkeitsorganisation. Bitte sie doch um das Geld.“

„Sie würde es mir nicht geben. Sie hortet es für benachteiligte Kinder. Du kennst doch Skye. Sie ist quasi eine Heilige. Geradezu nervig heilig.“

„Was du nicht sagst. Zumindest wird es heute Abend gutes Essen geben. Und du kannst deine Sorgen in Aperitifs mit lustigen Namen ertränken. Du darfst dich nur nicht betrinken.“

Lexi setzte sich aufrecht hin. „Du brauchst wirklich dringend einen Mann, der sich nicht herumschubsen lässt.“

Dana grinste. „So etwas gibt es nicht.“

„Oh doch, und ich kann es kaum erwarten, bis du ihm endlich begegnest. In der Zwischenzeit muss ich einfach einen Mann finden, der sich von mir herumschubsen lässt. Oder es muss ein Wunder geschehen. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich gerne das Wunder nehmen.“

Cruz Rodriguez hatte nie daran geglaubt, dass Autos und Frauen viel gemeinsam hatten. Er liebte Autos – sie waren sein Leben. Aber sie konnten ihn nachts nicht wärmen … oder morgens. Und selbst wenn sie brandneu waren, rochen sie nicht so gut wie eine schöne Frau kurz vor der Kapitulation.

Er stieg aus seinem silbernen Bugatti Veyron und warf dem jungen Mann vom Parkservice den Schlüssel zu. Der konnte sein Glück kaum fassen und starrte den Wagen an.

„Oh Mann. Den lassen Sie mich fahren?“

Cruz betrachtete sein Auto. „Hast du vor, ihn kaputt zu machen?“

„Nein Sir!“ Der Junge ging dichter ran und streckte eine Hand aus, um die Seite zu berühren, zog sie dann aber zurück. „Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.“

Cruz lächelte und ging auf das große Haus zu. Nun war er an der Reihe, das Schönste zu betrachten, das er je gesehen hatte.

Lexi Titan stand auf der Veranda von Glory’s Gate und sprach mit einem ihm unbekannten Paar. Selbst aus der Entfernung konnte er ihr kunstvoll hochgestecktes blondes Haar sehen und die feinen, klassischen Züge ihres perfekten Gesichts. Sie lachte über irgendeine Äußerung der Frau. Der Klang ihres Lachens trug ihn auf der warmen Abendluft fort. Es war ein Klang, den er aus längst vergangenen Zeiten kannte.

Er wusste alles über Lexi – an Statistiken heranzukommen war nicht schwer, und außerdem hatte er sich die Zeit genommen, sich an sie zu erinnern. Er wusste eine Menge. Wie sich ihre Haut anfühlte und wie ihr Atem ging, wenn sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dass sie ihren richtigen Namen nicht leiden konnte, und dass sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten und sich ihr die Nackenhaare aufstellen, wenn man ihn aussprach. Er wusste, dass Stolz ihre größte Stärke und zugleich ihre größte Schwäche war, dass sie spielte, um zu gewinnen, und dass sie selbst dann noch mit einer von ihm nie erreichten Größe verlor, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stand.

Sie war in eine wohlhabende Familie geboren worden. Er war ein Mann, der sich seinen Weg nach oben hart erkämpft hatte. Doch noch immer gab es unzählige soziale Türen, die ihm verschlossen blieben. Und genau deshalb war er hier. Er war bereit, diese Türen zu öffnen … wenn nötig auch mit Gewalt. Und ob sie wollte oder nicht, Lexi würde ihm dabei helfen.

Er ging die sechs Stufen zur Eingangstür hinauf, sorgsam darauf bedacht, dass immer ein paar Gäste zwischen ihm und Lexi standen. Sie sollte ihn jetzt noch nicht sehen. Er wollte bestimmen, wann und wo sie sich trafen, damit der Vorteil auf seiner Seite war. Ein weniger selbstbewusster Mann hätte sich gefragt, ob sie ihn vielleicht vergessen hatte, aber er wusste, dass sie sich noch an ihn erinnerte. Keine Frau vergaß ihr erstes Mal.

Im Haus angekommen, nahm er sich einen Moment, um die Architektur des Gebäudes zu bewundern. Es war in den 1940ern erbaut worden, als das Land billig war und ein Mann nach der Kraft seiner Pferde, der Schönheit seiner Frauen und der Größe seines Hauses beurteilt wurde.

Beidseitige Treppenaufgänge führten in einem Bogen hinauf zur ersten Etage, auf einen Treppenabsatz von der Größe einer Landebahn. Das funkelnde Licht im Eingangsbereich spiegelte sich in den schwarzweißen Fliesen. An einer der gewölbten Wände stand ein Flügel. Was war schon eine Eingangshalle ohne Flügel?

Obwohl er Glory’s Gate zum ersten Mal betrat, wusste er, dass die in sechs Metern Höhe liegenden Decken handgeschnitzt waren. Er bemerkte, dass die scheinbar gemauerten Wände der beiden Wohnzimmer und des Salons zur Seite gerollt worden waren, wodurch sich Raum für mindestens fünfhundert Personen bot. Er betrat ein elegantes Zimmer, das hauptsächlich in Gold und Salbeigrün mit einem Hauch Rot gehalten war. Im mittleren Salon waren für die Auktion, die dem Empfang folgen sollte, mehrere Reihen Stühle ohne Armlehnen aufgestellt worden.

Er war gekommen, um gesehen zu werden. Um Schulter an Schulter mit der texanischen Elite zu stehen. Um einen Weg in ihre erlesene Gemeinschaft zu finden. Eine Wohltätigkeitsauktion war der perfekte Rahmen, um mit Raffinesse und Klasse seine Präsenz zu zeigen. Wenn er hier Geld spendete, würde man ihn auch zu anderen Benefizveranstaltungen einladen. Mit der Zeit würde man ihn akzeptieren. Zumindest war das sein Plan.

Er ging tiefer in den Raum hinein, bestellte einen Scotch pur an der Bar und betrachtete dann die Leute, die er nur vom Hörensagen kannte. Er wusste genau, wann Lexi das Zimmer betrat und mit welchen Gästen sie sich unterhielt. Während er sie dabei beobachtete, wie sie sich zu ihrer Schwester gesellte, fragte er sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie ihn entdeckte. Lexi Titan wäre in der Lage, ihm alles zu geben, was er wollte. Es gab nur ein Problem – seit ihrer letzten Begegnung mochten vielleicht zehn Jahre vergangen sein, doch er war sich sicher, dass sie ihn eher töten würde, als ihm ihre Hilfe anzubieten.

Lexi versteckte sich, bis der Senator Skye zur Begrüßung auf die Stirn geküsst hatte und weiterging. Zwar bewunderte sie ihn für seine Redegewandtheit, aber er war auch ein bekannter Frauenheld, und sie war nicht in der Stimmung, sich von einem alten Knacker an den Hintern grapschen zu lassen.

„Sag mir, warum du dir das antust“, begrüßte sie ihre Schwester. „Hast du nicht schon genug Geld, um mit deiner Stiftung zu tun, was immer du tun musst?“

Skye Titan, Lexis jüngere Schwester, nahm einen Schluck Champagner. „Soll ich dir mal sagen, wie viele Kinder in Amerika jeden Abend hungrig zu Bett gehen?“

„Ich hatte einen schlechten Tag. Ich will mich nicht auch noch klein und wertlos fühlen. Bitte.“

„Tut mir leid.“

Die Schwestern umarmten sich.

Lexi trat einen Schritt zurück und musterte Skye in ihrem grünen Abendkleid. „Du siehst fabelhaft aus. Ich bin neidisch auf dein Dekolleté.“ Sie blickte auf ihren kleinen Busen hinab. „Mir sind nie richtige Brüste gewachsen.“

„Sie sind weniger aufregend als du denkst“, versicherte Skye ihr. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst. Du kannst meine Wohltätigkeitsveranstaltungen doch nicht ausstehen.“

„Das kann man so nicht sagen. Ich unterstütze den Anlass. Aber ich stehe nicht so auf den Small Talk mit all den Reichen und Mächtigen.“

Skye grinste. „Ich weiß, dass es langweilig ist. Aber ich muss Geld sammeln. Einfach nur Scheckanfragen per Post zu verschicken ist nicht annähernd so lukrativ wie diese Partys. Wie geht es dir?“

Lexi erwog kurz, ihr von den zwei Millionen Dollar zu erzählen, die sie so dringend brauchte, zwang sich aber zu lächeln und zu sagen: „Alles bestens.“ Eigentlich belog sie ihre Schwester aus Prinzip nicht, aber das war etwas anderes. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie die Wahrheit hätte sagen können.

„Du meintest vorhin, du hattest einen schlechten Tag.“

„Ach, nur die Arbeit. Ist Izzy hier?“ Izzy, Isadora, war die jüngste der drei Schwestern.

„Natürlich nicht“, sagte Skye. „Izzy hasst diese Events noch mehr als du. Ich erwarte sie jeden Tag zurück, aber bisher steckt sie noch auf einer Bohrinsel vor Louisiana fest.“

Wo sie als Unterwasser-Schweißerin arbeitet, dachte Lexi und fragte sich einmal mehr, wie es sein konnte, dass sie alle Schwestern waren. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können.

„Und, neue Gesichter im Kreis der Gäste?“, erkundigte sich Lexi. „Irgendjemand, der mit Geld um sich wirft, dessen Herkunft er nicht erklären kann?“

„Eigentlich nicht. Suchst du nach jemand bestimmtem?“

Nach dem, der versucht, ihr Geschäft zu ruinieren. Je mehr Lexi darüber nachdachte, wie man ihr die Finanzierung angeboten und sie ihr dann wieder aus den Händen gerissen hatte, desto stärker wurde das Gefühl, reingelegt worden zu sein. Hatte das jemand mit Absicht getan? Spielte jemand mit ihr, und falls ja: wer?

„Ich weiß nicht genau“, erwiderte sie und drehte sich, um ihren Blick über die Menge schweifen zu lassen. „Jemanden, der Grund hat …“

Sie erblickte gut gekleidete Paare, in Gespräche vertiefte Grüppchen, einen Mann in dunklem Anzug. Der Präsident der zweitgrößten Ölgesellschaft befand sich in Begleitung seiner Frau im Raum.

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu dem Mann im dunklen Anzug zurück. Irgendetwas war mit ihm … Er kam ihr bekannt vor.

Da drehte er sich um. Hätte sie einen Drink in der Hand gehabt, er wäre mit lautem Klirren zu Boden gefallen. Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus. Jahre waren vergangen. Wenn sie einen Kalender zur Hand gehabt hätte, hätte sie die Zeit auf den Tag genau auszählen können. Vielleicht sogar auf die Stunde.

Während der ersten sechs Monate hatte sie sich gewünscht, ihm zufällig zu begegnen und ihn dann mit dem Auto zu überfahren. Während der zweiten sechs Monate war sie rationaler gewesen, eher bereit, das Ganze objektiv zu betrachten. Sie würde ihn nicht umbringen, sondern einfach nur schwer verletzen, und dann wären sie quitt. Danach war es ihr so gut wie gelungen, ihn zu vergessen. Er war ein Fehler gewesen. Sie hatte angenommen, ihre gemeinsame Nacht hätte etwas bedeutet – aber das hatte sie nicht. Ihre gemeinsame Zeit war ein Fehler gewesen, den die Frauen begingen, seit der erste Neandertaler eine Neandertalerin in seine Höhle gelockt hatte.

„Wen guckst du denn da an?“, wollte Skye wissen und folgte ihrem Blick. „Ach so. Den Autotypen. Cruz Irgendwas. Er ist sehr wohlhabend. Autohandel, eine Kette für Autozubehör und ein Rennstall. Bei der NASCAR und noch irgendwo. Weiß nicht mehr genau. Er hat uns mit einer großzügigen Spende bedacht. Kennst du ihn?“

Diese Frage werde ich nicht beantworten, dachte Lexi, während sie sich nach einem Fluchtweg umsah. Doch es gab keinen.

Ich werde einfach nicht reagieren, sagte sie sich. So wie sie ihn einschätzte, würde er sich ohnehin nicht an sie erinnern. Was in ihrem Leben ein einschneidendes Erlebnis gewesen war, hatte ihm vermutlich überhaupt nichts bedeutet. Wahrscheinlich war sie einfach nur das wertlose Date Nummer 157.

Zehn Jahre waren vergangen, und sie hatten sich beide verändert. Der Typ aus ihrer Erinnerung hatte Jeans und T-Shirt getragen, keinen maßgeschneiderten Anzug und teure italienische Schuhe. Nur sein Gesicht war noch dasselbe. Immer noch diese dunklen, glühenden Augen, in denen sich jede Frau für immer verlieren konnte. Also, andere Frauen. Sie nicht.

Sie würde sich wie eine Fremde verhalten und sich dann entschuldigen. Er würde nie erfahren, wie sehr die Erniedrigung nach jener Nacht … und jenem Morgen … noch immer schmerzte.

„Guten Abend“, sagte er im Näherkommen und lächelte Skye zu. „Ich bin Cruz Rodriguez. Vielen Dank für Ihre Einladung, Miss Titan.“

Skye lächelte zurück. „Sie sind mehr als willkommen. Nennen Sie mich Skye. Ich hoffe, Sie haben Ihr Scheckbuch dabei. Ich werde später schamlos um extravagante Auktionsgebote betteln. Aber zuerst möchte ich Ihnen für Ihre großzügige Spende danken.“ Sie schaute zu Lexi. „Cruz hat uns ein Wochenende in Daytona angeboten, in einem Privathaus, inklusive zwei Tage Rennfahrertraining mit seinem Top-Fahrer.“

„Wie beeindruckend“, murmelte Lexi und bemühte sich, den Mann, der so dicht vor ihr stand, nicht anzusehen. Sie konnte ihn förmlich schmecken. Nicht, dass sie noch wusste, wie er schmeckte. Es war schon Jahre her. Äonen. Er war ein unbedeutendes Zwischenspiel in ihrem Leben gewesen. Nicht mehr.

„Oh, Entschuldigung. Ich habe euch noch gar nicht vorgestellt. Lexi, das ist Cruz Rodriguez. Cruz, meine Schwester Lexi Titan.“

Er sah sie höflich interessiert an. Wie man die entfernte Großtante der Familie musterte. Als wären sie sich noch nie begegnet.

Na prima. Er erinnerte sich nicht an sie. Sie hatte Tage, nein, Wochen ihres Lebens damit verbracht, tödliche Rachepläne zu schmieden, und er erinnerte sich nicht an sie. War das nicht einfach toll?

Er reichte ihr die Hand. Verzweifelt suchte Lexi nach einer Möglichkeit, den Körperkontakt zu vermeiden und trotzdem höflich zu sein, aber es gab keine. Verfluchte Kinderstube. Sie holte Luft und ließ zu, dass er ihre Hand nahm.

Einen Moment lang zeigte ihr Körper keine Reaktion. Er war tatsächlich der Fremde, der er sein sollte. Dann sah sie ihm ins Gesicht. Markantes Kinn, fester, sinnlicher, wohlgeformter Mund. Mit einem Schlag wusste sie wieder, wie es war, von ihm geküsst zu werden.

Eine Hitzewelle durchflutete sie. Wäre sie zwanzig Jahre älter gewesen, hätte sie es auf die Wechseljahre geschoben. Doch nun musste sie das Kribbeln ignorieren, das ihre Knie weich wie Butter machte, und ihn anlächeln, als würde sie nicht das Geringste empfinden.

„Mr. Rodriguez“, begrüßte sie ihn kühl. „Nett, Sie kennenzulernen.“ Sie zog ihre Hand zurück.

„Cruz, bitte.“

Interessant. Genau das Gleiche hatte sie vor Ewigkeiten gegen zwei Uhr nachts ekstatisch gerufen.

„Ich bin Lexi“, erwiderte sie und beobachtete, wie er reagierte. Er blinzelte nicht einmal.

