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Mondlichtzauber

Als Buch hier erhältlich:

Wenn der Mond scheint, werden Träume wahr

Gerade erst haben Seth und Justine den Schock halbwegs überstanden, dass ihr Leuchtturmrestaurant einer Brandstiftung zum Opfer gefallen ist. Sie stehen vor der Ungewissheit, denn die Ermittlungen laufen noch und das Motiv ist unklar. Die Krise stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe. Seth ist sich plötzlich nicht mehr sicher, wie seine Zukunft aussehen soll. Doch Justine ist überzeugt, dass es sich lohnt, das Restaurant wieder aufzubauen und für ihre Liebe und ihren Traum zu kämpfen.


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Aus der Serie: Cedar Cove
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904822
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Martha Powers,
meine Walkingpartnerin,
ambitionierte Diätgefährtin und – unterstützerin
und nicht zuletzt meine Freundin

Liebe Freunde,

willkommen zurück in Cedar Cove! Seit eurem letzten Besuch in der Stadt ist eine Menge passiert. Olivia, Jack, Grace, Maryellen, Jon und all eure übrigen Freunde brennen darauf, euch auf den neuesten Stand zu bringen. Vermutlich interessiert euch am meisten, wer das Feuer gelegt hat, dem das Lighthouse Restaurant zum Opfer gefallen ist. Macht euch auf eine Riesenüberraschung gefasst. Als dieser Band zum ersten Mal erschien, schrieben mir viele von euch, wen sie für den Übeltäter hielten – und nur eine einzige Leserin hatte richtig geraten.

Natürlich wartet nicht nur die Auflösung dieses Rätsels auf euch, sondern ihr erfahrt auch, wie es mit allen Beteiligten weitergeht. Darüber hinaus werde ich euch mit einer neuen Hauptfigur bekannt machen, einem Schachspieler, in den ich mich im selben Moment verliebt habe, in dem er mir zum ersten Mal in den Sinn gekommen ist. Bobby Polgar ist einer meiner ungewöhnlichsten männlichen Protagonisten, und ich glaube, er wird euch genauso sympathisch sein wie mir.

Inzwischen wisst ihr vermutlich schon, dass ich gern von meinen Lesern höre. Erreichen könnt ihr mich über P. O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366, oder über meine Website unter www.debbiemacomber.com. Und jetzt lehnt euch zurück, macht es euch bequem und viel Spaß beim Lesen …

Liebe Grüße

Debbie Macomber

Die Hauptpersonen

Olivia Lockhart-Griffin: Familienrichterin in Cedar Cove. Mutter von Justine und James. Wohnt in der Lighthouse Road Nummer 16.

Jack Griffin: Zeitungsreporter und Chefredakteur des Cedar Cove Chronicle.

Charlotte Jefferson Rhodes: verwitwete Mutter von Olivia, wohnt schon ihr ganzes Leben lang in Cedar Cove. Frisch verheiratet mit dem Witwer und pensionierten Marineoffizier Ben Rhodes.

Justine (Lockhart) Gunderson: Tochter von Olivia. Verheiratet mit Seth Gunderson, Mutter von Leif. Die Gundersons leben im Rainier Drive Nummer 6.

Seth Gunderson: verheiratet mit Justine. Dem Paar gehört das Lighthouse Restaurant, das kürzlich niedergebrannt ist.

James Lockhart: Sohn von Olivia, Justines jüngerer Bruder. James ist Angehöriger der US-Marine und lebt mit Frau und Tochter in San Diego.

Stanley Lockhart: von Olivia geschieden, Vater von James und Justine. Lebt in Seattle.

Will Jefferson: Olivias Bruder, Charlottes Sohn. Verheiratet, lebt in Atlanta.

Grace Sherman: Olivias beste Freundin. Verwitwet. Bibliotheksleiterin. Mutter von Maryellen Bowman und Kelly Jordan. Lebte vor ihrer Heirat mit Cliff Harding in der Rosewood Lane Nummer 204.

Cliff Harding: Ingenieur im Ruhestand und Pferdezüchter. Wohnt in der Nähe von Cedar Cove in Olalla.

Maryellen Bowman: älteste Tochter von Grace und Dan Sherman. Mutter von Katie. Inzwischen schwanger mit ihrem zweiten Kind.

Jon Bowman: Kunstfotograf und Küchenchef. Vater von Katie.

Joseph und Ellen Bowman: Vater und Stiefmutter von Jon Bowman. Die Beziehung zwischen Jon und den beiden ist zerrüttet.

Kelly Jordan: Maryellens jüngere Schwester. Verheiratet mit Paul. Mutter von Tyler.

Zachary Cox: Steuerberater. Geschieden von und wiederverheiratet mit Rosie Cox. Vater von Allison und Eddie Cox. Der Wohnsitz der Familie befindet sich im Pelican Court Nummer 311.

Anson Butler: Freund von Allison Cox. Steht unter Verdacht, das Feuer im Lighthouse Restaurant gelegt zu haben.

Cecilia Randall: Ehefrau des Marinesoldaten Ian Randall und Mutter von Aaron. Buchhalterin, angestellt bei Zachary Cox.

Rachel Pendergast: arbeitet im Frisier- und Kosmetiksalon Get Nailed. Befreundet mit Bruce Peyton und seiner Tochter Jolene.

Bob und Peggy Beldon: beide im Ruhestand, sie haben zwei erwachsene Kinder. Ihnen gehört das Thyme and Tide, eine Pension im Cranberry Point Nummer 44.

Roy McAfee: pensionierter Polizist aus Seattle, jetzt Privatdetektiv. Verheiratet mit Corrie McAfee, die als Assistentin sein Büro führt. Sie haben zwei erwachsene Kinder, Mack und Linnette, und wohnen in der Harbor Street Nummer 50.

Linnette McAfee: Tochter von Roy und Corrie, ist kürzlich nach Cedar Cove gezogen, um als Assistenzärztin im neuen Gesundheitszentrum zu arbeiten.

Gloria Ashton: Polizistin in Bremerton, Linnettes Freundin und Nachbarin. Hat sich überraschend auch als ihre Schwester herausgestellt, die nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde und als Adoptivtochter der Ashtons aufwuchs.

Troy Davis: Sheriff von Cedar Cove. Wohnt am Pacific Boulevard Nummer 92.

Dave Flemming: Methodistenpastor, verheiratet mit Emily, zwei Söhne. Das Ehepaar wohnt im Sandpiper Way Nummer 8.

Teri Miller: Haarstylistin im Get Nailed, befreundet mit Rachel Pendergast.

Warren Saget: Bauunternehmer, ehemals mit Justine Gunderson liiert.

1. Kapitel

Justine Gunderson schreckte aus dem Schlaf hoch und spürte vage, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Nur einen Augenblick später überfiel sie die Erinnerung und stürzte sie in tiefe Traurigkeit. Auf dem Rücken liegend, starrte sie an die dunkle Zimmerdecke, während ihr erneut bewusst wurde, was geschehen war: Das Lighthouse, das Restaurant, das Seth und sie mit ihrem Herzblut aufgebaut und in das sie ihre ganze Zeit und Energie investiert hatten, gab es nicht mehr. Nichts war davon übrig geblieben. Vor einer Woche war es bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die lodernden Flammen in der Nacht hatte man meilenweit im Umkreis von Cedar Cove sehen können, und es war Brandstiftung gewesen. Wer dafür verantwortlich war, hatte sich noch nicht ermitteln lassen.

