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Heißkalte Angst

Vier spannende Thriller der internationalen Bestsellerautorin Tess Gerritsen!

Der Anruf kam nach Mitternacht

Auf der Suche nach dem Mörder ihres Mannes hat Sarah nur einen Verbündeten: den verführerischen Nick O`Hara. Noch bevor sie verstehen, was passiert, sind sie jedoch Gejagte in einem riskanten Spiel, in dem Informationen alles und Menschenleben nichts bedeuten.

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  • Erscheinungstag: 10.03.2016
  • Seitenanzahl: 672
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766092
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tess Gerritsen

Heißkalte Angst

PROLOG

Berlin

Um einen Menschen bewusstlos zu machen, ist zwanzig Sekunden lang ein starker Druck auf die Halsschlagader notwendig. Bei zwei Minuten tritt bereits unweigerlich der Tod ein. Simon Dance benötigte kein medizinisches Handbuch, um diese Informationen nachzuschlagen – er wusste es aus Erfahrung. Er wusste auch, dass man die Schlinge ganz fest zuziehen muss, denn wenn der Strang nicht ganz straff ist, wenn auch nur das geringste bisschen lebenswichtige Blut in das Gehirn des Opfers gelangen sollte, dann würde der Todeskampf unnötig hinausgezögert, ja, die Situation sogar gefährlich werden. Niemand kämpft verbissener als ein sterbender Mensch.

In der Dunkelheit lauernd wickelte sich Dance die Schlinge zweimal um die Hände und warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Zwei Stunden waren verstrichen, seit er das Licht ausgemacht hatte. Sein Mörder war offensichtlich ein vorsichtiger Mensch, der sichergehen wollte, dass Dance auch tief schlief. Wenn der Mann ein Berufskiller war, dann würde er wissen, dass die ersten zwei Stunden Schlaf die intensivsten waren. Jetzt war die Zeit für den Angriff gekommen.

Draußen im Korridor war plötzlich ein Schritt zu hören. Dance stand vorsichtig und angespannt auf und wartete neben der Tür. Es war stockdunkel. Dance ignorierte sein eigenes Herzklopfen. Er spürte, wie der gewohnte Adrenalinstoß seine Reflexe hellwach sein ließ, und er spannte die Schlinge zwischen seinen Händen.

Ein Schlüssel wurde vorsichtig in das Türschloss gesteckt. Dance vernahm das metallische Geräusch des Bartes, der über das Metall kratzte. Der Schlüssel wurde umgedreht, und das Schloss sprang mit einem Klicken auf. Langsam wurde die Tür geöffnet, und das Licht des Korridors fiel durch den Spalt. Ein Schatten bewegte sich durch den Raum auf das Bett zu, wo jemand zu schlafen schien. Der Schatten hob einen Arm. Drei Kugeln wurden aus dem Schalldämpfer in die Kissen abgefeuert. Als die dritte Kugel einschlug, sprang Dance hervor.

Er warf die Schlinge um den Hals des Eindringlings, riss sie nach oben und sofort zurück. Sie drückte genau auf den kritischsten Punkt der Halsschlagader, direkt unter dem Unterkiefer. Die Waffe fiel zu Boden. Der Mann wand sich wie ein Fisch an der Angel und versuchte, seine Hände in Dance’ Gesicht zu krallen. Seine Arme und Beine gehorchten ihm jedoch nicht mehr, ruckten und schlugen in alle Richtungen. Dann sackten ihm langsam die Beine weg, er griff noch einmal nach Dance, ehe seine Arme schlaff herabsanken. Während Dance die Sekunden zählte, spürte er die letzten Zuckungen des Körpers, das Aufbäumen des gewürgten Gegners. Er hielt die Schlinge fest zusammengezogen.

Nach drei Minuten lockerte er die Schlinge, und der Körper sackte zu Boden. Dance machte das Licht an und sah auf den Mann hinunter, den er soeben getötet hatte.

Das blau angelaufene Gesicht war ihm irgendwie vertraut. Rasch durchsuchte er die Sachen des Mannes, aber er fand nur Geld, Autoschlüssel und weitere Arbeitsutensilien: Ersatzmunition, ein Schnappmesser, einen Dietrich. Ein namenloser Killer, dachte Dance und überlegte, wie viel man dem Mann wohl gezahlt hatte.

Er zerrte den Körper auf das Bett und warf die drei Kissen beiseite, mit denen er eine unter der Decke liegende Gestalt vorgetäuscht hatte. Er schätzte die Größe des Toten auf einen Meter dreiundachtzig. Also ungefähr meine Größe, dachte er, das ist gut. Dance wechselte mit der Leiche die Kleider, wahrscheinlich war das unnötig, aber er war ein gründlicher Mensch. Dann nahm er seinen Ehering ab und versuchte, ihn dem Toten aufzusetzen, doch der Ring ging nicht über den Knöchel. So ging er ins Badezimmer, seifte den Ring ein und zwang ihn auf diese Weise auf den Finger des Mannes.

Dann setzte er sich hin und rauchte, während er angestrengt überlegte, ob er irgendein Detail übersehen hatte. Natürlich – die drei Kugeln! Er wühlte in den Kissen herum, untersuchte sie aufs Gründlichste und fand endlich auch zwei davon wieder. Die dritte war vermutlich tief in die Matratze eingedrungen. Ehe er noch weiter nachsehen konnte, hörte er plötzlich im Korridor Schritte. Hatte der Mörder noch einen Komplizen?

Dance griff hastig zu seiner Waffe, zielte auf die Tür und wartete. Die Schritte gingen jedoch weiter und verklangen im Korridor. Falscher Alarm. Trotzdem, ich sollte jetzt lieber gehen, sagte er sich. Länger hierzubleiben wäre sehr unklug.

Aus der Schublade der Kommode holte er eine Flasche Methanol. Es würde schnell brennen und keine Spuren hinterlassen. Er schüttete den Alkohol über die Leiche, das Bett und den davorliegenden Teppich. Im Zimmer gab es weder einen Rauchmelder noch eine Sprinkleranlage. Aus diesem Grunde hatte Dance sich für dieses alte Hotel entschieden. Er stellte den Aschenbecher neben das Bett, suchte die Habseligkeiten des Toten zusammen und steckte sie, zusammen mit der leeren Methanolflasche, in eine Mülltüte. Dann setzte er das Bett in Brand.

Zischend loderten die Flammen auf und hüllten Sekunden später die Leiche völlig ein. Dance wartete nur so lange, bis er sicher sein konnte, dass nichts Erkennbares übrig blieb.

Er nahm die Mülltüte, verließ das Zimmer, schloss die Tür ab und ging den Korridor hinunter zum Feuermelder. Er wollte keine unschuldigen Menschen gefährden, schlug deshalb das Glas ein und betätigte den Alarmhebel. Dann eilte er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

Aus einer der Straße gegenüberliegenden Gasse sah er zu, wie die Flammen aus seinem Fenster schlugen. Das Hotel wurde geräumt, und die Straße war kurz darauf voller schläfriger, notdürftig in Decken gehüllter Leute. Innerhalb von zehn Minuten trafen drei Löschzüge ein. Zu dem Zeitpunkt war Dance’ Zimmer bereits ein loderndes Inferno.

Es dauerte eine Stunde, bis das Feuer gelöscht war. Eine schaulustige Menge hatte sich zu den zitternden Hotelgästen gesellt, und Dance betrachtete ihre Gesichter, um sie sich einzuprägen. Falls er je wieder einem von ihnen begegnen sollte, wäre er gewarnt.

Dann entdeckte er eine schwarze Limousine, die sich langsam einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Er erkannte den im Fond sitzenden Mann. Also auch der CIA war hier. Wie interessant!

Er hatte genug gesehen. Es war schon spät, und er musste sich sofort auf den Weg machen, zurück nach Amsterdam.

Drei Häuserblocks weiter warf er die Tüte mit der leeren Methanolflasche in einen Mülleimer. Damit hatte er sich auch des letzten Beweises entledigt. Er hatte getan, weshalb er nach Berlin gekommen war – er hatte Geoffrey Fontaine getötet. Jetzt war es an der Zeit, zu verschwinden. Leise vor sich hin pfeifend ging er in die Dunkelheit davon.

* * *

Amsterdam

Der alte Mann wurde nachts um drei Uhr mit der Neuigkeit geweckt.

„Geoffrey Fontaine ist tot.“

„Wie?“, fragte der Alte.

„Ein Hotelbrand. Man sagt, er habe im Bett geraucht.“

„Ein Unfall? Unmöglich! Wo ist die Leiche?“

„Im Berliner Leichenschauhaus. Stark verbrannt.“

Natürlich, dachte der alte Mann. Man konnte sich denken, dass die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sein würde. Wie üblich hatte Simon Dance beim Verwischen seiner Spuren hervorragende Arbeit geleistet. Er war ihnen also wieder entwischt.

Doch der Alte hatte noch einen Trumpf im Ärmel. „Du hast mir erzählt, seine Frau sei in Amerika“, sagte er. „Wo lebt sie?“

„In Washington.“

„Ich möchte, dass sie beschattet wird.“

„Aber warum? Ich sagte dir doch gerade, der Mann ist tot.“

„Er ist nicht tot. Er lebt, davon bin ich überzeugt. Und diese Frau könnte wissen, wo er ist. Behaltet sie im Auge.“

„Ich werde meinen Leuten …“

„Nein. Ich werde meinen eigenen Mann schicken. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann.“

Eine Pause trat ein. „Ich werde dir ihre Adresse beschaffen.“

Nachdem er aufgelegt hatte, konnte der alte Mann nicht mehr einschlafen. Fünf Jahre hatte er nun gewartet. Fünf Jahre lang hatte er gesucht. Dann war er so kurz davor gewesen, und wieder war es schiefgegangen! Jetzt hing alles davon ab, was diese Frau in Washington wusste.

Er musste sich in Geduld fassen und darauf warten, dass sie sich selbst verriet. Er würde Kronen schicken, einen Mann, der ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Kronen hatte seine eigenen Methoden, sich Informationen zu verschaffen – Methoden, denen man schwer widerstehen konnte. Das war nämlich Kronens besondere Begabung – Überredungskraft.

1. KAPITEL

Washington

Mitternacht war schon vorbei, als das Telefon klingelte. Sarah hörte es in ihren Schlaf hineinläuten. Der Klang schien von unendlich weit her zu kommen, als sei es ein Wecker, der in einem anderen Zimmer zu schrillen begonnen hätte. Sie kämpfte mit sich, um munter zu werden, aber sie war in dem Zustand zwischen Tiefschlaf und Halberwachen gefangen. Sie musste ans Telefon gehen. Sie wusste, es war ihr Mann Geoffrey, der anrief.

Sie hatte den ganzen Abend darauf gewartet, seine Stimme zu hören. Es war Mittwochnacht, und auf seinen monatlichen Reisen nach London rief Geoffrey immer mittwochs bei ihr an. Heute Abend war sie allerdings verschnupft und hustend eher zu Bett gegangen, denn in Washington ging mal wieder ein Grippevirus um. Es war die Hongkong-Grippe, eine besonders unangenehme Krankheit, die sie jetzt mit der Hälfte ihrer Kollegen im mikrobiologischen Laboratorium teilte.

Eine Stunde lang hatte sie lesend im Bett gesessen und tapfer darum gekämpft, munter zu bleiben. Aber die Kombination aus einer Antigrippekapsel und der letzten Ausgabe des „Mikrobiologie Journals“ hatten schneller gewirkt als jede Schlaftablette. Innerhalb von Minuten war sie in ihre Kissen gesunken, die Brille immer noch auf der Nase.

Sarah hatte sich vorgenommen, nur ein wenig zu ruhen, nur ein ganz kleines Schläfchen zu halten … Am Ende wurde sie jedoch immer müder, und der Schlaf überfiel sie.

Sie schreckte aus einem Traum hoch und stellte fest, dass die Nachttischlampe noch brannte und das „Mikrobiologie Journal“ auf ihrer Brust lag. Sie konnte nichts richtig im Zimmer erkennen. Sarah schob ihre Brille zurecht und sah auf den Wecker. Zwölf Uhr dreißig. Das Telefon gab keinen Mucks von sich. Hatte es etwa im Traum geläutet?

Sie schrak hoch, als das Telefon erneut klingelte. Hastig nahm sie den Hörer ab.

„Mrs Sarah Fontaine?“, fragte eine männliche Stimme.

Es war nicht Geoffrey, und plötzlich hatte sie eine schreckliche Vorahnung. Irgendetwas stimmte nicht. Sie setzte sich kerzengerade auf und war mit einem Mal hellwach. „Ja. Am Apparat“, sagte sie knapp.

„Mrs Fontaine, hier spricht Nicholas O’Hara vom Außenministerium. Ich bedaure, Sie zu so später Stunde stören zu müssen, aber …“ Er schwieg. Es war dieses Schweigen, das Sarah am meisten erschreckte, weil es zu bewusst eintrat, zu routiniert, gekonnt eingesetzt, um den nachfolgenden Schock zu mildern. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten“, fuhr er fort.

Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Am liebsten hätte sie geschrien: Nun sagen Sie es schon! Erzählen Sie mir, was passiert ist! Aber alles, was sie herausbrachte, war ein Flüstern. „Ja. Ich höre.“

„Es geht um Ihren Gatten Geoffrey“, sagte er. „Es hat einen Unfall gegeben.“

Ich träume, dachte Sarah und schloss die Augen. Wenn Geoffrey etwas passiert wäre, hätte ich es gefühlt. Irgendwie hätte ich es gewusst …

„Es ist vor ungefähr sechs Stunden geschehen“, sprach der Mann weiter. „Im Hotel Ihres Mannes brach ein Feuer aus.“ Er machte eine erneute Pause. Dann fragte er besorgt: „Mrs Fontaine? Sind Sie noch am Apparat?“

„Ja. Bitte, sprechen Sie weiter.“

Der Anrufer räusperte sich. „Es tut mir leid, Mrs Fontaine, es Ihnen sagen zu müssen. Ihr Gatte … ist nicht durchgekommen.“

Der Mann ließ Sarah einen Augenblick der Besinnung, einen Augenblick, um ihren Schmerz zu fassen. Um ihr Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich die Hand vor den Mund. Dieser Schmerz war zu intim, als dass sie einen Fremden davon wissen lassen wollte.

„Mrs Fontaine?“, fragte er dann sanft. „Ist alles okay?“

Schließlich konnte Sarah zitternd wieder sprechen. „Ja“, flüsterte sie.

„Machen Sie sich über die Formalitäten keine Gedanken. Ich werde die Einzelheiten mit unserem Berliner Konsulat klären. Natürlich wird es etwas dauern, aber sobald die deutschen Behörden die Leiche freigegeben haben, müsste eigentlich …“

„Berlin?“, unterbrach Sarah ihn.

„Es liegt in ihrem Zuständigkeitsbereich, müssen Sie wissen. Es wird einen genauen Bericht geben, wenn die Berliner Polizei …“

„Aber das ist doch unmöglich!“

Nicholas O’Hara bemühte sich um Geduld. „Es tut mir leid, Mrs Fontaine. Seine Identität wurde bestätigt. Es gibt wirklich keinen Zweifel an …“

„Aber Geoffrey war in London“, unterbrach sie ihn aufgeregt.

Ein langes Schweigen folgte. „Mrs Fontaine“, sagte der Mann dann mit irritierender Ruhe, „der Unfall ist in Berlin passiert.“

„Dann muss hier ein Irrtum vorliegen. Geoffrey war in London, das weiß ich ganz sicher. Er kann gar nicht in Deutschland gewesen sein!“

Wieder trat eine Pause ein, diesmal länger, und jetzt spürte Sarah, dass der Anrufer verwirrt war. Sie hatte den Hörer so fest an ihr Ohr gedrückt, dass sie einen Augenblick nur das Klopfen ihres eigenen Herzens vernahm. Da musste ein Irrtum vorliegen. Ein völliges Missverständnis. Geoffrey konnte nicht tot sein. Sie sah ihn vor sich, wie er über die absurde Meldung seines eigenen Todes lachen würde. Ja, sie würden darüber lachen, wenn er wieder zu Hause war.

„Mrs Fontaine, bitte“, sagte der Mann schließlich. „In welchem Hotel war Ihr Mann in London abgestiegen?“

„Im … im Savoy. Ich muss die Telefonnummer hier irgendwo haben … Ich muss schnell nachsehen …“

„Schon gut, ich werde sie selbst herausfinden. Ich werde mich telefonisch erkundigen. – Vielleicht sollten wir uns morgen früh treffen.“ Seine Worte klangen gemessen und vorsichtig, ausgesprochen mit der gefühllosen Routine eines Bürokraten, der gelernt hatte, nichts preiszugeben. „Könnten Sie bitte in mein Büro kommen?“

„Wie … wie komme ich dorthin?“

„Haben Sie einen Wagen?“

„Nein. Ich habe kein Auto.“

„Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.“

„Das ist ein Irrtum, nicht wahr? Ich meine … Sie machen doch auch Fehler, oder?“ Sarah wollte nur ein bisschen Hoffnung von ihm haben, einen dünnen Faden, an den sie sich klammern konnte. Wenigstens das hätte er ihr geben können. Zumindest ein bisschen Verständnis hätte er zeigen können.

Aber der Mann sagte nur: „Wir sehen uns dann morgen früh, Mrs Fontaine. So gegen elf Uhr.“

„Warten Sie, bitte! Es tut mir leid, ich kann gar nicht klar denken. Ihr Name … wie war er doch gleich?“

„Nicholas O’Hara.“

„Und wo ist Ihr Büro?“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, sagte er. „Der Fahrer wird Sie herbringen. Gute Nacht.“

„Mr O’Hara?“

Sarah hörte das Summen in der Leitung. Der Mann hatte bereits aufgelegt. Sie rief sofort das Savoy-Hotel in London an. Ein einziger Anruf, und die Sache wäre geklärt. Bitte, dachte sie, bis die Verbindung zustande kam, ich möchte deine Stimme hören …

„Savoy-Hotel“, sagte eine Frauenstimme auf der anderen Seite des Erdballs.

Sarahs Hand zitterte so stark, dass sie kaum den Hörer halten konnte. „Hallo. Verbinden Sie mich bitte mit Mr Geoffrey Fontaines Zimmer“, stieß sie hervor.

„Ich bedaure, gnädige Frau“, erklärte die Stimme, „aber Mr Fontaine ist vor zwei Tagen abgereist.“

„Abgereist?“, rief Sarah. „Wohin denn?“

„Er hat nichts hinterlassen. Falls Sie jedoch eine Nachricht übermittelt haben möchten, werden wir sie selbstverständlich an seine Heimatanschrift …“

Später wusste Sarah nicht, ob sie sich überhaupt verabschiedet hatte. Sie starrte das Telefon an, als wäre es etwas ganz Fremdes, etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Langsam glitt ihr Blick hinüber auf Geoffreys Kopfkissen. Das französische Bett schien sich endlos ausdehnen zu wollen.

Plötzlich war sie allein in einem viel zu großen Bett, allein in einer Wohnung, in der es viel zu still war. Ein Schauer durchrieselte sie, als der stumme Schmerz aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte den verzweifelten Wunsch zu weinen, aber die Tränen wollten nicht kommen.

Sarah warf sich mit dem Gesicht in die Kissen aufs Bett zurück. Die Bezüge waren eiskalt.

Vielleicht kam Geoffrey nie wieder nach Hause. Sie waren erst zwei Monate verheiratet …

Nick O’Hara trank bereits die dritte Tasse Kaffee und lockerte seine Krawatte. Nach zwei Wochen Urlaub, in denen er nichts anderes als eine Badehose getragen hatte, kam er sich mit der Krawatte wie in der Schlinge des Henkers vor. Er war erst seit drei Tagen zurück in Washington und schon wieder gereizt. Im Allgemeinen war ein Urlaub dazu da, neue Kräfte zu tanken, und deshalb war er ja auf die Bahamas geflogen. Er brauchte Zeit, um allein zu sein, sich ein paar wichtige Fragen zu stellen und die Antworten darauf zu finden.

Doch der einzige Schluss, zu dem er gekommen war, bestand darin, dass er sich unglücklich fühlte.

Nach achtjähriger Tätigkeit im Auswärtigen Amt hatte Nick O’Hara die Nase von seinem Job nur allzu voll. Aber das lag nicht ausschließlich an ihm. Mehr und mehr hatte er die Geduld für die politischen Spielereien des Staates verloren … Er war nicht in der Stimmung zu spielen. Er war trotzdem dabeigeblieben, weil er an seinen Job und dessen innere Werte glaubte. Von den Friedensmärschen seiner Jugendzeit war er im besten Alter von achtunddreißig Jahren an die Verhandlungstische für den Weltfrieden gelangt.