Eine Frau in schwarzem Kostüm tauchte auf. Skye erblickte sie und sagte: „Entschuldigt mich, das ist die Catering-Chefin. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.“

Dann war sie verschwunden, und Lexi war allein mit ihrer Vergangenheit. Als sie sich wieder Cruz zuwenden wollte, war dieser bereits weitergegangen. So stand sie alleine inmitten der Party.

Cruz beobachtete, wie Lexi ihre Kreise durch die Menge zog. Sie bemühte sich, ihn im Auge zu behalten und gleichzeitig so zu tun, als würde sie ihn nicht beachten. Er tat dasselbe, aber er beherrschte das Spiel besser. Er hatte ihre Verwirrung bemerkt, genauso wie ihre Verärgerung darüber, dass er sie scheinbar nicht erkannte. Auch das Knistern, das ihm vor zehn Jahren so viel Freude bereitet hatte, war ihm nicht entgangen. Dass es immer noch existierte, erleichterte seine Mission.

Sie war genau das, was er brauchte – ein Weg in die geschlossene Gesellschaft der texanischen Elite. Dorthin zu gelangen war der nächste logische Schritt in seiner Karrierelaufbahn, und er würde Lexi dazu benutzen. Er brauchte nur Zeit, um sie zu beobachten und so die beste Vorgehensweise auszutarieren.

Die günstige Gelegenheit bot sich schneller als erwartet. Cruz beobachtete, wie Lexi einen Mann mittleren Alters mit lichtem Haar und Bauchansatz begrüßte. Sie sprachen wie Bekannte miteinander. Cruz ging dichter heran und versteckte sich hinter einer Säule.

„Deine Schwester hat mir schon verschiedene Dinge genannt, auf die ich bieten soll“, sagte der Mann. „Skye ist wirklich skrupellos.“

„Und entschlossen. Denk daran, dass es für einen guten Zweck ist, John. Und gib bloß nach, sonst macht sie dir solche Schuldgefühle, dass du nie wieder ruhig schlafen kannst. Genau deshalb komme ich überhaupt nur zu diesen Veranstaltungen. Das ist leichter, als sich gegen sie aufzulehnen.“

John lachte. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Dann wurde er ernst und sagte leise: „Es widerstrebt mir, auf einer Party über Geschäftliches zu reden, aber du wirst sie doch um das Geld bitten, nicht wahr? Wenn ich mich nicht irre, haben ihre Mutter und ihr verstorbener Mann ihr eine Menge hinterlassen, oder?“

Lexi verkrampfte sich. Cruz sah, wie sich ihre Schultern verspannten und sie sich an ihr Glas klammerte. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Nicht hier.“

John schaute sich um, als wollte er sicher gehen, dass niemand sie belauschte. Cruz war sorgfältig darauf bedacht, im Verborgenen zu bleiben.

„Lexi, von dem Tag an, als du beschlossen hast, das Day Spa zu eröffnen, warst du meine Kundin. Ich bin derjenige, der dich zu dem Darlehen überredet hat, durch das du jetzt Probleme hast. Ich will nicht, dass du dein Geschäft verlierst. Und deshalb musst du etwas unternehmen, um das Geld aufzutreiben, und zwar schnell.“

„Das weiß ich“, flüsterte sie. „Und das werde ich. Aber Skye zu fragen steht nicht zur Debatte.“

„Zwei Millionen Dollar – so eine Summe taucht nicht einfach aus dem Nichts auf.“

„Danke für die Information. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst – ich brauche einen neuen Drink.“

Sie ging energisch davon. John sah ihr nach, genau wie Cruz. Doch während der ältere Mann besorgt wirkte, war Cruz höchst zufrieden.

Im Leben ging es nur ums Timing. Das richtige Geschäft zur richtigen Zeit. Die richtigen Bedingungen für das Rennen. Er war davon überzeugt, dass man nur vorbereitet sein und dann im richtigen Moment angreifen musste.

So wie jetzt.

2. KAPITEL

Lexi stand allein auf dem Balkon von Glory’s Gate. Sie hatte dem Menschengedränge entfliehen wollen, um an einem einsamen Ort in Selbstmitleid zu versinken. Etwas, das ihr ganze drei Minuten lang gelungen war. Sie hörte Schritte hinter sich und unterdrückte ein Seufzen. Was gäbe sie für ein bisschen Ruhe und Frieden.

„Heute Abend siehst du besonders schön aus, querida.“

Die leise Männerstimme klang sexy und hatte einen kaum hörbaren Akzent. Sie erkannte sie sofort. Cruz.

Sie drehte sich um, sah ihn an und wünschte sich sogleich, sie hätte es nicht getan. Er stand dichter vor ihr, als sie erwartet hatte – dieser große, breitschultrige Mann, im Gegenlicht der riesigen Fenster. Das Geländer hinderte sie daran zurückzuweichen, und zur Seite gehen wollte sie nicht. Damit hätte sie ihre Nervosität offenbart.

„Mr. Rodriguez“, murmelte sie und nahm einen Schluck von ihrem Drink. Sie würde so tun, als berührte sie dieses Zusammentreffen nicht. Er brauchte ja nicht zu wissen, welche Gefühle er auch heute noch in ihr auslöste.

Er lächelte, und seine weißen Zähne blitzten im Dämmerlicht. „Lexi, wir beide wissen doch, dass wir uns viel besser kennen.“

Sie riss die Augen auf. „Was? Soll das etwa heißen, du erinnerst dich?“ Ehe sie sich versah, waren die Worte über ihre Lippen gesprudelt. Wenn sie sie doch nur hätte zurücknehmen können …

Er trat noch näher an sie heran, auch wenn sie geglaubt hatte, das wäre gar nicht möglich. Dann beugte er sich herunter und hauchte ihr einen Kuss auf den Hals. Er berührte sie kaum, und dennoch meinte sie, seine festen Lippen und seinen warmen Atem zu spüren. Ein heißes Zittern raste durch ihren Körper, machte ihr Gänsehaut und ließ bestimmte Körperregionen um mehr betteln.

„Wie hätte ich dich vergessen können?“, fragte er mit einer leisen, sexy Stimme.

Zum Teufel mit der Coolness, dachte sie, als sie zur Seite trat und sich mehrere Zentimeter von ihm entfernte.

„Warum hast du vorhin nichts gesagt?“

„Weil ich dachte, dass du vielleicht nicht unbedingt vor deiner Schwester über unsere Nacht sprechen möchtest.“

Er hat mir nicht mal ein Zeichen gegeben, dachte sie verärgert. Gut, dass sie wütend war. Wut beschützte sie vor großen, gut aussehenden Männern, die zu dicht vor ihr standen und sie zur Verzweiflung trieben.

„Wie rücksichtsvoll von dir. Jetzt haben wir unsere Bekanntschaft ja aufgefrischt. Warum mischst du dich nicht wieder unter die Leute? Die Auktion fängt bald an. Das willst du doch bestimmt nicht verpassen.“

„Ich bin nicht wegen der Auktion hier, Lexi. Sondern deinetwegen.“

Glücklicherweise hatte sie noch nie unter niedrigem Blutdruck gelitten, aber jetzt wäre ihr ein plötzlicher Ohnmachtsanfall sehr entgegengekommen. Leider war sie zu pragmatisch und wusste, dass eine Landung auf dem harten Steinboden des Balkons weder angenehm wäre noch hübsch aussähe. Andererseits würden diese starken Arme sie vielleicht auffangen und …

Moment mal. Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht gesehen. Er hatte nie versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und zufällig wusste sie, dass sie nicht besonders schwer zu finden war. Das Verlangen, ohnmächtig zu werden, ließ schnell nach.

„Du siehst gut aus“, schmeichelte sie ihm und nahm noch einen Schluck von ihrem Drink.

„Danke.“

„Der Anzug gefällt mir. Maßgeschneidert?“

Er nickte.

„Nun ja, du hättest auch keine Einladung erhalten, wenn du nicht über ausreichend Geld zum Spenden verfügen würdest. Die Wohltätigkeit meiner Schwester erstreckt sich nämlich nur auf hungernde Kinder. Als ich dich das letzte Mal sah, bist du noch Autorennen gefahren.“

„Ein Hobby“, erklärte er. „Auch damals hatte ich bereits meine Firma.“

„Die seitdem beträchtlich gewachsen ist“, erwiderte sie und dachte an die Worte, mit denen Skye ihn vorgestellt hatte. „Du hast alles erreicht. Also, warum bist du hier, Cruz? Warum jetzt? Wir hatten vor langer Zeit eine gemeinsame Nacht. Mehr nicht.“

Es hatte ihr unendlich mehr bedeutet, aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.

„Genug mit dem spanischen Gesäusel und Küssen auf den Hals“, fügte sie hinzu. „Was willst du?“

Er lehnte sich gegen das Geländer. „Warum denkst du, dass ich außer dir noch etwas will?“

Sie hätte ihm gern geglaubt. Oder besser gesagt: Ihre Libido und vielleicht ihr Stolz hätten ihm gern geglaubt. Aber der logisch denkende Teil ihres Gehirns erinnerte sie daran, dass Cruz jede Frau auf dem Planeten haben konnte. Warum sie? Warum jetzt?

Sie stellte ihren Drink auf einem kleinen Tisch neben dem Geländer ab. „Es war schön, dich wiederzusehen. Viel Spaß bei der Auktion.“ Sie wandte sich zum Gehen.

Er hielt sie am Arm fest.

Es reichte nicht, dass sie kurz davor stand, ihr Geschäft zu verlieren. Nein. Das Schicksal machte sich auch noch einen Spaß daraus, sich über ihre unkontrollierbaren Gefühle für diesen Mann lustig zu machen. Sie sollte eins dieser Notfallarmbänder tragen: „Im Falle eines Herzstillstands einen Kuss von Cruz Rodriguez verabreichen.“

Er sah ihr tief in die Augen. „Erzähl mir von dem Geld, das du brauchst.“

Ihr wurde eiskalt. „Woher weißt du davon? Wer hat es dir erzählt?“ War er derjenige? War es möglich, dass Cruz versuchte, ihr Geschäft zu zerstören? Aber warum?

„Ich habe zufällig dein Gespräch mit deinem Bankberater gehört. Ich nehme zumindest an, dass es dein Bankberater ist.“

„Ja“, bestätigte sie abweisend. „John. Er ist hier, weil er jeden kennt. Wer hat uns sonst noch gehört?“ Sie konnte es nicht aussprechen. Wenn ihr Vater davon erfuhr …

„Keiner. Es war niemand in der Nähe.“

„Außer dir.“

„Ja. Außer mir.“ Sein finsterer Blick schien sie zu durchbohren. „Was stimmt nicht mit deinem Geschäft?“

„Nichts“, sagte sie schnippisch. Es war ihr peinlich, dass er etwas davon mitbekommen hatte. „Pass auf, ich will nicht darüber reden. Ich weiß dein Interesse zu schätzen, aber solange du keine zwei Millionen übrig hast, muss ich jetzt leider gehen.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Und wenn doch?“

„Ich bin nicht interessiert.“

„Sicher?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich verstehe das nicht“, sagte sie. „Was spielst du hier für ein Spiel?“

„Warum bittest du deinen Vater nicht um das Geld? Er hat doch eine Menge davon.“

„Geht nicht.“

„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.“

„Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten.“

Partygeräusche drangen zu ihnen nach draußen, aber es war, als befänden sie sich in einer anderen Welt. Nur sie zwei. Sie war sich seines Atems bewusst, jedes Zentimeters seines Körpers. Er störte ihre Konzentration, und das machte sie wahnsinnig.

Cruz schaute sie an und nickte dann langsam, als käme er zu einer Entscheidung. „Du kennst den Senator, der hier ist?“

„Was? Natürlich. Sei froh, dass du keine Frau bist. Sonst würde er dir auch einen Klaps auf den Hintern geben.“

„Ich habe mich vorhin mit ihm unterhalten, mich ihm vorgestellt. Zuerst war er höflich, doch dann hat er mich stehen lassen.“

„Er kann sehr arrogant sein“, meinte Lexi und fühlte einen seltsamen Beschützerinstinkt für Cruz, was nur zeigte, wie dumm ihre Hormone sein konnten.

„Ich könnte ihn fünfmal kaufen und wieder verkaufen, aber das spielt keine Rolle. Und genauso egal ist es, dass mein Anzug maßgeschneidert ist. Ich bin immer noch der Junge aus dem Barrio. Aber du kennst diese Welt. Du lebst in ihr.“

„He, ich bin nicht so.“

„Aber du bist eine von ihnen. Sag mir, warum du nicht zu deinem Vater gehst und ihn um das Geld bittest, das du brauchst.“

Noch vor einer Minute hätte sie es ihm nicht verraten, aber er hatte offen von sich erzählt, und nun fühlte sie sich verpflichtet, das Gleiche zu tun.

„Es gibt zwar ein Familienvermögen“, begann sie langsam, „aber mein Vater verfügt darüber, und er gibt uns kein Taschengeld in Millionenhöhe. Er ist Titan World Enterprises, nicht ich. Ich hatte einen kleinen Treuhandfonds von meiner Großmutter mütterlicherseits, und damit habe ich mein Day Spa eröffnet. Abgesehen davon besitze ich nur das Geld, das ich verdiene.“

Seufzend sah sie ihm in die Augen und bereute es sofort. Diese dunklen Seen weckten in ihr das Verlangen, ihn zu küssen. Vielleicht sogar mehr.

Vielleicht? Wem wollte sie eigentlich was vormachen?

„Jed Titan ist ein Mistkerl mit Kontrollzwang“, sagte sie und wünschte, es wäre anders. „Vor ein paar Jahren rief er meine Schwestern und mich zusammen und erklärte uns, dass er Titan World Enterprises nur einer von uns hinterlassen wird. Jetzt dürfen wir innerhalb eines festen Zeitrahmens beweisen, wie viel wir in diesem Der-Sieger-bekommt-alles-Spiel wert sind.“

Noch immer spürte sie den Schock über die Worte ihres Vaters. Er hatte sie vor die Wahl gestellt – entweder das Familienunternehmen und das damit einhergehende Vermögen oder die Geschwister. Der unausgesprochene Teil des Geschäfts war, dass die Siegerin nicht nur das Geld bekäme, sondern auch Jed. Den Vater, der von Anfang an klargemacht hatte, dass seine Zuneigung an Bedingungen geknüpft war.

„Meine zwei Schwestern und ich hatten ein enges Verhältnis, aber dieser Tag veränderte alles. Mir wurde klar, dass ich in dem Wettbewerb nicht weit kommen würde, wenn ich weiterhin für meinen Vater arbeitete. Also kündigte ich und eröffnete meinen Wellnesstempel. Skye leitet ihre Stiftung und Izzy …“ Sie runzelte die Stirn. „Izzy stürzt sich jeden Tag todesmutig in die Tiefen des Meeres. Die Sache ist die: Wenn ich zu meinem Vater gehe, verspiele ich meine Chance, das Unternehmen zu führen.“

Und meine Chance auf meinen Vater, weil Jed sich nur für Gewinner interessiert.

„Ich habe einen Fehler gemacht“, fuhr sie fort. „Durch meine Habgier und Dummheit habe ich mir jetzt ein zwei Millionen Dollar großes Problem eingebrockt. Ein privater Investor bot mir ein Darlehen an. Er wollte keine Geschäftsbeteiligung, was großartig für mich war. Ich nahm das Geld und baute mein Day Spa aus. Aber der Kredit war rückforderbar, und jetzt habe ich drei Wochen Zeit, um zwei Millionen Dollar aufzutreiben, sonst verliere ich alles.“ Sie wandte den Blick ab. „Nun kennst du mein tiefstes, rabenschwarzes Geheimnis.“ Sie bereute das Geständnis bereits. „Wie wirst du damit umgehen?“

„Ich werde dir das Geld geben“, erwiderte er.