Ohne sich erst vergewissern zu müssen, wusste Justine, dass ihr Mann nicht neben ihr im Bett lag. Der Brand lag erst eine Woche zurück, aber diese Woche fühlte sich an wie ein Monat, ein ganzes Jahr, ach was, ein ganzes Leben. Seth schien seit jenem entsetzlichen Telefonanruf keine drei oder vier Stunden mehr am Stück geschlafen zu haben.

Sie schlug die Bettdecke zurück und stand langsam auf. Die Anzeige ihres Radioweckers verriet ihr, dass es noch nicht einmal vier Uhr morgens war. Der Mond schien durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen herein und warf Muster aus Licht und Schatten an die Wände des Schlafzimmers. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und machte sich auf die Suche nach ihrem Mann.

Wie vermutet, fand sie ihn im Wohnzimmer, wo er ruhelos auf und ab wanderte, mit zornigen Schritten, die ihn endlos zwischen Kamin und Fenster hin und her führten. Als er sie entdeckte, blieb er nicht etwa stehen, sondern wandte den Blick ab und wanderte weiter, als wagte er es nicht, sie anzuschauen. Sie konnte sehen, dass er sie jetzt nicht um sich haben wollte. Seit der Nachricht von dem Brand erkannte sie ihn kaum noch wieder.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte sie flüsternd, um ihren vierjährigen Sohn nicht zu wecken. Leif hatte einen leichten Schlaf, und obwohl er noch zu klein war, um das Geschehene zu verstehen, spürte er doch, wie aufgelöst und durcheinander seine Eltern waren.

»Ich will herausfinden, wer das getan hat und warum.« Mit geballten Fäusten wandte er sich ihr zu und sah sie an, als sollte sie ihm diese Frage beantworten können.

Justine strich sich die langen glatten Haare hinter die Ohren und ließ sich in den Schaukelstuhl sinken, in dem sie ihren Sohn als Baby gestillt hatte. »Das will ich auch«, sagte sie. Noch nie hatte sie Seth so erlebt, so ruhelos und gequält. Ihr umwerfend hellblonder Mann hatte schwedische Vorfahren und war groß – über einen Meter neunzig – und kräftig mit breiten Schultern. Er hatte als Fischer gearbeitet und diesen Beruf erst kurz nach ihrer Heirat an den Nagel gehängt. Damals hatten sie beschlossen, ein Restaurant zu eröffnen. Das Lighthouse war Seths Lebenstraum gewesen, und mit finanzieller Unterstützung seiner Eltern hatte er alles, wirklich alles – sein ganzes Können, sein Herzblut und ihr gesamtes Vermögen – in dieses Unternehmen investiert. Justine hatte ihm bei jedem Schritt tatkräftig zur Seite gestanden.

Zu Anfang, als Leif noch ein Säugling gewesen war, hatte sie sich um die Buchführung und die Gehälter der Angestellten gekümmert. Als ihr Sohn dann in die Vorschule ging, hatte sie sich aktiver eingebracht und war immer und überall eingesprungen, wenn jemand gebraucht wurde.

»Wer tut denn so etwas? Wer kann das gewesen sein?«, fragte Seth erneut.

Sie hatte genauso wenig wie er eine Antwort auf diese Frage. Warum irgendwer ihnen beiden so sehr schaden wollte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Ihres Wissens hatten sie weder Feinde noch ernsthafte Konkurrenten. Zwar fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie einfach einem Feuerteufel zum Opfer gefallen waren, aber vielleicht war es ja tatsächlich so. Bisher machte die Suche nach dem Brandstifter jedenfalls kaum Fortschritte.

»Seth«, flüsterte sie sanft und streckte ihre Hand nach ihm aus. »Du kannst so nicht weitermachen.«

Er reagierte nicht, und sie erkannte, dass er sie nicht einmal gehört hatte. So gern hätte sie ihn beruhigt, ihm beigestanden, aber sie fürchtete, dass das Feuer mehr zerstört hatte als nur das Restaurant. Es hatte Seth den inneren Frieden genommen, ihn seiner Ziele und in gewisser Weise auch seiner Unschuld beraubt. Er hatte den Glauben an das Gute in seinen Mitmenschen verloren und zugleich das Vertrauen in sein eigenes Können.

Justine hatte ihre kindliche Unschuld bereits an einem sonnigen Sommernachmittag im Jahr 1986 verloren, als ihr Zwillingsbruder Jordan ertrank. Sie hatte seinen leblosen Körper in den Armen gehalten, bis die Sanitäter kamen – unter Schock und unfähig zu begreifen, dass ihr Bruder, ihr Zwillingsbruder, nicht mehr bei ihr war. Er hatte sich bei einem unvorsichtigen Kopfsprung von einer schwimmenden Plattform ins Wasser das Genick gebrochen.

An diesem Tag geriet ihre Welt aus den Fugen. Ihre Eltern ließen sich kurz nach Jordans Tod scheiden, ihr Vater heiratete schnell wieder. Rein äußerlich schien es so, als hätte Justine es gut verkraftet, dass ihre Welt auf den Kopf gestellt worden war. Sie machte erst ihren Abschluss an der Highschool, dann am College und fand eine Stelle bei der First National Bank, wo sie schnell zur Filialleiterin aufstieg. Obwohl sie nicht vorhatte, jemals zu heiraten, traf sie sich mit Warren Saget, einem ortsansässigen Bauunternehmer, der im selben Alter war wie ihre Mutter. Und dann begegnete sie bei einem Klassentreffen Seth Gunderson.

Er war der beste Freund ihres Bruders gewesen. Und sie hegte die feste Überzeugung, dass Jordan noch am Leben und ihr eigenes Leben ganz anders verlaufen wäre, wenn Seth an jenem Tag bei ihm gewesen wäre. Warum sie das glaubte, wusste sie selbst nicht. Außerdem war es albern, so etwas zu denken – das war ihr durchaus bewusst. Und dennoch … Sie glaubte es einfach.

Während ihrer Highschoolzeit hatte sie kaum ein Wort mit Seth gewechselt. Er war der Footballstar, die Sportskanone der Klasse und sie diejenige mit den besten Noten. Seit ihrer Schulzeit hatten sie einander nicht mehr gesehen, bis zu dem Abend vor fast sechs Jahren, an dem sie ihm zufällig bei einer Planungsrunde für ein Klassentreffen über den Weg lief. Als Seth beiläufig erwähnte, dass er auf der Highschool in sie verschossen gewesen war, hatte sein Blick ihr verraten, wie schön er sie früher gefunden hatte und dass er sie nun sogar noch schöner fand.