Aber Ideale, so hatte er feststellen müssen, führten nirgendwohin. Zum Teufel, die Diplomatie fußte nicht auf Idealen. Wie alles andere auch, lief sie auf den Schienen des Protokolls und parteiorientierter Politik. Während Nick sein protokollgerechtes Verhalten perfektioniert hatte, waren seine politischen Ansichten nicht konformgerecht. Es lag nicht an seinem Unvermögen, es lag an seinem Unwillen.

Nick wusste, in dieser Hinsicht war er ein schlechter Diplomat. Unglücklicherweise schienen die verantwortlichen Stellen darin mit ihm übereinzustimmen. Deshalb war er auf diesen unwichtigen Konsulatsposten in Washington versetzt worden und musste kürzlich verwitweten Frauen die schlechten Nachrichten übermitteln. Sicher, er hätte den Posten ablehnen können und wieder auf seinen bequemen Platz an der American University zurückkehren und dort lehren können. Darüber hatte er nachdenken müssen. Ja, diese zwei Wochen Alleinsein auf den Bahamas hatte er gebraucht.

Was er nicht gebraucht hatte, war, zurückzukommen und in diese Sache zu geraten.

Seufzend schlug er die Akte mit dem Namen Fontaine, Geoffrey H., auf. Eine Kleinigkeit hatte ihm den ganzen Morgen über zu denken gegeben. Seit ein Uhr nachts hatte er vor dem Computer gesessen und jede Einzelheit abgefragt, die er aus der Fülle der Regierungsunterlagen bekommen konnte. Eine halbe Stunde lang hatte er auch mit seinem Kollegen Wes Corrigan im Berliner Konsulat telefoniert. Enttäuscht hatte er sich dann einige weniger übliche Quellen zunutze gemacht. Was als Routinekondolenzanruf bei einer Witwe angefangen hatte, stellte sich als etwas viel Komplizierteres heraus – als Puzzle, in dem Nick nicht über alle Teilchen verfügte.

Wenn es darum ging, so viele Informationen wie möglich zu erhalten, konnte Nick unersättlich sein. Doch als er jetzt die Akte Fontaine zur Hand nahm, hatte er das Gefühl, nichts als Luft in den Händen zu halten – nichts von Bedeutung, außer einem Namen. Und einem Todesfall.

Er sah auf, als die Tür geöffnet wurde. Sein Kollege Tim Greenstein kam herein.

„Volltreffer! Ich habe es!“, sagte Tim. Er legte einen Ordner auf den Schreibtisch und sah Nick mit seinem breiten, etwas dümmlichen Grinsen an, für das er berühmt war. Die meiste Zeit über sah er mit diesem Grinsen auf seinen Computerbildschirm. Tim war eine Art Rettungsengel, der Mann, den jeder rief, wenn die Daten nicht dort waren, wo sie hingehörten. Dicke Brillengläser, die er als Folge eines schon in der Kindheit aufgetretenen grauen Stars tragen musste, verzerrten seinen Blick. Ein buschiger schwarzer Bart verdeckte fast völlig sein Gesicht und ließ nur die bleiche Stirn und die Nase frei.

„Ich sagte doch, ich bekomme es“, erklärte Tim triumphierend und ließ sich in den Nick gegenüberstehenden Ledersessel fallen. „Ich bat meinen Kumpel beim FBI, ein bisschen herumzuschnüffeln. Da er mir mit nichts dienen konnte, habe ich selbst herumgesucht. Es war wirklich nicht einfach, kann ich dir sagen, das aus den Geheimdaten herauszubekommen. Da sitzt so ein neuer Idiot, der seine Sache unbedingt richtig machen will.“

Nick runzelte die Stirn. „Du musstest dir das aus der Sicherheitsabteilung besorgen?“

„Tja. Da ist noch mehr, aber ich kam nicht durch. Ich bekam heraus, dass beim Staatssicherheitsdienst über deinen Mann eine Akte existiert.“

Nick klappte den Ordner auf und blickte erstaunt hinein. Was er sah, warf noch mehr Fragen auf. Fragen, auf die es keine Antworten zu geben schien. „Was zum Teufel soll das eigentlich bedeuten?“, murmelte er verwirrt.

„Das ist der Grund, weshalb du nichts über Geoffrey H. Fontaine finden konntest“, sagte Tim. „Bis vor einem Jahr hat der Kerl nicht einmal existiert.“

Nick sah auf. „Kannst du an noch mehr herankommen, Tim?“

„Hey, Nick, ich glaube, wir begeben uns da auf fremdes Terrain. Das könnte den Typen von der Firma ganz und gar nicht passen.“

„Dann sollen sie mich doch rankriegen.“ Nick ließ sich nicht im Mindesten durch den CIA einschüchtern. Nicht, seit er all die inkompetenten Typen der Firma getroffen hatte. „Egal“, meinte er schulterzuckend, „ich erledige nur meine Arbeit. Ich habe eine trauernde Witwe, wie du weißt.“

„Aber die Fontaine-Sache reicht ziemlich weit.“

„Du wagst dich ja auch sehr weit vor, Tim.“

Tim grinste. „Was ist mit dir los, Nick? Willst du auf einmal Detektiv spielen?“

„Nein. Ich bin nur neugierig.“ Er sah stirnrunzelnd auf den Schreibtisch, wo ein Berg von Arbeit auf ihn wartete. Es war der übliche, bürokratische Kleinkram, seine Hauptbeschäftigung, aber er musste erledigt werden. Am besten war es, der trauernden Witwe freundlich auf die Schulter zu klopfen, ein paar nette Worte zu murmeln und sie dann hinauszubegleiten. Danach konnte er die ganze Angelegenheit vergessen. Geoffrey Fontaine, oder wie er sonst heißen mochte, war eben tot.

Doch Tim hatte Nicks Neugierde geweckt. Er sah seinen Freund an. „Sag mal, was hältst du davon, mir ein paar Informationen über die Frau dieses Burschen zu besorgen? Sarah Fontaine. Vielleicht führt uns das auf irgendeine Spur.“

„Warum besorgst du dir sie nicht selbst?“

„Du bist der Einzige, der Zugang zu den ganz heißen Informationen hat.“

„Tja, aber du hast die Frau selbst“, Tim nickte zur Tür hin. „Ich habe mitbekommen, wie deine Sekretärin ihren Namen aufgeschrieben hat. Sarah Fontaine sitzt bereits in deinem Vorzimmer.“

Die Sekretärin war eine grauhaarige Frau mittleren Alters mit dunkelblauen Augen und einem schmallippigen Mund. Sie sah von ihrem Schreibtisch nur gerade so lange hoch, um Sarahs Namen aufzuschreiben und sie zu der nahe stehenden Couch zu weisen.

Neben der Couch lagen säuberlich auf einem Haufen die üblichen Zeitschriften, die in einem Vorzimmer anzutreffen waren, und außerdem einige Ausgaben der „Foreign Affairs“ und der „World Press Review“, auf denen noch die Adressetiketten klebten: Dr. Nicholas O’Hara.

Während sich die Sekretärin wieder ihrer Schreibarbeit widmete, sank Sarah in die Kissen der Couch und starrte blicklos auf ihre Hände, die sie in ihrem grauen Lieblingswollrock im Schoß gefaltet hatte. Da sie ihre Grippe noch nicht ganz überwunden hatte, trug sie einen dicken Pullover und fühlte sich trotzdem fröstelnd und miserabel.

Nach dem Telefonanruf in der vergangenen Nacht hatte der Schmerz sie übermannt. Jetzt fühlte sie sich nur noch benommen. Plötzlich sah das Leben für Sarah beängstigend aus.

Die Sprechanlage der Sekretärin summte, und eine Stimme sagte: „Angie? Bitten Sie Mrs Fontaine herein.“

„Ja, Mr O’Hara.“ Angie nickte Sarah zu. „Sie können jetzt hereingehen“, sagte sie.

Sarah setzte ihre Brille auf, erhob sich und ging in das angewiesene Büro. Sie trat ein und blieb sofort auf dem dicken Teppich stehen. Ruhig sah sie den Mann hinter dem Schreibtisch an.

Er stand vor dem Fenster. Die Sonne schien durch die dürren Bäume und blendete Sarah. Zuerst erkannte sie nur die Silhouette des Mannes. Er war groß und schlank, und seine Schultern hingen leicht nach unten – er wirkte müde. Er wandte sich vom Fenster ab und kam um den Schreibtisch herum, um sie zu begrüßen. Sein blaues Hemd war zerknittert, und eine nichtssagende Krawatte hing locker um seinen Hals, als hätte er daran gezerrt.

„Mrs Fontaine“, begann er, „ich bin Nick O’Hara.“ Sie erkannte augenblicklich die Stimme des nächtlichen Anrufers wieder, dieselbe Stimme, die zehn Stunden vorher ihre Welt erschüttert hatte.

Er reichte ihr die Hand mit einer Geste, die Sarah zu automatisch fand, eine bloße Formalität, die er zweifellos allen Witwen entgegenbrachte. Sie bemerkte jedoch, dass er einen festen Händedruck hatte.

Während er wieder auf das Fenster zuging, fiel das Licht voll auf sein Gesicht. Sie erkannte lange, schmale Gesichtszüge, ein gleichmäßiges Kinn und einen nüchternen Mund. Sarah schätzte ihn auf Ende dreißig, vielleicht älter. Sein dunkelbraunes Haar zeigte an den Schläfen graue Stellen. Unter den hellgrauen Augen lagen tiefe Ringe.

Er wies auf einen Stuhl. Während sie Platz nahm, fiel ihr auf, dass noch eine dritte Person im Zimmer war, ein Mann mit einer Brille und einem buschigen schwarzen Bart, der still auf einem Stuhl in der Ecke saß. Sie hatte ihn schon gesehen, als er vorher durch das Vorzimmer gekommen war.

Nick setzte sich auf die Schreibtischkante und blickte Sarah an. „Die Sache mit Ihrem Gatten tut mir sehr leid, Mrs Fontaine“, erklärte er sanft. „Es ist ein schrecklicher Schock, ich weiß. Die meisten Menschen wollen uns nicht glauben, wenn sie einen solchen Anruf erhalten. Ich hatte das Gefühl, ich sollte von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen sprechen. Ich habe ein paar Fragen. Und ich bin sicher, Sie auch.“ Er nickte mit dem Kopf in die Richtung des Mannes mit dem Bart. „Haben Sie etwas dagegen, wenn Mr Greenstein hierbleibt?“

Sarah zuckte die Schultern und fragte sich einen kurzen Moment lang, warum Mr Greenstein überhaupt anwesend war.

„Wir sind beide Staatsbeamte“, fuhr Nick fort. „Ich bin beim Außenministerium mit konsularischen Angelegenheiten beschäftigt, und Mr Greenstein arbeitet bei unserer technischen Hilfsabteilung.“

„Ich verstehe.“ Fröstelnd zog Sarah den Pullover enger um sich. Der Schüttelfrost fing wieder an, und ihr Hals tat weh. Warum war es in Regierungsbüros bloß immer so kalt?

„Geht es Ihnen nicht gut, Mrs Fontaine?“, fragte Nick besorgt.

Sie sah ihn elend an. „In Ihrem Büro ist es kühl.“

„Darf ich Ihnen einen Kaffee kommen lassen?“

„Nein, vielen Dank. Bitte, ich möchte nur etwas über meinen Mann erfahren. Ich kann es immer noch nicht glauben, Mr O’Hara. Ich bin der Meinung, hier stimmt etwas nicht. Es muss ein Irrtum vorliegen.“

Er nickte voller Sympathie. „Das ist die übliche Reaktion, anzunehmen, alles sei nur ein Irrtum.“

„Wirklich?“

„Ablehnung. Jeder macht das durch. Genau das empfinden auch Sie jetzt.“

„Aber Sie fordern doch nicht jede Witwe auf, in Ihr Büro zu kommen, oder? In Geoffreys Fall muss es um etwas anderes gehen.“

„Ja“, räumte er ein. „Das stimmt.“

Nick drehte sich um und nahm einen Aktenordner vom Schreibtisch auf. Nach kurzem Blättern holte er ein Blatt voller Notizen heraus. Die Handschrift war ein unleserliches Gekritzel. Es muss seine eigene sein, dachte Sarah. Niemand außer dem Schreiber selbst wäre in der Lage, das zu entziffern.

„Nachdem ich Sie angerufen habe, Mrs Fontaine, habe ich mich mit unserem Berliner Konsulat in Verbindung gesetzt. Was Sie gestern Nacht gesagt haben, hat mich nicht in Ruhe gelassen. So wenig, dass ich die Fakten nochmals überprüfen wollte.“

Die Pause, die O’Hara einlegte, ließ Sarah erwartungsvoll zu ihm aufsehen. Sie blickte in zwei ruhige Augen, die sie müde und besorgt beobachteten. „Ich habe mit Wes Corrigan, unserem Konsul in Berlin, gesprochen und notiert, was er mir erzählt hat.“

Er warf einen Blick auf seine Vermerke. „Gestern Abend gegen acht Uhr mitteleuropäischer Zeit meldete sich ein Mann namens Geoffrey Fontaine im Hotel Regina an. Er bezahlte mit einem Reisescheck. Die Unterschriften waren identisch. Er benutzte seinen Reisepass, um sich auszuweisen. Ungefähr vier Stunden später, gegen Mitternacht, traf die vom Hotel herbeigerufene Feuerwehr ein. Das Zimmer Ihres Mannes stand in Flammen. Bis man den Brand unter Kontrolle gebracht hatte, war der Raum völlig zerstört. Die offizielle Erklärung ist, Ihr Gatte sei eingeschlafen, während er im Bett rauchte. Ich fürchte, er ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.“

„Wie kann man dann so sicher sein, dass es sich um ihn handelt?“ Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie mit wachsender Verzweiflung zugehört. Aber Nick O’Hara hatte gerade viel zu viele andere Möglichkeiten angeschnitten. „Jemand hätte seinen Pass gestohlen haben können“, machte sie ihn aufmerksam.

„Mrs Fontaine, lassen Sie mich doch bitte zu Ende sprechen.“

„Aber Sie haben soeben gesagt, der Leichnam konnte nicht identifiziert werden.“

„Wir sollten versuchen, logisch vorzugehen.“

„Ich bin logisch!“

„Sie sind gefühlsbetont. Sehen Sie, es ist ganz normal, dass sich die Witwen an solche Strohhalme klammern, aber …“

„Ich bin noch gar nicht davon überzeugt, dass ich eine Witwe bin.“

Er hob abwehrend die Hände. „Gut, gut, sehen wir uns also die Beweise an. Die echten Beweise. Erstens: Man hat seinen Aktenkoffer in dem Zimmer gefunden. Er war aus Aluminium und feuerbeständig.“

„Geoffrey hat niemals so etwas besessen.“

„Der Inhalt hat den Brand überstanden. Der Pass Ihres Mannes war darin.“

„Aber …“

„Dann liegt der amtliche Befund vor. Ein Berliner Pathologe hat den Körper – nun ja, was davon übrig war – kurz untersucht. Obwohl man nicht auf Zahnunterlagen zurückgreifen konnte, war aber die Größe der Leiche mit der Ihres Gatten identisch.“

„Das bedeutet gar nichts.“

„Schließlich …“

„Mr O’Hara …“

„Schließlich“, sagte Nick mit plötzlichem Nachdruck, „haben wir ein letztes, an der Leiche selbst gefundenes Beweisstück. Ich bedauere, Mrs Fontaine, aber ich glaube, das wird Sie überzeugen.“

Am liebsten hätte Sarah sich sofort die Ohren zugehalten und ihn angeschrien, er solle schweigen. Bis jetzt hatten die Beweise sie nicht überzeugt. Aber sie konnte nicht mehr länger zuhören. Sie konnte es nicht ertragen, dass ihr jede Hoffnung schwand.

„Es war der Ehering. Die Inschrift war noch lesbar. Sarah. 14. 2.“ Er sah von seinen Notizen auf. „Das ist doch Ihr Hochzeitsdatum, nicht wahr?“

Alles verschwamm ihr vor den Augen, als die Tränen kamen. Stumm nickte sie mit dem Kopf. Die Brille rutschte ihr von der Nase und fiel in ihren Schoß. Blind suchte sie in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und merkte plötzlich, dass Nick O’Hara von irgendwoher eine ganze Schachtel Papiertücher geholt hatte.

„Nehmen Sie“, sagte er leise.

Er beobachtete sie, als sie sich die Tränen abwischte und irgendwie versuchte, sich auf eine dezente Weise zu schnäuzen. Unter seinem aufmerksamen Blick kam sie sich albern und linkisch vor. Selbst ihre Finger gehorchten ihr nicht richtig. Die Brille rutschte ihr jetzt vom Schoß und fiel auf den Boden. Ihre Tasche wollte nicht zuschnappen. Sie musste hier heraus. Sarah suchte hastig ihre Sachen zusammen und stand auf.

„Bitte, Mrs Fontaine, nehmen Sie wieder Platz. Ich bin noch nicht ganz fertig“, sagte Nick.

Wie ein gehorsames Kind kehrte Sarah zu ihrem Stuhl zurück und starrte zu Boden. „Falls es sich um die Begräbnisformalitäten handeln sollte …“

„Nein, darum können Sie sich später kümmern, wenn die Leiche zurückgeflogen worden ist. Da ist etwas anderes, was ich Sie fragen muss. Es handelt sich um die Reise Ihres Mannes. Warum war er in Europa?“

„Geschäftlich.“

„Welcher Art?“

„Er war … Vertreter der Bank von England.“

„Also viel auf Reisen?“

„Ja, das stimmt. Ungefähr einmal im Monat war er in London.“

„Nur in London?“

„Ja.“

„Erzählen Sie mir, warum er in Deutschland war, Mrs Fontaine.“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie müssen doch eine Ahnung haben.“

„Ich weiß es wirklich nicht.“

„War es seine Gewohnheit, Ihnen nicht zu sagen, wohin er fuhr?“

„Nein.“

„Warum hielt er sich dann in Deutschland auf? Es muss einen Grund dafür gegeben haben. Andere Geschäfte vielleicht? Andere …“

Sie hob rasch den Kopf. „Andere Frauen? Das wollten Sie doch fragen, nicht wahr?“

Nick antwortete nicht.

„Nicht wahr?“

„Es ist eine nicht unbegründete Vermutung.“

„Nicht bei Geoffrey!“

„Bei jedem.“ Er sah ihr fest in die Augen.

Sarah hielt seinem Blick stand.

„Sie waren insgesamt zwei Monate verheiratet“, stellte er fest. „Wie gut kannten Sie Ihren Gatten?“

„Kannte? Ich liebte ihn, Mr O’Hara.“

„Ich spreche nicht von Liebe, was immer das auch sein mag. Ich frage Sie, wie gut Sie Ihren Mann kannten, wer er war und was er machte. Wie lange ist es her, seit Sie sich kennenlernten?“

„Das war … ich glaube, vor sechs Monaten. Ich habe ihn in einem Café in der Nähe meines Arbeitsplatzes getroffen.“

„Und wo arbeiten Sie?“

„Beim NIH. Ich bin Mikrobiologie-Forscherin.“

Nicks Augen hatten plötzlich einen wachsamen Blick. „Welche Art von Forschungen?“

„Bakterielle Genome … Wir spalten Gene … Warum stellen Sie alle diese Fragen?“

„Unterliegen diese Forschungen der Geheimhaltung?“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum …“

„Sind diese Forschungen geheim, Mrs Fontaine?“

Der scharfe Ton seiner Frage schockierte sie, und sie sah ihn sprachlos an. Dann antwortete sie leise: „Ja. Einige schon.“

Er nickte und zog ein anderes Blatt aus den Unterlagen. Ruhig fuhr er fort: „Ich bat Mr Corrigan in Berlin, den Pass Ihres Mannes zu überprüfen. Wo man auch hinfliegt, bekommt man bei jedem neuen Grenzübertritt einen Einreisestempel. Der Pass Ihres Gatten wies verschiedene Stempel auf. London, Schiphol/Amsterdam und schließlich Berlin. Alle waren von letzter Woche. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum er diese Städte aufgesucht hat?“

Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

„Wann hat er Sie zum letzten Male angerufen?“

„Vor einer Woche, aus London.“

„Können Sie sicher sein, dass er in London war?“

„Nein. Es war natürlich ein Anruf ohne Vermittlung durch ein Fernamt.“

„Hatte Ihr Mann eine Lebensversicherung abgeschlossen?“

„Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Er hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt.“

„Zieht jemand Nutzen aus seinem Tod? In finanzieller Hinsicht, meine ich?“

„Ich glaube nicht.“

Nick hörte ihr mit gerunzelter Stirn zu, rutschte etwas auf der Schreibtischplatte zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und starrte einen Augenblick lang zur Seite. Sarah konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken die Fakten überschlug und die Einzelheiten sortierte. Sie war ebenso durcheinander wie er. Das ergab alles keinen Sinn. Geoffrey war ihr Mann gewesen, doch nun fing sie an, sich zu fragen, ob Nick O’Hara nicht recht hatte, dass sie Geoffrey nie richtig gekannt hatte. Alles, was Geoffrey und sie geteilt hatten, waren Bett und Tisch, aber nie ihre Herzen.