Sie wirbelte zu ihm herum. Meinte er es wirklich so? War das möglich? „Du meinst, du willst es mir leihen.“

„Nein. Ich will es nicht zurückhaben. Aber ich will eine Gegenleistung.“

Die Aufregung verschwand, und sie war wieder auf der Hut. „Was genau habe ich denn, das dir zwei Millionen Dollar wert ist?“

Er senkte den Blick auf ihre Füße und ließ ihn langsam nach oben gleiten. Sie wusste genau, was das bedeutete. Jede Zelle ihres Körpers begann zu jubeln. Doch sie ignorierte das Verlangen, das ihr durch die Adern schoss, reckte das Kinn in die Höhe und sagte: „Vergiss es.“

Er lächelte. „Keinen Sex, Lexi. Dafür brauche ich heute genauso wenig zu bezahlen wir vor zehn Jahren.“

Sie errötete. „Was dann?“

Sein dunkler Blick wurde ernster. „Zutritt. Du bist eine Titan. Der Stammbaum deiner Mutter lässt sich bis zur Amerikanischen Revolution zurückverfolgen. Es geht mir nicht ums Geld, davon habe ich mehr als genug, aber ich werde immer ein armer Junge aus dem Barrio bleiben. Ich will, dass meine Kinder es einmal besser haben.“

Sie verstand die Wörter, aber nicht ihre Bedeutung. „Und wie kann ich das ändern?“

„Heirate mich.“

Sie griff nach dem kühlen Eisengeländer, um nicht doch noch ohnmächtig zu werden.

Heiraten? Er wollte sie heiraten?

„Für ein Jahr“, fügte er hinzu. „Das sollte reichen, damit ich Zutritt zu deiner Welt bekomme. Du kannst mich deinen wohlhabenden und einflussreichen Freunden vorstellen, den Senator eingeschlossen. Sie werden mich deinetwegen akzeptieren. Nach einem Jahr trennen wir uns wieder. Dafür gebe ich dir zwei Millionen Dollar.“

„Du kaufst dir eine Braut?“

„Eine vorübergehende Braut.“

Richtig. Weil er sie nach einem Jahr verlassen würde, um eine Frau zu heiraten, für die er wirklich etwas empfand. Wenn sie seinen Plan auch nicht guthieß, so schätzte sie doch seine Aufrichtigkeit.

„Deine Idee ist so was von geschmacklos“, sagte sie.

„Es ist ein Geschäft. Sonst nichts.“

„Es ist eine Ehe. Eine Institution. Das bedeutet etwas und ist ein wichtiger Schritt, und ich werde garantiert nicht wegen Geld heiraten.“ Er sah sie an, als wäre sie nicht nur dumm, sondern auch naiv. Vielleicht war sie das auch.

„Es ist ein Mittel zum Zweck“, konterte er. „Sonst nichts.“

Zumindest nicht für ihn, dachte sie und stellte fest, dass sie trotz der gemeinsamen Nacht in seinem Bett nichts über Cruz wusste. Der Mann war ihr ein Rätsel.

Nein. Das stimmte nicht ganz. Sie hatte gerade herausgefunden, dass er fast alles täte, um sein Ziel zu erreichen.

„Mein Vater wäre beeindruckt“, sagte sie. „Er wüsste deinen kühnen Plan zu schätzen, genauso wie die vollständige Missachtung von Bräuchen oder Gefühlen.“

Cruz zuckte mit den Schultern.

Sie machte sich nicht die Mühe, klarzustellen, dass es nicht bewundernswert war, wie ihr Vater zu sein. Sie hatte ihr Leben lang versucht, sich Jed Titan gegenüber zu beweisen, und sie war nicht scharf darauf, seine Weltanschauung in ihrem Ehemann widergespiegelt zu sehen.

Sie würde Cruz Rodriguez nicht für zwei Millionen Dollar heiraten. Sie glaubte immer noch an die Liebe und daran, für immer mit jemandem zusammen zu sein. Sie wollte den Zauber, das Versprechen, die Zukunft. Sie wollte einen Mann, der daran glaubte, dass sie das Beste war, was ihm je passieren konnte. Sie war nicht daran interessiert, Teil einer Abmachung zu sein.

Was bedeutete, dass sie wieder da stand, wo sie angefangen hatte – verzweifelt und ohne jede Idee, an wen sie sich wenden sollte.

Sie dachte darüber nach, wofür sie in den vergangenen Jahren gearbeitet hatte. Die todlangweiligen Stunden, die sie in das Unternehmen ihres Vaters investiert hatte, verzweifelt darum bemüht, gut genug zu sein. Das Risiko, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Wie sie ihr eigenes Geschäft aufgebaut hatte. Auch hier hatte sie – wie bei Titan World – unzählige Stunden investiert, aber diesmal hatte sie es für sich getan. Sie hatte überlebt und sogar Erfolg gehabt. Bis sie alles für die Chance riskiert hatte, noch größer und noch beeindruckender zu werden.

Sie hatte gespielt um zu gewinnen und alles verloren.

Oder nicht?

Cruz hatte ein durch und durch inakzeptables Geschäft vorgeschlagen. Aber gab es eine Alternative? Konnte sie ihm vielleicht ein Gegenangebot unterbreiten? Irgendwas, das ihnen beiden gab, was sie wollten? So liefen Geschäfte doch. Das hatte sie während der Arbeit für ihren Vater gelernt. Das und vieles mehr. Irgendwann wäre sie in ihrem Job verdammt gut gewesen.

„Ich werde dich nicht heiraten“, sagte sie und straffte die Schultern. „Außerdem würde eine Scheidung deine Attraktivität extrem schmälern.“

Er hob fragend die Augenbrauen.

„Vertrau mir. Die Töchter der Amerikanischen Revolution sind wahre Glucken. Sie wachen mit aufmerksamen Augen über ihre Töchter. Ein geschiedener Mann ist ein Risiko – er könnte ihren kostbaren Engel ja auch verlassen. Aber ein Mann mit einer gescheiterten Verlobung ist einfach nur ein Mann, der noch nicht die Richtige gefunden hat. Damit bekommst du, was du willst. Zutritt zu den besten Häusern und eine Einführung in jeden eindrucksvollen Stammbaum von Texas.“

„Eine Verlobung?“

Sie nickte.

„Für ein Jahr?“, fragte er.

„Sechs Monate. Das ist lange genug.“ Es schien sogar viel zu lang.

Er lehnte sich gegen das Geländer. „Du stimmst einer sechsmonatigen Verlobung unter der Bedingung zu, dass ich dir zwei Millionen Dollar gebe.“

Obwohl dies keine Frage, sondern eine Feststellung war, antwortete sie mit „Ja“. Vielleicht um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie es auch tatsächlich meinte.

„Interessant“, sagte er langsam. „Aber ich habe ein paar Bedingungen.“

Schön für ihn. Sie stand kurz vor einem Herzinfarkt. Was dachte sie sich eigentlich? Eine Verlobung für Geld? Ihre Mutter wäre entsetzt. Nicht dass eine Verlobung ohne Liebe in ihren Augen anstößig wäre, aber eine Verlobung mit einem Mann von Cruz’ Herkunft sehr wohl. Was wohl genau das Problem war, das er mit seinem Angebot lösen wollte.

„Für die Zeit, in der wir verlobt sind, ziehst du zu mir“, begann er. „In mein Haus. In mein Zimmer und in mein Bett. Ich habe eine Haushälterin und diverse Angestellte, die sich um mein Grundstück kümmern. Sie werden mit Sicherheit tratschen. Alle müssen unsere Verlobung für authentisch halten.“

Oh. Mein. Gott. „Sprichst du von Sex?“, fragte sie und brachte die Worte nur mit Mühe über die Lippen. „Du willst, dass wir Sex haben?“

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ja.“

Warum in aller Welt wollte er es noch mal mit ihr tun? Nach dem letzten Mal war er so schnell verschwunden, dass seine Schuhe Gummispuren auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Glaubte er, dass sie besser geworden war? Hatte er vergessen, wie es zwischen ihnen gewesen war? Wollte er sie noch einmal erniedrigen?

„Dass wir zusammenleben, ist nicht verhandelbar“, fügte er hinzu.

„Dann kommen wir nicht überein. Dem werde ich nicht zustimmen.“

Er zuckte die Achseln. „Wie du willst.“

Er drehte sich um und ging davon.

Lexi sah ihm nach. Aber anstelle von Cruz’ breiten Schultern sah sie den Haupteingang ihres Wellnesstempels. Die glänzenden Holztüren, die in einem eigens von ihr ausgesuchten Ton gebeizt waren. Die Kosmetik- und Hautpflegeserien. Sie konnte die frischen Blumen riechen, die Gäste im Entspannungsbereich sehen und die leichte Brise der Deckenventilatoren spüren.

Wenn sie sich um einen gewöhnlichen Kredit bemühte, bekäme ihr Vater es heraus. Er würde Fragen stellen und erfahren, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie würde jegliche Aussicht auf Titan World Enterprises verlieren. Sie würde alles verlieren.

Sie könnte aber auch das Geld von Cruz nehmen und alles gewinnen. War sie bereit, dafür sechs Monate ihres Lebens zu opfern?

Die Unentschlossenheit bereitete ihr Bauchschmerzen. Es war längst nicht mehr die Verlobung, sondern die Forderung, das Bett mit ihm zu teilen. Wieder. Das Schlimme war, dass sie seine Argumentation nachvollziehen konnte. Die Angestellten würden mit Sicherheit tratschen. Und wenn herauskäme, dass sie gar nicht wirklich verlobt wären, wäre der Deal hinfällig.

Konnte sie das durchziehen? War es das wert?

„Dann habe ich aber auch eine Bedingung“, rief sie, um eine feste Stimme bemüht.

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Mit hochgezogener Augenbraue wartete er darauf, dass sie weitersprach.

„Treue“, sagte sie. „Wenn du erwartest, dass ich mit dir schlafe, wirst du mit keiner anderen schlafen.“

Zum zweiten Mal wanderte sein Blick ganz langsam von ihren Füßen den gesamten Körper hinauf. „Glaubst du denn, dass du allein mich befriedigen kannst?“

Nicht mal im Traum, aber darum ging es nicht. „Das ist mir ziemlich egal. So ist die Abmachung. Stimm zu oder lass es bleiben.“

„Du bist wohl kaum in der Position, Bedingungen zu stellen, Lexi. Du brauchst das Geld.“

„Ich brauche einen Kredit“, bluffte sie. Sie war sich durchaus bewusst, dass es keine Option war, zur Bank zu gehen. „Jeder kann mir einen Scheck geben, aber es gibt nicht viele Frauen, die dir geben können, was du willst. Ich bin also sehr wohl in der Position, Bedingungen zu stellen, Cruz. Treue ist nicht verhandelbar.“

Er nickte. „Wie du willst.“

Einfach so? Er war ein attraktiver Mann mit einem geradezu explosiven Sexualtrieb, soweit sie sich erinnerte. „Wenn du mich betrügst, erzähle ich jedem, was du getan hast. Damit würden sämtliche Türen wieder zugeschlagen, die ich für dich geöffnet habe.“

„Einverstanden. Aber du tust das Gleiche. Du machst mit deinen Männern Schluss.“

„Klar.“ Es gab niemanden, mit dem sie Schluss machen müsste. Traurig, aber wahr.

„Nach sechs Monaten trennen wir uns“, sagte er. „Dann ist es vorbei.“

„Das habe ich schon verstanden.“

„Du kannst nichts sagen oder tun, das mich zwingt zu bleiben.“ Er verzog seinen Mund zu einem halben Lächeln. „Du wärst nicht die Erste, die den Fehler macht, sich in mich zu verlieben.“

Am liebsten hätte sie die Augen verdreht. „Der Vorteil eines so großen Egos ist wohl, dass du genug Muskeln davon bekommst, es ständig vor dir her zu tragen. Da brauchst du gar nicht mehr ins Fitnessstudio zu gehen. Keine Sorge, Cruz. So toll bist du gar nicht. Am Ende der sechs Monate lasse ich dich gehen, ohne mich noch mal nach dir umzudrehen.“

„Gut. Dann haben wir einen Deal.“

„Eine Sache wäre da noch. Ich will herausfinden, wer versucht, mein Geschäft zu ruinieren. Die Art und Weise, wie es geschehen ist, schreit nach einem persönlichen Motiv. Ich möchte wissen, wer mir das angetan hat und warum.“

„Was macht dich so sicher, dass ich an solche Informationen komme?“

„Jede Faser meines Körpers sagt es mir. Du kannst es herausfinden, und ich will es wissen.“ Sie wollte es verstehen und sich dann – weil sie eine Titan war – rächen.

„Abgemacht“, sagte er und kam näher. „Sonst noch was?“

Es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn er ihren persönlichen Sicherheitsabstand unterschritt. Sie machte einen Schritt zurück. „Ich, äh, glaube, das ist alles.“

„Gut. Du erhältst gleich morgen früh einen Barscheck.“

Damit war alles geklärt. Sollten sie den Deal nicht irgendwie besiegeln? Er kam wieder näher, doch ihm einfach die Hand darauf zu geben, kam ihr dämlich vor. Erst recht, als er eine Hand auf ihre Taille legte und sie an sich zog.

Sie wollte sich wehren. In Cruz’ Nähe zu sein, war nicht gerade ihr klügster Schachzug gewesen. Sie musste darauf achten, dass ihr Gehirn weiterhin funktionierte. Musste sich schützen, koste es, was es wolle. Der Mann war …

Er beugte sich herab und küsste sie. Ein intensiver, heißer Kuss, der ihr einfach den Willen raubte. Seine Lippen waren fest und warm. Sein Mund presste sich gegen ihren. Das an sich war gar nicht so spektakulär. Eigentlich hätte sie in der Lage sein sollen, sich zu wehren. Aber das hier war Cruz, und sie konnte es nicht.

Er schlang die Arme um sie, und sie gab sich ihm hin, wollte mit ihm verschmelzen, musste ihn überall berühren. Sein harter, muskulöser Körper war wie ein sicherer Hafen, und die Hitze seiner Zunge auf ihrer Unterlippe verhieß höchste Freude.

Sie öffnete die Lippen und erschauerte, als sie seine Zunge in ihrem Mund spürte. Funken entzündeten sich in ihrem Körper. Sie klammerte sich an seine Schultern und fuhr dann mit den Händen über seinen Rücken.

Er schmeckte nach Scotch, Sünde und Sex. So innig er sie auch küsste, es war nicht innig genug. Es wäre nie genug. Sie verlor sich in der Hitze. Sie wollte ihn einatmen.

Das Verlangen pulsierte im Takt mit ihrem rasenden Herzen. Sie sehnte sich mit einer Heftigkeit nach ihm, die ihr Angst machte. Wenn er sie jetzt auf der Stelle nehmen würde, würde sie ihren Orgasmus herausschreien, und es wäre ihr egal, wer sie hörte.

Das Bild war so real, dass sie zitterte und sich aus Angst, der Fantasie nachzugeben, von ihm löste – und aus Angst, dass sie um mehr betteln würde. Sie, die im Bett immer so kontrolliert war … außer mit ihm.

Sie starrten einander an. Wenigstens war er außer Atem. Sie war also nicht die Einzige, die der Kuss erregt hatte.

„Wir haben eine interessante Reise vor uns“, sagte er. „Du hast eine Woche, um deine persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Ich hinterlasse dir meine Adresse und meinen Schlüssel morgen zusammen mit dem Scheck.“

Dann war er weg, verschwand in der Nacht und ließ sie auf dem Balkon des Hauses zurück, in dem sie aufgewachsen war.

Hätte sie nicht diesen Hunger auf Sex verspürt, hätte sie sich fast davon überzeugen können, dass nichts von all dem geschehen war. Dass sie nicht wirklich, wenn schon nicht ihre Seele, dann zumindest ihren Körper für zwei Millionen Dollar an Cruz Rodriguez verkauft hatte.

„Das ist der Preis, wenn man Geschäfte machen will“, murmelte sie.

Genau das hatte ihr Vater ihr beigebracht. Um zu bekommen, was man wollte, musste man bereit sein, einen angemessenen Preis zu zahlen.