Die Anfangszeit ihrer Liebe war keine leichte gewesen. Warren Saget hatte Angst, sie zu verlieren, und gab sich allergrößte Mühe, sie zur Heirat mit ihm zu drängen. Ihm war instinktiv klar, dass Seth für ihn eine Bedrohung war. Also kaufte Warren ihr den protzigsten Diamantring, den Justine je gesehen hatte, und versprach ihr ein Leben in Luxus und Bekanntheit, wenn sie sich bereit erklärte, seine Frau zu werden.

Seth hingegen konnte Justine nur ein zwanzig Jahre altes Haussegelboot bieten – und seine Liebe. Damals war sie so unglaublich verrückt nach ihm, dass sie in seiner Nähe kaum noch Luft bekam. Dennoch fiel es ihr sehr schwer, sich zu entscheiden. Sie war nicht bereit gewesen, auf ihr Herz zu hören – bis sie ihm eines Tages einfach nicht mehr hatte widerstehen können …

»Ich rufe nachher den Brandursachenermittler an«, murmelte Seth und unterbrach damit ihre Gedanken. »Ich will endlich Antworten.«

»Seth«, versuchte sie es noch einmal, »Schatz, warum …«

»Komm mir nicht mit ›Schatz‹«, fuhr er sie an.

Justine zuckte zusammen, so viel Zorn lag in seiner Stimme.

»Das ist jetzt eine ganze Woche her. Inzwischen müssen sie irgendetwas herausgefunden haben, was sie uns einfach nicht erzählen. Es gibt etwas, von dem sie nicht wollen, dass ich es erfahre, und ich werde herausfinden, was es ist. Und wenn ich Roy McAfee dafür engagieren muss, ich werde dahinterkommen!« Jetzt schaute er sie direkt an, vermutlich zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte.

Er sprach vom einzigen Privatdetektiv in der Stadt. »Seth, ich mag und vertraue Roy«, antwortete sie sanft, »aber die Brandinspektion ermittelt bereits. Genau wie die Versicherung. Lass sie einfach ihre Arbeit tun. Und den Sheriff ebenso.«

Frustriert fuhr Seth sich mit den Fingern durchs Haar und atmete tief aus. »Es tut mir leid. Ich will meinen Frust nicht an dir auslassen.«

»Ich weiß.« Sie stand auf, ging zu ihm und schmiegte sich in seine Arme, damit er sich entspannte. »Komm zurück ins Bett und versuch zu schlafen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich dasselbe Bild vor mir: das Lighthouse, wie es in Rauch aufgeht.«

Seth war nur Minuten nach den Feuerwehrautos am Brandort angekommen, hatte hilflos danebengestanden und mitansehen müssen, wie das Restaurant, das bereits lichterloh brannte, unrettbar verloren ging.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass es Anson Butler war«, sagte Justine. Sie hatte den Jungen gemocht und ihm vertraut. Ihre Freunde und Nachbarn hielten das für einen Fehler.

»Du willst nicht glauben, dass er es war«, gab ihr Mann zurück, und wieder sprach Wut aus seinen schroffen Worten.

Das stimmte. Seth hatte Anson etliche Monate zuvor eingestellt. Der Teenager arbeitete, um die Strafe zu bezahlen, die ihm wegen eines von ihm verursachten Brandes im Stadtpark auferlegt worden war. Er konnte nicht erklären, warum er den Werkzeugschuppen in Brand gesetzt hatte. Justine kannte nur die wenigen Fakten, die Seth ihr erzählt hatte, als er den Jungen einstellte.

Man musste Anson zugutehalten, dass er sich damals selbst gestellt und die volle Verantwortung für seine Tat auf sich genommen hatte. Das hatte Seth beeindruckt. Die Empfehlung von Zachary Cox, der so etwas wie ein Mentor des Jungen geworden war, tat ihr Übriges, dass Seth sich bereit erklärte, Anson einen Job zu geben.

Zunächst hatte der Teenager alles getan, um sich zu beweisen. Er kam frühzeitig zu seiner Schicht, machte Überstunden, bemühte sich eifrig, seinen Arbeitgeber zufriedenzustellen. Doch innerhalb weniger Wochen löste sich all das in Wohlgefallen auf. Tony, der ebenfalls als Tellerwäscher bei ihnen angestellt war, hegte eine Abneigung gegen Anson, und die beiden gifteten sich gegenseitig an. Soweit Justine wusste, waren sie auch ein- oder zweimal körperlich aneinandergeraten. Das Resultat ihrer Feindseligkeiten waren zunehmende Spannungen in der Küche. Seth hatte das Ganze mit ihr besprochen, und sie schlug vor, die beiden jungen Männer zu trennen. Daraufhin beschloss Seth, Anson zum Hilfskoch zu machen. Doch Tony gefiel es überhaupt nicht, dass Anson befördert wurde, während er, der schließlich schon länger für Seth arbeitete, Tellerwäscher blieb.

Dann wurde im Büro Geld gestohlen, und obwohl auch andere Zugang zur Geldkassette gehabt hätten, waren sowohl Tony als auch Anson laut Zeugenaussagen im Büro gesehen worden. Als sie Anson dazu befragten, erklärte der, dass er nach Seth gesucht habe, weil ein Lieferant ein Problem hatte. Tony behauptete, er habe mit Seth über seine Schichteinteilung reden müssen. Beide junge Männer waren Verdächtige, und Seth hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als beide zu entlassen. Das gestohlene Geld war nie wieder aufgetaucht. Seth gab sich selbst die Schuld, denn er hatte den Safe offen stehen lassen, in dem die Kassette aufbewahrt wurde, als er das Büro kurz verlassen hatte.

Eine Woche später war das Lighthouse vollkommen niedergebrannt.

»Es ist nicht erwiesen, dass Anson es war«, erinnerte Justine ihren Mann.

»Wir werden Beweise bekommen. Ganz gleich, ob er schuldig ist oder ein anderer. Wir werden denjenigen finden, der das getan hat.« Entschlossenheit sprach aus seiner Miene und der Anspannung seines Körpers.

»Versuch zu schlafen«, drängte sie ihn erneut, und er ließ sich von ihr zurück ins Schlafzimmer führen, wenn auch widerwillig.

Zusammen schlüpften sie unter die Decke, und sie rückte ganz nah an ihn heran. Er lag auf dem Rücken, die Augen geöffnet, während sie ein Bein über seines schob und einen Arm auf seinen starken Brustkorb legte. Er drückte sie an sich, als wäre sie sein einziger Halt in einer Welt, die um ihn herum zerfiel. Zärtlich küsste sie ihn auf den Hals und raunte ihm etwas ins Ohr, in der Hoffnung, dass seine innere Unruhe nachlassen würde, wenn sie miteinander schliefen, und es ihm anschließend leichterfallen würde, sich zu entspannen. Aber Seth schüttelte den Kopf und wies ihr subtiles Angebot zurück. Sie schluckte die Enttäuschung herunter und versuchte die Zurückweisung nicht persönlich zu nehmen. All das wird bald vorbei sein, redete sie sich ein. Schon bald würde wieder Normalität in ihr Leben einkehren. Das musste sie einfach glauben. Ohne diese Hoffnung würde sie verzweifeln, und das durfte sie unter keinen Umständen. Sie kämpfte darum, sich eine positive Einstellung zu bewahren, um ihres Mannes und ihrer Ehe willen.