Nein, das stimmte auch nicht, es war Verrat an der Erinnerung an ihn. Sie glaubte an Geoffrey. Warum sollte sie diesem Fremden Glauben schenken? Warum erzählte dieser Mann ihr das alles? Stand hinter all dem eine ganz andere Absicht? Plötzlich missfiel ihr Nick O’Hara, ja sehr sogar. Er bombardierte sie mit all diesen Fragen aus einem ihr unbekannten Grund.

„Wenn Sie fertig sind …“, sagte Sarah verärgert und wollte erneut aufstehen.

Nick sah sie verwundert an, als hätte er ihre Gegenwart vergessen. „Nein. Noch nicht.“

„Es geht mir nicht besonders gut, und ich würde gern nach Hause fahren.“

„Haben Sie ein Bild Ihres Mannes?“, wollte Nick unvermittelt wissen.

Verwirrt durch diese Frage, öffnete Sarah ihre Handtasche und zog eine Fotografie aus ihrer Brieftasche. Geoffrey war darauf sehr gut getroffen; das Bild war während ihrer dreitägigen Hochzeitsreise am Strand von Florida aufgenommen worden. Mit leuchtenden blauen Augen schaute er direkt in die Kamera. Sein Haar war blond wie Gold, das schräg fallende Licht warf Schatten über sein ungewöhnlich gut aussehendes Gesicht. Er lächelte. Von Anfang an hatte sie sich zu diesem Gesicht hingezogen gefühlt – nicht nur des guten Aussehens wegen, sondern durch die Stärke und Intelligenz, die aus seinen Augen sprach.

Nick O’Hara nahm das Bild und betrachtete es schweigend. Sarah beobachtete ihn und dachte: Er ist so ganz anders als Geoffrey. Sein Haar ist nicht goldblond, sondern dunkelbraun, er lächelt auch nicht, sondern wirkt eher trocken, sachlich. Eine Aura der Besorgnis schien Nick O’Hara zu umgeben, ja des Unglücklichseins. Sie fragte sich, was er wohl beim Betrachten des Bildes denken mochte. Er zeigte keine Regung, und außer den Anzeichen von Müdigkeit konnte Sarah seinem Gesicht wenig entnehmen. Er hatte hellgraue undurchdringliche Augen.

Nick reichte das Foto kurz Mr Greenstein hinüber und gab es ihr dann schweigend zurück.

Sarah steckte es ein, machte ihre Tasche wieder zu und blickte ihn an. „Warum stellen Sie mir denn all diese Fragen?“

„Weil ich muss. Es tut mir auch leid für Sie, aber das ist wirklich notwendig.“

„Für wen?“, fragte sie ärgerlich. „Für Sie?“

„Und für Sie auch. Vielleicht sogar für Geoffrey.“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Es wird aber, wenn Sie den Berliner Polizeibericht kennen.“

„Gibt es noch etwas anderes?“

„Ja. Es betrifft die Todesumstände Ihres Gatten.“

„Aber Sie sagten doch, es sei ein Unfall gewesen.“

„Ich sagte, es sah wie ein Unfall aus.“ Während Nick sprach, beobachtete er sie aufmerksam, als fürchte er, eine ihrer Gemütsbewegungen zu übersehen, vielleicht ein Flackern in ihren Augen. „Als ich vor wenigen Stunden mit Mr Corrigan sprach, war eine neue Entwicklung eingetreten. Während einer Routineuntersuchung des Brandes wurden die Reste des Zimmers überprüft. Als man die Überbleibsel der Matratzen kontrollierte, stieß man auf eine Kugel.“

Sarah starrte Nick ungläubig an. „Eine Kugel?“, fragte sie. „Wollen Sie damit behaupten …“

Er nickte. „Man hat den Verdacht auf Mord.“

2. KAPITEL

Sarah wollte etwas sagen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Sie saß wie eine Statue auf ihrem Stuhl, unfähig, sich zu bewegen, außerstande, etwas anderes zu tun, als ihr Gegenüber fassungslos anzusehen.

„Ich dachte, Sie sollten es wissen“, sagte Nick. „Ich hätte es Ihnen in jedem Fall berichten müssen, weil wir jetzt Ihre Hilfe benötigen. Die Berliner Polizei erbittet Auskünfte über die Tätigkeit Ihres Mannes, seine Feinde … warum man ihn umgebracht haben könnte.“

Sarah schüttelte benommen den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern … Ich meine, ich weiß einfach nicht … Oh, mein Gott!“, flüsterte sie.

Die sachte Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter ließ Sarah zusammenzucken. Sie sah hoch und bemerkte Besorgnis in seinen Augen. Er befürchtet, ich könnte in Ohnmacht fallen, dachte sie. Er hat Angst, mir könnte schlecht werden und ich würde uns beide damit in Verlegenheit bringen.

Plötzlich verärgert schüttelte sie seine Hand ab. Sie brauchte von niemandem einstudiertes Mitleid. Sie musste jetzt allein sein – fort von diesen Bürokraten und deren unpersönlichen Aktenordnern. Unsicher stand sie auf. Nein, sie würde nicht in Ohnmacht fallen, nicht vor diesem Mann.

Nick ergriff ihren Arm und zwang sie sanft auf den Stuhl zurück. „Bitte, Mrs Fontaine. Noch eine Minute, mehr wird nicht nötig sein.“

„Lassen Sie mich gehen.“

„Mrs Fontaine …“

„Lassen Sie mich gehen!“, verlangte sie entschieden.

Ihr scharfer Ton schien ihn zu schockieren. Er ließ sie los, trat aber nicht zurück. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte Sie nicht bedrängen. Ich befürchtete nur, dass … nun …“

„Ja?“ Sie sah in seine hellgrauen Augen. Etwas, das sie darin erblickte – Festigkeit, Kraft –, erweckte in ihr wider Willen den Wunsch, ihm vertrauen zu können. „Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, wenn Sie das befürchtet hatten“, sagte sie. „Bitte, ich möchte jetzt nach Hause.“

„Ja, natürlich. Aber ich habe noch einige Fragen.“

„Und ich keine Antworten darauf. Begreifen Sie das nicht?“

Nick schwieg einen Moment. „Dann werde ich mich später mit Ihnen in Verbindung setzen“, sagte er. „Wir müssen uns über die Begräbnisformalitäten unterhalten.“

„Oh, ja. Das Begräbnis.“ Sarah stand auf und unterdrückte eine neue Flut von Tränen.

„Ich werde Sie mit unserem Wagen nach Hause bringen lassen, Mrs Fontaine.“ Er kam langsam auf sie zu, als fürchte er, sie zu erschrecken. „Es tut mir Ihres Gatten wegen leid. Wirklich leid. Bitte, rufen Sie mich an, falls Sie irgendwelche Fragen haben sollten.“

Sarah wusste, dass keines seiner Worte aus dem Herzen gesprochen war, dass keines echtes Mitleid enthielt. Nicholas O’Hara war Diplomat und sagte, was man ihm beigebracht hatte. Um welche Katastrophe es auch gehen mochte, das US-Außenministerium fand stets die passenden Worte. Wahrscheinlich hatte er dieselben Sätze schon zu Hunderten von Witwen gesagt.

Jetzt wartete er auf ihre Antwort. Sie tat, was von jeder Witwe erwartet wurde: Sie riss sich zusammen. Sarah nahm seine ausgestreckte Hand und dankte ihm. Dann drehte sie sich um und verließ das Büro.

„Glaubst du, sie weiß es?“

Nick starrte auf die Tür, die gerade hinter Sarah Fontaine ins Schloss gefallen war. Er drehte sich zu Tim Greenstein um. „Was soll sie wissen?“

„Dass ihr Mann ein Spion war?“

„Aber das wissen doch selbst wir nicht genau.“

„Mein lieber Nick, diese ganze Geschichte stinkt nach Spionage. Bis vor einem Jahr war Geoffrey Fontaine ein total unbeschriebenes Blatt. Dann taucht sein Name plötzlich auf einer Standesamtsliste auf, er hat eine brandneue Sozialversicherungsnummer, einen Pass und was sonst noch. Das FBI scheint nicht das Geringste zu wissen, aber der Geheimdienst führt seine Akte als Verschlusssache! Bin ich blöd oder was?“

„Vielleicht bin ich der Dumme“, brummte Nick. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Dann warf er einen finsteren Blick auf das Fontaine-Dossier. Natürlich hatte Tim recht. Die Sache stank zum Himmel. Spionage? Internationales Verbrechen? Ein ehemaliger Zeuge, der sich vor Verfolgern verbarg?

Wer zum Teufel war dieser Geoffrey Fontaine?

Nick rutschte tiefer in den Sessel und legte den Kopf gegen die Rückenlehne. Er war schrecklich müde. Aber Geoffrey Fontaine ging ihm nicht aus dem Kopf. Und Sarah Fontaine ebenso wenig.

Er war überrascht gewesen, als sie in sein Büro gekommen war. Er hatte eine aufgetakelte Dame erwartet. Ihr Mann war viel herumgekommen. An seiner Seite hätte man mit einer schicken und eleganten Frau gerechnet. Stattdessen war diese magere, eigenwillige Gestalt hereingekommen, die beinahe – aber nur beinahe – hübsch zu nennen war. Ihr Gesicht hatte zu viele Kanten: hohe, scharfe Wangenknochen, eine schmale Nase, die breite Stirn. Ihr langes, fülliges Haar war kupferrot und sah selbst streng zurückgekämmt schön aus. Ihre Hornbrille hatte ihn irgendwie belustigt. Dahinter lagen zwei bernsteinfarbene Augen – das Schönste an ihrem ganzen Gesicht. So ganz ohne Make-up und mit der bleichen, zarten Haut wirkte sie viel jünger als die schätzungsweise dreißig Jahre, die sie bestimmt war.

Nein, sie war wirklich nicht hübsch. Doch das ganze Gespräch über hatte Nick sie ansehen müssen und sich Gedanken über ihre Ehe gemacht. Und über sie. Sarah Fontaine.

Tim stand auf. „Hey, diese ganze Traurigkeit macht mich hungrig. Lass uns in die Kantine gehen.“

„Nicht dahin. Lass uns ausgehen.“ Nick zog sich seine Jacke an, und zusammen verließen sie das Büro, gingen an Angie vorbei und auf die Treppe zu.

Als sie draußen über die Straße gingen, blies ihnen der frische Frühlingswind ins Gesicht. An den Kirschbäumen standen die Knospen kurz vor dem Aufbrechen. In einer Woche würde die ganze Stadt in einem rosafarbenen und weißen Blütenmeer ertrinken.

„Wohin gehen wir, Nick?“, fragte Tim.

„Was hältst du von Mary Jo?“

„Dieser Bioladen? Warum, machst du eine Diät oder so etwas?“

„Nein, aber dort ist es ruhig. Ich möchte im Moment keinen Lärm um mich haben.“

Nach zwei Häuserblocks hatten sie das Restaurant erreicht und nahmen an einem Tisch Platz. Fünfzehn Minuten später brachte die Kellnerin ihnen die mit hausgemachtem Dressing angerichteten Salate.

Tim piekste mit der Gabel hinein und seufzte. „Dieses Kaninchenfutter! Da ziehe ich ja selbst einen fettigen Hamburger noch vor!“ Er stopfte sich etwas Salat in den Mund und sah Nick über den Tisch hinweg an. „Also, was fällt dir auf die Nerven? Geht dir der neue Posten bereits gegen den Strich?“

„Das war eine gewaschene Ohrfeige und nichts anderes“, erklärte Nick bitter. Er trank seine Tasse Kaffee aus und bat die Kellnerin, ihm noch einen Kaffee zu bringen. „Vom zweitwichtigsten Londoner Posten verbannt man mich zum Papieresortieren hier in Washington.“

„Warum bist du dann nicht zurückgetreten?“

„Genau das überlege ich. Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt dieses Ekel Ambrose vor der Nase habe!“

„Ist er noch verreist?“

„Noch eine Woche. So lange kann ich den Job immerhin auf meine Art machen, ohne den ganzen bürokratischen Unsinn.“

Vom ersten Tag an waren Nick und Ambrose nicht miteinander ausgekommen. Charles Ambrose liebte die bürokratische Umständlichkeit, während Nick stets darauf bestand, gleich zur Sache zu kommen, wie unangenehm sie auch sein mochte. Eine Konfrontation war also unvermeidlich.

„Dein Problem ist, Nick, dass du zwar studiert hast, aber nicht so überkandidelt daherredest wie all die anderen. Du hast die alle durcheinandergebracht. Man schätzt hier keine Leute, die Klartext reden. Außerdem bist du auch noch überzeugter Liberaler.“

„So? Du doch auch.“

„Aber ich gelte ohnehin als notorischer Trottel, dem man vieles nachsieht. Und sollte man das nicht tun, dann blockiere ich ihnen einfach ihre Computer.“

Nick lachte und freute sich plötzlich über die Gesellschaft seines alten Kumpels Tim. Die vier Jahre, die sie während des Studiums Zimmergenossen gewesen waren, hatten eine starke Bindung hinterlassen. Selbst nach acht Jahren Auslandsaufenthalt fand Nick nach seiner Rückkehr Tim Greenstein noch genauso jovial und liebenswert wie früher.

Er nahm seine Gabel und aß seinen Salat zu Ende.

„Wie willst du dich also im Fall Fontaine verhalten, Nick?“, fragte Tim während der Nachspeise.

„Ich werde meine Arbeit tun und mich mit der Sache befassen.“

„Wirst du es Ambrose sagen? Er wird darüber informiert werden wollen. Ebenso wie die Typen von der Firma, falls sie es nicht ohnehin schon wissen.“

„Das können die selbst herausfinden. Es ist mein Fall.“

„Auf mich wirkt es wie Spionage, Nick. Das ist nicht gerade eine konsularische Angelegenheit.“

Der Gedanke jedoch, Sarah Fontaine an irgendeinen CIA-Untersuchungsbeamten weiterzureichen, gefiel Nick gar nicht. Sie wirkte so zerbrechlich, so verletzbar. „Es ist mein Fall“, wiederholte er.

Tim grinste. „Ach, die Witwe Fontaine. Könnte es sein, dass sie dein Typ ist? Obwohl ich nicht ganz sehe, was du an ihr finden könntest. Und was ich noch weniger begreife, ist, wie sie sich diesen Mann geangelt hat. Das war doch wirklich ein blonder Adonis! Bestimmt nicht der Typ, der hinter Frauen mit Hornbrillen her war. Meine Schlussfolgerung ist, er hat sie aus anderen als den üblichen Gründen geheiratet.“

„Den üblichen? Meinst du Liebe?“

„Nicht doch – Sex.“

„Worauf zum Teufel willst du hinaus?“

„Hm. So empfindlich? Du magst sie, nicht wahr?“

„Kein Kommentar.“

„Mir scheint, dein Liebesleben liegt seit deiner Scheidung reichlich brach.“

Nicks Kaffeetasse klirrte, als er sie hinstellte. „Was sollen eigentlich all diese Fragen?“

„Ich versuche nur herauszufinden, was mit dir los ist, Nick. Hast du nicht davon gehört? Es ist jetzt in: Männer schütten sich gegenseitig ihr Herz aus.“ Tim sah seinen Freund mitfühlend an. „Ich muss dir leider sagen, Nick, dass du etwas dagegen machen solltest. Du kannst nicht einfach herumsitzen und den Rest deines Lebens als Einsiedler verbringen.“

„Weshalb nicht?“

Tim lachte. „Weil wir beide, verdammt noch mal, zu gut wissen, dass auch du bestimmte Bedürfnisse hast!“

Tim hatte recht. Seit seiner Trennung von Lauren vor vier Jahren war Nick jeder engeren Beziehung mit einer Frau aus dem Wege gegangen, in sexueller wie sonstiger Hinsicht, und das merkte man ihm an. Er war reizbar geworden.

„Hast du wieder etwas von Lauren gehört?“, fragte Tim.

Nick sah mit einem finsteren Blick auf. „Ja. Vergangenen Monat. Sie erklärte mir, sie würde mich vermissen. Ich glaube, in Wirklichkeit vermisst sie nur das Diplomatenleben.“

„Aha, sie hat dich also angerufen. Das klingt doch vielversprechend. Mir scheint, es bahnt sich eine Aussöhnung an.“

„Ach, tatsächlich? Auf mich hat es eher gewirkt, als würde sich ihre letzte Liebschaft nicht wie geplant entwickeln.“

„So oder so, es ist offensichtlich, dass ihr die Scheidung leidtut. Hast du dich wieder bei ihr gemeldet?“

Nick schob die Reste seiner Mousse au Chocolat beiseite. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich habe mich nicht danach gefühlt.“

Tim lehnte sich zurück und lachte. „Du hast dich nicht danach gefühlt!“ Er seufzte vor sich hin. „Vier Jahre stöhnt und jammert er über seine Scheidung, und jetzt sagt er mir das ins Gesicht!“

„Hör mal, immer wenn sich etwas nicht nach Laurens Wünschen entwickelt, beschließt sie, den lieben, alten Nick, ihren stets gehorsamen Trottel, anzurufen. Das wird mir zu viel. Ich habe ihr erklärt, ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Weder ihr noch sonst jemandem.“

Tim schüttelte den Kopf. „Du hast den Frauen abgeschworen. Das ist ein ganz schlechtes Zeichen.“

„Daran ist noch niemand gestorben“, brummte Nick, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und stand auf. Im Augenblick interessierten ihn Frauen ohnehin nicht. Er hatte viel zu viel anderes im Kopf, und ganz sicher konnte er keine neue, unglückliche Liebesaffäre gebrauchen.

Aber auf dem Rückweg unter den Kirschbäumen musste er wieder an Sarah Fontaine denken. Nicht an Sarah, die trauernde Witwe, sondern an Sarah, die Frau. Der Name passte zu ihr. Sarah mit den Bernsteinaugen.

Schnell verdrängte Nick diese Gedanken. Von allen Frauen in Washington sollte sie die letzte sein, an die er dachte. Bei seiner Art von Tätigkeit war Objektivität der Schlüssel zum Erfolg. Ob er nun ein Visum ausstellte oder sich vor einem Magistrat über einen irgendwo in der Welt eingesperrten Amerikaner herumstritt, stets war es ein Fehler, sich dabei persönlich zu engagieren. Nein, für ihn war Sarah Fontaine nichts anderes als ein in Unterlagen verzeichneter Name.

Und das würde auch so bleiben müssen.

* * *

Amsterdam

Der alte Mann liebte Rosen. Er liebte den samtenen Duft der Blütenblätter, die er oft zupfte und zwischen seinen Fingern zerrieb. Sie waren so kühl, so wohlriechend, nicht wie diese faden Tulpen, die sein Gärtner an den Rändern des Ententeiches gesetzt hatte. Tulpen bestanden nur aus Farben, sie hatten keinen Charakter. Sie schossen in die Höhe, blühten und verwelkten gleich wieder. Aber die Rosen! Sie widerstanden selbst dem Winter, nackt und dornig, wie zornige alte Frauen, die sich vor der Kälte duckten.

Er blieb zwischen den Rosensträuchern stehen, atmete tief ein und genoss den Geruch der feuchten Erde. In wenigen Wochen würden die Knospen aufbrechen. Wie seine Frau diesen Garten geliebt hätte! Er stellte sie sich vor, an genau dieser Stelle, wie sie die Rosen anlächelte. Sie hätte ihren alten Strohhut aufgehabt, ihre Schürze mit den vier Taschen getragen, und in der Hand hätte sie ihr Plastikkörbchen gehalten. „Meine Uniform, Frans“, hatte sie damals gesagt. „Ich bin wie ein alter Soldat, der den Kampf gegen die Schnecken und Käfer aufnimmt.“ Er erinnerte sich, wie die Rosenschere gegen ihr Körbchen zu klappern pflegte, wenn sie die Treppen ihres alten Hauses herunterging – des Hauses, das er verlassen hatte. Nienke, meine süße Nienke, dachte er. Wie sehr ich dich vermisse!