Solange es nicht mehr war als nur ihre Zeit und ihr Körper. Solange sie immer gut aufpasste, dass es niemals ihr Herz war.

Die Hauptniederlassung von Cruz Control lag zwischen Dallas und Forth Worth auf einem vier Hektar großen Grundstück, das Cruz problemlos für das Zehnfache des ursprünglichen Kaufpreises hätte verkaufen können. Ständig klopften Bauunternehmer an seine Tür. Er hörte ihnen zu und warf sie dann raus. Er war steinreich und nicht auf Geld angewiesen. Aber er genoss es, etwas zu besitzen, was alle anderen haben wollten.

Hinter dem fünfstöckigen Gebäude lag die Autowerkstatt, von der er als Kind immer geträumt hatte. Aus den anfänglich fünf Hebebühnen waren mit der Zeit zwanzig geworden. Hinter der Werkstatt befanden sich eine Teststrecke sowie ein abgetrennter Bereich für Versuchsautos. Die Luft war vom permanenten Surren der Motoren erfüllt. Das hier war sein liebster Ort auf der ganzen Welt.

Er blieb in der Werkstatt stehen, um zu begutachten, was er gebaut hatte. Manchmal vergaß er, wo er herkam, aber an diesem Morgen schien die Vergangenheit besonders nah und lebendig – als bräuchte er nur die Hand auszustrecken, um den wütenden zwölfjährigen Jungen, der er einst gewesen war, zu berühren. Den Jungen, der geschworen hatte, dass er mehr wollte, als nur zu überleben und irgendwie über die Runden zu kommen. Dass er groß rauskäme und man ihm überall Respekt entgegenbrächte.

Jemand rief seinen Namen. Manny, sein Werkstattmanager und bester Freund, winkte ihn zu sich.

„Die Bremsen sind hinüber“, sagte Manny mit einer Grimasse. „Die Fahrzeugkonstruktion ist eine Katastrophe. Ich muss sie noch mal überarbeiten, es sei denn, du willst es selber machen.“

„Heute nicht.“ Cruz war zu unruhig, um sich mit Konstruktionen zu beschäftigen. Eine derartige Kleinarbeit verlangte nach Konzentration, und er konnte seine Gedanken einfach nicht kontrollieren.

So sehr er in den letzten Jahren auch an den Erfolg geglaubt, nach ihm gestrebt und sich dafür den Hintern aufgerissen hatte – mit fünfzehn oder auch zwanzig hatte er sich so etwas wie das hier nicht vorstellen können.

Er hatte klein angefangen – mit gerade mal vierzehn Jahren war er in einem gestohlenen Corolla ein Rennen gegen einen Ford Ranger gefahren. Der Preis: die Fahrzeugpapiere. Alle hatten ihn ausgelacht, als er in dem weißen Corolla aufgetaucht war. Ob er wirklich glaubte, damit gewinnen zu können? Natürlich ahnten sie nicht, dass er den Typen am Ende der Straße monatelang beim Herumschrauben an dem Auto beobachtet hatte. Der Eigentümer hatte einen Turbolader mit erhöhter Kompressionsrate eingebaut.

Cruz war bewusst langsam gefahren, sodass niemand ahnen konnte, was sich unter der Haube versteckte. Er gewann spielend, und der Ford Ranger gehörte ihm. Glücklicherweise hatte der andere Fahrer die Wahrheit über die Besitzverhältnisse gesagt, und die Fahrzeugpapiere, ohne die man an so einem Autorennen nicht teilnehmen durfte, waren echt – im Gegensatz zu Cruz’ Papieren.

Er hatte den Corolla später in der Nacht zurückgebracht und war mit dem Pick-up zur Arbeit gefahren. Zwei Wochen später war er zurück gewesen. Er war Rennen gefahren, um zu gewinnen, und er hatte oft gewonnen.

„… stimmt die Übersetzung noch nicht“, sagte Manny gerade. „Hörst du mir eigentlich zu?“

Cruz zuckte die Schultern. „Nein, entschuldige.“

Manny war zehn Jahre älter und stets der klügere und kühlere Kopf von beiden. Nun sah er ihn fragend an. „Was ist los mit dir?“

„Ich bin mit Lexi Titan verlobt.“

Manny packte ihn am Arm und zerrte ihn in sein kleines Büro.

„Was?“, sagte er eindringlich. „Sag mir bitte, dass du Witze machst. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“

„Keine Panik. Wir haben eine Abmachung. Sonst nichts.“ Er erzählte ihm von Lexis Notlage. „Ich bekomme, was ich schon immer haben wollte.“

Manny starrte ihn an. „Du hast doch schon alles.“

„Nicht ganz. Sie ist meine Eintrittskarte zu ihrer Welt.“

„Du findest die High Society doch zum Kotzen. Diese Frauen langweilen dich zu Tode.“

„Es geht mir ja gar nicht um die Frauen“, erklärte Cruz und dachte daran, wie respektlos der Senator ihn behandelt hatte.

Manny schüttelte den Kopf. „Dann ändert sich also alles, weil dir irgendein Typ die Hand schüttelt? Das hast du doch gar nicht nötig, Cruz.“

„Du weißt ja nicht, wovon du sprichst.“

Manny verstand ihn nicht. Er war mit dem zufrieden, was er hatte – einen guten Job, der ihm Spaß machte. Er ging jeden Abend nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern. Cruz wollte … mehr.

Irgendetwas fehlte ihm noch zu seinem Glück. Ihn quälte eine Leere, die er unbedingt füllen wollte. Zu der Welt zu gehören, die ihn seit jeher ignorierte, war ein Anfang. Und wenn er erst die richtige Frau mit dem richtigen familiären Hintergrund und den richtigen Kontakten gefunden hätte, würde das seinen Platz in dieser Welt festigen.

„Das hat nichts mit Lexi zu tun“, versicherte er seinem Freund. „Sie ist nur ein Mittel zum Zweck.“

„Sie ist viel mehr als das, und was du vorhast ist der falsche Weg, sie zu kriegen“, erwiderte Manny. „Außerdem klingt es eher so, als wäre sie das, was du nie haben konntest.“

Es ist nicht so, wie du meinst, Manny, sagte Cruz zu sich selbst. „Na ja, jetzt kann ich die Sache mit ihr endgültig verarbeiten, und in sechs Monaten ziehe ich weiter.“

„Du machst einen großen Fehler. Das alles wird noch auf dich zurückfallen und dir kräftig in den Arsch beißen.“

Cruz grinste. „Wäre ja nicht das erste Mal.“

Manny schüttelte den Kopf. „Du verstehst es einfach nicht. Du musst wohl erst richtig auf die Schnauze fallen. Viel Glück dabei.“

„Zwei Millionen Dollar“, sagte Lexi, während sie ihrem Bankberater den Scheck über den Tisch schob.

John sah überrascht aus. „Das ging schnell.“

„Ich will so schnell wie möglich einen Strich unter die Sache ziehen. Wie lange wird es dauern, bis der Papierkram unterschrieben ist?“

„Ich werde noch heute alles veranlassen. Bis morgen müsstest du deine Kopie haben.“

„Gut.“ Dann wäre sie frei von ihrem geheimnisvollen und potenziell zerstörerischen Investor.

Sie wollte immer noch wissen, wer versucht hatte, ihr Geschäft zu ruinieren, aber diese Information bekäme sie schon noch. Sie wusste, dass Cruz der Sache auf den Grund gehen würde. Natürlich hatte sie für dieses Wissen und das Geld einen hohen Preis bezahlt. Ihr blieben nur noch sechs Tage, bis sie in sein Haus und – weit wichtiger – in sein Bett einziehen musste.

Und dann was?

Nichts, worüber sie heute nachdenken würde.

„Sollte ich dich fragen, woher du den hast?“, erkundigte sich John und wedelte mit dem Scheck.

„Fragen kannst du, aber ich werde dir nicht antworten.“

„Na schön. Ich bin froh, dass du das Geld auftreiben konntest.“

„Ich auch. Danke, John.“

„Gern geschehen.“ Er erhob sich, und sie gaben sich die Hand. „Tut mir leid, dass der Investor solche Probleme gemacht hat. Er hat über die Bank schon so manches Geschäft unterstützt, und bislang gab es noch nie Schwierigkeiten. Ich habe keine Ahnung, was dieses Mal passiert ist.“

„Schon gut“, sagte sie, denn sie wusste, dass John mit der Sache nichts zu tun hatte. Wer auch immer der rätselhafte Investor war, er hatte sie zu Fall bringen wollen. Oder zumindest zu verängstigen versucht. Doch das beantwortete noch immer nicht die Frage nach dem Wer oder dem Warum.

Die Geschäftsräume von Titan World Enterprises nahmen einen kompletten Häuserblock in Dallas’ Bankenviertel ein. Die Hauptempfangshalle war in dunklem Holz und Marmor gehalten, und ihre drei Stockwerke hohen Wände waren mit riesigen Gemälden geschmückt, die historische texanische Ereignisse zeigten. Wachleute sorgten für den Schutz der Angestellten und hielten unwürdige Besucher fern.

Als Kind war es ein seltenes Vergnügen gewesen, Jed zu besuchen, und Lexi hatte es noch lebhaft in Erinnerung. Sie hatte es genossen, dass jeder ihren Daddy kannte, und es geliebt, sich wie eine Prinzessin zu fühlen. In den wenigen kostbaren Stunden hatte ihr Vater ihr das Gefühl gegeben, dass er sich für sie interessierte. Sie hörte noch den Stolz in seiner Stimme, wenn er sie als seine Tochter vorstellte. Und alle Leute hatten sie angelächelt, als wenn sie etwas ganz Besonderes wäre.

Zuhause hatte Jed sie wieder in die Obhut des aktuellen Kindermädchens gegeben und war in seinem Büro verschwunden. Aber solange sie sich in dem großen, beeindruckenden Gebäude aufhielten, war sie mehr als das Kind, das von seinem Vater vergessen wurde.

Nach dem College war Lexi zum Arbeiten hergekommen – sie hatte auf ihrem Parkplatz geparkt und war mit dem Fahrstuhl direkt in die Etage der Junior Manager gefahren. Doch hin und wieder hatte sie durch die Empfangshalle gehen müssen, und dann hatte sie sich daran erinnert, wie es gewesen war, als kleines Mädchen hier hereinzukommen.

Jetzt ging sie auf die Sicherheitsschleuse zu, bereit, ihren Führerschein vorzuzeigen. Einer der Wachmänner winkte sie durch.

„Danke“, sagte sie, während ihr durch den Kopf ging, wie wenig erfreut ihr Vater darüber wäre, dass Familienmitglieder eine Sonderbehandlung erfuhren. In seinem Reich musste sich jeder seine Privilegien verdienen. Sie waren kein Geburtsrecht.

Sie fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage, wo sie von der Empfangsdame durchgewinkt wurde. Der große Schreibtisch vor der doppelflügeligen Tür, die zum Büro ihres Vaters führte, war unbesetzt, also klopfte sie einmal an und trat dann ein.

Jed Titan drehte sich um, als die Tür aufging. „Du wirst es nicht glauben“, knurrte er. „Ich glaube es ja selbst nicht. Verfluchter Hurensohn.“

Für seine dreiundsechzig Jahre sah Jed immer noch sehr gut aus. Er war ein stattlicher Mann, der mit seiner imposanten Ausstrahlung jeden Raum beherrschte, sogar wenn er so groß war wie ein Basketballfeld.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie.

Er nahm eine Akte vom Tisch und ließ sie wieder fallen. „Doping. Doping! Das ist mehr als beleidigend. Das ist eine gottverdammte Unmöglichkeit. Glauben die denn, dass ich blöd bin?“

Lexi verstand nicht. „Sprichst du von deinen Rennpferden?“

Jed schritt an den Fenstern entlang, die vom Boden bis zur Decke reichten, und drehte sich dann wieder um. „Verdammt richtig. Wer betrügt denn, um zu gewinnen? Ich will auf ehrliche Art gewinnen.“

Das ist unmöglich, dachte Lexi. Jed passte gut auf seine Pferde auf. Sie lebten wie Könige in ihren luxuriösen Ställen. Es fehlte ihnen an nichts. Er würde niemals betrügen oder anderen erlauben zu betrügen. Er würde nicht gewinnen wollen, wenn auch nur der Verdacht auf Betrug bestand. Er würde jeden feuern, der anderer Ansicht war. Und vorher würde er ihn vermutlich windelweich schlagen.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Gestern kam das Ergebnis einer Stichprobe zurück.“ Er wies mit dem Kopf auf den Ordner auf seinem Tisch. „Wenn ich herausfinde, wer das getan hat, werde ich ihn mit bloßen Händen in der Luft zerreißen. Ich werde dafür sorgen, dass es ihm leidtut, geboren worden zu sein.“ Er sah sie an. „Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich hatte Besuch von chinesischen Geschäftsleuten. Ich habe sie zu den Stallungen mitgenommen, um ihnen zu zeigen, wie es hier in Texas so zugeht. Ich wollte sie mit meinen schicken Pferden beeindrucken und mit unserem Zuchtprogramm. Und dann ist mitten in unsere Führung diese Nachricht geplatzt.“

Er fluchte wieder. „Alles ruiniert. Ich konnte kein Wort von dem verstehen, was sie gesagt haben, aber ich weiß, was sie meinten. Sie sind nicht daran interessiert, mit einem Betrüger Geschäfte zu machen. Mir ginge es genauso. Das Geschäft ist an Ort und Stelle geplatzt.“

Lexi gefiel das alles gar nicht. Das Timing war zu perfekt. Es kam ihr so vor, als hätte jemand das Geschäftstreffen ihres Vaters absichtlich vermasseln wollen. Oder witterte sie eine Verschwörung, wo es gar keine gab?

„Das tut mir leid“, sagte sie.

Er zuckte die Schultern. „So etwas passiert. Es macht mir nichts aus, wenn ich bei einer Sache zu Recht schlecht wegkomme, aber das hier … Wenn ich dem Ganzen auf den Grund komme, wird sich wer immer das getan hat wünschen, seine Mutter hätte ihn gleich nach der Geburt ertränkt.“

Er kam zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. „Aber das ist wohl kaum der Grund für deinen Besuch, Lexi. Was kann ich für dich tun?“

Sie nahm den Ledersessel ihm gegenüber und hatte keine Ahnung, wie er auf ihre Neuigkeit reagieren würde. Er war nicht die Art von Vater, der seine Tochter in den Arm nahm und ihr alles Gute wünschte, also erwartete sie so etwas auch nicht. Eher rechnete sie damit, dass er einen Anfall bekäme. „Ich bin verlobt.“

Jed lehnte sich in seinem Sessel zurück. Seine dunkelblauen Augen verrieten nichts. „Jemand, den ich kenne?“

„Cruz Rodriguez. Der Inhaber von Cruz Control.“

„Vermögend?“

„Ja.“

„Mexikaner?“

„Er ist in unserem Land geboren worden.“

Jed schnaubte spöttisch. „Du weißt, was ich meine, und die Tatsache, dass du der Frage ausweichst, bedeutet Ja. Wenn er derjenige ist, den du willst, werde ich ihn überprüfen, um sicherzugehen, dass er sich dich leisten kann.“

Das war so typisch für Jed. „Ich bin wohl kaum eine finanzielle Last. Mein Geschäft läuft sehr erfolgreich.“ Zumindest jetzt, da sie das Darlehen zurückgezahlt hatte.

„Ich will nicht, dass du irgendeinen Idioten heiratest, der es nur auf dein Geld abgesehen hat.“

Sie dachte an Andrew und verstand die Sorge ihres Vaters. „Das will ich auch nicht.“

„Solange du glücklich bist, bin ich es auch.“

Im Ernst? Mehr wollte er nicht dazu sagen?

„Ich bin glücklich.“ Oder wenigstens zufrieden. Die Abmachung galt für sechs Monate. Über einen solchen Zeitraum konnte sie alles ertragen. Wobei – als sie daran dachte, wie Cruz sie geküsst hatte, musste sie sich eingestehen, dass ertragen nicht ganz das richtige Wort war.