Als Justine wieder wach wurde, war es bereits Morgen, und Leif kletterte zu ihr ins Bett, weil er sein Frühstück wollte. Penny, ihr Cockerspaniel-Pudel-Mix, folgte ihm dicht auf den Fersen, sichtlich versucht, sich ebenfalls aufs Bett zu wagen.

»Wo ist Daddy?«, fragte Justine ihren Jungen, während sie sich aufsetzte und sich müde mit der Hand übers Gesicht fuhr.

Leif hob seinen Teddybären auf das Bett und sah sie eindringlich aus seinen blauen Augen an. »Im Büro.«

Das war kein gutes Zeichen.

»Es wird Zeit, dass wir dich startklar machen für die Schule«, erklärte Justine mit einem Blick auf die Uhr. Es war schon Viertel vor acht. Leif ging jeden Morgen zur Vorschule, und obwohl sie keine eigenen festen Verpflichtungen und Arbeitszeiten mehr hatten, gaben Seth und sie sich größte Mühe, die Routine in Leifs Leben aufrechtzuerhalten.

»Daddy ist wieder wütend«, flüsterte der Vierjährige.

Sie seufzte. Das geschah mittlerweile beinahe jeden Tag, und sie fragte sich besorgt, wie die ständige Spannung sich auf ihren Sohn auswirken mochte, der einfach noch nicht verstehen konnte, warum sein Vater wütend war und seine Mutter manchmal weinte.

»Hat er dich angeknurrt?«, fragte sie, brüllte dann wie ein Grizzlybär und ahmte mit den Händen mächtige Bärenpranken nach. Während Penny fröhlich kläffte, kroch Justine auf der Matratze ihrem Sohn hinterher und lenkte ihn so von den Sorgen um seinen Vater ab.

Leif kreischte, krabbelte rasch vom Bett und rannte in sein Zimmer. Justine folgte ihm und trieb ihn lachend in die Enge. In Leifs Augen blitzte Freude auf, als sie ihm seine Kleidung zurechtlegte. Er bestand inzwischen darauf, sich selbst anzuziehen, also ließ sie ihn.

Flüchtig verabschiedete sie sich von ihrem Mann und brachte Leif zur Vorschule. Als sie zurückkam und in die Einfahrt einbog, kam Seth an die Haustür, um sie zu begrüßen. Der Aprilhimmel war bedeckt, und es sah nach Regen aus. Das Wetter spiegelte ihre Stimmung perfekt wider. Ein sonniger Tag hätte irgendwie fehl am Platz gewirkt, während sie beide von Angst und Zorn erfüllt waren.

»Ich habe mit dem Brandinspektor gesprochen«, informierte ihr Mann sie, als sie aus dem Auto stieg.

»Gibt es Neuigkeiten?«

Seths Miene verfinsterte sich noch mehr. »Keine, die er mir mitteilen wollte. Der Versicherungssachverständige lässt sich auch außerordentlich viel Zeit.«

»Für diese Dinge braucht es nun einmal Geduld.« Auch sie brauchte Antworten, genauso sehr wie er, aber sie wollte auf keinen Fall, dass der Brandinspektor sich mit der Untersuchung beeilte und dadurch etwas Wesentliches übersah.

»Fang nicht schon wieder so an«, erwiderte Seth aufgebracht. »Jeden Tag verlieren wir mehr Boden unter den Füßen. Wovon sollen wir leben – ohne das Restaurant?«

»Die Versicherung …«

»Ich weiß, dass die Versicherung zahlt«, fiel er ihr ins Wort. »Aber es dauert mindestens einen Monat, bis wir das erste Geld bekommen. Und das wird unsere Angestellten nicht davon abhalten, sich woanders einen Job zu suchen. Außerdem können wir meinen Eltern davon ihre Investition nicht zurückzahlen. Sie vertrauen darauf.«

Seths Eltern hatten eine beträchtliche Summe in den Aufbau ihres Unternehmens gesteckt. Nun zahlten sie ihnen diesen Kredit in monatlichen Raten zurück, und Justine wusste, dass Mr. und Mrs. Gunderson auf dieses Einkommen angewiesen waren.

Justine hatte keine Lösungen für ihren Mann. Sie erkannte, dass ihm mehr zu schaffen machte als die finanziellen Probleme, die der Brand aufgeworfen hatte, aber sie konnte nicht mit schnellen Antworten dienen. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte sie. »Sag’s mir, und ich setze es um.«

Er funkelte sie wütend an, wie er es noch nie getan hatte. »Was du tun sollst? Du sollst aufhören, dich zu verhalten, als wäre das Ganze nur eine vorübergehende Unannehmlichkeit. Das Lighthouse gibt es nicht mehr. Wir haben alles verloren, und du tust so, als wäre das kaum der Rede wert.« Justine zuckte innerlich zusammen, weil diese Anschuldigung so unfair war. Aus seinem Mund klang es, als wäre sie ein naives Dummchen, dem überhaupt nicht klar war, in welcher Situation sie sich befanden. »Kapierst du eigentlich nicht, dass die letzten fünf Jahre unseres Lebens in Schutt und Asche liegen?«, wetterte er. »Fünf Jahre, in denen wir sechzehn Stunden am Tag geschuftet haben – und wofür?«

»Aber wir haben nicht alles verloren«, entgegnete sie in der Hoffnung, ihn wieder ein wenig zur Vernunft zu bringen. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten. Sie wollte ihm nur begreiflich machen, dass sie zwar eine schreckliche Zeit durchmachten, aber doch immer noch einander hatten. Sie hatten ihr Kind und ihr Haus. Zusammen würden sie die Kraft aufbringen, noch einmal neu anzufangen, aber dafür musste Seth seinen Zorn überwinden.

»Du tust es schon wieder.« Er schüttelte den Kopf, konnte seinen Frust kaum noch beherrschen.

»Du willst, dass ich genauso wütend werde wie du«, erwiderte sie.

»Ja!«, schrie er heraus. »Du solltest wütend sein. Du solltest genauso wie ich nach Antworten verlangen. Du solltest …«

»Mehr als alles andere«, fiel sie ihm ins Wort und verlor jetzt selbst die Beherrschung, »will ich meinen Mann zurück. Was geschehen ist, macht mir genauso zu schaffen wie dir. Wir haben unser Unternehmen verloren, und ich finde das schrecklich und tragisch, aber es ist für mich nicht das Ende der Welt.«

Ihr Mann starrte sie ungläubig an. »Wie kannst du so etwas sagen?«

»Vielleicht legst du es ja darauf an, auch deine Frau und deinen Sohn zu verlieren!«, schrie sie ihn an, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, stieg sie wieder in ihr Auto und knallte die Tür zu. Seth versuchte nicht, sie aufzuhalten. Das war ihr nur recht. Sie brauchte jetzt dringend Abstand von ihm.