„Heute ist ein kalter Tag“, sagte eine Stimme auf Holländisch. Der Alte drehte sich um und sah dem jungen blonden Mann entgegen, der durch die Sträucher auf ihn zukam. „Kronen“, sagte er, „endlich bist du da.“

„Es tut mir leid, meneer. Ich bin einen Tag zu spät, aber es ging nicht anders.“ Kronen nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte gen Himmel. Wie immer vermied er auch diesmal, dem alten Mann direkt ins Gesicht zu sehen, es machte ihn stets aufs Neue verlegen. Schon seit fünf Jahren sah dem Alten niemand mehr voll in die Augen. Fünf Jahre, in denen es unmöglich gewesen war, jemandes Blick aufzufangen, ohne darin das unvermeidliche Erschrecken zu entdecken. Selbst Kronen, der für ihn fast wie ein Sohn geworden war, sah absichtlich irgendwo anders hin. Aber junge Menschen aus Kronens Generation machten ohnehin viel zu viel Aufhebens um Äußerlichkeiten.

„Ich nehme an, in Basra ist alles gut gegangen“, sagte der alte Mann.

„Ja. Geringfügige Verzögerungen, sonst nichts. Und dann gab es Probleme mit der letzten Lieferung … die Computerchips im Zielmechanismus … Eine der Raketen klinkte nicht ein.“

„Wie dumm.“

„Ja. Ich habe darüber bereits mit dem Hersteller gesprochen.“

Sie schlenderten den Weg von den Rosensträuchern zum Ententeich hinunter. Die kalte Luft ließ die Kehle des Alten rau werden. Er wickelte sich den Schal enger um den Hals und hüstelte. „Ich habe einen neuen Auftrag für dich“, sagte er. „Eine Frau.“

Kronen blieb plötzlich interessiert stehen. Im Sonnenlicht wirkten seine Haare fast weiß. „Wo ist sie?“

„Sie heißt Sarah Fontaine. Geoffrey Fontaines Frau. Ich möchte, dass du herausfindest, welche Verbindungen sie hat.“

Kronen runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht. Man sagte mir, Fontaine sei tot.“

„Beschatte sie trotzdem. Mein amerikanischer Informant ließ mich wissen, sie habe ein kleines Apartment in Georgetown. Sie ist Mikrobiologin und zweiunddreißig Jahre alt. Außer durch ihre Heirat hat sie keine offensichtlichen Verbindungen mit dem Geheimdienst. Aber da kann man nie sicher sein.“

„Kann ich mit diesem Informanten Kontakt aufnehmen?“

„Nein. Seine Stellung ist zu – prekär.“

Kronen nickte und ließ umgehend das Thema fallen. Er hatte lange genug für den alten Mann gearbeitet, um zu wissen, wie solche Dinge gehandhabt wurden. Jeder hatte sein eigenes Gebiet, sein eigenes kleines Reich, in dem er tätig war. Man durfte nie versuchen, seine Grenzen zu überschreiten. Selbst Kronen, sosehr man ihm auch vertraute, sah nur einen kleinen Teil des Ganzen. Lediglich der Alte überblickte alles.

Sie gingen gemächlich am Ufer des Teiches entlang, dessen Wasser eine trübe graue Farbe angenommen hatte. Wo war auf einmal die Sonne? Ohne Kronen anzusehen, sagte der Alte: „Ich möchte alles über diese Frau wissen. Reise sofort ab.“

„Natürlich.“

„Sei vorsichtig in Washington. Wie ich höre, ist die Verbrechensrate dort scheußlich gestiegen.“

Kronen lachte, als er sich zum Gehen wandte. „Tot ziens, meneer.“

Der alte Mann nickte. „Bis bald.“

Das Laboratorium, in dem Sarah arbeitete, war makellos. Alle Mikroskope waren blitzblank, die Arbeitsflächen und Abflussbecken wurden wiederholt desinfiziert, und die Brutkammern wurden zweimal täglich gereinigt. Nirgendwo gab es ein Fenster, sodass man überall bei Kunstlicht arbeitete. Ob draußen Mittag oder Mitternacht war, hier drinnen wusste man das nie. Außer dem Summen des Kühlschrankes herrschte Totenstille im Labor.

Im Korridor näherten sich die klappernden Schritte einer Frau. Die Tür wurde aufgestoßen.

„Sarah? Was machst du denn hier?“

Sarah drehte sich zu ihrer Freundin Abby Hicks um, die mit ihrer Körpergröße fast ganz den Türrahmen ausfüllte.

„Ich hole nur ein bisschen Arbeit auf“, erklärte Sarah. „Seit ich fort war, hat sich so viel aufgetürmt …“

„Um Himmels willen, Sarah! Das Labor kommt auch ohne dich für ein paar Wochen aus. Es ist schon acht Uhr. Ich kümmere mich um die Kulturen. Geh nach Hause.“

Sarah schloss den Kasten mit den Objektträgern. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich nach Hause möchte“, murmelte sie. „Da ist es mir zu still. Ich glaube, ich bin lieber hier.“

„Na hör mal, das Labor ist nicht gerade ein Tollhaus. Hier herrscht so viel Leben wie auf einem Friedhof …“ Sofort biss sich Abby errötend auf die Unterlippe. Selbst im Alter von fünfundfünfzig Jahren konnte Abby noch rot werden wie ein Schulmädchen. „Entschuldige den Ausdruck“, murmelte sie verlegen.

Sarah lächelte. „Das macht nichts, Abby.“

Einen Moment lang sagte keine der beiden Frauen etwas. Sarah stand auf und öffnete den Inkubator, um den Objektträger, an dem sie gerade gearbeitet hatte, hineinzutun.

„Wie geht es dir denn?“, fragte Abby dann leise.

Sarah schloss den Inkubator, nachdem sie das Glasscheibchen hineingetan hatte. Seufzend drehte sie sich um und sah ihre Freundin an. „Ich komme zurecht, danke, Abby.“

„Wir alle haben dich vermisst. Aber ich glaube, jeder fürchtete sich ein wenig davor, dich anzurufen. Keiner von uns weiß so recht, wie er dir seine Anteilnahme ausdrücken soll. Aber es geht uns allen wirklich sehr nahe, Sarah.“

Sarah nickte dankbar. „Oh Abby, ich weiß, dass es euch leidtut.“ Traurig blickte sie sich im Raum um. „Aber ich dachte, es sei das Beste, wieder zur Arbeit zurückzukommen.“

„Manche Menschen brauchen die gewohnte Arbeit, andere müssen eine Zeit lang Ruhe haben.“

„Vielleicht sollte ich das tun, eine Weile aus Washington wegfahren. Weg von all den Orten, die mich an ihn erinnern …“ Sarah schluckte, als der Schmerz sie erneut zu überkommen drohte, und versuchte ein Lächeln. „Meine Schwester hat mich zu sich nach Oregon eingeladen. Weißt du, ich habe meinen Neffen und meine Nichten schon jahrelang nicht mehr gesehen. Sie sind bestimmt sehr gewachsen.“

„Dann fahr doch. Sarah, es ist nicht einmal zwei Wochen her! Du musst die Zeit verstreichen lassen. Fahr zu deiner Schwester und wein dich richtig aus.“

„Ich habe viel zu viele Tage geweint. Ich habe zu Hause gesessen und mich gefragt, wie ich das alles durchstehen werde. Ich kann es noch immer nicht ertragen, seine Sachen im Schrank hängen zu sehen.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Es ist nicht allein die Tatsache, ihn verloren zu haben, die so schmerzt. Es ist der Rest …“

„Du meinst die Sache mit Berlin?“

Sarah nickte. „Ich werde verrückt, wenn ich noch länger darüber nachdenke. Deshalb bin ich heute Abend hergekommen – um mich von der ganzen Geschichte abzulenken. Ich fand es an der Zeit, mich wieder zu beschäftigen.“ Sie starrte den Stapel Laborbücher neben ihrem Mikroskop an. „Aber es ist eigenartig, Abby. Ich bin immer gern hier gewesen, doch ich kann mir jetzt plötzlich nicht mehr vorstellen, den Rest meines Lebens in diesem Labor zu arbeiten. Geoffrey und ich hatten so wenig Zeit miteinander! Drei Tage für unsere Hochzeitsreise, das war alles. Und jetzt werden wir nie wieder eine Gelegenheit haben.“

Seufzend ging Sarah an ihren Sitzplatz zurück und knipste die Mikroskoplampe aus. Leise fügte sie hinzu: „Und ich werde wahrscheinlich nie richtig erfahren, warum er …“ Sie setzte sich hin, ohne ihren Satz zu beenden.

„Hast du noch etwas vom Außenministerium gehört?“, fragte Abby nach einer Weile.

„Dieser Mann hat gestern wieder angerufen. Die Polizei in Berlin hat die … die Leiche endlich freigegeben. Sie trifft morgen hier ein.“ Sarahs Augen füllten sich mit Tränen. Sie senkte den Kopf und versuchte, das Weinen zu unterdrücken. „Die Beerdigung findet am Freitag statt. Kommst du?“

„Natürlich werde ich da sein. Wir kommen alle. Ich werde dich hinfahren, einverstanden?“ Abby kam zu der Freundin und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Alles ist noch so frisch, Sarah. Du hast allen Grund zu weinen.“

„Um seinen Tod sind so viele Umstände, die ich nie begreifen werde, Abby. Dieser Mann vom Außenministerium – er bedrängte mich nach Erklärungen, und ich konnte ihm keine einzige geben. Oh, ich weiß, er macht nur seinen Job, aber er hat diese Möglichkeiten angedeutet, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich habe angefangen, mir über Geoffrey Gedanken zu machen. Mehr und mehr.“

„Du bist ja nicht so lange verheiratet gewesen, Sarah. Mein Mann Heck und ich waren dreißig Jahre miteinander verheiratet, ehe wir uns trennten, und ich bin bei dem Kerl nie ganz durchgestiegen. Es ist doch nicht überraschend, dass du von Geoffrey nicht alles gewusst hast, was es zu wissen gab.“

„Aber er war mein Mann!“

Abby schwieg einen Moment, ehe sie zögernd sagte: „Weißt du, Sarah, da war immer etwas an ihm … Ich meine, ich hatte nie den Eindruck, ihn richtig kennenlernen zu können.“

„Er war zurückhaltend, Abby.“

„Nein, das war nicht nur Zurückhaltung. Mir schien, als wolle er nichts von sich preisgeben. Als ob …“ Sie sah Sarah an. „Ach, es ist nicht wichtig.“

Doch Sarah dachte bereits über Abbys Worte nach. An ihrer Beobachtung war etwas Wahres dran. Geoffrey war ein zurückhaltender Mensch gewesen, der sich nicht gern auf längere oder aufschlussreichere Gespräche einließ. Er hatte auch nie viel über sich selbst gesprochen. Stets hatte er mehr Interesse an ihrer Person gezeigt – an ihrer Arbeit, an ihren Freunden. Dieses Interesse hatte sehr schmeichelhaft auf sie gewirkt, als sie sich kennenlernten. Von allen Männern, die sie gekannt hatte, war Geoffrey der Erste, der ihr wirklich zugehört hatte.

Dann tauchte plötzlich aus unerfindlichen Gründen ein anderes Gesicht vor ihr auf: Nick O’Hara. Ja, so hieß er. Und dann fiel ihr wieder sehr lebhaft ein, wie er mit den grauen Augen jede ihrer Gemütsbewegungen aufgenommen hatte. Ja, auch er hatte zugehört, aber schließlich war das seine Aufgabe. Sie wollte nicht mehr an ihn denken. Sie wollte nie mehr mit ihm zu tun haben.

Sarah zog die Plastikhaube über das Mikroskop. Sie überlegte, ob sie ihre Unterlagen mit zu sich nach Hause nehmen sollte. Doch als sie die offene Seite überflog, schienen ihr die Eintragungen symbolisch für ihre Lebensweise zu sein – sauber, ordentlich und genau innerhalb der vorgegebenen Grenzen.

Sie klappte das Buch zu und stellte es in das Regal zurück.

„Ich glaube, ich fahre nach Hause“, erklärte sie.

Abby nickte zustimmend. „Gut. Es hat keinen Sinn, wenn du dich hier vergräbst. Vergiss die Arbeit für eine Weile.“

„Bist du sicher, dass du mit der zusätzlichen Arbeit klarkommen wirst?“

„Natürlich.“

Sarah zog ihren Laborkittel aus und hängte ihn neben der Tür an den Haken. Wie alles andere in diesem Raum sah auch ihr Kittel viel zu sauber, viel zu ordentlich aus. „Vielleicht nehme ich mir nach dem Begräbnis eine Weile frei. Noch eine Woche, oder vielleicht sogar einen Monat.“

„Bleib nicht zu lange fort“, bat Abby. „Wir möchten dich wiederhaben.“

Sarah warf einen letzten Blick auf das Labor, um sicher zu sein, dass alles seine Ordnung hatte. Alles war in tadellosem Zustand. „Ich komme zurück“, versprach sie. „Ich weiß allerdings nicht, wann.“

3. KAPITEL

Der Duft von Blumen erfüllte die Luft. Auf dem Gras zu Sarahs Füßen lag ein Kranz aus Nelken, Gladiolen und Lilien. Den Rest ihres Lebens würde ihr dieser Geruch Übelkeit verursachen. Er würde ihr diesen Hügel und die Marmorsteine ins Gedächtnis zurückrufen, die aus dem kurz geschorenen Rasen und dem Dunst, der über dem Tal hing, herausragten. Mehr noch, er würde ihr stechenden Schmerz verursachen. Alles andere – die Ansprache des Priesters, den beruhigenden Druck, mit dem ihre liebe Freundin Abby ihren Arm hielt, selbst die ersten fallenden, kalten Regentropfen auf ihrem Gesicht – nahm sie kaum wahr. Neben dem tiefen Schmerz war alles andere belanglos.

Sarah zwang sich, nicht auf den Erdhaufen vor sich zu sehen, sondern starrte fest auf den dem Tal gegenüberliegenden Berg. Durch den Dunst konnte man einen schwachen rosafarbenen Schimmer wahrnehmen. Die Kirschbäume blühten. Aber der Anblick stimmte sie noch trauriger. Es war Frühling, und Geoffrey würde ihn nicht erleben.

Die Stimme des Priesters wurde leiser und leiser und ging in ein unangenehmes Brummen über. Der kalte Nieselregen stach Sarah auf die Wangen und ließ ihre Brillengläser beschlagen. Nebel stieg auf und entzog die Welt ihrem Blick.

Ein sanfter Stoß von Abby brachte Sarah wieder in die Realität zurück. Der Sarg war in die Erde gesenkt worden. Dies waren ihre Freunde, aber in ihrem Schmerz erkannte Sarah sie kaum. Selbst Abby war jetzt eine Fremde für sie.

Sarah bückte sich automatisch und nahm eine Handvoll Erde. Sie war feucht, schwer und roch nach Regen. Dann warf sie sie in das Grab. Das Gepolter auf dem Sarg ließ sie zusammenzucken.

Gesichter glitten an ihr vorbei, schemenhaft wie Geister. Ihre Freunde waren verständnisvoll. Sie sprachen mitfühlend mit ihr. Sarah stand alles mit trockenen Augen und einem Gefühl der Benommenheit durch. Der Duft der Blumen und der sie umgebende Dunst benebelten ihr die Sinne, und sie nahm nichts richtig wahr, bis sie sich dann irgendwann umsah und feststellte, dass alle anderen bereits gegangen waren. Nur sie und Abby standen noch am Grab.

„Es fängt an zu regnen“, sagte Abby.

Sarah sah zum Himmel und bemerkte, dass er von den Wolken wie mit einem kalten, bleifarbenen Tuch überzogen war. Abby legte ihren kräftigen Arm um Sarahs Schultern und drängte sie sanft in Richtung Parkplatz.

„Wir könnten jetzt beide eine Tasse Tee brauchen“, sagte Abby. Tee war ihr Allheilmittel. „Eine Tasse Tee, und dann können wir uns unterhalten.“

„Ja, das klingt gut“, stimmte Sarah zu.

Arm in Arm schlenderten sie langsam über den Rasen. „Ich weiß, du wirst es mir nicht glauben wollen“, sagte Abby, „aber der Schmerz geht vorbei, Sarah. Wirklich. Wir Frauen sind in dieser Hinsicht sehr stark. Wir müssen es sein.“

„Und wenn ich es nicht bin?“

„Du bist es. Zweifle nicht daran.“

Sarah schüttelte den Kopf. „Im Augenblick habe ich meine Zweifel an allem und jedem.“

„Aber mir traust du doch?“

Sarah blickte in Abbys breites, regennasses Gesicht und lächelte. „Dir? Natürlich.“

„Gut. Wenn du erst einmal in mein Alter kommst, wirst du sehen, dass es alles …“ Plötzlich blieb Abby wie angewurzelt stehen und sah angestrengt in den Nebel. Sarah folgte ihrem Blick.

Durch die Dunstschleier kam ein Mann auf sie zu.

Sarah sah auf sein windzerzaustes Haar und den grauen Regenmantel, von dem die Wassertropfen herunterperlten. Er musste schon lange draußen gestanden haben, wahrscheinlich die ganze Beerdigung über. Die Kälte hatte sein Gesicht gerötet.

„Mrs Fontaine?“, sprach er sie an.

„Hallo, Mr O’Hara.“

„Entschuldigen Sie, ich weiß, es ist ein unpassender Augenblick, aber ich versuche seit zwei Tagen, Sie zu erreichen. Sie haben auf meine Anrufe nicht reagiert.“

„Nein“, bestätigte Sarah, „das habe ich nicht.“

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Es hat einige neue Entwicklungen gegeben, und ich meine, Sie sollten davon wissen.“

„Sarah, wer ist denn dieser Mann?“, wollte Abby wissen.

Nick wandte sich an die ältere Frau. „Ich bin Nick O’Hara vom Außenministerium. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern einen Moment allein mit Mrs Fontaine sprechen.“

„Aber vielleicht will sie nicht mit Ihnen sprechen.“

Er wandte sich wieder an Sarah. „Es ist wichtig.“

Etwas an der Art, wie er sie so entschlossen anschaute, brachte Sarah dazu, ihre Meinung zu ändern. Eigentlich hatte sie nie wieder mit ihm sprechen wollen. Während der letzten zwei Tage hatte ihr Anrufbeantworter sein halbes Dutzend Anrufe registriert, und sie hatte sie allesamt ignoriert. Geoffrey war tot und begraben, dieser Schmerz reichte. Und Nick O’Hara würde mit seinen unbeantworteten Fragen gewiss alles nur noch schlimmer machen.

„Bitte, Mrs Fontaine.“

Schließlich nickte Sarah. Mit einem Blick auf Abby sagte sie: „Ist schon in Ordnung.“

„Nun, du kannst nicht plaudernd hier draußen herumstehen. Demnächst wird es schütten.“

„Ich kann sie nach Hause fahren“, sagte Nick zu Abby. Bei ihrem argwöhnischen Blick lächelte er. „Wirklich, vertrauen Sie mir. Ich werde mich um sie kümmern.“

Abby schloss Sarah ein letztes Mal in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich werde dich heute Abend anrufen, Liebes. Lass uns morgen zusammen frühstücken.“ Dann drehte sie sich sichtlich widerstrebend um und ging auf ihren Wagen zu.

„Sie müssen frieren“, sagte Nick. „Lassen Sie mich Sie nach Hause bringen.“

Sanft nahm er Sarahs Arm und führte sie zu seinem Volvo. Sie stiegen ein, und Nick ließ den Wagen an. Ein warmer Luftstrom kam aus der Heizung und wärmte sie beide, während sie langsam die gewundene Straße vom Friedhof herunterfuhren.

„Heute Morgen sah das Wetter noch recht gut aus“, sagte Sarah und blickte in den trüben Regen hinaus.

„Unberechenbar, wie alles andere auch.“

Nick bog sanft auf den nach Washington führenden Highway ein. Er war ein ruhiger Fahrer, seine Hände lagen fest um das Lenkrad. Er war ein Mensch, der gewiss nie ein Risiko einging. Die Wärme tat Sarah gut, und sie kuschelte sich in ihren Sitz.

„Warum haben Sie mich nicht zurückgerufen?“, fragte Nick.