„Ich hätte eher damit gerechnet, dass du wütend wirst“, meinte sie, immer noch überrascht, dass alles so glatt gelaufen war. „Immerhin hast du Skyes Ehe höchstpersönlich arrangiert.“ Jed gefiel es, wenn alles so lief, wie er es wollte. So unbedeutende Kleinigkeiten wie die Gefühle seiner Tochter für einen Mann spielten da für ihn keine Rolle.

„Du warst schon immer unabhängiger als deine Schwester. Würdest du jemanden heiraten, den ich dir aussuche?“

„Nein.“

„Und warum sollte ich dann unser beider Zeit damit verschwenden?“

Sie war überrascht, dass er sie so gut kannte.

„Das Geschäft läuft gut?“, fragte er.

„Ja.“

„Und du findest immer noch, dass es die richtige Entscheidung war, meiner Firma den Rücken zu kehren?“

„Während meiner Zeit hier war ich immer nur Jed Titans Tochter. Das war mir nicht genug. Ich dachte, du verstehst das.“

„Das tue ich, Kleines. Sei doch nicht so empfindlich.“

„Ich bin nicht empfindlich.“

Er lächelte. „Hast du es deiner Mutter schon erzählt?“

„Ich werde ihr eine E-Mail schicken.“

„Wie wird es ihr aristokratisches Yankee-Ego wohl vertragen, dass ihre Tochter einen Mann wie Cruz Rodriguez heiratet?“

„Keine Ahnung.“ Lexi fand, ihre Mutter habe das Recht verspielt, ihre Meinung oder Vorschläge zu äußern, als sie ihr einziges Kind im Stich gelassen hatte, ohne sich auch nur noch einmal nach ihr umzudrehen. Lexi war damals drei Jahre alt gewesen.

„Ich wünschte, ich könnte da sein, um sie explodieren zu sehen.“

„Sie wird nicht explodieren. Es wird gar nichts passieren.“ Denn sonst müsste ihre Mutter ja Gefühle zeigen, und das war etwas, das sie auf alle Fälle vermied. Zum ersten Mal fragte Lexi sich, warum Cruz eigentlich so interessiert daran war, Zugang zu dieser Gesellschaft zu bekommen.

„Du hast recht“, stimmte Jed ihr zu. „Meinen Glückwunsch. Sag meiner Sekretärin, was du dir zur Verlobung wünschst. Sie wird es dann bestellen.“

Ein vertrautes Echo aus Kindertagen. Jed hatte damals seine Töchter angewiesen, dem Kindermädchen ihre Weihnachtswünsche zu sagen, damit seine Sekretärin alles bestellen konnte. Der Weihnachtsmann hatte auf Glory’s Gate nicht auf dem Programm gestanden.

Lexi fragte sich, warum sie ihren Vater bloß lieben musste. Jed war nicht gerade ein liebenswerter Mensch. Ihr Leben wäre um einiges leichter, wenn sie ihren Vater einfach als den sehen könnte, der er war, und fertig. Das Unmögliche zu wollen – dass er sie liebte –, machte alles nur unnötig kompliziert.

„Ich kläre das mit Cruz“, sagte sie, als sie aufstand. Sie ging um den Schreibtisch herum und küsste ihren Vater auf die Wange. „Auf Wiedersehen, Daddy.“

„Wiedersehen. Ich lasse dich wissen, wenn ich herausgefunden habe, ob du dir einen Guten ausgesucht hast.“

„Oh, welch Freude.“

Er lachte, und sie ging hinaus.

Als sie im Flur auf dem dicken Teppich stand, merkte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel. Ihr Vater hatte die Neuigkeit positiver aufgenommen als erwartet. Jetzt musste sie ihre Schein-Verlobung noch ihren Schwestern verkaufen, und das würde nicht so einfach werden.

3. KAPITEL

Lexi sah die Verträge durch, die John vorbereitet hatte und die sie aus dem Kredit entließen. Sie war frei … zumindest von finanziellen Verbindlichkeiten. Nun galt es, andere Rechnungen zu begleichen, und die Uhr tickte. Bald würde sie bei Cruz einziehen müssen.

Sie öffnete die oberste Schreibtischschublade und beäugte den darin liegenden weißen Briefumschlag. Ein Schlüssel und eine Adresse, sonst nichts. Sie hatte keine Ahnung, wie sein Haus aussah, und sie war zu feige gewesen vorbeizufahren. Sie würde es noch früh genug sehen … das Unvermeidbare aufzuschieben schien ihr im Moment eine gute Idee zu sein.

Es war nicht das Zusammenleben mit ihm, das sie mitten in der Nacht hochfahren ließ – auch wenn sie noch nie mit einem Mann zusammengelebt hatte. Es war das Mit-ihm-Schlafen. Oder vielmehr das Nachgrübeln darüber, wie es sich vermeiden ließe.

Sie war verängstigt und aufgeregt zugleich. Verängstigt wegen der Ereignisse von damals und aufgeregt, weil nie wieder jemand so intensive Gefühle in ihr geweckt hatte wie Cruz. Allein der Gedanke an seine Hände auf ihrem Körper, an seine Zunge, die sie in den Wahnsinn trieb, reichte, um jede einzelne Zelle ihres Körpers zum Vibrieren zu bringen.

Andererseits war es zehn Jahre her. Vielleicht war das Erlebnis in ihrer Erinnerung viel spektakulärer als in Wirklichkeit. Vielleicht war es ganz gewöhnlich gewesen. Mit Cruz hatte sie ihr erstes Mal erlebt. Sie hatte damals also keine Vergleichsmöglichkeiten gehabt. Vielleicht wäre es heute gar nicht mehr so toll, mit Cruz zu schlafen.

Ein Mädchen durfte ja wohl noch hoffen.

Die Bürotür wurde aufgerissen, und Skye stapfte ins Zimmer, direkt gefolgt von Dana. Ihre Schwester schwenkte eine Zeitung.

„Wusstest du davon?“, fragte Skye aufgebracht. Ihre grünen Augen funkelten wütend. „Ach, warte. Natürlich wusstest du davon, es geht ja schließlich um dich. Aber hast du es deiner Schwester erzählt?“ Sie knallte die Zeitung auf Lexis Tisch. „Nein. Ich musste es wie jeder andere aus diesem Käseblatt erfahren.“

Lexi hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sie senkte den Blick, und was sie sah, verschlug ihr den Atem: ein Bild von sich neben einem Foto von Cruz, und darüber eine riesige Schlagzeile, die ihre Verlobung verkündete.

Sie spürte die Wut in sich aufsteigen. Wie hatte er das nur tun können, ohne sie vorher zu informieren? Die Antwort war nicht schwer zu erraten. Er wollte sichergehen, dass sie ihre Meinung nicht änderte. Er traute ihr nicht. Und nach dieser Nummer hatte er auch allen Grund, sich vor ihr in Acht zu nehmen. Aber zuerst musste sie Skye besänftigen. Wie um Himmels willen sollte sie ihr das erklären?

„Es tut mir leid“, begann Lexi, während sie aufstand und um ihren Schreibtisch herumging. „Ich wollte es dir ja sagen.“

„Ach so. Na, dann sieht die Sache ja gleich ganz anders aus. Ich weiß, dass unser Verhältnis in letzter Zeit ein bisschen angespannt war, aber das hätte ich nicht von dir erwartet. Was war denn los? Hattest du keine Zeit, mit mir zu reden, weil du erst noch die Wäsche machen musstest?“

Lexi führte ihre Schwester zu den Sofas am anderen Ende des Zimmers. Dana kam hinterher. Sie wirkte eher neugierig als wütend.

Sie setzten sich. In Gedanken suchte Lexi nach den richtigen Worten, mit denen sie alles erklären konnte. Sie hatte gewusst, dass dieses Gespräch auf sie zukäme, sie hatte nur nicht schon heute damit gerechnet. Warte nur, Cruz, dachte sie wütend, wenn ich dich erwische, kannst du was erleben.

„Möchtet ihr was essen?“, fragte sie. „Ich könnte Tee und Sandwiches bestellen.“

Dana imitierte ein Würgen. „Für mich nicht. Ich hasse dieses Körnerbrot, das es hier gibt. Ständig hängt einem irgendwas zwischen den Zähnen.“

„Aber es ist gesund“, erwiderte Lexi.

„Essen interessiert mich nicht“, unterbrach Skye sie scharf. „Du kannst mich nicht mit Essen besänftigen, und schon gar nicht mit Kräutertee und vegetarischen Sandwiches.“ Sie verzog ihre Lippen zu einem dünnen Strich. „Du hast dich verlobt, ohne mir ein Sterbenswörtchen zu sagen.“

Mit der Wut konnte Lexi umgehen, aber nicht mit dem Schmerz, den sie ihrer Schwester zugefügt hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich klein und wie ein Schuft. „Es tut mir leid“, sagte sie und berührte Skyes Hand. „Ehrlich. Es ging alles so schnell. Ich hätte es dir noch erzählt. Ich hatte keine Ahnung, dass Cruz eine Annonce schaltet. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Art erfährst.“

„Aber du hast ihn doch erst letzte Woche kennengelernt. Auf meiner Party. Ich habe euch einander vorgestellt.“

Lexi zog den Kopf ein. „Na ja, nicht ganz. Cruz und ich kennen uns schon lange. Seit zehn Jahren.“

So gern sie ihrer Schwester auch den wahren Grund für ihre Verlobung gesagt hätte – es ging nicht. Seit Jed sie zu Erbschaftskonkurrentinnen gemacht hatte, hatte sich ihre Beziehung grundlegend verändert. Lexi wollte die Firma, und Skye wollte Glory’s Gate. Solange in dem Punkt nichts entschieden war, spielten sie nicht mehr im selben Team.

Für Jed wäre es ein Leichtes gewesen, die Erbmasse aufzuteilen und jeder Schwester zu geben, was sie wollte, aber das war nicht sein Stil. Es machte ihm Spaß, seine Töchter gegeneinander aufzubringen. Das war gewissermaßen ein neuer Sport für ihn.

Lexi vermied es, Dana anzusehen, deren neugieriger Gesichtsausdruck sagte: weitere Fragen später. Auch wenn sie nicht alles sagen konnte, so wollte sie sich doch so nahe wie möglich an die Wahrheit halten. Vielleicht würde das schon reichen.

„Ich habe Cruz das erste Mal während meiner Collegezeit getroffen. Mit ein paar Freunden bin ich auf eine Party gegangen, wo angeblich ein Typ illegale Autorennen fuhr. Der Gewinner bekam das Auto seines Gegners.“

Skye riss die Augen auf. „Wer macht denn so was?“

„Männer sind halt Idioten“, sagte Dana mit einem Achselzucken. „Das ist so ein Machoding. Damit hat Cruz also angefangen, ja?“

Lexi nickte. Sie wusste nicht viel über seine Vergangenheit, aber ein kurzer Anfall von Neugierde hatte dazu geführt, dass sie im Internet mehrmals nach seinem Namen gesucht hatte. Er hatte mit nichts angefangen und aus seinem Geschäft ein Imperium gemacht.

„Alle Jungs haben ihre Autos an ihn verloren und waren natürlich stinkwütend auf ihn“, fuhr Lexi fort. „Na ja, und es gab wohl kein Mädchen, das sich nicht für ihn interessiert hätte.“

Lexi erinnerte sich noch, wie er damals ausgesehen hatte. Groß, braungebrannt und gefährlich. Auf seinen Lippen lag ein lässiges Lächeln, das Dinge versprach, die sicher nicht legal sein konnten. Sein Lachen hatte ihr am ganzen Körper Gänsehaut verursacht. Die Sonne schien ihm zu folgen und ihn mit einem goldenen Glanz zu umgeben, als ob auch sie immer in seiner Nähe sein wollte.

Lexi hatte ihren Blick nicht von ihm wenden können, und offenbar war er auch an ihr interessiert gewesen. Doch sie war unerwartet schüchtern und, anders als die anderen Mädchen, nicht in der Lage gewesen, mit ihm zu flirten.

„Cruz sprach mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen oder wie ich reagieren sollte, also forderte ich ihn zu einem Rennen heraus.“

„Sag, dass das nicht wahr ist!“ Skye klang entsetzt.

„Beeindruckend“, murmelte Dana. „Wie ist es ausgegangen?“

„Ich war völlig unerfahren.“ Bei der Zweideutigkeit ihrer Äußerung schüttelte Lexi den Kopf. „Ich hatte noch nicht mal ein Knöllchen für zu schnelles Fahren bekommen. Ich war ihm hoffnungslos unterlegen, und er schnappte sich mein Auto.“

„Das ist aber nicht sehr nett“, murrte Skye.

„Damit hat er sich seinen Lebensunterhalt verdient“, stellte Dana klar. „Lexi ist zwar hübsch, aber nicht hübsch genug.“

„Na, vielen Dank auch.“

„Du weißt genau, was ich meine.“

Allerdings. Sie war damals einen neuen Mercedes im Wert von mehr als sechzigtausend Dollar gefahren. Welcher Mann würde auf so einen Wagen verzichten, um das Mädchen zu kriegen?

„An jenem Abend traf ich ihn auf der Party wieder. Wir unterhielten uns. Ich fühlte mich erniedrigt, weil ich das Auto verloren hatte, und bat ihn um eine Revanche. Stattdessen küsste er mich. So hat es angefangen.“

„Du hast mit ihm geschlafen?“ Skye stand auf und stemmte die Hände in die Hüfte. „Du hast mit ihm geschlafen, nachdem er dir das Auto abgenommen hat?“

„Du überraschst mich immer wieder“, kommentierte Dana. „Find ich gut.“

Es war besser gewesen als gut – jedenfalls bis zum nächsten Morgen. Aber das würde sie für sich behalten. „Am nächsten Morgen bekam ich Panik und lief davon“, log sie. „Ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte.“

„Und er rannte dir hinterher“, seufzte Skye.

Lexi konnte sich nicht erklären, wie ihre Schwester noch immer so romantisch sein konnte – immerhin hatte sie eine arrangierte Ehe geführt, war früh verwitwet und zog ihr Kind alleine groß.

„Ja, so ähnlich“, murmelte Lexi, obwohl die Wahrheit ganz anders aussah.

Am nächsten Morgen hatte ihr Körper gekribbelt und sie hatte sich Cruz ganz nah gefühlt. Er hingegen hatte panisch gewirkt. Sie sah es in seinen Augen, erkannte es an der Art, wie er aus dem Bett kletterte – fast als hätte er Angst, in die Falle geraten zu sein.

Sie war gleichermaßen verletzt und wütend. Bis dahin war sie immer der Preis gewesen, den zu ergattern ein jeder Junge sich erträumte.

Sie musste all ihre Selbstbeherrschung und ihren ganzen Stolz zusammennehmen, um dort nackt vor ihm zu stehen, ein cooles Lächeln aufzusetzen und die Worte zu sagen, die sie nie mehr vergessen sollte.

„Keine Sorge, Cruz. Mädchen wie ich fangen mit Jungs wie dir nichts Ernstes an. Wir vögeln euch nur zum Zeitvertreib.“

Er war überrascht und vielleicht sogar verletzt. Doch das konnte sie nur vermuten. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral und verriet keinen seiner Gedanken. Sie hatte sich schnell angezogen und war gegangen – verletzt und gedemütigt.

Während der nächsten Monate hatte sie sich alle Mühe gegeben, sich einzureden, dass Cruz ihr egal war. Dass sie froh sein konnte, ihm entkommen zu sein – er war doch kein Mann, mit dem sie zusammen sein wollte. Aber sie hatte ihn nicht vergessen können.

„Die ganze Zeit über war irgendwas zwischen uns“, sagte sie. Das stimmte, auch wenn ihre Schwester es anders verstehen würde als sie es meinte. „Letzte Woche auf deiner Party haben wir den ganzen Abend geredet. Uns ist klar geworden, dass wir uns all die Jahre geliebt haben.“ Seit wann kann ich so gut lügen?, fragte sie sich und seufzte innerlich.