Ohne seine Reaktion abzuwarten, fuhr sie rückwärts aus der Einfahrt heraus.

Sie hatte kein festes Ziel, fuhr einfach in die Stadt und parkte das Auto ein paar Häuserblocks von Leifs Vorschule entfernt. Ihr Sohn musste erst in zwei Stunden wieder abgeholt werden, und sie hatte nichts Dringendes zu erledigen, also ging sie hinunter zum Jachthafen.

Während sie versuchte, einen Sinn in der Katastrophe zu erkennen, die ihre Ehe in Gefahr brachte, setzte sie sich auf eine Bank im Park am Wasser und schaute auf die Bucht hinaus. Der Himmel hatte sich noch mehr verfinstert, und die Wellen brandeten gegen die Felsen vor der Küste. Sie musste nachdenken. Wenn ich wieder nach Hause komme, ist alles wieder in Ordnung, redete sie sich ein. Seth tat es bestimmt leid, was er gesagt hatte, und sie …

»Justine, bist du das?«

Sie blickte auf. Warren Saget kam auf sie zu, und sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Was nicht bedeutete, dass seine Gesellschaft ihr willkommen war – im Moment wollte sie niemanden um sich haben, schon gar nicht Warren, der überdeutlich klargemacht hatte, dass er immer noch viel für sie empfand. Als sie seinen Antrag zurückgewiesen hatte, hatte er das nicht mit Anstand akzeptiert, und deshalb ging sie ihm nach Möglichkeit aus dem Weg.

Ohne auf ihre Einladung zu warten, setzte er sich neben sie. »Ich habe von dem Brand gelesen. Es tut mir leid für dich.«

Der Cedar Cove Chronicle hatte auf der Titelseite von der Brandstiftung berichtet, die daraufhin eine Woche lang das Gesprächsthema schlechthin in der Stadt gewesen war.

»Das war … ein Schock«, murmelte sie und fröstelte plötzlich.

»Ihr werdet das Restaurant wieder aufbauen, nehme ich an?«

Sie nickte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Seth das nicht vorhatte. Schon in wenigen Monaten würden sie all das hinter sich haben. Alles würde wieder in Ordnung sein. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Eine Gänsehaut überlief ihre Arme, als ihr einfiel, dass sie genau das auch am Tag von Jordans Beerdigung geglaubt hatte. Es ist vorbei, hatte sie gedacht. Alle Verwandten würden nach Hause fahren, die Schule würde wieder beginnen, und alles würde wieder so werden wie zuvor. Aber das war nicht geschehen. Wie naiv sie doch gewesen war, als Dreizehnjährige, die fest daran geglaubt hatte, dass ihre Eltern ihre Welt bewahren würden. Doch das hatten sie nicht getan. Sie konnten es nicht. Ihr eigenes Leid hatte es ihnen unmöglich gemacht, ihr in ihrem Schmerz beizustehen. Es hatte ihre Ehe zerstört, ihre Familie auseinandergerissen. Die Trauer war alles andere als vorbei, im Gegenteil, sie hatte gerade erst begonnen.

»Warren«, sagte sie, während schlagartig Panik in ihr aufstieg. Sie griff nach seiner Hand, packte sie fest – sie hyperventilierte, konnte kaum noch richtig atmen und hörte, wie sie nach Luft rang. Die Welt begann sich um sie zu drehen.

»Was hast du?«, fragte er, und seine Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr. »Bist du krank?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie mit ersticktem Flüstern, zunehmend in Panik. Plötzlich verspürte sie den überwältigenden Drang, sich zu ihrer Mutter zu flüchten.

»Was soll ich tun?«, fragte er und legte ihr schützend einen Arm um die Schultern. »Soll ich dich in die Klinik fahren? Einen Krankenwagen rufen?«

Sie schüttelte den Kopf, fühlte sich auf einmal klein und verloren wie ein Kind. »Ich … Ich brauche meine Mutter.«

Warren zögerte keine Sekunde und sprang auf. »Ich hole sie.«

»Nein.« Sie musste sich Mühe geben, nicht loszuschluchzen. Sie war erwachsen. Eigentlich sollte sie in der Lage sein, mit den Ereignissen in ihrem Leben zurechtzukommen. Sie schaute Warren an, zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen, ihr Herz zu beruhigen, damit es langsamer schlug.

»Ich glaube, du hast eine Panikattacke«, meinte er und strich ihr die schweißfeuchten Haare aus der Stirn. »Meine arme Justine. Wo ist Seth?«

»Z-zu Hause.« Mehr konnte, mehr wollte sie ihm nicht sagen.

»Soll ich ihn anrufen?«

»Nein! Es … Es geht mir schon wieder gut«, lehnte sie zittrig ab.

Warren legte erneut seinen Arm um sie und zog ihren Kopf an seine Schulter. »Mach dir nur keine Sorgen«, flüsterte er ihr beruhigend zu. »Ich kümmere mich um dich.«

2. Kapitel

Ihre Schulbücher an sich gedrückt, rannte Allison Cox von der Geschichtsstunde zum Französischunterricht. Sie ignorierte das Getuschel ringsherum, das erstarb, sobald sie das Klassenzimmer betrat, und schlüpfte auf ihren Platz.

Niemand musste ihr sagen, worüber gesprochen worden war. Das wusste sie. Alle tratschten über Anson. Ihre Freundinnen gingen davon aus, dass er das Lighthouse angezündet hatte. Aber sie weigerte sich zu glauben, dass er irgendetwas mit dem Brand zu tun hatte. So etwas Hinterhältiges hätte er den Gundersons niemals angetan. Sie hatten ihn immer gut behandelt – und außerdem war er kein Mensch, der so etwas tat. Er war weder grausam noch rachsüchtig. Ihr war es egal, was andere dachten oder sagten. Sie würde niemals den Glauben an Anson oder ihre gemeinsame Liebe verlieren.

Sie drehte sich zu Kaci und Emily um und funkelte sie wütend an. Wenn man ihre sogenannten Freundinnen fragte, verschloss sie die Augen vor der Wahrheit. Schön, sie konnten glauben, was immer sie wollten, aber mit ihr hatte das nichts zu tun. Sie konnten Anson verurteilen, aber sie würde das nicht tun.

Das Läuten der Schulglocke verkündete den Unterrichtsbeginn, und sie drehte sich langsam wieder nach vorn um, wobei sie das neuerliche Getuschel ignorierte. Ja, Anson war gleich nach dem Brand verschwunden. Ja, er hatte den Schuppen im Park in Brand gesetzt. Aber sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass er irgendetwas mit dem zu tun haben sollte, was beim Lighthouse geschehen war.

Sie hatte sich eingeredet, dass er schon bald nach Cedar Cove zurückkommen und zum Schulabschluss wieder da sein würde. An diese Hoffnung klammerte sie sich, konzentrierte sich auf dieses Datum – den vierten Juni – und weigerte sich, an Anson zu zweifeln.