„Es war unhöflich von mir. Es tut mir leid.“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Warum haben Sie nicht zurückgerufen?“

„Weil ich wahrscheinlich keine neuen Vermutungen über Geoffrey hören wollte – oder über seinen Tod.“

„Selbst wenn es sich um Fakten handeln sollte?“

„Sie haben mir keine Fakten geliefert, Mr O’Hara. Sie haben sich das nur zusammengereimt.“

Nick sah grimmig auf die vor ihm liegende Straße. „Ich reime mir nichts mehr zusammen, Mrs Fontaine. Ich habe jetzt die Tatsachen. Alles, was mir fehlt, ist ein Name.“

„Wovon sprechen Sie?“

„Von Ihrem Mann. Sie sagten, Sie hätten Geoffrey Fontaine vor sechs Monaten in einem Café kennengelernt. Sie müssen sich Hals über Kopf in ihn verliebt haben, denn immerhin waren Sie schon vier Monate später verheiratet. Richtig?“

„Ja.“

„Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, aber Geoffrey Fontaine – der richtige Geoffrey Fontaine – starb vor zweiundvierzig Jahren, und zwar als Kind.“

Sarah glaubte sich verhört zu haben. „Ich verstehe nicht …“

Nick sah sie nicht an, sondern hielt beim Sprechen den Blick auf die Straße geheftet. „Der Mann, den Sie geheiratet haben, hat den Namen eines verstorbenen Kindes angenommen. Das geht ganz leicht. Man sucht sich den Namen eines Kindes, das ungefähr in dem Jahr starb, als man selbst geboren wurde. Dann besorgt man sich eine Kopie der Geburtsurkunde. Damit melden Sie sich bei der Sozialversicherung an, beantragen den Führerschein und die Heiratsurkunde. Sie werden zu diesem Kind, das jetzt erwachsen ist. Eine neue Identität, ein neues Leben, und alle Dokumente belegen es.“

„Aber – woher wissen Sie das alles?“

„Heutzutage erfährt man alles über den Computer. Nach ein paar Überprüfungen stellte ich fest, dass Geoffrey Fontaine nie zum Militär eingezogen wurde, niemals zur Schule gegangen war und nie ein Bankkonto besessen hatte – bis vor einem Jahr, als sein Name plötzlich an einem Dutzend verschiedener Orte auftauchte.“

Sarah verschlug es die Sprache. „Wer war er dann?“, flüsterte sie schließlich. „Wen habe ich geheiratet?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Nick.

„Aber warum? Warum sollte er so etwas tun? Weshalb hat er ein neues Leben anfangen wollen?“

„Dafür gäbe es viele Gründe. Mein erster Gedanke war, dass man ihn wegen irgendeines Verbrechens suchte. Seine Fingerabdrücke lagen beim Kraftfahrzeugamt vor. Ich habe sie bereits durch den FBI-Computer geschickt, sein Name stand jedoch auf keiner der Listen.“

„Dann war er also kein Verbrecher.“

„Dafür gibt es keinen Beweis. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass er Zeuge in einem Bundesgerichtsverfahren war und dass man ihm zu seinem Schutz einen neuen Namen gegeben hat. Das ist schwierig für mich herauszufinden. Diese Unterlagen sind Verschlusssache. Andererseits hätten wir dadurch ein Motiv für den Mord an ihm.“

„Wie soll ich das verstehen? Dass die Leute, gegen die er ausgesagt hatte, ihn aufgespürt hätten?“

„Ganz recht.“

„Aber von so einer Sache hätte er mir erzählt, er hätte sich mir mitgeteilt …“

„Deshalb bin ich auch noch auf eine weitere Möglichkeit gekommen, die Sie vielleicht bestätigen können, Sarah.“

„Erzählen Sie.“

„Es könnte sein, dass der neue Name und das neue Leben Ihres Mannes nur Teil seiner Tätigkeit waren. Vielleicht war er gar nicht auf der Flucht vor irgendetwas, sondern man hat ihn hierhergeschickt.“

„Sie meinen, er war ein Spion“, sagte Sarah leise.

Nick nickte. Seine Augen, mit denen er sie ansah, hatten die Farbe der Sturmwolken, die draußen vorüberjagten.

„Ich glaube es nicht“, erklärte Sarah. „Nichts von allem!“

„Ich versichere Ihnen, es stimmt.“

„Warum erzählen Sie es dann mir? Woher wollen Sie wissen, dass ich keine Komplizin oder etwas Ähnliches bin?“

„Ich weiß, Sie sind in Ordnung, Mrs Fontaine. Ich habe Ihre Akte eingesehen …“

„Oh! Über mich gibt es also auch eine Akte?“, fuhr sie auf.

„Sie wurden vor einigen Jahren sicherheitsüberprüft, erinnern Sie sich nicht? Aufgrund der Forschungsarbeiten, die Sie vornehmen. Selbstverständlich wurde damals eine Akte angelegt.“

„Selbstverständlich.“ Ihre Stimme klang bitter.

„Aber ich bin nicht nur nach Einsicht Ihrer Akte davon überzeugt, dass Sie nichts mit der Sache zu tun haben. Ich habe es auch im Gefühl. Und jetzt überzeugen Sie mich davon, dass ich recht habe.“

„Wie? Soll ich mich einem Lügendetektortest unterziehen?“

„Fangen Sie damit an, mir über sich und Geoffrey zu erzählen. Haben Sie sich geliebt?“

„Natürlich!“

„Es war also eine echte Ehe? Sie hatten – eine Beziehung?“

Sarah errötete. „Ja, wie jedes normale Ehepaar. Möchten Sie wissen, wie oft und wann?“

„Ich mache keine Scherze mit Ihnen. Ich halte meinen Hals für Sie hin. Wenn Ihnen meine Art nicht gefällt, ziehen Sie vielleicht die Behandlung durch den CIA vor.“

„Dann haben Sie dem CIA bis jetzt keine Meldung gemacht?“

„Nein.“ Unwillkürlich reckte Nick trotzig das Kinn vor. „Ich finde die Art, wie die mit solchen Dingen umgehen, nicht sehr passend. Vielleicht bekomme ich jetzt deswegen eins auf den Deckel, vielleicht auch nicht.“

„Warum geben Sie sich dann überhaupt mit der Sache ab?“

Nick zuckte die Schultern. „Neugier. Vielleicht ist es eine Gelegenheit herauszufinden, wozu ich selbst imstande bin.“

„Ehrgeiz?“

„Wahrscheinlich auch, wenn ich ehrlich bin. Außerdem …“ Er sah sie an, und ihre Blicke trafen sich. Plötzlich wurde er schweigsam.

„Außerdem was?“, fragte Sarah nach.

„Nichts.“

Mittlerweile goss es in Strömen. Nick verließ den Highway und reihte sich in den stadteinwärts fließenden Verkehr ein. Die Art, wie er fuhr, gab Sarah ein Gefühl der Sicherheit. Alles an ihm vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Sie konnte sich vorstellen, wie eine Frau sich in seinen Armen fühlen würde.

„Wie Sie sehen“, fuhr er fort, „bleiben uns noch viele unbeantwortete Fragen. Sie kennen vielleicht einige der Antworten, ohne es selbst zu wissen.“

„Ich habe keine Erklärungen für die ganze Sache.“

„Dann lassen Sie uns einfach damit beginnen, was Sie wissen.“

Sarah schüttelte bestürzt den Kopf. „Ich war mit ihm verheiratet und kann Ihnen nicht einmal seinen richtigen Namen sagen!“

„Jeder, selbst der beste Spion, verrät sich irgendwie, Sarah. Er muss irgendwann mal einen Moment lang seine Wachsamkeit vergessen haben. Vielleicht hat er im Schlaf gesprochen. Vielleicht hat er Dinge gesagt, für die Sie keine Erklärung finden. Denken Sie nach!“

Sarah biss sich auf die Lippe, weil sie plötzlich nicht mehr an Geoffrey, sondern an Nick dachte. Er hatte sie beim Vornamen genannt. „Selbst wenn es etwas gäbe“, sagte sie, „Kleinigkeiten vielleicht, habe ich ihnen wahrscheinlich keine Bedeutung zugemessen.“

„Zum Beispiel?“

„Oh, er hat mich ein- oder zweimal Evie genannt, aber sich auf der Stelle dafür entschuldigt. Er sagte, das sei eine seiner alten Freundinnen.“

„Hatte er Familie? Freunde? Hat er nie über sie gesprochen?“

„Er sagte, er sei in Vermont geboren und in London aufgewachsen. Seine Eltern seien beim Theater gewesen, aber bereits verstorben. Über andere Verwandte hat er nie ein Wort verloren. Er wirkte immer so – so unabhängig. Er hatte keine engen Freunde, nicht einmal unter seinen Kollegen. Jedenfalls hat er mir nie jemanden vorgestellt.“

„Ach ja, seine Arbeit. Ich habe das nachgeprüft. Es hat den Anschein, dass er tatsächlich auf der Gehaltsliste der Bank von London stand. Er saß in irgendeinem Büro, aber niemand erinnert sich so recht daran, was er eigentlich gemacht hat.“

„Dann scheint selbst dieser Teil seines Lebens nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen.“

„So sieht es aus.“

Sarah rutschte tiefer in die Polster ihres Sitzes. Sie begann sich über Nick O’Hara Gedanken zu machen. Sie nahm an, er sei unverheiratet. Trotz seiner Zurückhaltung fand sie ihn attraktiv – jede Frau hätte das getan. Doch außer dem physischen Reiz gab es noch etwas anderes. Sie spürte, dass er jemanden brauchte. Irgendetwas sagte ihr, er sei einsam und unglücklich. Unter seinen Augen lagen leichte Schatten der Unzufriedenheit und gaben ihm den Anschein der Ruhelosigkeit.

Er wirkte wie ein Mann ohne ein Zuhause. Vielleicht hatte er kein Heim. Der Dienst im Außenministerium war eine Karriere für Nomaden, nicht für Menschen, die sich nach einem Haus in einem Vorort sehnten. Und Nick O’Hara war entschieden kein spießiger Typ.

Nick hielt den Wagen vor ihrem Apartmenthaus und stieg schnell aus, um ihr die Tür aufzuhalten. Es war eine komische, kleine Geste, die auch Geoffrey immer gemacht hatte – galant und herzlich unpraktisch.

Bis sie sich in die Eingangshalle geflüchtet hatten, waren sie beide bis auf die Haut nass.

„Ich nehme an, Sie wollen noch weitere Auskünfte haben.“ Sarah seufzte, während sie auf die zum zweiten Stock führende Treppe zugingen.

„Falls Sie mich damit fragen wollen, ob ich mit zu Ihnen kommen möchte, so lautet die Antwort Ja.“

„Zum Tee oder zwecks weiterer Befragung?“

Nick lächelte und wischte sich die Regentropfen von der Wange. „Ein wenig von beidem. Ich hatte solche Mühe, Sie zu erreichen, dass ich meine Fragen lieber jetzt stellen würde.“

Sie kamen an das Ende der Treppe. Sarah wollte gerade auf seine Worte antworten, als sie in den Korridor einbogen. Was sie dort erblickte, ließ sie erstarren.

Die Tür zu ihrem Apartment stand weit offen. Jemand hatte bei ihr eingebrochen.

Instinktiv trat Sarah einen Schritt zurück. Sie fürchtete sich vor dem, was hinter der Tür sein mochte. Dabei stieß sie gegen Nick und hielt sich wortlos an seinem Arm fest. Er starrte die offene Tür an und wirkte plötzlich außerordentlich wachsam. Abgesehen vom Klopfen ihres Herzens vernahm Sarah kein Geräusch. In der Wohnung herrschte absolute Stille.

Durch die offen stehende Tür fiel Licht in den Korridor. Nick gab durch einen Wink zu verstehen, dass sie sich nicht von der Stelle rühren solle, und näherte sich dann vorsichtig der Tür. Sarah wollte ihm folgen, aber er warf ihr einen so finsteren, warnenden Blick zu, dass sie sofort wieder stehen blieb.

Nick stieß die Tür auf, der Lichtstrahl wurde breiter und fiel über sein Gesicht. Einige Sekunden lang stand Nick im Türrahmen und starrte in den dahinterliegenden Raum. Dann betrat er die Wohnung.

Sarah wartete im Korridor, weil sie sich vor der Stille fürchtete. Was geschah da drinnen? Ein Schatten fiel über den Eingang, und Panik überkam sie, als der Schatten immer größer wurde. Dann steckte zu ihrer Erleichterung Nick den Kopf durch die Tür.

„Alles in Ordnung, Sarah“, erklärte er. „Es ist niemand hier.“

Sie rannte an ihm vorbei in ihr Apartment. Im Wohnzimmer blieb sie vor Überraschung stehen. Sie hatte damit gerechnet, dass alles Wertvolle gestohlen worden sein würde. Aber nichts war angerührt worden. Selbst die antike Uhr stand noch leise tickend auf dem Bücherregal.

Sarah drehte sich um und rannte in ihr Schlafzimmer. Nick folgte ihr und blieb in der Tür stehen, als sie schnurstracks zu ihrer auf dem Ankleidetisch stehenden Schmuckschatulle lief. Auch da war nichts entwendet worden. Sarah klappte die Schatulle zu und sah sich rasch im ganzen Raum um. Verwirrt warf sie einen Blick auf Nick.

„Was fehlt?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts. Kann es sein, dass ich vergessen habe, die Tür zuzumachen?“

Er verließ ihr Schlafzimmer und ging zum Eingang zurück. Dort fand Sarah ihn vor den Türrahmen gebückt vor. „Hier“, sagte er und wies auf Holzsplitter und weiße Lackreste, die auf dem grauen Teppichboden lagen. „Man hat die Tür tatsächlich gewaltsam aufgebrochen.“

„Aber das ergibt keinen Sinn! Warum bricht man bei mir ein und stiehlt nichts?“

„Vielleicht blieb dem Dieb nicht genügend Zeit. Vielleicht wurde er unterbrochen …“ Nick stand auf und musterte sie. „Sie sehen sehr mitgenommen aus. Geht es Ihnen nicht gut?“

„Ich bin nur … nur verblüfft.“

Er berührte ihre Hand. Seine Finger brannten auf ihrer Haut. „Sie sind ja eiskalt. Sie sollten sich besser die nassen Sachen ausziehen.“

„Ich bin in Ordnung, Mr O’Hara. Wirklich.“

„Nun machen Sie schon. Ziehen Sie den Mantel aus!“, sagte er nachdrücklich. „Und setzen Sie sich hin, während ich ein paar Telefonate führe.“

Sein Ton hatte etwas an sich, das Sarah keine andere Wahl ließ, als ihm zu gehorchen. Sie gestattete Nick, ihr aus dem Mantel zu helfen, setzte sich dann auf die Couch und sah ihm benommen zu, wie er das Telefonbuch zur Hand nahm. Plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie nicht mehr Herr ihrer eigenen Entscheidungen, als hätte Nick O’Hara durch seine bloße Anwesenheit in ihrer Wohnung die Kontrolle über ihr Leben an sich genommen. Sozusagen als Protestreaktion stand sie auf und ging in die Küche.

„Sarah?“

„Ich werde etwas Tee machen.“

„Hören Sie, machen Sie sich keine Mühe …“

„Das macht nichts. Wir können beide eine Tasse brauchen, glaube ich.“

Durch die Küchentür beobachtete Sarah, wie Nick eine Nummer wählte. Während sie den Kessel aufsetzte, hörte sie ihn sagen: „Hallo? Tim Greenstein, bitte. Hier spricht Nick O’Hara … Ja, ich warte.“

Die nächste Pause schien ewig dauern zu wollen. Nick fing an, unruhig auf und ab zu gehen wie ein im Käfig eingesperrtes Tier. Dabei zog er sich den Mantel aus und lockerte dann seine Krawatte. Seine Erregung ließ ihn in ihrem kleinen, ordentlichen Wohnzimmer gänzlich fehl am Platze wirken.

„Sollten Sie nicht die Polizei verständigen?“, fragte Sarah.

„Das mache ich als Nächstes. Zuerst möchte ich mit der Zentrale Verbindung aufnehmen. Wenn ich nur durchkäme.“

„Der Zentrale? Sie meinen den FBI? Aber warum das? Ich verstehe nicht …“

„An dieser ganzen Geschichte stört mich etwas …“

Seine Worte waren nicht mehr zu verstehen, als der Kessel zu pfeifen begann. Sarah goss den Tee auf und brachte das Tablett ins Wohnzimmer, wo Nick noch immer am Telefon wartete.

„Verdammt“, murmelte er vor sich hin, „wo zum Teufel steckst du nur, Greenstein?“

„Tee, Mr O’Hara?“

„Hm?“ Er drehte sich um und sah die Tasse, die Sarah ihm hinhielt. „Ja, danke.“

Sie setzte sich mit ihrer Tasse wieder hin. „Arbeitet Mr Greenstein für den FBI?“

„Nein. Aber er hat einen Freund, der … Hallo? Tim? Es wurde aber auch Zeit! Gehst du überhaupt nicht mehr ans Telefon?“

Während des folgenden Schweigens entnahm Sarah aus Nicks Gesicht und der Art, wie er mit hochgezogenen Schultern kerzengerade dastand, dass etwas nicht in Ordnung war. Er wurde ganz blass. Das laute Klirren, mit dem er die Tasse abstellte, ließ sie hochfahren.

„Wie zum Kuckuck hat Ambrose davon Wind bekommen?“, fauchte er in den Hörer und drehte sich dabei zur Seite.

Erneutes Schweigen. Sarah betrachtete seinen Rücken und fragte sich, welche Katastrophe Nick O’Hara wohl so verärgert haben mochte. Bisher hatte sie ihn als einen Mann eingeschätzt, der sich völlig beherrschen konnte. Aber dieser Eindruck änderte sich jetzt. Sein Ärger überraschte sie, und irgendwie wirkte Nick dadurch viel menschlicher.

„Gut“, sagte er in den Hörer, „ich bin in einer halben Stunde dort. Hör zu, Tim, es ist etwas Neues passiert. Jemand ist in Sarahs Apartment eingebrochen. Nein, es ist nichts gestohlen worden. Kannst du mir die Nummer deines Freundes beim FBI geben? Ich möchte … Ja, es tut mir leid, dass du da hineingeraten bist … Aber …“ Er drehte sich um und sah Sarah mit einem gequälten Blick an. „Gut! In einer halben Stunde. Auf in die Höhle des Löwen! Wir treffen uns in Ambroses Büro.“ Mit finsterer Miene legte er auf.

„Was ist los?“, fragte Sarah.

„So enden acht glorreiche Jahre beim Außenministerium“, murmelte Nick, griff wütend nach seinem Mantel und ging zur Tür. „Ich muss gehen. Hören Sie, die Sicherheitskette ist noch in Ordnung. Legen Sie sie vor. Noch besser wäre es, wenn Sie heute Nacht bei Ihrer Freundin blieben. Und rufen Sie die Polizei an. Ich komme, so schnell ich kann, zu Ihnen zurück.“

Sarah folgte ihm in den Korridor. „Aber Mr O’Hara …“

„Später!“, rief er im Gehen über die Schulter zurück. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe verhallen, und schon einen Augenblick später knallte die Eingangstür zu.

Sarah schloss die Tür und legte die Kette vor. Dann sah sie sich langsam um. Aber alles war an Ort und Stelle.

Nein, nicht ganz. Irgendetwas war anders. Wenn sie nur wüsste, was es war …

Sie war schon mitten im Zimmer, als es ihr plötzlich zu Bewusstsein kam: Auf dem Bücherregal war eine leere Stelle. Ihr Hochzeitsbild war verschwunden. Warum in aller Welt hatte man ausgerechnet dieses Foto entwendet?

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, als das Telefon klingelte. Wahrscheinlich war es Abby, die sie, wie verabredet, anrief. Sarah nahm den Hörer ab.

Als Erstes vernahm sie das typische Rauschen eines Ferngespräches. „Hallo?“, sagte sie in die Muschel.

„Komm zu mir, Sarah. Ich liebe dich.“

Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Das Zimmer fing plötzlich an, sich wild vor ihren Augen zu drehen, und sie griff Hilfe suchend um sich. Der Hörer rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Das ist doch unmöglich, dachte sie. Geoffrey ist tot …

Langsam griff sie wieder nach dem Hörer, um erneut diese Stimme zu hören, die nur von einem Geist stammen konnte.

„Hallo? Hallo? Geoffrey!“, schrie sie hinein.

Das Rauschen war nicht mehr zu hören. Die Leitung war stumm, und nach einigen Sekunden kam das Freizeichen.

Aber sie hatte genug gehört. Alles, was in den letzten zwei Wochen geschehen war, fiel von ihr ab wie ein Albtraum bei Tag. Nichts davon war wirklich gewesen. Die Stimme, die sie gerade vernommen hatte – diese Stimme, die sie so gut kannte –, sie war wirklich.

Geoffrey lebte.

4. KAPITEL

Jetzt reicht es, O’Hara!“ Charles Ambrose stand vor der geschlossenen Tür des Büros und sah tadelnd auf seine Armbanduhr.