„Wir haben uns verlobt. Das ist ganz spontan passiert, aber ich bereue es nicht. Was ich allerdings bereue, ist, dass ich dich verletzt habe, Skye. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich fand es schön, die Verlobung wie ein Geheimnis zu hüten und mich allein daran zu erfreuen, aber ich hätte besser nachdenken sollen. Tut mir leid, dass ich dir nicht eher davon erzählt habe.“

„Hättest du es mir denn erzählt?“, fragte Skye. „Oder hat das was mit Jed zu tun?“

Dana blickte zwischen den Schwestern hin und her. „Nicht vom Thema abkommen“, beschwichtigte sie. „Streitet euch über Cruz und über nichts anderes.“

Bis vor Kurzem hätten Skye und ich noch keinen Schiedsrichter gebraucht, dachte Lexi traurig. Zum Teufel mit Jed und seinen Spielchen.

„Das hier ist kein Machtspiel“, sagte sie leise. „Ich schwöre es.“

Skye sah sie argwöhnisch an, als sei sie noch nicht ganz überzeugt, dass Lexi die Wahrheit sagte. Schließlich seufzte sie. „Ich schätze, ich verstehe dich. Du hast dich verliebt. Ich muss gestehen, das ist einfach fantastisch.“

Lexi schaute nach links und sah, wie Dana die Augen verdrehte.

Skye umarmte sie. „Ich freue mich ja so für dich.“

„Danke. Ich mich auch.“

„Wow. Verlobt. Ich habe mich schon gefragt, wann du deinen Schutzschild weit genug runternimmst, um jemanden an dich heranzulassen. Ich dachte immer, du hättest zu viel Angst, dich zu verlieben, vor allem nach der Sache mit Andrew, dabei hattest du dein Herz schon die ganze Zeit an jemand anderen verschenkt. Das ist wirklich schön.“

Eigentlich ist es eine einzige Lüge, dachte Lexi und fragte sich, ob ihre Schwester ernsthaft von ihr dachte, sie hätte einen Schutzwall um sich herum aufgebaut. Lexi sah das nicht so. Meistens hatte sie sich nur nicht mit Männern eingelassen, weil … weil … Ach, es gab einen Haufen guter Gründe, nur leider fiel ihr im Augenblick keiner ein.

Skye drückte ihre Hand. „Das muss gefeiert werden. Ich möchte, dass du eine große Verlobungsparty schmeißt.“

Lexi entzog ihr die Hand. „Moment mal. Wir brauchen keine Party. Zumindest nicht sofort. Ich muss mich erst noch an den Gedanken gewöhnen, verlobt zu sein.“

„Sei nicht albern. Ich kümmere mich um alles. Immerhin ist das doch genau das, was ich mache, nicht wahr? Partys schmeißen. Partys schmeißen und meine Tochter großziehen. Ist ja nicht so, als hätte ich einen richtigen Job.“

Lexi runzelte die Stirn. „Was ist los? Warum sagst du das so komisch?“

Skye griff nach ihrer Tasche. „Wollte ich gar nicht. Tut mir leid. Alles gut. Vor allem das mit euch. Herzlichen Glückwunsch. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen und ihm zu sagen, dass er dich glücklich machen soll. Du hast es verdient, Lexi.“

Bei den aufrichtigen Worten ihrer Schwester fühlte sie sich hundeelend. „Skye …“

Ihre Schwester ging auf die Tür zu. „Ich muss nach Hause, bevor Erin aus der Schule kommt. Das ist ja so wunderbar. Ich freue mich ehrlich für dich, Lexi. Wir telefonieren.“

Dann war sie verschwunden.

Dana breitete die Arme auf der Rücklehne des Sofas aus. „Das Merkwürdige ist, dass sie es wirklich so meint. Sie freut sich für dich. Wenn euer Vater nicht dieses miese Spielchen mit euch spielen würde, wäre alles gut. Schade nur, dass deine Geschichte erstunken und erlogen ist.“

Lexi ließ sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Doch, hast du. Komm schon. Skye ist eine Träumerin. Sie ist gutmütig und hilfsbereit und würde niemals etwas Schlechtes von dir denken. Ich hingegen bin ganz schön zynisch und kenne dich seit unserem zehnten Lebensjahr. Du und auf einen Typen warten? Die ganze Zeit? Das glaube ich nicht. Es passt nicht zu dir, jemandem hinterherzuschmachten. Du gehst raus und nimmst dir, was du willst.“

Das war die zweite Beurteilung ihres Charakters in weniger als zehn Minuten, und sie überraschte Lexi nicht minder. Sie bemühte sich, nicht die Kontrolle zu verlieren, spürte jedoch, dass es ihr nicht gelang.

„Ich glaube dir, dass du mit ihm geschlafen hast“, fuhr Dana fort, „und dass ihr verlobt seid, aber den Rest? Auf keinen Fall.“

Lexi öffnete die Augen und sah ihre Freundin an. „Glaub mir, du willst es lieber nicht wissen.“

„Ist es illegal?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Ein einfaches Nein wäre wohl zu schwierig, was?“, murrte Dana.

Lexi lächelte. „Es ist nicht illegal.“

„Sondern?“

„Ich werde es dir nicht erzählen. Du bist meine Freundin, und ich habe dich sehr lieb, aber nein. Diesmal nicht. Cruz und ich sind verlobt. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“

„Von wegen.“ Dana beugte sich zu ihr hinüber. „Steckst du irgendwie in Schwierigkeiten?“

Lexi wusste ihre Anteilnahme zu schätzen. „Nein. Nicht im Geringsten.“ Dank Cruz. „Ich schwebe vielleicht in Gefahr, aber ich stecke nicht in Schwierigkeiten.“

Danas Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. „Was heißt das?“

„Hast du Cruz Rodriguez schon mal gesehen?“

„Nein.“

„Er ist die wandelnde und atmende Definition von Versuchung.“

„Was kein Problem sein sollte, wenn ihr verlobt seid.“

Guter Einwand. „Sagen wir mal so: Er soll nicht wissen, dass er so viel Macht über mich hat. Kann ich mir deinen Pick-up ausleihen? Ich muss noch mein ganzes Zeug in sein Haus bringen.“

„Du willst bei ihm einziehen?“

Lexi meinte sich zu erinnern, dass seine genauen Worte „in mein Haus und in mein Bett“ gewesen waren, was in ihr das Bedürfnis weckte, sich Luft zuzufächern. „M-hm“, erwiderte sie.

„Das klingt ganz und gar nicht nach dir. Außerdem – will dir dein strahlender neuer Verlobter denn gar nicht helfen?“

Woher sollte sie das wissen? „Er, ähm, ist an dem Tag nicht in der Stadt. Ich will ihn überraschen.“

„Du bist eine miserable Lügnerin. Was willst du denn mitnehmen?“

„Nur Klamotten und persönliche Dinge.“

„Keine Möbel?“

„Nicht sofort.“ In Wahrheit hatte sie keinen Schimmer, was sie mitnehmen sollte, aber Klamotten konnten ja nicht schaden. „Er kann mir später bei den großen Teilen helfen, die ich mitnehmen möchte“, sagte sie, wohl wissend, dass es dazu nicht käme. Sie würde ihre Wohnung behalten, damit sie nach dem vereinbarten halben Jahr ein Zuhause hätte, in das sie zurückkehren könnte.

Dana sah aus als wollte sie diskutieren, doch stattdessen sagte sie: „Ich helfe dir beim Umzug und fahre meinen Pick-up selbst.“

„Weil du mir dein Baby nicht anvertrauen willst?“

„Verdammt richtig.“

„Aber es ist doch nur ein Pick-up.“

Dana zuckte zusammen. „Genau deshalb kannst du ihn zwar gern benutzen, aber auf keinen Fall fahren.“

Kaum war Dana gegangen, schnappte sich Lexi ihre Handtasche und kramte Cruz’ Visitenkarte hervor. Seine Handynummer hatte er auf die Rückseite gekritzelt. Sie wählte die Rufnummer und wartete ungeduldig, bis er sich meldete.

„Rodriguez.“

„Was hast du dir dabei gedacht? Das ist wirklich eine Riesensauerei! Schlimm genug, dass du es gemacht hast, aber noch schlimmer ist, dass du mich nicht mal gewarnt hast. Ich hatte es meinen Schwestern noch nicht erzählt. Du hast Skye verletzt. Ich kann wirklich vieles vergeben, aber das nicht.“ Izzy wäre das Ganze ohnehin egal, aber Skye war sensibel. „Was, wenn ich es meinem Vater noch nicht erzählt hätte?“, fuhr sie fort, und ihre Stimme rutschte eine Nuance höher. „Glaub mir, du möchtest Jed Titan lieber nicht begegnen, wenn er so richtig in Fahrt ist.“

„Bist du bald fertig?“, fragte Cruz.

„Ich fange gerade erst an.“

„Gut. Ich bin in zehn Minuten da. Dann kannst du mich persönlich anschreien.“

Noch bevor sie protestieren konnte, legte er auf.

Sie knallte den Telefonhörer auf den Tisch und marschierte in ihr privates Badezimmer, wo sie sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen ließ und ihr Make-up kontrollierte. Sie hasste sich dafür, dass sie für ihn gut aussehen wollte, und beschimpfte sich innerlich, während sie neuen Lipgloss auflegte.

Warum sie? Warum hatte er sich sie ausgesucht? Sie hatte weder Skyes umwerfende Kurven und feminine Gesichtszüge noch Izzys Abenteuerlust. Sie war eine klassische kühle Blondine. Oder wie Andrew es so eloquent ausgedrückt hatte: eine Eisprinzessin. Cruz war die Leidenschaft in Person. Also warum sie?

Spielte es denn eine Rolle? Sie hatte bekommen, was sie wollte – einen millionenschweren Rettungsring. Sie war immer noch im Rennen um Titan World und die Zuneigung ihres Vaters. In sechs Monaten wäre sie Cruz los. Bis dahin würde sie ausharren. Darin war sie gut.

Ihre Assistentin rief an, um sie über sein Eintreffen zu informieren. Lexi ignorierte, dass sich ihr Magen verkrampfte und ihre Knie weich wurden, und machte sich auf zum Eingangsbereich ihres Spas.

Wie immer machte es sie auch diesmal glücklich, durch ihre Geschäftsräume zu gehen. Die hohen Decken und die Zierleisten aus dunklem Holz verliehen dem Ort ein elegantes Flair. Sie grüßte die Mitarbeiter, denen sie auf ihrem Weg begegnete. Jeannie, die in wenigen Minuten eine Kundin zur Gesichtsbehandlung erwartete, schien kurz davor, unter dem Gewicht mehrerer Dutzend Handtücher zusammenzubrechen.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Lexi und nahm ihr einen Armvoll ab.

Jeannie richtete sich auf. „Danke. Mrs. Miller kommt gleich, und sie verlangt immer extra viele Handtücher im Zimmer. Sie benutzt sie zwar nicht, aber sie will sie in Sichtweite haben.“

Mrs. Miller war eine Stammkundin. Wöchentliche Maniküre, alle vierzehn Tage Pediküre und Gesichtsbehandlungen. Außerdem Massagen sowie falsche Bräune im Sommer.

„Lieber mehr Handtücher als eine kläffende Hündin, die überall hinpinkelt“, meinte Lexi grinsend, während sie die Handtücher ins Regal räumte.

„Na ja, wenigstens fänden dann die Handtücher Verwendung.“ Jeannie lachte und verschwand in einem der anderen Behandlungsräume.

Lexi setzte ihren Weg zum Haupteingang fort, wobei sie am Ruheraum vorbeikam. Er war mit drei Sofas und mehreren Sesseln möbliert. Frauen in dicken Bademänteln saßen bei Kräutertee zusammen, während sie entweder auf ihre Behandlungen warteten oder sich im Anschluss daran noch ein wenig entspannten. Im Hintergrund klimperte beruhigende Musik. Eine junge Mitarbeiterin bot Zeitschriften an und schnitt frisches Obst.

Lexi blieb stehen und ließ ihren Blick zurück durch den langen Korridor schweifen. Fast alle Behandlungsräume waren geschlossen und die Türen mit dezenten „Besetzt“-Schildern gekennzeichnet. Es war mitten in der Woche, und sie waren beinahe ausgebucht. Wenn auch sonst nichts glatt lief – in ihrem Berufsleben stimmte alles.

Cruz stand neben der Rezeption. Sie hatte erwartet, dass er irgendwie deplatziert wirken würde. Doch stattdessen lehnte er lässig an einer Glasvitrine voller Kosmetika und schien sich auf eine männliche, sexy Art pudelwohl zu fühlen. Alle Frauen sahen ihn mit Blicken an, die ihm nicht nur die Kleider vom Leib rissen, sondern ihm auch das Frühstück ans Bett brachten und ihn anflehten, es noch einmal zu tun.

Lexi verspürte ein merkwürdiges, besitzergreifendes Gefühl, was vollkommen verrückt war. Eigentlich hätte sie nur das Bedürfnis haben sollen, ihn wegen der Sache mit der Anzeige anzuschreien.

Als er aufsah und sie erblickte, lächelte er sie so entwaffnend an, dass ihr Nervensystem mit einem heftigen Kribbeln reagierte.

„Lexi“, sagte er im Näherkommen, nahm sie an den Händen und küsste sie sanft. Er drückte ihr die Lippen ans Ohr und flüsterte: „Wenn du mich weiter so ansiehst, als würdest du mich lieber totgefahren am Straßenrand liegen sehen, wird uns niemand glauben, dass wir verlobt sind.“

„Uns wird erst recht niemand mehr glauben, wenn ich anfange zu versuchen, ein Fitzelchen Verstand in dich hineinzuprügeln“, erwiderte sie ebenso leise.

Er richtete sich auf und grinste. „Na, auf den Versuch bin ich aber gespannt.“ Er ließ ihre eine Hand los und zog an der anderen. „Komm mit. Ich möchte dir was zeigen.“

Sie ließ sich von ihm nach draußen führen.

Die Sonne stand hell und hoch am blauen Himmel. Sie musste ihre Augen mit der Hand abschirmen, um den Parkplatz sehen zu können. Zuerst fiel ihr nichts Besonderes auf. Das übliche Sortiment Besucherfahrzeuge, wovon die meisten teure Importwagen waren, die …

Ihr Blick blieb an dem silberblauen Mercedes hängen. Sie erkannte das Auto und die Farbe, weil der Wagen eine Sonderbestellung zu ihrem Geburtstag gewesen war. Ihr Vater war todunglücklich gewesen, als sie ihm den Verlust des Autos gebeichtet hatte. In Wahrheit hatte es Jed gar nicht so sehr geärgert, dass sie ein so teures Auto verspielt hatte, sondern mehr, dass sie als Verliererin aus dem Rennen hervorgegangen war. Er hatte sie daran erinnert, dass sie stark sein musste, wenn sie sich schon dumm verhielt.

Ihre Wut auf Cruz verflog, während sie sich dem Wagen näherte. Das konnte unmöglich derselbe sein. Nicht nach zehn Jahren. Oder doch? Hatte er ihr Auto tatsächlich all die Jahre behalten?

„Im Ernst?“, fragte sie und starrte ihn an.

Er zuckte die Achseln. „Klar. Meine Haushälterin hat ihn die letzten Jahre gefahren. Aber jetzt habe ich ihr einen neuen gekauft, also kannst du ihn wiederhaben.“

Alles klar. So viel zum Thema „sich besonders fühlen“.

Sie öffnete die Fahrertür und glitt auf den Sitz. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie rieb mit den Handflächen über das Lenkrad und ließ den Blick durchs Wageninnere schweifen.

Auf dem Beifahrersitz lag eine kleine Schachtel von Tiffany’s. Sie war quadratisch und hatte die richtige Größe für einen Ring. Einen Verlobungsring.

Weil sie jetzt verlobt waren.