Der Nachmittag schleppte sich elend lang dahin – so wie jeden Tag, seit sie ihn in der Brandnacht zum letzten Mal gesehen hatte. Nach ihrer letzten Unterrichtsstunde konnte sie die Schule gar nicht schnell genug verlassen. Sie machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Teilzeitjob in der Buchhaltungsfirma ihres Vaters. Während sie sich zu Fuß dem Gebäude näherte, das ihrem Dad und seinen Geschäftspartnern gehörte, ging sie noch einmal alle Fakten durch, an die sie sich erinnerte. Das tat sie oft, analysierte jede Einzelheit wieder und wieder von allen Seiten. Rein logisch betrachtet, verstand sie, warum Menschen, die Anson nicht wirklich kannten, zu dem Schluss kommen konnten, dass er ein Brandstifter war. Okay, im letzten Herbst hatte er einen Fehler begangen, mit dem Geräteschuppen im Park. Aber dafür hatte er die Verantwortung übernommen, seine Strafe akzeptiert und die Sache hinter sich gelassen.

Seit einer Woche hatte sie ihn nun schon nicht mehr gesehen, und diese eine Woche war die längste ihres Lebens gewesen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie er in jener Nacht zu ihr gekommen war. Sie hatte bereits geschlafen, und er hatte an ihr Schlafzimmerfenster geklopft. Davon war sie aufgewacht. Es war nicht das erste Mal, dass er mitten in der Nacht bei ihr auftauchte, aber diesmal wollte er nicht hereinkommen. Stattdessen erklärte er ihr, er sei nur aus einem einzigen Grund gekommen, nämlich, um ihr Lebewohl zu sagen.

Sie versuchte ihm das auszureden, aber er beharrte darauf fortzumüssen. So viele Fragen blieben unbeantwortet, darunter auch die nach dem gestohlenen Geld. Er schwor, nichts davon zu wissen, und sie glaubte ihm. Mr. Gunderson hatte Anson unrechtmäßigerweise eines Verbrechens bezichtigt, das er nicht begangen hatte.

Schlimmer noch, nach der ersten Brandstiftung hatte Anson eine gerichtliche Vereinbarung unterschrieben, nicht vorzeitig von der Schule abzugehen und für den Schaden aufzukommen.

Aber schon in der Woche vor dem Feuer war er nicht mehr zum Unterricht erschienen, und Allison war krank vor Sorge gewesen. Sie fragte sich, wo er steckte und was er trieb, doch niemand schien es zu wissen, und es schien sich auch niemand dafür zu interessieren, nicht einmal seine Mutter.

Anson hatte Allison gesagt, dass er fortgehen wollte. Wohin, hatte er ihr nicht verraten, auch nicht, wann er zurückkommen würde. Er hatte sie zum Abschied geküsst, und obwohl sie ihn anflehte, zu bleiben und über alles zu reden, verschwand er einfach in der Dunkelheit der Nacht.

Am nächsten Morgen, einem der schrecklichsten Tage ihres Lebens, wurde Allison von ihrer Mutter Rosie geweckt, weil Sheriff Davis ihr ein paar Fragen stellen musste. Da erst erfuhr sie, was mit dem Lighthouse geschehen war. Obwohl sie die Fragen des Sheriffs, so gut sie konnte, beantwortete, erzählte sie ihm nicht alles.

Das konnte sie nicht.

Nicht einmal ihre Eltern kannten die ganze Wahrheit.

Sie wagte es nicht, ihrem Vater davon zu erzählen, weil sie fürchtete, dass er sein Vertrauen zu Anson verlieren würde – und sein Vertrauen zu ihr.

Allison war froh über den Job im Büro ihres Dads. Auch wenn es nur ein Teilzeitjob war, war er doch eine willkommene Ablenkung von ihren Sorgen, wenigstens für ein paar Stunden des Tages.

Ihr Vater hatte versucht, Anson zu helfen. Sie war ihm dafür dankbar, wie er sich eingeschaltet und Anson nach dem Feuer im Park zur Seite gestanden hatte. Und er war der Einzige, der sich für ihn einsetzte. Selbst Ansons Mutter wandte sich von ihm ab. Cherry Butler hatte ungerührt erklärt, dass ihr Sohn verdiene, wozu er auch immer verurteilt werde. Selbst sein plötzliches Verschwinden schien sie nicht sonderlich zu kümmern. Sie meinte, er werde schon wieder aufkreuzen, wenn er dazu bereit sei, und bis dahin wolle sie keine Zeit darauf verschwenden, sich Sorgen um ihn zu machen. Allison war über diese Einstellung mehr als nur entsetzt.

Wenn sie selbst fortgelaufen wäre, würden ihre Eltern bei der Suche nach ihr Himmel und Hölle in Bewegung setzen – das wusste sie. Und sie würden sie niemals aufgeben, wie Ansons Mutter ihren Sohn aufgegeben hatte.

Genau darauf hatte Anson sie in jener Nacht hingewiesen, als er fortging. Er sagte, Allison habe Glück, und behauptete, er selbst sei allen Menschen gleichgültig. Doch damit irrte er sich. Ihr war er keineswegs gleichgültig, und auch ihre Eltern machten sich Sorgen um ihn, obwohl sie natürlich in erster Linie Allison beschützen wollten.

Manche Kinder seien als Glückspilze geboren, hatte Anson behauptet, und sie zähle zu diesen Glücklichen. Er selbst hingegen nicht, daher müsse er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Als sie das Büro von Smith, Cox and Jefferson betrat, sah sie, dass der Empfangsbereich voller Klienten war, die mit der Abgabe ihrer Steuererklärung bis zum letzten Moment gewartet hatten. Der fünfzehnte April war schon in vier Tagen, und sie spürte die Anspannung im Raum. So lief es jedes Jahr.

Mary Lou, die den Empfangstresen managte, erwiderte Allisons Lächeln. »In der Küche wartet jemand auf dich«, sagte sie.

Einen winzigen Moment lang hoffte Allison, es könnte Anson sein, aber das war ausgeschlossen. Sowie er hier aufkreuzte, würde der Sheriff informiert werden. Ihr Vater konnte gar nichts anderes tun, als ihn anzurufen. Weil Troy Davis vermutete, Anson würde irgendwann versuchen, Kontakt mit ihr aufzunehmen, hatten ihre Eltern über diese Möglichkeit gesprochen und darüber, wie sie sich dann zu verhalten hatten. Sie konnte nichts mehr tun, ihr Vater auch nicht. Allison blieb nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.

»Wer ist es?«, fragte sie.

Mary Lou lächelte erneut. »Schau selbst, du wirst schon sehen.«

Allison war verwirrt. Es war nicht gerade typisch für Mary Lou, so geheimnisvoll zu tun.

Die Küche hinter dem Büro war keine richtige Küche, eher ein Pausenraum mit einer Mikrowelle, einem kleinen Kühlschrank, einem Esstisch und vier Stühlen. Für gewöhnlich verstaute Allison ihre Schulbücher und ihre Tasche dort in einem Schrank. Als sie den Raum betrat, entdeckte sie auf dem Tisch eine Babyschale – mit einem Baby darin.

»Cecilia!«, rief sie überglücklich. Die Assistentin ihres Vaters war für sie zu einer guten Freundin geworden, einer besseren Freundin, als ihre Eltern sich vorstellen konnten.