Unbeeindruckt hängte Nick seinen Mantel auf und sagte: „Tut mir leid, es ging nicht anders. Der Regen hat uns verzö…“

„Wissen Sie eigentlich, wer jetzt in meinem Büro wartet? Ich meine, haben Sie irgendeine Vorstellung?“

„Nein. Wer?“

„Ein Mensch namens van Dam. Er rief mich heute früh an und wollte über den Fall Fontaine informiert werden. Welchen Fall Fontaine? habe ich gefragt. Ich musste mir von ihm sagen lassen, was in meiner eigenen Abteilung vor sich geht! Zum Teufel, O’Hara! Was zum Kuckuck bilden Sie sich eigentlich ein? Was glauben Sie, was Sie hier machen?“

Nick erwiderte seinen Blick in aller Ruhe. „Meine Arbeit, um genau zu sein.“

Statt eine Antwort zu geben, riss Ambrose die Bürotür auf. „Sehen Sie da hinein, O’Hara!“

Ohne mit der Wimper zu zucken, betrat Nick das Büro. Im Rest des Tageslichts sah Nick einen Mann an Ambroses Schreibtisch sitzen. Er war ungefähr Mitte vierzig, groß, schweigsam und sehr bleich. Von Tim Greenstein war keine Spur zu entdecken. Ambrose schloss die Tür, ging an Nick vorbei und setzte sich an die Seite des Schreibtisches. Die Tatsache, dass er nicht hinter seinem eigenen Schreibtisch Platz nahm, warf ein deutliches Licht auf den Rang des Eindringlings. Dieser Typ, dachte Nick, muss ein hohes Tier beim CIA sein.

„Bitte, setzen Sie sich doch, Mr O’Hara“, forderte der Mann ihn auf. „Ich bin Jonathan van Dam.“ Weitere Erklärungen zur Person folgten nicht.

Nick nahm sich einen Stuhl, aber das hatte nichts mit Gehorsam zu tun. Er hatte ganz einfach keine Lust, sich in Habtachtstellung durch die Mangel drehen zu lassen.

Einen Moment lang betrachtete van Dam ihn regungslos mit seinen blassen Augen. Dann nahm er einen Aktenordner zur Hand. Es waren Nicks Personalunterlagen.

„Wie ich von Mr Ambrose höre, scheinen Sie sich nicht ganz in seiner Abteilung einzuordnen. Sie sind ein Außenseiter. Ich könnte mir denken, dass man da etwas einsam wird.“

„Worauf wollen Sie hinaus, Mr van Dam?“

„Dass ein einsamer Mensch es, sagen wir, verführerisch finden könnte, sich mit anderen Nonkonformisten einzulassen. Und dass man aus Ärger heraus der Versuchung erliegen mag, sich mit uns zuwiderlaufenden Interessen zu verbinden.“

Nick setzte sich hoch auf. „Ich bin kein Verräter, falls Sie das damit andeuten wollen.“

„Nein, nein. Das meine ich ganz und gar nicht! Ich verabscheue das Wort Verräter. Es ist so unpräzise. Schließlich hängt die Definition eines Verräters ja auch von der politischen Einstellung des Einzelnen ab.“

„Ich weiß, was ein Verräter ist, Mr van Dam! Zufällig stimme ich nicht mit einer ganzen Reihe unserer politischen Entscheidungen überein, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht loyal meinem Land gegenüber bin.“

„Nun, dann können Sie mir sicher eine Erklärung für Ihr Engagement im Fall Fontaine liefern.“

Nick holte tief Luft. Van Dam war endlich zur Sache gekommen. „Ich habe nur meine Aufgaben erfüllt. Vor zwei Wochen starb in Deutschland Geoffrey Fontaine. Ich hatte den Routineauftrag, die Witwe zu benachrichtigen. Bestimmte von ihr geäußerte Dinge erschienen mir außergewöhnlich. Ich ließ Fontaines Namen durch den Computer laufen – zur Sicherheit, müssen Sie wissen. Aber es kam nicht viel dabei heraus. Deshalb rief ich einen Freund an …“

„Mr Greenstein“, unterbrach van Dam ihn heftig.

„Hören Sie, ihn können Sie aus dieser Sache heraushalten. Er hat mir lediglich einen Gefallen getan. Es war einer seiner Kollegen vom FBI, der Fontaines Namen überprüft hat. Auch dabei kam nicht viel heraus. Ich hatte bald mehr Fragen als Antworten. Also habe ich mich direkt mit der Witwe in Verbindung gesetzt.“

„Und warum sind Sie nicht zu uns gekommen?“

„Ich wusste gar nicht, dass sich Ihre Autorität auch auf amerikanischen Boden erstreckt. Ich meine, in juristischer Hinsicht.“

Zum ersten Male trat ein leicht irritierter Ausdruck auf van Dams Gesicht. „Sie sind sich doch wohl darüber im Klaren, dass Sie möglicherweise irreparablen Schaden angerichtet haben?“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Wir hatten diese Sache ganz sicher im Griff. Jetzt allerdings, fürchte ich, haben Sie Mrs Fontaine gewarnt.“

„Ich sie gewarnt? Aber Sarah tappt genauso im Dunkeln wie ich.“

„Ist das die Schlussfolgerung eines Amateurspions?“

„Es ist mein ganz persönlicher Eindruck.“

„Sie kennen die ganzen Verwicklungen nicht …“

„Und was sind das für Verwicklungen?“

„Dass Geoffrey Fontaines Tod noch immer fraglich ist. Dass seine Frau mehr darüber weiß, als Sie sich vorstellen. Und dass in dieser Sache mehr auf dem Spiel steht, als Sie je erfahren werden.“

Nick sah van Dam verblüfft an. Was meinte der Mann eigentlich? War Geoffrey Fontaine nun tot oder lebendig? Konnte Sarah wirklich eine derart glänzende Schauspielerin sein, um ihn so hinters Licht geführt zu haben?

„Und was steht hier auf dem Spiel?“, fragte Nick.

„Lassen Sie es mich so formulieren: Die Auswirkungen werden internationaler Natur sein.“

„War Geoffrey Fontaine ein Spion?“

Van Dam kniff die Lippen zusammen und gab keine Antwort.

„Hören Sie“, sagte Nick. „Mir reicht es. Weshalb verhört man mich wegen einer rein konsularischen Angelegenheit?“

„Mr O’Hara, ich bin hier derjenige, der die Fragen stellt, nicht Sie. Merken Sie sich das!“

„Entschuldigen Sie, dass ich mich gegen Ihre üblichen Regeln verhalten habe.“

„Für einen Diplomaten sind Sie verdammt undiplomatisch.“ Van Dam wandte sich an Ambrose. „Ich kann nicht sagen, ob er sauber ist. Aber ich stimme Ihrem Vorhaben zu.“

„Welchem Vorhaben? Was meinen Sie?“, wollte Nick stirnrunzelnd wissen.

Ambrose räusperte sich. Nick wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Es war ein sicheres Zeichen für etwas Unangenehmes, das ihm bevorstand. „Nach Einsicht in Ihre Personalakte“, sagte Ambrose, „und basierend auf diesem neuerlichen Fall von … hm … Unbedachtheit, halten wir es für das Beste, dass Sie sich für längere Zeit von der Abteilung beurlauben lassen. Das Sicherheitsrisiko Ihre Person betreffend muss überprüft werden. Bis wir Ihnen einen positiven Bescheid zukommen lassen, sind Sie beurlaubt. Falls Beweise für mehr als nur unbedachtes Verhalten auftauchen sollten, werden Sie wieder von Mr van Dam hören. Ganz zu schweigen von der Rechtsabteilung.“

Nick benötigte keine Übersetzung. Er war soeben als Verräter eingestuft worden. Die logische Reaktion wäre gewesen, seine Unschuld zu beteuern und hier und auf der Stelle zurückzutreten. Aber er würde sich nicht die Blöße geben, das vor van Dam zu tun.

So stand er nur auf und sagte: „Ich verstehe. War das alles, Sir?“

„Das ist alles, O’Hara.“

Nach dieser knappen Entlassung drehte Nick sich um und verließ das Büro. Das war es also, dachte er, während er zu seinem Büro zurückging. Nach acht Jahren Zugehörigkeit zum Auswärtigen Amt hatte ihn ein bisschen Neugierde den Kopf gekostet.

Das Komische an der Sache war, dass es ihn nicht einmal störte, seinen Job verloren zu haben. Ihn störte lediglich die Beschuldigung, ein Verräter zu sein.

Als er den Schlüssel in das Schloss zu seinem Büro steckte, fühlte er sich eigenartig erleichtert, als hätte man ihm eine große Last von den Schultern genommen. Er war frei. Die Entscheidung, um die er so hart gerungen hatte, war für ihn getroffen worden. Sie war wohl irgendwie unvermeidbar gewesen.

Er konnte es verschmerzen, seinen Posten verloren zu haben, aber er würde das Haus nicht verlassen, wenn seine Loyalität weiterhin angezweifelt wurde. Er musste das wieder ins Lot bringen, der Wahrheit auf den Grund kommen. Und deshalb musste er Sarah Fontaine noch einmal aufsuchen.

Die Aussicht war nicht einmal unerquicklich. Er freute sich sogar auf eine angenehme Unterhaltung, vielleicht beim Essen. Umgehend ging er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Wie gewöhnlich war nur der Anrufbeantworter zu hören. Fluchend legte er auf, weil ihm plötzlich wieder sein Vorschlag einfiel, sie solle zu ihrer Freundin fahren. Wenn er nur deren Nummer wüsste …

Er begann, seine Sachen zu packen.

„Nick!“

Er fuhr herum, als er Tim Greensteins Stimme hinter sich hörte. „Was machst du denn um diese Zeit noch hier?“, fragte Tim beim Hereinkommen.

Nick sah ihn irritiert an. „Wonach sieht es denn aus? Ich räume meinen Schreibtisch auf.“

„Du räumst deinen Schreib… Willst du damit sagen, dass man dich gefeuert hat?“

„Man hat es anders formuliert. Ich wurde gebeten, mich für längere Zeit von der Abteilung beurlauben zu lassen, wie Ambrose sich höflich auszudrücken beliebte.“

„Mann, das ist hart!“ Tim setzte sich auf einen Stuhl. Er sah ungewöhnlich blass aus, als hätte er vor Kurzem etwas Unangenehmes erlebt.

„Wo warst du?“, fragte Nick ihn. „Wir wollten uns doch in Ambroses Büro treffen.“

„Mein Vorgesetzter hat mich aufgehalten. Und der FBI. Und der CIA. Ganz unerfreulich, das alles. Man hat mir sogar damit gedroht, mir meine Computerzugangskarte abzunehmen. Ich meine … das wäre doch grausam!“

Nick schüttelte seufzend den Kopf. „Das ist meine Schuld, nicht wahr? Tut mir leid, Tim. Mir scheint, wir haben da in ein Wespennest gestochen. Es handelt sich also um Spionage. Aber wir hatten doch schon früher mit Spionen zu tun. Was ist denn so Besonderes an Geoffrey Fontaine?“

„Ich weiß es nicht. Und ich will nicht mehr wissen, als ich ohnehin schon weiß.“

„Hast du deine Neugier verloren?“

„Ganz recht. Und du solltest das auch.“

„Ich habe ein persönliches Interesse an diesem Fall. Ich kann jetzt nicht aufhören.“

„Halt dich zurück, Nick, zu deinem eigenen Besten. Sonst ist es mit deiner Karriere vorbei.“

„Meine Karriere ist ohnehin schon zu Ende. Denke daran, ich bin jetzt Privatmann. Und ich könnte sehr gut noch mehr Zeit mit Sarah Fontaine zubringen.“

„Nick, ich rate dir als Freund, sie zu vergessen. Du irrst dich in ihr. Sie ist kein Unschuldsengel.“

„Das scheint mir jeder einreden zu wollen. Aber ich bin der Einzige, der mit ihr zusammen gewesen ist.“

„Hör zu, du irrst dich!“

Tims scharfer Ton überraschte Nick. Was ist hier los? fragte er sich. Was ist passiert? Er beugte sich vor und sah seinem Freund eindringlich in die Augen. „Was versuchst du, mir klarzumachen, Tim?“, fragte er ruhig.

Tim machte ein unglückliches Gesicht. „Sie hat dich zum Narren gehalten, Nick. Mein Kumpel vom FBI hat sich laufend über sie informieren lassen, über ihre Kontakte, wohin sie ging … Er hat mich gerade angerufen und mir gesagt …“

„Was hat er dir gesagt?“

„Sie weiß etwas. Sie muss etwas wissen. Das ist die einzige Erklärung für das, was sie getan hat …“

„Verdammt, Tim! Was ist passiert?“

„Kurz nachdem du ihr Apartment verlassen hattest, nahm sie ein Taxi zum Flughafen. Sie ist abgeflogen.“

Nick starrte seinen Freund ungläubig an. Sarah hatte die Stadt verlassen? Weshalb?

„Wohin ist sie gereist?“, fragte er verblüfft.

Tim sah ihn mitfühlend an. „Nach London.“

London. Das war der logischste Ort, die Suche zu beginnen. Jedenfalls hatte Sarah so ein Gefühl.

Das Taxi setzte sie vor dem Savoy-Hotel ab. Am Empfang sah die junge, hübsche Frau in ihrem ordentlichen Blazer hoch und lächelte Sarah an. Ja, erklärte sie ihr, sie könne ein Zimmer haben.

Sarah füllte ihr Anmeldeformular aus und sagte ganz nebenbei: „Übrigens war mein Mann vor ungefähr zwei Wochen hier.“

„Wirklich?“ Die Angestellte warf einen Blick auf die Namenseintragung. „Oh! Sie sind Mrs Fontaine? Heißt Ihr Mann Geoffrey Fontaine?“

„Ja. Erinnern Sie sich an ihn?“

„Selbstverständlich, gnädige Frau. Ihr Gatte ist regelmäßiger Gast in unserem Hause. Ein reizender Herr. Eigenartig, ich hätte nie gedacht, dass Sie Amerikanerin sein könnten. Ich war immer der Meinung …“ Sie brach ab und betrachtete aufmerksam Sarahs Anmeldung. „Wird Ihr Mann Sie hier in London treffen?“

„Nein, eigentlich – nicht.“ Sarah schwieg. „Ich habe eher mit einer Nachricht von ihm gerechnet. Könnten Sie einmal nachsehen?“

Die Empfangsdame warf einen Blick über die Brieffächer. „Ich sehe nichts.“

„Es hat auch niemand angerufen? Für keinen von uns?“

„Nein, dann würde hier ein Zettel sein. Ich bedaure.“ Die Frau wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Sarah sagte einen Moment lang nichts. Was sollte sie als Nächstes tun? Sein Zimmer durchsuchen? Das war doch schon vor Wochen in Ordnung gebracht worden.

„Hätte eine Nachricht vorgelegen“, sagte die Angestellte jetzt, „dann würden wir sie ohnehin an die Anschrift Ihres Hauses in Margate weitergeleitet haben. Das pflegen wir immer so zu halten.“

Sarah zwinkerte vor Überraschung. „Margate?“

Die Frau war zu beschäftigt, um aufzusehen. „Ja.“

Welches Haus in Margate? fragte Sarah sich. Besaß Geoffrey hier in England ein Haus, von dem er ihr nie erzählt hatte?

Sarah legte ihre Hände ruhig auf den Empfangstresen und hoffte, sie könne überzeugend lügen. „Hoffentlich … ich hoffe, Sie haben nicht die falsche Adresse“, sagte sie. „Wir leben noch in Margate, aber wir sind … wir sind vergangenen Monat umgezogen.“

„Ach du meine Güte“, seufzte die junge Frau und ging in das hintere Büro. „Ich werde sofort nachsehen, ob die Anschrift auf dem neuesten Stand ist …“

Einen Augenblick später kam sie mit einer Anmeldekarte wieder zurück. „Whitstable Lane fünfundzwanzig. Ist das die alte oder die neue Adresse?“

Sarah antwortete nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich die Anschrift einzuprägen.

„Mrs Fontaine?“, fragte die Empfangsdame.

„Ich bin sicher, sie stimmt“, sagte Sarah, hob rasch ihren Koffer hoch und wandte sich dem Aufzug zu.

„Mrs Fontaine, Sie müssen den Koffer nicht tragen. Ich werde den Gepäckträger rufen …“

Aber Sarah stieg bereits in den Fahrstuhl. „Whitstable Lane fünfundzwanzig“, murmelte sie, während die Tür sich schloss. „Whitstable Lane fünfundzwanzig …“

Die Wellen des Meeres schlugen gegen die weißen Kalkklippen. Von dem schmutzigen Weg aus, den Sarah entlangging, konnte sie die Brandung gegen die Felsen unten donnern sehen. Die Sonne brach bereits durch den Frühdunst, und in den Vorgärten der Häuser wuchsen und blühten die Blumen üppig trotz der Salzluft und der kalkigen Erde.

Das Haus, nach dem sie suchte, fand Sarah am Ende der Whitstable Lane. Es war nur ein kleines Bauernhaus, das sich hinter einem weißen Holzzaun versteckte. Im winzigen Garten davor blühten prachtvolle Rosenbüsche neben farbenfrohen Ringel- und Kornblumen. Das Geräusch einer Gartenschere lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann, der die Hecke beschnitt.

„Hallo?“, rief sie über den Zaun.

Der alte Mann sah zu ihr herüber.

„Ich suche Geoffrey Fontaine!“, rief sie.

„Ist nicht im Hause, Miss“, kam die Antwort.

Sarahs Hände fingen plötzlich an zu zittern. Also war Geoffrey tatsächlich hier gewesen. Aber warum um Gottes willen? fragte sie sich. Warum besaß er dieses Haus, das so weit von seiner Arbeitsstätte in London entfernt lag?

„Wo könnte ich ihn finden?“, fragte sie.

„Weiß ich nicht.“

„Wissen Sie, wann er nach Hause kommen wird?“

Der Alte zuckte die Schultern. „Weder er noch seine Frau sagen, wann sie kommen oder gehen.“

„Frau?“, wiederholte sie benommen.

„Tja. Mrs Fontaine.“

„Sie sprechen doch nicht – von seiner Frau?“

Der Alte sah sie an, als hätte sie keinen Verstand im Kopf. „Je nun“, sagte er langsam, „den Anschein hat es wohl.“

Sarah klammerte sich so heftig am Zaun fest, dass die hölzernen Spitzen sich in ihre Handflächen bohrten. Ein eigenartiges Donnern dröhnte ihr in den Ohren, als schlüge eine Welle über ihr zusammen und risse sie zu Boden. Nervös kramte sie in ihrer Handtasche und zog Geoffreys Fotografie heraus. „Ist dies Mr Fontaine?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Das ist er, ganz recht.“

Sarah zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, das Bild wieder in ihre Handtasche zurückzustecken. Sie hielt sich am Zaun fest und bemühte sich zu begreifen, was der Alte ihr soeben gesagt hatte. Die unerwartete Nachricht überfiel sie wie ein Schock, und der Schmerz war kaum zu ertragen.

Sie wusste nicht, wie lange sie da zwischen den Ringelblumen gestanden hatte. Erst als der Mann sie zum dritten Male anrief, hörte sie ihn.

„Miss? Miss? Brauchen Sie Hilfe?“

Wie betäubt sah Sarah ihn an. „Nein. Nein, danke, es ist nichts.“

„Wirklich nicht?“

„Ja, ich … Bitte, ich muss die Fontaines sehen.“

„Ich wüsste tatsächlich nicht, wie, Miss. Mrs Fontaine hat gepackt und ist weg, vor nicht ganz zwei Wochen.“

„Wohin ist sie gefahren?“

„Sie hat keine Adresse hinterlassen.“

Sarah suchte nach einem Zettel und schrieb dann ihren Namen und den des Hotels auf. „Falls sie … falls einer von den beiden wiederkommen sollte, dann richten Sie ihnen doch bitte aus, sie möchten mich umgehend anrufen. Bitte.“

„Nun ja, Miss.“ Der Alte faltete den Zettel zusammen, ohne einen Blick darauf zu werfen, und steckte ihn in die Tasche.

Sarah stolperte auf die Straße zurück. Am Anfang der Whitstable Lane bemerkte sie eine Reihe von Briefkästen. Sie schaute verstohlen zum Haus zurück, stellte fest, dass der Alte wieder die Hecke schnitt, und warf einen Blick in den Kasten mit der Nummer fünfundzwanzig. Ein Versandkatalog eines Londoner Kaufhauses lag darin. Er war an Mrs Eve Fontaine adressiert.

Evie!