Lexi starrte auf die Schachtel. Als kleines Mädchen hatte sie sich in stundenlangen Tagträumen ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie sich verliebte und heiratete. Immer wieder hatte sie sich diesen einen Moment vorgestellt. Manchmal hatte der gesichtslose Mann ihrer Träume sie bei einem Abendessen im obersten Stockwerk eines Hochhauses gefragt, in einem nur von Kerzenlicht erhellten Restaurant. Ein andermal bei Sonnenuntergang am Strand oder unter dem Eifelturm in Paris. Aber nie hatte eine wie zufällig platzierte Schachtel auf dem Beifahrersitz eines alten Autos gelegen.

„Mach sie auf“, sagte er.

Sie öffnete die Schachtel und hatte einen Diamanten im Cushion-Schliff vor sich. Schätzungsweise drei Karat und ungefähr noch ein Karat in Form von kleineren Steinen am Ring selbst. Lupenrein. Perfekt. Und ohne jegliche Bedeutung.

Sie nahm den Ring aus der Schachtel und stieg aus dem Wagen.

„Steck ihn an“, forderte er sie auf.

Gleich. Eine Sekunde noch. Wenn die Enttäuschung nicht mehr so scharf und drückend war.

Es ist ein Deal, erinnerte sie sich. Nur eine geschäftliche Transaktion. Hier ging es nicht um ihre Mädchenträume oder ums Verlieben oder so. Die Romantik käme später … mit jemand anderem.

Sie steckte den Ring an. Er passte wie angegossen.

„Danke“, sagte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Auch wenn sie seine Gedanken sowieso nicht lesen konnte. „Er ist wunderschön.“

„Er steht dir.“ Er betrachtete intensiv ihre Hand. „Du kannst ihn behalten. Danach.“

Wenn die sechs Monate um wären. „Die Tradition will es, dass die Frau den Ring zurückgibt, sofern der Bräutigam in spe die Verlobung nicht löst oder sie betrügt. Zumindest glaube ich, dass es so läuft.“

Er grinste. „Schon vergessen, was du in deinem extravaganten Benimmunterricht gelernt hast?“

„Zum Teil. Als Kind habe ich jeden Sommer ein paar Wochen bei meiner Mutter verbracht. Aber diese Besuche waren wirklich eher wie Unterricht. Es gab immer eine Menge Anweisungen.“ Und viel Kälte. Ihre Mutter war nicht außergewöhnlich grausam oder unfreundlich gewesen, es entsprach nur nicht ihrem Charakter, Zuneigung zu zeigen oder zu schmusen, wie sie zu sagen pflegte. In ihrer Welt waren Umarmungen überflüssig.

„Skye ist zwei Jahre auf ein Mädchenpensionat in der Schweiz gegangen“, fuhr sie fort. „Sie weiß so was bestimmt. Du kannst sie ja mal fragen.“

„Nein danke.“ Er nahm ihre Hand und rieb mit dem Daumen über ihren Ring. „Das Auto kannst du auch behalten. Verkauf es.“

„Kann ich es auch meiner Haushälterin geben?“

„Sicher.“

„Ich habe aber gar keine.“ Sie entzog ihm ihre Hand. Seine Haut auf ihrer zu spüren lenkte sie einfach zu sehr ab, und sie musste jetzt einen klaren Kopf bewahren. „Warum hast du die Anzeige in die Zeitung gesetzt?“, fragte sie.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich wollte die Sache ein wenig beschleunigen. Du hattest den Scheck eingelöst. Warum also warten?“

„Du dachtest, ich würde mich vielleicht nicht an unsere Abmachung halten, stimmt’s? So was würde ich niemals tun.“

„Das habe ich auch nicht gedacht.“

Das musste er aber. Warum sonst sollte er es so eilig gehabt haben, der ganzen Welt von ihrer Verlobung zu erzählen?

„Was weißt du über einen Mann namens Garth Duncan?“, wechselte Cruz das Thema.

Sie runzelte die Stirn, als sie versuchte, den Namen einzuordnen. „Nicht viel. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt. Er ist wohlhabend. Hat viele Geschäfte laufen. Treibt sich nicht oft auf Partys rum. Er lebt hier irgendwo in der Gegend. Warum?“

„Er ist derjenige, der dir das Darlehen gegeben hat.“

„Was? Warum hätte er das tun sollen? Warum hätte er zuerst in mein Day Spa investieren und anschließend versuchen sollen, mich zu ruinieren? Ich bin dem Mann doch nie begegnet.“ Die Vorgehensweise hatte sich viel mehr nach einer Privatfehde angefühlt. „Das ergibt doch gar keinen Sinn.“

„Da stimme ich dir zu. Ich tue, was ich kann, um noch mehr herauszufinden. Garth Duncan ist keine Person des öffentlichen Lebens. Ich muss also tief graben, und das wird einige Zeit dauern. Aber ich werde herausbekommen, was du wissen willst.“

„Danke.“ Die Neuigkeit verwirrte sie. Warum sollte ein Fremder sie verletzen wollen?

„Gehört alles zum Deal“, erinnerte er sie. „Und das mit der Annonce tut mir leid. Ich hätte gründlicher darüber nachdenken sollen.“

Irgendetwas schwang zwischen den Zeilen mit. Sie schüttelte ihre Gedanken über Garth ab. „Weil du dadurch auch Schwierigkeiten bekommen hast?“ Das geschähe ihm ganz recht.

„Meine Mutter. Sie hat es gelesen, und jetzt will sie dich kennenlernen.“

Seine Mutter? Meinte er … seine Mutter? „Äh, nein.“

„Du hast keine Wahl. Wir sind verlobt. Sie lebt in Houston. Wir fahren hin und essen mit ihr zu Mittag.“

„Nein, das tun wir nicht. Ich werde deine Mutter nicht anlügen.“

„Ich lüge deinen Vater doch auch an.“

„Das ist was anderes. Deine Mutter ist wahrscheinlich nett.“

„Sie ist vieles. Was genau, kannst du herausfinden, wenn wir sie zum Mittagessen treffen.“

Plötzlich fühlte sich der Diamantring an ihrer linken Hand unsagbar schwer an. Lexi seufzte. „Ich muss zuerst in meinen Terminkalender sehen.“

„Mach das. Dir bleiben übrigens nicht mal mehr vier Tage, um bei mir einzuziehen.“ Seine dunklen Augen waren unergründlich. „Bis Samstagabend.“

„Na, du bist ja ganz schön erpicht darauf, die Besitzverhältnisse klarzustellen.“

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ich weiß.“

Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie mehr Zeit brauchte. Dass sie zwar ohne Problem in sein Haus einziehen konnte, aber noch längst nicht in sein Bett. Sie waren praktisch Fremde. Sie konnten nicht zusammen schlafen. Wenn man mal vergaß, dass es sie vor zehn Jahren kein bisschen gestört hatte, dass sie sich kaum kannten.

„Ich werde da sein“, murmelte sie. „Mir wird jemand beim Umzug helfen.“

„Was ist das für ein Jemand?“

Sie verdrehte die Augen. „Der Jemand heißt Dana, und sie ist Polizistin. Also nerv sie nicht, sonst verhaftet sie dich.“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte. „Ich habe dir versprochen, meine Affären zu beenden, und das habe ich auch getan. Bei so was würde ich niemals lügen.“ Im Übrigen: Warum sollte ihn das stören? Verletzte das seinen männlichen Stolz?

„Ich glaube dir ja.“

„Anscheinend ja nicht, wenn du mir all diese Fragen stellst.“

Er streichelte ihre Wange. „Na, du hast ja eine Laune … Das gefällt mir.“

„Dann wirst du im nächsten halben Jahr ein sehr glücklicher Mann sein. Ich bin nämlich eine ziemlich mürrische Person.“

Er musste lachen. „Das bezweifle ich, querida.“

Er beugte sich vor und küsste sie. Nur einmal und nur ganz kurz. Dann drückte er ihr einen Satz Schlüssel in die Hand. „Für dein Auto.“

Sie sah ihm nach, als er davonging.

Unsicher, was sie als Nächstes tun sollte, setzte sie sich wieder ins Auto und startete den Motor. Das klang gut – als hätte ihn jemand in Schuss gehalten. Wahrscheinlich Cruz’ Haushälterin, dachte sie grimmig. Die Frau musste unglaublich sauber gewesen sein. Sie konnte keinen einzigen Kratzer sehen und keine Spur von …

Ihr Blick fiel auf den Kilometerzähler. Als sie es an Cruz verloren hatte, war das Auto erst wenige Monate alt gewesen. Sie war mit ihren Freundinnen nach Kalifornien und zurück gefahren sowie einige Male zum College und von da nach Hause. Sie konnte sich nicht an den genauen Kilometerstand erinnern, aber es konnten nicht mehr als fünfzehntausend Kilometer gewesen sein.

Der Kilometerzähler zeigte 14.423.

Es kann unmöglich jemand mit diesem Auto gefahren sein, dachte sie irritiert. Aber es funktionierte einwandfrei. Hatte Cruz den Wagen tatsächlich all die Jahre aufgehoben? Das war die einzig logische Antwort, nur, dass sie vollkommen unlogisch war. Warum hätte er das tun sollen? Er hätte es verkaufen und locker dreißig-, vierzigtausend dafür bekommen können. Vielleicht sogar noch mehr. Wenn es ihm nicht um das Auto gegangen war, warum hatte er sich dann überhaupt auf ein Rennen gegen sie eingelassen? Und warum gab er ihr den Wagen jetzt zurück?

4. KAPITEL

Am Samstagmorgen tauchte Cruz mit Kaffee und einem halben Dutzend Umzugskartons in Lexis Wohnung auf. Er sagte sich, dass er hier war, um ihr zu helfen, und vermutlich um sicherzugehen, dass sie tatsächlich bei ihm einzog. Trotz der Zeitungsannonce würde er erst glauben, dass sie wirklich ihm gehörte, wenn sie in seinem Bett läge.

Der Wohnkomplex war klein. Er bestand aus vierundzwanzig Wohneinheiten, alle zwei- oder dreigeschossig, und einige mit kleinem, nach hinten raus liegendem Garten. Lexis Wohnung lag am Ende. Er parkte davor und trug dann den Kaffee und die Kartons zur Haustür.

Sie öffnete nur wenige Augenblicke, nachdem er auf die Klingel gedrückt hatte, und starrte auf die flachen Kartons in seiner Hand.

„So viel zum Thema Vertrauen“, begrüßte sie ihn. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen.

„Man kann nie genug Kartons haben.“

Er betrat den offenen Flur und nahm die blassen Farben und die Helligkeit nur am Rande wahr. Denn im Grunde galt seine Aufmerksamkeit allein Lexi.

Sie trug Jeans und T-Shirt, lief barfuß und war ungeschminkt, aber da es früh am Samstagmorgen war, war das eigentlich keine Überraschung. Trotzdem strahlte sie etwas Unwiderstehliches aus. Sie sah noch leicht verschlafen aus und unglaublich sexy.

Sie schielte auf den Kaffee. „Ist der für mich?“

„Ein fettarmer Latte Macchiato“, erwiderte er. „Ich wusste nicht, was du magst.“

„Fast richtig.“ Sie nahm ihm den Becher aus der Hand, trank einen Schluck und seufzte. „Oh ja. Jetzt bin ich wach. Du bist ganz schön früh auf.“

„Du auch.“

„Aber ich wohne hier. Für mich war es also weniger anstrengend. Komm doch richtig rein.“

Sie führte ihn in ein großes Wohnzimmer. An der Wand hingen zwei Gemälde, es standen einige Kunststücke aus Glas herum, der Couchtisch war mit Zeitschriften bedeckt und auf dem Fußboden lag eine auf einen Block gekritzelte To-Do-Liste.

Lexis Handschrift zeigte sich überall – in dem dezenten Muster des Sofas genauso wie in den achtlos hingeworfenen High-Heels neben dem Clubsessel. Zwei Aquarelle von Thomas McKnight flankierten den kleinen Kamin.

„Keine Rüschen?“, fragte er.

Sie lachte. „So mädchenhaft bin ich dann doch nicht. Zumindest nicht in den Zimmern, in denen ich Besuch empfange. Du solltest mal mein Schlafzimmer sehen. Da wimmelt es nur so von Spitze und Satin.“

Die Worte blieben in der Luft hängen. Er dachte an ihr Schlafzimmer oder genauer gesagt: an ihr Bett. Wie es aussah, wie es sich anfühlte. Wer hatte mit ihr darin gelegen, und hatte er sie befriedigt? Cruz musste an die Nacht denken, als er und Lexi zusammen gewesen waren. Alles war perfekt gewesen – besser als perfekt –, bis er herausgefunden hatte, dass sie noch Jungfrau war. Warum hatte sie ausgerechnet mit ihm ihr erstes Mal erleben wollen?

Seitdem quälte ihn diese Frage, doch die Qual war nichts, verglichen mit der Hitze, die jetzt in ihm hochstieg.

„Hast du, äh, Klebeband für die Kartons mitgebracht?“, versuchte sie das Thema zu wechseln.

„Liegt im Auto.“

„Oh, gut.“ Sie sah ihn an, dann wieder weg. „Habe ich mich schon für den Kaffee bedankt?“

Anscheinend spürte sie die erotische Spannung ebenfalls. Immer, wenn sie sich im gleichen Raum befanden, knisterte die Luft zwischen ihnen. Ein Knistern, das um sie herumschlich … sie verhöhnte … vielversprechend war. Er kannte nur ein Gegenmittel.

Er ging auf sie zu. Sie wich zurück. Ihre Augen standen weit offen, ihre Wangen erröteten. Er sah, dass sie schneller atmete. Dann stand sie reglos vor ihm. Er streckte die Hand nach ihr aus.

Sie wich ihm mit einer flinken Bewegung aus. „Willst du was essen? Ich sterbe fast vor Hunger. Hast du schon gefrühstückt? In der Stadt gibt es ein paar nette Cafés. Komm. Ich zeige sie dir. Wir brauchen noch nicht mal mit dem Auto zu fahren. Das ist einer der Vorteile, wenn man in Titanville lebt. Es ist wie ein kleines Dorf. Alles liegt ganz dicht beieinander.“

Sie huschte an ihm vorbei.

Er hätte sie packen und an sich ziehen können. Er hätte sie festhalten und küssen können, bis sie freiwillig aufgab. Aber er tat es nicht. Dafür wäre noch genügend Zeit, wenn sie erst bei ihm wohnte. Genügend Zeit, sie zu verführen und um den Verstand zu bringen, bis sie keine andere Wahl mehr hätte, als sich ihm hinzugeben. In sechs Monaten würde er Lexi gehen lassen, aber bis dahin würde er jeden Teil von ihr besitzen.

Sie blieb stehen, zog sich die Schuhe an und schnappte sich ihre Tasche. Dann standen sie auch schon in der kühlen Morgenluft und gingen die zwei Blocks bis in die Innenstadt.

„Mein Ur-Ur-Großvater war ein bekannter Spieler und Frauenheld“, erzählte sie, wobei sie schnell sprach und mindestens dreißig Zentimeter Abstand zu ihm hielt. „Er war in beidem gut – er gewann ständig beim Kartenspielen und bekam jede Lady ins Bett, die er haben wollte, sogar die Frau des Bürgermeisters und die Schwester des Predigers. Mehr als eine Schullehrerin ging in Schimpf und Schande – schwanger und unverheiratet. Von überall her kamen durchtriebene Spieler, um ihn zu einer oder zwei Runden Poker herauszufordern. Als er wiederholt gewann, beschuldigten sie ihn des Betrugs. Es kam zu Kämpfen. Es war ein Unglück für jeden außer für ihn. Die Stadtbewohner konnten ihn nicht zum Gehen auffordern, denn er besaß mehr Land als alle anderen. Aber sein Lebensstil schmälerte ihre Lebensqualität. Deshalb beriefen sie ein Treffen ein und fragten ihn, welchen Preis sie ihm zahlen müssten, damit er sich zur Ruhe setzte. Damit er die Karten aufgäbe und seine Frauengeschichten auf außerstädtische Reisen beschränkte.“

Cruz betrachtet das Schild am Straßenrand. Darauf stand: „Willkommen in Titanville – der besten kleinen Stadt im ganzen verdammten Land“.