Vor drei Jahren hatten Zach und Rosie Cox sich scheiden lassen. Für ihre Familie war das der Beginn einer schrecklichen Zeit gewesen. Allison hatte besonders darunter gelitten. Sie rebellierte und gab sich mit den falschen Leuten ab. Ihre Leistungen in der Schule brachen ein, und ihr wurde zunehmend alles egal.

Als ihr Vater ihr den Teilzeitjob anbot, war ihr sofort klar, was er damit bezweckte. Sie wusste, dass er sie nur aus einem Grund anstellen wollte, nämlich um sie nach der Schule besser im Auge behalten zu können. Zwar nahm sie den Job an, tat es aber mit Widerwillen.

Dann stellte sie fest, dass sie gar nicht für ihren Vater arbeiten, sondern Cecilia Randall assistieren sollte. Sie war die junge Frau eines Marinesoldaten und half Allison, sich selbst und ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen, indem sie ihr die Augen dafür öffnete, was sie tat und warum. Cecilias Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie zehn war, und sie kannte und verstand den Schmerz, den Allison empfand. So war es Cecilia gelungen, sie aus der selbstzerstörerischen Bahn herauszulenken, in die sie geraten war.

Als sie Allison jetzt sah, stand sie sofort auf, um sie in die Arme zu schließen. »Ich habe entschieden, dass Aaron ein Tag an der frischen Luft und in der Sonne guttun würde«, erklärte ihre Freundin, schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Das Baby war erst drei Wochen alt, Cecilia arbeitete also erst seit Kurzem nicht mehr im Büro. Für Allison fühlte es sich jedoch so an, als hätten sie einander schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, denn in der Zwischenzeit war so viel geschehen.

Cecilia fasste sie an den Schultern, trat einen Schritt zurück und musterte sie. »Du siehst …«

»Schrecklich aus«, murmelte Allison. Allen anderen, auch ihren Eltern, konnte sie etwas vormachen, aber nicht Cecilia. Nachts fand sie keinen Schlaf, und sie war es leid, die Last all der Sorgen und der Furcht auf ihren Schultern zu tragen.

»Anson«, flüsterte Cecilia.

Sie nickte.

Das Baby begann zu weinen und verlangte nach Aufmerksamkeit. Es war lose zugedeckt mit einer Decke, die Allison gestrickt hatte. Auf den ersten Blick meinte sie, eine große Ähnlichkeit zwischen Aaron und Cecilias Mann Ian zu erkennen, aber bei näherem Hinsehen entdeckte sie auch eine Menge von Cecilia in dem Kleinen.

»Oh, er ist ja so süß«, flüsterte sie und hielt Aaron einen Finger hin, den er sofort mit seiner winzigen Hand umschloss. Erstaunt stellte sie fest, wie fest sein Griff war.

»Er ist jetzt schon verwöhnt«, meinte Cecilia und lächelte liebevoll auf ihren Sohn hinab. »Schlimm genug, dass ich immer sofort springe, wenn er sich meldet, aber du solltest Ian erst mal sehen. Man könnte meinen, die ganze Welt würde sich nur um dieses Baby drehen.«

Das erste Kind der beiden war tragischerweise kurz nach der Geburt gestorben – umso mehr wusste Allison, wie viel Aaron ihrer Freundin bedeutete. Der Kleine fing erneut an zu quengeln, nun schon ein wenig lauter. Cecilia hob ihn aus seiner Trageschale und setzte sich mit ihm an den Tisch. »Ich glaube, ich sollte ihn ein paar Minuten stillen«, sagte sie, legte sich die Decke über die Schulter, öffnete ihre Bluse und legte sich ihren Sohn geschickt an die Brust.

»Setz dich«, forderte sie Allison auf und deutete mit einem Kopfnicken auf den Stuhl neben sich.

Bereitwillig ließ Allison sich auf den Stuhl sinken. »Ich hab mir so gewünscht, mit dir reden zu können«, sagte sie. Zum Glück schien niemand sie im Moment zu vermissen. Auch wenn die Büroangestellten alle Hände voll zu tun hatten, wussten sie offenbar genau, dass Allison diese Zeit allein mit Cecilia brauchte.

»Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst«, versicherte Cecilia ihr. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, weil ich nichts von dir gehört habe.«

»Ich konnte nicht …«

»Ich weiß.« Während ihre Freundin ihren Sohn stillte, betrachtete sie ihn gedankenverloren. Mit der freien Hand streichelte sie die feinen Haare an seinen Schläfen.

»Weißt du noch, dass ich mit Ryan Wilson ausgegangen bin, als wir uns kennengelernt haben?«

»Der Junge mit der Büroklammer im Ohrläppchen?«, fragte Cecilia und grinste schief auf ihren Sohn hinab, als fürchtete sie sich jetzt schon vor dem Tag, an dem er ein Teenager sein würde. »Mir ist so, als hätte dein Vater ihn mal erwähnt.«

Allison war es äußerst peinlich, wie dumm sie sich damals verhalten hatte. Ryan bedeutete nichts als Ärger, und sich mit ihm einzulassen, hatte nur dem offensichtlichen Zweck gedient, ihren Eltern deren Selbstsucht heimzuzahlen. Im Rückblick war ihr klar, dass die beiden eine Zeit lang nicht ganz zurechnungsfähig gewesen waren. Schon kurz darauf hatten sich ihre Eltern ausgesöhnt und, noch bevor der Sommer vorbei war, erneut geheiratet.

»Anson ist ganz anders als Ryan.« Sie schüttelte den Kopf. »Manche meinen vielleicht, er sei genauso, aber Anson ist ein viel besserer Mensch. Er ist klug und loyal und nett. Ryan ist nichts dergleichen. Er hat inzwischen auch die Schule verlassen, keine Ahnung, wo er sich gerade rumtreibt.« Wo Anson war, wusste sie jedoch genauso wenig.

»Das weiß ich doch«, erwiderte Cecilia ruhig, »und zwar wegen deines Vaters. Er hätte sich niemals so engagiert, um Anson zu helfen, wenn er glauben würde, dass der Junge dir jemals wehtun könnte.«

»Er hat mir wehgetan«, widersprach Allison und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich verstehe nicht, warum er weggelaufen ist.« An ihr nagte die Frage, ob Anson daran gedacht hatte, in was für eine grässliche Lage er sie bringen würde. Natürlich war ihr klar, dass er sich den Luxus, an andere als sich selbst zu denken, nicht leisten konnte. Er musste fort, musste fliehen. Aber damit hatte er Allison mit seinen Verleumdern allein gelassen, und sie hatte Angst.

»Manchmal wissen Menschen nicht, wie sie mit Schmerz umgehen sollen«, meinte Cecilia, den Blick immer noch auf ihr Baby gerichtet. »Sie können nur auf eine Weise reagieren: indem sie weglaufen.«

»Aber das macht alles nur noch schlimmer«, sagte Allison.