Mehr als einmal hatte Geoffrey sie bei diesem Namen genannt. Sarah steckte den Katalog in den Briefkasten zurück. Während sie am Rande der Klippen zum Bahnhof Margates zurückging, liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Sechs Stunden später betrat Sarah müde, elend und hungrig ihr Zimmer im Savoy. Das Telefon klingelte.

„Hallo?“, sagte sie.

„Sarah Fontaine?“ Es war die Stimme einer Frau, die leise und heiser sprach.

„Ja.“

„Geoffrey hatte ein Muttermal an der linken Schulter. Wie sah es aus?“

„Aber …“

„Wie sah es aus?“

„Es hatte die … es sah wie ein Halbmond aus. Spricht da Eve?“

„Im Lamb and Rose in der Dorset Street. Um neun Uhr.“

„Warten Sie … Eve?“

Es klickte in der Leitung.

Sarah sah auf ihre Uhr. Sie hatte genau eine halbe Stunde, um in die Dorset Street zu kommen.

Im Schankraum des Lamb and Rose knisterte ein Feuer im Kamin. An der Bar aus blank poliertem Mahagoni saßen zwei Männer über ihren Biergläsern. Suchend schaute Sarah sich im Raum um. Nur die junge Kellnerin, die neben der Zapfsäule stand, erwiderte ihren Blick. Wortlos nickte das Mädchen in Richtung des hinteren Teiles des Raumes.

Sarah nickte ebenfalls und ging in die ihr angewiesene Richtung. Etliche mit hölzernen Trennwänden versehene Sitzecken zogen sich an der Wand entlang. Doch noch ehe Sarah bei der letzten ankam, wusste sie, dass Eve darin sitzen würde. Eine dünne Rauchfahne kräuselte sich aus der Sitzecke empor. Die Frau blickte auf, als Sarah sich ihr näherte. Ihre Blicke trafen sich kurz, und dieser eine Blick genügte, um sich gegenseitig zu verstehen. Selbst im Dämmerlicht dieser Kneipe sah jede der anderen ihren Schmerz an.

Sarah setzte sich der Frau gegenüber auf die Bank. Eve zog nervös an ihrer Zigarette, während sie Sarah eingehend betrachtete. Die Frau war schlank und hatte blondes Haar. Ihre grünlichen Augen wirkten müde und ihr Mund verkniffen. Ihre Hände waren in ständiger Bewegung. Alle paar Sekunden sah sie zur Tür hin, als rechne sie damit, dass jemand hereinkommen könnte.

„Sie sind anders, als ich Sie mir vorgestellt habe“, sagte Eve. „Und jünger, als er Sie beschrieben hat. Wie alt sind Sie? Siebenundzwanzig?“

„Ich bin zweiunddreißig“, antwortete Sarah.

„Oh, dann hat er nicht gelogen.“

„Geoffrey hat Ihnen von mir erzählt?“

Eve zog wieder an der Zigarette und nickte. „Natürlich. Er musste ja. Schließlich war es meine Idee.“

Sarah sah Geoffreys andere Frau entsetzt an. „Ihre Idee? Sie meinen … Aber warum?“

„Sie wissen überhaupt nichts über Geoffrey, nicht wahr?“ Die grünen Augen sahen Sarah stechend an. „Nein“, antwortete Eve mit einer Spur von Genugtuung, „ganz offensichtlich nicht. Ich nehme an, es kränkt Sie, dass ich Ihnen das so direkt sage. Aber mir scheint, Sie haben meine Existenz von ganz allein herausgefunden. Erzählen Sie, waren Sie denn mit ihm glücklich?“

Sarah nickte, doch die Augen brannten ihr plötzlich. „Ja“, flüsterte sie. „Wir … wenigstens ich war glücklich. Was Geoffrey betrifft … Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.“

Eves Blick wurde für einen Moment weich. „Aber Sie haben ihn doch auch geliebt, nicht wahr?“ Sie schaute auf ihre Zigarette, während sie die Asche abstreifte. Als sie aufsah, war ihr Blick wieder hart. „Wir haben also beide verloren. Das musste ja eines Tages so kommen. Das liegt in der Natur des Geschäftes.“

„Welchen Geschäftes?“

Eve lehnte sich zurück. „Es ist besser für Sie, wenn Sie nichts wissen. Aber Sie wollen es trotzdem hören, nicht wahr? Wenn ich Sie wäre, würde ich das alles vergessen und nach Hause fliegen, solange es noch möglich ist.“

„Wer ist Geoffrey?“

Eve atmete den Zigarettenrauch tief ein und sah in die Ferne, als hinge sie ihren Erinnerungen nach. „Ich habe ihn vor zehn Jahren in Amsterdam kennengelernt. Damals war er ein ganz anderer Mann.“ Sie lächelte schwach, als amüsierte sie sich über einen besonderen Scherz. „Ganz anders meine ich wörtlich und im übertragenen Sinne. Er hieß Simon Dance. Damals arbeiteten wir beide für den holländischen Geheimdienst. Zu dem Zeitpunkt waren wir drei ein richtiges Team – Simon, ich und die andere Frau, unser Leitoffizier. Und dann haben Simon und ich uns verliebt.“

„Sie waren Spione?“

„Ja, so könnte man das nennen, lassen wir es dabei.“ Gedankenverloren starrte sie dem sich in der Luft kräuselnden Rauch ihrer Zigarette nach. „Wir waren erst ein Jahr zusammen, als einer unserer Aufträge fehlschlug. Wir hatten einfach zu viel Angst umeinander. Das darf nicht passieren, nicht in unserem Geschäft. Da ist der Auftrag alles, sonst geht es schief. Und so war es auch. Der alte Mann entkam uns.“

„Entkam? Lautete Ihr Auftrag, ihn festzunehmen?“

Eve lachte bitter. „Festnehmen? In unserem Geschäft hält man sich nicht mit Festnahmen auf. Wir löschen aus.“

Sarahs Hände wurden eiskalt. Das konnte gewiss nicht derselbe Geoffrey sein, über den sie hier sprachen. Nein, hielt sie sich vor Augen, damals war es ja noch nicht Geoffrey. Damals war er Simon.

„Der Alte überlebte also. Wir nannten ihn Magus, den Zauberer. Für uns war das allerdings mehr als nur ein Codename. Auf seine Art war er ein Zauberer. Dieser Fall hat uns erledigt.“

Eve zündete sich mit zitternden Händen eine neue Zigarette an. „Danach sind wir alle aus dem Geschäft ausgeschieden. Simon und ich haben geheiratet und eine Zeit lang in Deutschland, später in Frankreich gelebt. Wir haben zweimal unsere Namen gewechselt. Aber wir hatten immer das Gefühl, dass man uns auf den Fersen war. Wir wussten, man war hinter uns allen her. Auf Anweisung von Magus natürlich. So beschlossen wir, Europa zu verlassen.“

„Und gingen nach Amerika.“

Eve nickte. „Ja. Es ist wirklich alles so einfach. Simon nahm einen neuen Namen an. Er suchte einen Gesichtschirurgen auf. Seine Wangen wurden nach innen gezogen, die Nase verkleinert. Der Unterschied war verblüffend. Niemand hätte ihn je wiedererkennen können. Auch mein Gesicht wurde verändert. Simon war der Erste, der nach Amerika ging. Es braucht seine Zeit, um sich neue Lebensgrundlagen zu schaffen, eine neue Identität. Ich sollte ihm nachfolgen.“

„Warum hat er mich geheiratet?“

„Er brauchte eine amerikanische Frau. Er brauchte Ihr Heim, Ihr Bankkonto, den Schutz, den Sie ihm bedeuteten. Ich konnte mich nicht als Amerikanerin ausgeben. Mein Akzent, meine Stimme – das konnte ich nicht verändern. Aber Simon … Oh, er konnte sich in ein Dutzend verschiedener Leute verwandeln!“

„Warum hat er mich ausgesucht?“

Eve zuckte die Achseln. „Es kam ihm gelegen. Sie waren einsam und nicht sehr hübsch. Sie hatten keine Verehrer. Ja, Sie waren sehr empfänglich. Und Sie haben sich tatsächlich auch schnell in ihn verliebt.“

Sarah unterdrückte ein Schluchzen und nickte.

Eve schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: „In Wahrheit hat er Sie nie geliebt. Ich war diejenige, die er liebte. Seine Reisen hier nach London hatten nur den Zweck, mich zu sehen. Erst stieg er im Savoy ab, bevor er den Zug nach Margate nahm. Von Zeit zu Zeit fuhr er wieder nach London, um Sie anzurufen oder einen Brief für Sie aufzugeben. Ich habe diese letzten zwei Monate, in denen ich ihn mit Ihnen zu teilen hatte, gehasst. Aber es war notwendig und nur vorübergehend. Wir wollten beide überleben. Bis …“ Sie sah beiseite. Plötzlich glitzerten Tränen in ihren Augen.

„Was ist geschehen, Eve?“

Eve räusperte sich und hob entschlossen den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß lediglich, dass er London vor zwei Wochen verlassen hat. Er nahm an einer Operation gegen Magus teil. Dann ging etwas schief. Man folgte ihm. Jemand deponierte einen Sprengsatz, der in seinem Hotelzimmer losgehen sollte. Er rief von Berlin aus an und ließ mich wissen, er habe sich entschlossen zu verschwinden. Auch ich solle mich verstecken. Sobald die Zeit reif sei, würde er mich holen kommen. Doch in der Nacht, bevor ich Margate verließ, hatte ich so ein … so eine Vorahnung. Ich versuchte, ihn in Berlin anzurufen. Da habe ich dann erfahren, dass er tot ist.“

„Aber er ist nicht tot!“, entfuhr es Sarah. „Er lebt!“

Eves Hände zuckten, fast hätte sie die Zigarette fallen lassen. „Was?“

„Er hat mich vor zwei Tagen angerufen. Deshalb bin ich ja hier. Er bat mich, zu ihm zu kommen. Er sagte … er liebe mich …“

„Sie lügen!“

„Es ist wahr!“, rief Sarah. „Ich kenne seine Stimme.“

„Ein Tonband vielleicht … oder ein ähnlicher Trick. Es ist so leicht, eine Stimme nachzuahmen. Nein, er kann es nicht gewesen sein. Er hätte bestimmt nicht Sie angerufen“, entgegnete Eve kalt.

Sarah schwieg. Weshalb sollte jemand Geoffreys Stimme imitieren, um sie nach Europa zu locken? Dann fiel ihr wieder etwas anderes ein, ein weiteres Detail, das keinen Sinn ergab. Sie sah Eve über den Tisch hinweg an. „An dem Tag, an dem ich aus Washington abfuhr, ist jemand in meine Wohnung eingebrochen. Alles, was entwendet wurde, war eine Fotografie – nur das … und ich verstehe immer noch nicht …“

„Ein Foto?“, fragte Eve scharf. „Von Geoffrey?“

„Ja. Es war unser Hochzeitsfoto.“

Eve erbleichte. Sie drückte hastig ihre Zigarette aus und riss ihre Handtasche sowie ihren Pullover an sich.

„Wohin wollen Sie?“, fragte Sarah.

„Ich muss zurück. Er wird nach mir suchen.“

„Wer?“

„Geoffrey.“

„Aber Sie sagten doch, er sei tot!“

Eves Augen glänzten und funkelten plötzlich sehr erregt. „Nein. Nein, er lebt! Er muss am Leben sein! Begreifen Sie denn nicht? Man kennt sein neues Gesicht nicht. Deshalb wurde das Foto gestohlen. Das bedeutet, dass man noch hinter ihm her ist.“ Sie zog sich flink den Pullover über und stürzte zur Tür.

„Eve!“ Sarah rutschte von der Bank und rannte hinter der Frau her. Aber als sie draußen vor der Tür stand, war die Straße leer. Sie sah nur den Nebel, dicke, dichte Nebelschwaden, die alles einhüllten. „Eve?“, rief sie. Es kam keine Antwort.

Eve war verschwunden.

Nick lehnte müde den Kopf zurück und wünschte, er könnte schlafen. Es war ein Uhr nachts, Washingtoner Zeit, und dennoch war Nick hellwach. Er war viel zu wütend, um einschlafen zu können.

Dauernd musste er an Sarah denken und wie unschuldig sie ausgesehen hatte, wie schmerzergriffen und verletzbar. Welch hervorragende Schauspielerin! Außerdem hatte sie etliche männliche Regungen in ihm wieder zum Leben erweckt, die er längst verloren geglaubt hatte. Er hatte sie beschützen, in seinen Armen halten wollen.

Doch jetzt war er nicht mehr sicher, was er mit ihr machen würde. Der Beschützerinstinkt war allerdings bestimmt nicht mehr sein Antrieb.

Sarah Fontaines wegen hatte er seinen Job verloren, seine Loyalität wurde in Zweifel gestellt, und – schlimmer als alles andere – er kam sich wie ein Tölpel vor. Van Dam hatte recht gehabt. Als Spion war Nick lediglich ein blutiger Anfänger.

Sarah würde nicht damit rechnen, dass er jetzt auf dem Wege zu ihr nach London war. Er wusste auch schon, wo er sie finden konnte; ein Telefonat hatte bestätigt, dass sie im Savoy abgestiegen war, dem üblichen Hotel ihres Mannes. Nick freute sich schon auf das Gesicht, das sie machen würde, wenn sie ihre Tür öffnen und ihn dort vorfinden würde. Aber jetzt wollte er die Wahrheit von ihr erfahren. Mit weiteren Lügen würde er sich nicht mehr zufriedengeben.

Sarah wachte schweißgebadet aus einem wilden Albtraum auf. Jemand klopfte an ihre Tür. Sie knipste das Licht an. Es war vier Uhr morgens.

Erneut klopfte es, diesmal jedoch lauter. „Mrs Fontaine?“, rief eine männliche Stimme. „Bitte, öffnen Sie die Tür!“

„Wer ist da?“, rief Sarah.

„Die Polizei.“

Sie sprang hastig aus dem Bett, warf sich den Morgenmantel über und öffnete ihre Zimmertür. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen draußen im Korridor, begleitet von einem schläfrig wirkenden Hotelangestellten.

„Sind Sie Mrs Sarah Fontaine?“

„Ja. Worum geht es?“

„Entschuldigen Sie die Störung, aber Sie werden uns zum Polizeihauptquartier begleiten müssen.“

„Ich begreife nicht. Weshalb?“

„Wir sind gezwungen, Sie mitzunehmen.“

Sarah klammerte sich mit beiden Händen an der Tür fest und starrte die Polizisten entsetzt an.

„Wollen Sie damit etwa andeuten, ich sei verhaftet? Aber warum?“

„Wegen Mordes. Wegen Mordes an Mrs Eve Fontaine.“

5. KAPITEL

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Sarah.

Das Ganze war bestimmt nur die Fortsetzung ihres Albtraumes. Sie saß auf einem harten Stuhl und starrte auf einen kahlen Holztisch, der vor ihr stand. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke herab und blendete sie. Der Raum war kalt, und Sarah fror in dem dünnen Kleid, das sie sich schnell übergezogen hatte. Ein Beamter mit eisig blauen Augen feuerte Fragen über Fragen auf sie herab, aber Sarah hatte kaum Gelegenheit, eine ihrer Antworten richtig zu beenden.

Plötzlich wurde er herausgerufen, und Sarah blieb aufgeregt und verzagt allein im Raum zurück. Sie stützte den Kopf in die Hände und spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Sie konzentrierte sich so sehr, die Tränen zu unterdrücken, dass sie nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde.

Sie vernahm jedoch eine Stimme, die ihren Namen rief. Dieses eine Wort war wie ein wärmender Sonnenstrahl. Sie sah auf.

Nick O’Hara stand vor ihr. Wie durch ein Wunder war er in London aufgetaucht, ihr einziger Freund in diesem fremden Land.

War er wirklich ihr Freund?

Sarah bemerkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Er hielt die Lippen aufeinandergepresst. Seine Augen waren ausdruckslos auf sie gerichtet. Verzweifelt suchte Sarah nach etwas Wärme, etwas Trost in seinem Gesicht, aber sie entdeckte nur Zorn. Nach und nach nahm sie die anderen Einzelheiten wahr: sein zerknittertes Hemd, die schiefe Krawatte, den Aufkleber der British Airways auf seinem Aktenkoffer. Er war gerade erst mit dem Flugzeug eingetroffen.

Er drehte sich um und warf die Tür mit einem lauten Knall zu, der sie zusammenzucken ließ. Dann legte er seinen Attachékoffer auf den Tisch und drehte sich ihr mit einem finsteren Blick zu.

„Werden Sie mich hier herausholen?“, fragte Sarah mit dünner Stimme.

„Das hängt davon ab.“

„Wovon?“

„Ob Sie es getan haben oder nicht.“

„Natürlich war ich es nicht!“

Er schien von ihrem wilden Ausbruch überrascht zu sein. Einen Moment lang sagte er nichts. Dann kreuzte er die Arme vor der Brust und setzte sich auf die Kante des Tisches.

Sarah hatte Angst, ihm ins Gesicht zu sehen, Angst vor dem anklagenden Ausdruck seiner Augen. Der Mann, den sie als ihren Freund betrachtet hatte, war plötzlich zu jemandem geworden, den sie kaum kannte. Er hielt sie also auch für schuldig. Welche Hoffnung blieb ihr dann noch, vollkommen Fremde von ihrer Unschuld zu überzeugen, wenn selbst Nick O’Hara ihr nicht glaubte? Bitter stellte sie fest, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatte. Und der Grund seiner Anwesenheit hier war jetzt ja auch offenkundig. Er erfüllte lediglich seine Pflicht.

Sie ballte die Hände zu Fäusten auf der Tischplatte. Sie war wütend auf Nick, weil er sie in dieser hilflosen Situation miterlebte und weil er das Vertrauen, das sie in ihn als Freund gesetzt hatte, nicht rechtfertigte.

„Warum sind Sie in London?“, murmelte sie.

„Ich könnte Ihnen dieselbe Frage stellen. Aber diesmal möchte ich die Wahrheit hören.“

„Die Wahrheit?“ Sarah sah auf. „Ich habe Sie nie belogen! Sie waren der Einzige …“

„Ach, lassen Sie das!“, unterbrach er sie kurz angebunden. Erbost sprang er auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Schenken Sie sich diesen Unschuldsblick, Mrs Fontaine. Sie müssen mich für reichlich dumm halten. Zuerst behaupten Sie, von nichts zu wissen, und dann fliegen Sie überstürzt nach London ab. Ich habe mich gerade mit dem Inspektor unterhalten. Jetzt möchte ich Ihre Version hören. Sie wussten von Eve, nicht wahr?“

„Nein, ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz. Jedenfalls bis gestern nicht. Und Sie sind derjenige, der gelogen hat, Mr O’Hara.“

„In welcher Hinsicht?“

„Über Geoffrey. Sie erklärten mir, er sei tot. Oh, Sie haben mich mit all den schönen Beweisen versorgt, Sie erklärten alles so säuberlich, so perfekt. Und ich habe Ihnen geglaubt! Dabei wussten Sie es die ganze Zeit, nicht wahr? Sie haben es bestimmt gewusst!“

„Wovon sprechen Sie eigentlich?“

„Geoffrey lebt!“

Der ungläubige Blick, mit dem er Sarah jetzt ansah, war zu echt. Sie starrte ihn an und fragte sich, ob es wirklich möglich sei, dass er nichts davon gewusst habe.