„Er wollte die Stadt?“

„Er wollte, dass man sie nach ihm benannte. Und noch ein paar andere Dinge. Dass er weiterhin mit den Schullehrerinnen schlafen dürfe, sofern er ihnen einen treusorgenden Ehemann besorgte, wenn er mit ihnen fertig war, und irgendwas mit Wasserrechten. Sie besiegelten den Deal. Titanville war geboren, und mein Ur-Ur-Großvater setzte sich zur Ruhe. Die durchtriebenen Landstreicher gingen fort, und die Stadt blühte auf. Ein Triumph der Regierung über den Wilden Westen.“

Sie zeigte auf verschiedene Gebäude. „Auf dem Heimweg von der Schule haben wir immer bei dem Bonbonladen da drüben Halt gemacht“, erzählte sie. „In dem Restaurant dort gibt es das beste chinesische Essen. Und unter der Markise wurde Skye bei Regen zum ersten Mal geküsst.“

Er ließ den Blick durch die ruhigen, sauberen Straßen und über die perfekt erhaltenen Fassaden schweifen. Alles kam ihm vor wie in einer Fernsehserie aus den Sechzigern. Irreal. Die Welt seiner Jugend war ein winziges Haus am Ende einer schmalen Straße gewesen. Herrenlose Autos hatten in Vorgärten gestanden, und der Klang von Pistolenschüssen verkündete, dass Julio mal wieder auf Bewährung draußen war.

„Es ist nur bedingt ein Segen“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Wenn jeder weiß, wer du bist, meine ich. Ich wusste nie, ob die Leute meinetwegen nett zu mir waren oder wegen meines Vaters. Oftmals war es wegen meines Vaters.“

Als ein Polizeiwagen vorbeifuhr, winkte sie. „Das ist meine Freundin Dana. Sie arbeitet als Deputy in der Stadt. Wie gesagt, ich habe direkten Zugang zum Gesetz.“

Er grinste. „Falls du versuchst, mir zu drohen, musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.“

Sie führte ihn zu einem einfachen Diner. „Ich arbeite mit dem, was ich habe. Das solltest du respektieren.“

„Ich respektiere alles an dir.“

„Wer’s glaubt.“

Sie betraten das Calico Café, das aussah, als wäre es mit einem mit Stoffen beladenen LKW zusammengestoßen. Jede Fläche war mit Blümchenstoff bezogen – einschließlich der Tische, Wände und Kissen auf den Holzstühlen.

Cruz fühlte sich augenblicklich klaustrophobisch.

„Wir können hier nicht essen“, sagte er.

„Du wirst dich daran gewöhnen“, erwiderte Lexi.

„Niemand kann sich an so etwas gewöhnen.“

„Hier gibt es das beste Frühstück weit und breit. Das ist charakteristisch für Titanville: Fast alle Restaurants haben ein Thema. Das hier heißt ‚Blümchenstoffe‘.“

Es war der femininste Laden, in dem er je gewesen war, und das meinte er keineswegs positiv. Er rechnete damit, dass jeden Moment eine große Frau aus dem Hinterhalt käme, um ihn mit einem Nudelholz anzugreifen.

Eine junge Frau führte sie zu einem Tisch, wo sie jedem eine Karte reichte, auf deren geblümter Vorderseite stand: Frühstück den ganzen Tag. Wenn Sie etwas anderes wollen, gehen Sie bitte wieder.

„Das Essen ist fantastisch“, versicherte Lexi ihm. „Hier gibt es alles. Für die Angebote des Tages würde ich sterben. Du wirst es lieben.“

Lexi wusste, dass es nicht gerade für sie sprach, aber sie genoss es zu sehen, wie Cruz sich wand. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Er hatte sich immer gut im Griff, egal, was geschah. Aber nicht hier. Sie erwog, ihn damit aufzuziehen, dass er bei so viel Blümchenstoff Gefahr lief, sich in eine Pioniersfrau zu verwandeln, bezweifelte aber, dass er das komisch fände.

Er sah sich immer noch ungläubig um und erschauerte, als er die Blümchenvorhänge, die Porzellankatzen mit Blümchenmuster auf einem Regal und die Blümchenstofffetzen erblickte, die sämtliche Marmeladendeckel zierten.

„Wirf einen Blick in die Speisekarte“, forderte sie ihn auf. „Vertrau mir. Es lohnt sich.“

Er murmelte irgendetwas Unverständliches und studierte das Angebot. Die Kellnerin kam, schenkte ihnen Kaffee ein, nahm die Bestellung entgegen und ging.

Cruz lehnte sich zurück. Lexi sah ihn gern an und würde dieses Anblicks wohl niemals überdrüssig, aber sie wusste, dass sie auf der Hut sein müsste. Er hatte eindeutig zu viel Macht über sie. Fragte sich nur, ob er es wusste oder nicht.

Sie schaute sich im Restaurant um und entdeckte sogleich einen Bekannten. „Komm. Da ist jemand, den du kennenlernen musst.“

„Hier?“, fragte er und rührte sich nicht vom Fleck.

Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüfte. „Jetzt steh schon auf, Cruz. Du willst doch nicht, dass ich zu schmutzigen Tricks greife, oder?“

Er grinste. „Willst du mich vielleicht niederringen und hinter dir herschleifen?“

„Wenn du darauf bestehst … Ich hatte allerdings eher an einen vorgetäuschten Weinkrampf gedacht.“

Blitzschnell war er auf den Füßen.

Er folgte ihr zu einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants. Lexi wartete, bis der Mann von seiner Zeitung aufsah, und lächelte.

„Guten Morgen, Herr Abgeordneter. Schön, Sie zu sehen.“

„Lexi. Wie geht es Ihnen, Darling?“

„Prima.“ Sie nahm Cruz’ Hand, ignorierte das unvermeidliche Kribbeln, und zog ihn an ihre Seite. „Herr Abgeordneter Vantage, das ist Cruz Rodriguez.“

Der Abgeordnete musterte Cruz und nickte knapp. „Richten Sie Ihrem Vater meine besten Grüße aus“, sagte er zu Lexi und ignorierte die Vorstellung praktisch.

Lexi verstand nicht. War das eine Altreich-Neureich-Sache? Oder eine Mexikaner-Amerikaner-Geschichte? Spielte das denn eine Rolle?

Sie streckte ihre linke Hand vor, sodass der Diamantring deutlich zu sehen war. „Wir sind verlobt.“

Der Gesichtsausdruck des älteren Herren veränderte sich augenblicklich. Er stand auf und streckte Cruz die Hand entgegen. „Ach, tatsächlich? Herzlichen Glückwunsch. Sie können sich glücklich schätzen, das Herz eines Titan-Mädchens gewonnen zu haben. Vor allem das von Lexi. Spielen Sie Golf?“

„Sicher“, erwiderte Cruz.

Vantage reichte ihm eine Visitenkarte. „Rufen Sie mich an. Lassen Sie uns bei Gelegenheit einen schönen Spaziergang verderben, wie meine Frau meine Golfgewohnheiten zu beschreiben pflegt. In welcher Branche sind Sie tätig, mein Lieber?“

„In der Autobranche. Ich mache alles, von Autorennen bis Autohandel.“

„Gut. Gut. Ich kenne ein paar Leute, die Sie unbedingt treffen sollten.“ Das Handy des Abgeordneten klingelte. „Ich muss rangehen. Passt gut auf euch auf, Kinder, hört ihr?“

Sie kehrten an ihren Tisch zurück. Lexi wusste nicht, was sie denken sollte.

„Er war kein bisschen sensibel“, schimpfte sie leise. „Warum hat er dich so abblitzen lassen? Was, wenn du ein potenzieller Unterstützer seines Wahlkampfs gewesen wärst?“

„Er ist nicht auf mein Geld angewiesen. Sein Sitz ist ihm solange sicher, wie er will.“

Das stimmte zwar, aber trotzdem. Immerhin musste sie sich nicht länger fragen, ob Cruz ihre Kontakte wirklich brauchte, um Zutritt zur texanischen Gesellschaft zu erlangen.

„Warum willst du zu diesen Leuten gehören?“, wollte sie wissen.

„Weil ich es in meinem Spiel auf ein neues Level schaffen möchte.“

„Es wird dir nicht gefallen.“

Er sah ihr fest in die Augen. „Ich möchte wenigstens die Wahl haben. Danke dafür.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des hinteren Tisches.

„Ich erfülle nur meinen Teil der Abmachung.“

„Ist deine Schwester noch sauer auf dich? Wegen der Anzeige?“

„Sie wird darüber hinwegkommen.“

„Du hast noch eine Schwester, nicht wahr?“

Sie nippte an ihrem Kaffee und nickte dann. „Ich bin die Älteste von dreien. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich gerade drei war. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter vorher viel Zeit mit mir verbracht hätte. Das war nicht ihr Stil.“ Sie zog eine Grimasse. „Ich weiß, ich weiß. Armes kleines reiches Mädchen.“

„Eine Scheidung ist für jedes Kind schwer.“

„Jed hat sehr schnell wieder geheiratet. Prudence Lightly.“

Cruz hob die Augenbrauen. „Wieso kommt mir der Name so bekannt vor?“

„Sie war damals eine bekannte Schauspielerin. Sehr hübsch. Sie war noch verheiratet, als Jed in ihr Leben platzte und sie förmlich umwarf. Anscheinend gab es seinerzeit einen Riesenskandal. Ich wusste von all dem nichts. Ich habe es erst später herausgefunden. Ich wusste nur, dass sich alles veränderte, als Pru bei uns einzog. Sie war lustig und mochte mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich vorher jemand gemocht hat. Zumindest nicht genug, als dass ich es mir gemerkt hätte.“

Die deutlichste Erinnerung an ihre Kindheit war Stille. Die Stille des Alleinseins. Die gedämpften Schritte ihrer zahlreichen Kindermädchen. Die Stille der Einsamkeit.

„Schon bald brachte Pru Skye zur Welt. Wahrscheinlich war sie bereits schwanger, als sie Jed heiratete. Als Skye geboren war, hatte Pru nicht mehr so viel Zeit für mich, aber das war mir egal. Es reichte mir, eine kleine Schwester zu haben. Ich habe jede freie Minute mit ihr verbracht, und als sie zu laufen und zu sprechen anfing, war es wie ein Wunder. Meine erste Freundin.“

Bei der Erinnerung musste sie lächeln. „Dann kam Izzy und alles war perfekt. Wir waren zu dritt. In einer Stadt aufzuwachsen, die so heißt wie man selbst, wäre bestimmt belastend gewesen, wenn wir allein gewesen wären, aber wir hatten ja einander. Ein jeder, der es mit einer von uns aufnahm, hatte plötzlich mit uns dreien zu tun.“ Sie sah ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse an. „Selbst du.“

„Ich kann damit umgehen.“

„Das sagst du jetzt. Wir werden ja sehen, was passiert, wenn du meine Schwestern kennenlernst.“ Würden sie Cruz mögen? Vermutlich schon. Aber eigentlich war es auch unwichtig. In sechs Monaten wäre er ja ohnehin weg.

„Was ist mit deiner Stiefmutter passiert?“

Ihre gute Laune verschwand. Sie wollte nicht an Pru denken – nicht an jene Zeit denken. Sie zitterte leicht. „Sie starb, als ich vierzehn war. Das war für uns alle schwer.“

„Tut mir leid.“

Sie nickte, weil es nichts zu sagen gab. Nichts, das erklären konnte, warum sich Pru das Leben genommen und zugelassen hatte, dass Skye ihren Leichnam fand.

„Und Jed hat nie wieder geheiratet?“, fragte Cruz.

„Nein. Er hatte viele Frauen, aber keine Ehefrauen mehr. Ich weiß auch nicht, warum. Ich bezweifle, dass er Pru so sehr geliebt hat, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie zu ersetzen.“ Das hätte mehr Gefühle verlangt, als er zu empfinden fähig war.

„Die Leute heiraten aus unterschiedlichen Gründen.“

„Wegen des sozialen Status’ und des gesellschaftlichen Ansehens?“, fragte sie.

„Hat Jed nicht aus genau diesem Grund deine Mutter geheiratet?“

„Das macht es noch lange nicht richtig.“

„Du findest, die Menschen sollten aus Liebe heiraten?“

„Es ist eine Tradition“, erwiderte sie unbeschwert. „Nicht jede Beziehung muss ein Geschäftsvorgang sein. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als zu gewinnen.“

„Zum Beispiel?“

Geliebt zu werden, dachte sie, als die Kellnerin mit ihrem Frühstück kam. Sie setzte Cruz das gefüllte Omelette vor und servierte dann Lexis French Toast mit Zimt.

Lexi wartete, während Cruz den ersten Bissen nahm, und lächelte, als seine Augen immer größer wurden.

„Siehst du“, sagte sie. „Es hat sich gelohnt. Gib’s zu.“

„Allerdings“, gestand er, nachdem er geschluckt hatte. „Du hattest recht.“

„Das höre ich gern“, seufzte sie.

„Also geht es doch ums Gewinnen.“

„Nicht so, wie du es meinst.“

„Du bist mir viel ähnlicher, als du zugeben willst“, stellte er fest.

Statt zu antworten, aß sie einen Bissen von ihrem Frühstück.

Cruz irrte sich, aber das würde sie ihn nicht wissen lassen. Er sollte lieber denken, dass sie genauso entschlossen und emotionslos war wie er. Er würde nie erraten, dass hinter ihrer kühlen Fassade das Herz einer Romantikerin schlug. Doch das wäre ihm ohnehin egal – je besser sie Cruz kennenlernte, desto mehr erinnerte er sie an ihren Vater. Ein Mann, der in seinem Leben noch nie sentimental gewesen war und keinen Grund dafür sah, sein Herz zu verschenken.

Zurück in ihrer Wohnung, zeigte Cruz auf die Kartons.

„Ich könnte dir beim Packen helfen.“

„Ist schon gut. Das kriege ich auch alleine hin.“

Er schien nicht überzeugt. „Wann soll ich wieder da sein, um dir beim Umzug zu helfen?“

Da sie nur Kleidungsstücke und ein paar persönliche Gegenstände mitnehmen wollte, vermutete Lexi, dass mit einer Tour in Danas Truck alles drüben wäre. „Ich mache das schon. Keine Sorge.“

„Ich mache mir keine Sorgen.“

„Du wirkst irgendwie nervös.“

Seine Augen blitzten belustigt auf. „Nervös?“

„Dir bricht förmlich der Schweiß aus. Ich habe gesagt, dass ich komme, also komme ich auch. Hör auf, mich zu bedrängen.“

Sie hatte damit gerechnet, dass er den Köder schlucken und gereizt reagieren würde, aber dafür war Cruz viel zu glatt. Statt auf dem Absatz kehrt zu machen oder sich auf die Brust zu trommeln, kam er näher. Nah genug, um sie ins Schwitzen zu bringen.

„Ich bedränge dich nicht“, sagte er mit leiser, fester und merkwürdig zärtlicher Stimme. „Das habe ich gar nicht nötig.“

„Ich sage ja nur …“

Er bewegte sich noch ein bisschen, bis sie sich praktisch berührten. Praktisch, aber nicht wirklich. Trotzdem konnte sie seine Wärme spüren und hatte auf einmal Schwierigkeiten zu atmen.

„Ja“, murmelte er, den Blick auf ihren Mund geheftet. „Was wolltest du sagen?“

„Ich, äh … Hab ich vergessen.“

„Gut. Du denkst zu viel.“

Sie wusste, dass er sie küssen würde. Die Berührung seiner Lippen hätte sie also nicht überraschen dürfen. Trotzdem zuckte sie innerlich zusammen, als er sich hinunterbeugte und seine Lippen auf ihre drückte. Jeder einzelne Nerv in ihrem Körper war zuerst verdutzt und dann hocherfreut.

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