„Ich halte es für besser, wenn Sie mir das genau erklären“, sagte er. „Und ich möchte alles wissen, Sarah. Weil Sie, wie Ihnen zweifellos klar ist, in den größten Schwierigkeiten stecken. Die Beweise …“

„Die Beweise sind lediglich Indizien!“

„Tatsache ist doch, dass man die Leiche Eve Fontaines gegen Mitternacht in einer verlassenen Gasse ein paar Häuserblocks vom Lamb and Rose entfernt gefunden hat – erstochen. Die Kellnerin des Lamb and Rose erinnerte sich daran, Eve mit einer Frau – einer Amerikanerin – gesehen zu haben, nämlich mit Ihnen. Sie wusste auch noch, dass Sie beide einen Streit hatten. Eve rannte aus dem Lokal, und Sie sind ihr gefolgt. Das war das Letzte, was man von Eve Fontaine gesehen hat.“

„Ich habe sie vor dem Lamb and Rose aus den Augen verloren!“

„Gibt es dafür einen Zeugen?“

„Nein.“

„Wie ärgerlich! Die Polizei hat in Eves Haus in Margate angerufen und mit dem Gärtner gesprochen. Der alte Mann konnte sich gut an Sie erinnern. Er sagte aus, er habe Ihre Nachricht an Eve per Telefon weitergegeben. Und zufällig besaß er auch diesen Zettel mit Ihrem Namen und dem des Hotels.“

„Ich habe ihm den Zettel gegeben, damit Eve mich anrufen konnte.“

„Nun, für die Polizei haben Sie ein eindeutiges Motiv – Rache. Sie fanden heraus, dass Geoffrey Fontaine ein Bigamist war, und beschlossen, die Sache zu klären. Das sind die Fakten, gute, klare und unwiderlegbare.“

„Das bedeutet doch aber noch lange nicht, dass ich sie umgebracht habe!“

„Nein?“

„Sie müssen mir glauben!“

„Warum sollte ich?“

„Weil es sonst niemand tut.“ In diesem Augenblick wurde Sarah von Furcht und Erschöpfung überwältigt. Sie senkte den Kopf und wiederholte leise: „Niemand sonst tut es …“

Nick beobachtete sie verwirrt mit gemischten Gefühlen. Sie wirkte so ermattet, sah so verstört aus, wie sie über dem Tisch zusammengesunken dasaß. Eine Strähne ihres kupferroten Haares war ihr ins Gesicht gefallen und hing ihr über die glatte, blasse Wange. Es war das erste Mal, dass er sie mit offenen Haaren sah, und wieder wurde er daran erinnert, dass er sich während des Fluges gewünscht hatte, sie in die Arme schließen zu können.

Plötzlich war aller Ärger auf Sarah verschwunden. Nick hatte ihr wehgetan, und nun hatte er mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Sanft berührte er ihren Kopf. „Sarah, es kommt schon alles wieder in Ordnung“, flüsterte er. „Sarah“, bat er drängend, als sie sich nicht rührte, „sagen Sie etwas. Erzählen Sie mir, weshalb Sie glauben, Ihr Mann sei noch am Leben.“

Sarah atmete tief ein und blickte ihn an. Sie hatte die Augen eines Rehs, weich und groß. In diesem Moment spürte Nick, wie sehr sie sich hatte überwinden müssen, ihm in die Augen zu sehen und die Tränen zurückzuhalten. Er hatte sich in Sarah geirrt. Sie war innerlich nicht zerbrochen. Sie besaß eine Willenskraft, die er nie bei ihr vermutet hätte.

„Er rief mich an“, begann sie. „Vor zwei Tagen, in Washington … am Nachmittag der Beerdigung …“

„Halt. Er hat Sie angerufen?“

„Er bat mich, zu ihm zu kommen. Die Verbindung brach ab. Er hat mir nicht gesagt, wo er war …“

„War es ein Ferngespräch?“

„Davon bin ich überzeugt.“

„Und deshalb sind Sie abgeflogen. Aber warum nach London?“

„Das … das war nur so ein Gefühl. Hier war er zu Hause. Hier hätte er sein müssen.“

„Und wann haben Sie von Eve erfahren?“

„Nachdem ich hier eingetroffen bin. Die Empfangsdame des Hotels zeigte mir eine Adresse auf Geoffreys Anmeldekarte. Es war Eves Haus in Margate.“

Nick nahm diese Fülle neuer Fakten mit wachsender Verwirrung zur Kenntnis. Er zog sich einen Stuhl heran und sah Sarah aufmerksam an.

„Sie haben mir gerade etwas zu denken gegeben“, murmelte er. „Dieser Anruf von Geoffrey… Er ist so abenteuerlich, dass ich beginne, Ihnen zu glauben. Sie müssen die Wahrheit sagen …“

„Ich sage die Wahrheit!“

„Gut, gut. Im Zweifelsfall für den Angeklagten.“

Nick fing an, ihr Glauben zu schenken. Das war alles, worauf es Sarah ankam, diesen winzigen Hoffnungsschimmer zu haben. Es bedeutete ihr im Augenblick mehr als alles andere auf der Welt. Verrückt, dachte sie. Nach all dem, was sie an diesem Morgen durchgemacht hatte, kamen ihr erst jetzt die Tränen. Sie schüttelte den Kopf und lachte kurz auf. „Was haben Sie nur an sich, Mr O’Hara?“, fragte sie. „Ich breche immer dann in Tränen aus, wenn Sie in der Nähe sind.“

„Ist schon in Ordnung“, beruhigte er sie. „Dass Sie weinen, meine ich. Frauen tun mir das immer an. Wahrscheinlich liegt das an meinem Job.“

Sarah blickte ihn an. Er lächelte. Welch überraschende Veränderung – von einem Fremden zu einem Freund. Irgendwie hatte sie vergessen, wie attraktiv er war. Nicht nur was sein Äußeres betraf. Sie spürte eine neue Zärtlichkeit, eine Zutraulichkeit in seiner Stimme, als ob er sich tatsächlich um sie sorgte. Wirklich? Oder interpretierte sie zu viel hinein? Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

Er schien zu zögern und wirkte fast verlegen, als er sich zu ihr hinabbeugte. Sie zitterte. Sofort zog er seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern. Die Jacke roch nach Nick, und Sarah fühlte sich auf einmal warm und geborgen. Sie zog die Jacke fester um sich, und eine Ruhe kam über sie, ein Gefühl, dass ihr niemand etwas anhaben könne, solange Nick O’Haras Jacke um ihre Schultern lag.

„Sobald unser Mann vom Konsulat aufkreuzt, werden wir Sie hier herausbekommen“, sagte Nick.

„Aber sind Sie denn nicht damit betraut?“

„Ich fürchte, nein. Dies ist nicht mein Gebiet.“

„Warum sind Sie dann hier?“

Ehe Nick antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen.

„Nick O’Hara“, sagte ein stämmiger, untersetzter Mann. „Was zum Teufel machen Sie hier? Wenn ich richtig gehört habe, dann sind Sie nicht mehr bei uns. Stimmt das?“

Nick drehte sich zu dem Mann, der im Türrahmen stand, um. „Hallo, Potter“, grüßte er nach einer ausgesprochen peinlichen Pause. „Es ist schon lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Sarah. Sie war plötzlich alarmiert. „Warum sollte Mr O’Hara nicht länger bei Ihnen sein?“

„Was er meint“, erklärte Nick gelassen, „ist, dass man mich auf unabsehbare Zeit beurlaubt hat. Die Neuigkeit hat sich schnell herumgesprochen, wie ich sehe.“

„Wenn es sich um die nationale Sicherheit handelt, ist das doch kein Wunder.“ Mit einem Schulterzucken wandte Potter sich Sarah zu. „Ich habe Ihre Situation mit Inspektor Appleby besprochen. Er hat mir mitgeteilt, dass die gegen Sie vorliegenden Beweise nicht so stichhaltig sind, wie er angenommen hatte. Er ist bereit, Sie freizulassen – vorausgesetzt, dass ich die Verantwortung für Ihr weiteres Verhalten übernehme.“

Sarah war erstaunt. „Sie meinen, ich kann gehen?“

„Ganz richtig.“

„Und da ist kein … Ich bin nicht …“

„Die Anklage ist fallen gelassen worden.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Herzlichen Glückwunsch, Mrs Fontaine. Sie sind wieder eine freie Frau.“

Sarah sprang auf und ergriff seine dickliche Hand. „Mr Potter, herzlichen Dank. Haben Sie vielen Dank!“

„Keine Ursache. Machen Sie nur keinen weiteren Ärger, ja?“

„Oh, das werde ich nicht! Das werde ich ganz sicher nicht!“ Sie sah freudig erregt auf Nick und erwartete, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. Aber er lächelte nicht. Stattdessen sah er völlig verblüfft aus. Und argwöhnisch. Irgendetwas missfiel ihm, und ihr war augenblicklich nicht mehr wohl bei der Sache. „Gibt es sonst noch etwas?“, fragte sie Potter. „Etwas, das ich wissen sollte?“

„Nein, Mrs Fontaine. Sie können auf der Stelle gehen. Ich werde Sie sogar persönlich ins Savoy zurückfahren.“

„Sparen Sie sich die Mühe“, sagte Nick. „Ich werde sie zurückbringen.“

Sarah machte einige Schritte auf Nick zu. „Haben Sie vielen Dank, Mr Potter“, sagte sie, „aber dann werde ich mit Mr O’Hara fahren. Wir sind … wir sind alte Freunde.“

Potter runzelte die Stirn. „Freunde?“

„Er war mir seit Geoffreys Tod sehr behilflich.“

Mit einem finsteren Blick drehte sich Potter um und schnappte sich seinen Hut. „Gut. Viel Glück, Mrs Fontaine.“ Und an Nick gewandt: „Hören Sie zu, O’Hara, ich werde Mr van Dam in Washington einen Bericht schicken. Ich bin davon überzeugt, er wird sich sehr dafür interessieren, dass Sie hier in London sind. Werden Sie bald wieder in die Staaten zurückfliegen?“

„Vielleicht“, antwortete Nick. „Vielleicht aber auch nicht.“

Potter ging zur Tür, dann drehte er sich ein letztes Mal um, und der Blick, mit dem er Nick musterte, war eiskalt. „Sie wissen, Sie hatten beim Auswärtigen Amt eine sehr gute Stellung. Ruinieren Sie sie nicht. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mir meine Schritte gut überlegen.“

Nick neigte den Kopf. „Das mache ich immer.“

„Was soll das heißen – Urlaub auf unbestimmte Zeit?“, fragte Sarah, während Nick sie zu ihrem Hotel zurückfuhr. „Sind Sie entlassen worden?“

„Mit einem Wort – ja.“

„Aber warum?“

Nick antwortete nicht. An der nächsten roten Ampel lehnte er sich zurück und seufzte. Sein Seufzer klang müde und niedergeschlagen.

„Nick?“, fragte Sarah ruhig. „War das meinetwegen?“

Er nickte. „Sie waren teilweise der Anlass. Ihretwegen scheint man meine Loyalität anzuzweifeln. Acht Jahre guter, solider Arbeit scheinen denen nichts zu bedeuten. Aber lassen Sie sich davon nicht beirren. Ich glaube, dass ich mich innerlich und ohne es zu wissen ohnehin schon seit einiger Zeit von meinem Job entfernt habe. Sie waren nur der letzte, berühmte Tropfen auf den heißen Stein.“

„Das tut mir leid.“ Sarah warf ihm einen Blick von der Seite zu und merkte, dass er die Stirn runzelte. „Nick?“

„Die Sache nimmt Formen an“, murmelte er.

„Was meinen Sie damit?“

„Sehen Sie geradeaus. Drehen Sie sich nicht um. Wir werden verfolgt.“

Der Drang, den Kopf zu wenden, war sehr stark, aber Sarah brachte es fertig, ihre Aufmerksamkeit auf die nasse Straße und den dichten Verkehr vor ihnen zu richten. Warum geschieht das alles? fragte sie sich, und ihr war bange um das Herz. „Was werden Sie jetzt machen, Nick?“

„Nichts.“

„Nichts?“

Er achtete nicht auf die Bestürzung, die aus ihrer Stimme klang. „Ganz recht. Wir verhalten uns so, als wäre alles in bester Ordnung. Wir werden zum Hotel fahren, Sie werden sich umziehen, packen und abreisen. Ich werde Sie zu den Kenmores bringen, alten Bekannten von mir. Aber erst … Halten Sie sich fest, Sarah! Wir wollen einmal sehen, wie gut diese Burschen ihr Handwerk beherrschen …“

Er scherte in eine enge Nebenstraße ein, schlängelte sich an einer Reihe von kleinen Geschäften und Cafés vorbei und trat dann abrupt auf die Bremse. Der Wagen hinter ihnen kam quietschend zum Stehen und verfehlte ihre hintere Stoßstange nur um wenige Zentimeter. Nick fing ganz unerwartet zu lachen an. Er sah zu Sarah hin, die sich am Armaturenbrett festhielt. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte. Vor lauter Angst brachte sie kein Wort heraus.

„Es ist alles okay, Sarah. Ich glaube, ich kenne diese Männer. Ich habe sie schon früher gesehen. Sie sind von der Firma. Wir sollten allerdings trotzdem vorsichtig sein.“

Sarahs Panik legte sich bereits wieder. Warum sollte sie sich vor dem CIA in Acht nehmen? Man war doch auf derselben Seite. Aber warum verfolgten sie sie dann? Sie fragte sich, wie lange man sie wohl schon beschattet haben mochte. Wenn das seit ihrer Ankunft in London der Fall gewesen war, dann konnten die CIA-Männer gesehen haben, wer Eve getötet hatte …

„Magus“, sagte sie unvermittelt und sah Nick dabei an.

Auf seinen fragenden Blick hin erläuterte sie: „Ich erinnere mich plötzlich. Das war der Codename eines Mannes, von dem mir Eve erzählt hat. Jemand, der auf schreckliche Rache aus war. Magus, der Zauberer.“

„Darauf werden wir noch zu sprechen kommen“, sagte Nick und sah in den Rückspiegel. „Wir haben nur noch eine kurze Strecke bis zum Savoy. Und man folgt uns noch immer.“

Anderthalb Stunden später saßen sie in einem Café und beendeten ihr Frühstück. Endlich fing Sarah an, sich wieder wie ein normaler Mensch zu fühlen. Zufrieden wärmte sie sich die Hände an ihrer Teetasse. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt zu einem Rock einen grauen Lambswoolpullover.

Während sie aßen, hatte Sarah Nick von den Ereignissen berichtet und dabei ständig die Tür im Auge behalten. Als sie mit ihrer Schilderung zu Ende kam, war das Geschirr bereits abgeräumt, und sie waren bei der zweiten Kanne Tee angelangt.

„Eve war also auch Ihrer Meinung, dass Geoffrey noch lebt?“, fragte er.

„Ja. Die gestohlene Fotografie überzeugte sie davon.“

„Gut“, sagte Nick und ging in Gedanken durch, was Sarah ihm soeben erzählt hatte. „Also, Eves Ansicht nach ist jemand hinter Geoffrey her, um ihn zu töten. Jemand, der nicht weiß, wie er aussieht, der aber weiß, dass sein neuer Name jetzt Fontaine lautet. Geoffrey stellt fest, dass er verfolgt wird. Er fliegt nach Berlin, ruft Eve an und trägt ihr auf zu verschwinden. Dann inszeniert er seinen eigenen Tod.“

„Das erklärt noch nicht, warum man Eve erstochen hat.“

„Eine ganze Menge wird dadurch nicht erklärt. Es bleiben zu viele Fragen. Wessen Leiche wurde zum Beispiel beerdigt? Aber wir haben wenigstens eine Erklärung für die gestohlene Fotografie. Wenn Simon Dance sich sein Äußeres durch einen Gesichtschirurgen hat verändern lassen, dann könnte es sein, dass sein Verfolger ihn nicht wiedererkennt.“

„Und weshalb verfolgt man uns? Nimmt man an, ich würde sie auf die Spur zu Geoffrey führen?“

Er nickte. „Und damit kommen wir zu dem Detail, das mich wirklich stört: Ihre Freilassung. Ich glaube kein Wort von der Geschichte, die Polizei habe nicht genügend Beweise gegen Sie. Als ich mich mit Inspektor Appleby unterhielt, schien er bereit, Sie für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter zu bringen. Dann tauchte Potter auf, und – bumm! – alles löst sich in Wohlgefallen auf. Mir nichts, dir nichts sind Sie frei. Ich glaube, dass jemand Druck auf den guten Inspektor ausgeübt hat. Die Anweisung muss von oben gekommen sein – von ganz weit oben! Jemand möchte Sie in Freiheit sehen und wartet jetzt darauf, was Sie als Nächstes unternehmen werden.“

Die Erschöpfung hatte graue Schatten unter Nicks Augen hinterlassen. Sarah fragte sich, wie viel er geschlafen haben mochte. Wahrscheinlich nur sehr wenig auf einem solchen Transatlantikflug. Sie verspürte den Wunsch, ihre Hand auszustrecken und über seine Wange zu streicheln. Doch sie strich nur mit den Fingern über seine Hand.

Er schien über die Berührung ihrer Hände auf dem Tisch erstaunt zu sein. Ich habe ihn in Verlegenheit gebracht, dachte sie, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Ich habe uns beide in Verlegenheit gebracht. Doch als sie ihre Hand fortziehen wollte, schlossen sich seine Finger fest darum. Die Wärme seiner Haut schien ihr den Arm hinaufzufließen und jeden Teil ihres Körpers auszufüllen.

„Sie glauben, Geoffrey lebt noch, nicht wahr?“, murmelte sie.

Er nickte. „Ich nehme an, dass er lebt.“

Sie starrte auf ihrer beider über dem Tisch verschränkten Hände. „Ich habe nie geglaubt, dass er tot ist“, flüsterte sie.

„Jetzt, da Sie die Tatsachen kennen, was empfinden Sie für ihn?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr …“ Mit plötzlicher Intensität sah sie Nick in die Augen. „Die ganze Zeit hindurch habe ich ihm vertraut. Ich habe an ihn geglaubt. Oh, Sie halten mich wahrscheinlich für naiv, oder? Vielleicht war ich das. Aber wir haben alle unsere Träume, Nick. Träume, von denen wir hoffen, sie mögen wahr werden. Und wenn man so ist wie ich, zweiunddreißig Jahre alt, einsam und nicht besonders hübsch, wenn dann ein Mann sagt, ich liebe dich, will man ihm umso mehr glauben.“

„Sie irren, Sarah“, sagte er sanft. „Sie sind sehr hübsch.“

Sie wusste, er wollte nur nett sein. Sie senkte den Kopf und sah betreten auf den Tisch. Was dachte er wohl wirklich von ihr? Dass nur eine so farblose Frau wie sie so leichtgläubig sein konnte?

Sie entzog ihm die Hand und griff nach der Teetasse. Natürlich wusste sie, was er dachte: dass Geoffrey sich sein Opfer geschickt ausgesucht hatte, dass Sarah, dieses Dummchen, sich schnell und heftig in ihn verliebt hatte. Sie sah es ganz deutlich vor sich, so deutlich, als hielte sie sich einen Spiegel vor das Gesicht und könne sich so unbeteiligt und kritisch sehen, wie ein Mann sie ansehen mochte: nicht hübsch, sondern scheu und linkisch.

„Es war eine Ehe voller Lügen“, sagte sie bitter. „Eigenartig, es kommt mir vor, als hätte ich die ganze Geschichte geträumt. Als sei ich überhaupt nie verheiratet gewesen …“

Er nickte. „So habe ich es manchmal auch empfunden.“

„Sie waren also auch verheiratet?“

„Nicht lange. Drei Jahre. Seit vier Jahren bin ich geschieden.“

„Das tut mir leid.“

Er suchte ihren Blick. „Sie meinen das wirklich so, nicht wahr?“

Sarah nickte. Bis zu diesem Moment hatte sie die Traurigkeit in seinen Augen noch nicht bemerkt. Jetzt entdeckte sie die gleiche Wehmut, die gleiche Pein, die auch sie empfand. Seine Ehe war gescheitert – Sarahs hatte nie existiert. Sie hatten beide ihre Wunden.

Ihre Wunden würden jedoch nicht heilen. Nicht, bis sie nicht auf ihre Fragen eine Antwort gefunden hatte. Nicht, bis sie nicht wusste, weshalb Geoffrey sie angerufen hatte.

„Wie immer Ihre Gefühle für Geoffrey auch sein mögen“, sagte Nick, „Ihnen ist doch sicherlich klar, dass es für Sie ein großes Risiko ist, hier in London zu bleiben. Sollte jemand hinter ihm her sein, sind Sie diejenige, die man beschatten wird. Offensichtlich ist man Ihnen gefolgt, wenigstens seit gestern. Sie haben die Gangster bereits zu Eve geführt.“

Sarah sah abrupt auf. „Zu Eve?“

„Ich fürchte, ja. Eve war eine professionelle Agentin, seit Jahren auf der Flucht. Sie wusste, wie man sich verbirgt, und sie konnte das sehr gut. Aber die Neugier – vielleicht auch die Eifersucht – hat sie unachtsam werden lassen. Wider besseres Wissen hat sie sich mit Ihnen getroffen. Es ist kein Zufall, dass sie ausgerechnet in der Nacht, in der Sie sich beide begegneten, umgebracht wurde.“

„Dann bin ich also an ihrem Tod schuld?“, flüsterte Sarah.

„Ja, in gewisser Hinsicht. Man muss Ihnen zum Lamb and Rose gefolgt sein. Direkt zu Eve.“

„Gütiger Himmel!“ Sarah schüttelte unglücklich den Kopf. „Ich habe die Frau fast gehasst, Nick. Als ich an sie und Geoffrey dachte, konnte ich nicht anders. Aber an ihrem Tod schuld sein … Das wollte ich nicht.“

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