»Du hast recht. Aber leider hat Anson das noch nicht durchschaut. Ich schätze, er ist verletzt und durcheinander, und seine Flucht war eine spontane Reaktion auf den Schmerz.«

»Wohin kann er gegangen sein?« Soweit sie wusste, hatte er keine Angehörigen. Seine Mutter war ihm keine Mutter, und seinen Vater kannte er nicht. Großeltern, Onkel oder Tanten hatte er nie erwähnt. Sie zermarterte sich das Hirn, wo er untergekommen sein mochte, konnte aber nur hoffen, dass er in Sicherheit war und genug zu essen bekam.

»Mom und Dad sagen, wenn er Kontakt aufnimmt, muss ich sofort Sheriff Davis anrufen.«

»Da stimme ich ihnen zu.«

Allison sah das genauso, auch wenn es ihr nicht gefiel. »Der Sheriff nennt Anson ›eine Person von besonderem Interesse‹.« Auch sie hatte ein besonderes Interesse an ihm, verflixt noch mal. Und eine Menge Fragen.

Als Aaron genug getrunken hatte, knöpfte Cecilia ihre Bluse wieder zu, legte sich das Baby über die Schulter und rieb ihm den Rücken. »Es wird sich alles regeln, Allison. Wenn Anson unschuldig ist …«

»Das ist er«, fiel sie Cecilia nachdrücklich ins Wort.

Abrupt hob die den Blick und starrte sie an. Ihre dunklen Augen schienen sich regelrecht in ihre zu bohren. »Da ist doch was, was du mir nicht erzählst, stimmt’s?«

Allison musste schlucken.

»Ich sehe es dir an.«

Einen Moment lang schwieg sie und wartete.

»Allison? Hast du von ihm gehört?«

»Nein.«

»Allison?«, hakte sie nach, immer noch mit ruhiger Stimme. »Du tust besser daran, mir davon zu erzählen.«

»Ich … Ich bin mir nicht sicher …«

»Wovor hast du Angst?«

Sie ließ den Kopf sinken und biss sich auf die Unterlippe. »Niemand weiß davon«, murmelte sie. Als der Sheriff letzte Woche da war, um mit ihr zu reden, hatte sie alle seine Fragen beantwortet – ganz genau. Aber nach einer bestimmten Sache hatte er nicht gefragt, und sie hatte es nicht von sich aus erzählt.

»Du kannst mir vertrauen«, beteuerte Cecilia. »Du weißt, dass ich nur dein Bestes will.«

Allison nickte. »Du erzählst es niemandem weiter?« Sie bemühte sich, den flehenden Unterton aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Wenn du mich bittest, nichts zu sagen, tue ich es auch nicht.«

»Niemandem«, betonte Allison.

»Versprochen.«

»Okay.« Sie holte tief Luft. »Wenn ich es dir erzähle, könntest du denken … Du könntest glauben, dass Anson den Brand gelegt hat.«

»Hältst du etwa Beweise zurück?«, hakte Cecilia eindringlich nach.

»Nein! Das könnte ich niemals.«

Erleichtert seufzte ihre Freundin auf. »Gut, denn das würde dich zur Komplizin machen.«

Das hatten Sheriff Davis und ihre Eltern ihr bereits erklärt. »Ich habe alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet.«

Cecilia runzelte die Stirn. »Aber du hast etwas Wichtiges nicht erwähnt?«

Allison ließ langsam die Luft aus ihrer Lunge entweichen. »In der Nacht … als Anson an mein Schlafzimmerfenster geklopft hat …«

Sie hob den Blick, und Cecilia nickte ihr aufmunternd zu.

»Wir haben geredet, und dann … ist er in mein Zimmer gestiegen.« Ihre Mutter hatte wirklich aufgebracht reagiert, als Allison das zugegeben hatte. Sie wollte sich nicht ausmalen, was Rosie sagen würde, wenn sie auch den Rest erführe.

»Ja?«

Allison zögerte erneut. »Er … Er war ein paar Minuten bei mir im Zimmer, und dann ist er los, und da …« Sie erstickte fast an ihren Worten.

Cecilia beugte sich zu ihr hinüber.

Allison brachte es kaum über die Lippen. »Ich … Ich konnte Rauch riechen.« Ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass sie schmerzte. »Nicht sofort, weil ich mich nur darauf konzentrieren konnte, ihn zum Bleiben zu bewegen. Mir fiel ein fremder Geruch auf, aber ich habe nicht darüber nachgedacht. Später dann schon, und als mir klar wurde, was ich gerochen hatte, habe ich mich in den Schlaf geweint.«

»Anson hat nach Rauch gerochen?«, fragte Cecilia kaum hörbar.

»So wie beim ersten Mal«, bekräftigte Allison zittrig. »Als ob … als ob er an einem Lagerfeuer gestanden hätte.«

Cecilias Schultern sanken hinab, und sie schloss die Augen.

Jetzt war genau das geschehen, was Allison befürchtet hatte. Sogar Cecilia glaubte nun, dass Anson das Lighthouse niedergebrannt hatte.

3. Kapitel

Maryellen Bowman machte einen Katzenbuckel, um ihren verspannten Rücken zu lockern, und versuchte eine bequemere Position auf dem Sofa zu finden, das zu ihrem provisorischen Bett umfunktioniert worden war. Das Wohnzimmer war zu ihrem Gefängnis geworden, als die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft anbrachen. Jon war an diesem Nachmittag mit Katie, ihrer knapp zweijährigen Tochter, draußen unterwegs, sodass es im Haus ruhig und friedlich war. Maryellen wusste, dass sie versuchen sollte, die Ruhe zu genießen, nur leider konnte sie das nicht.

Von allen Seiten stürmten Sorgen auf sie ein: wegen ihres ungeborenen Babys und der schwierigen Schwangerschaft. Wegen des Drucks, der auf ihrem Mann lastete, weil er kaum wusste, wie er den Lebensunterhalt der Familie bestreiten sollte, denn das Lighthouse, in dem er als Küchenchef gearbeitet hatte, gab es nicht mehr. Wegen seiner Karriere als Fotograf, wegen ihrer Ehe und wegen all der Fehler, die sie begangen hatte. Der schlimmste Fehler war aus bester Absicht heraus geschehen. Sie hatte sich sehr bemüht, den Bruch zwischen Jon und seinen Eltern zu kitten, und damit hätte sie fast die Beziehung zu ihrem Mann ruiniert.

Es war ihr unmöglich, sich auszuruhen, doch genau das hatte der Arzt ihr verordnet: Bettruhe bis zur Geburt des Babys. Sie durfte weder Treppen steigen noch sich sonst irgendwie anstrengen.

Aber wie sollte sie tatenlos herumliegen, wenn es so viel zu tun gab? Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und wehrte sich gegen die Depression, die sie zu überwältigen drohte. Als sie mit Katie schwanger gewesen war, war alles ganz anders gelaufen. Ihre erste Schwangerschaft war in jeder Hinsicht normal gewesen.

Ihre zweite Schwangerschaft hatte mit einer Fehlgeburt geendet. Was diese dritte Schwangerschaft sie emotional kosten würde, war noch gar nicht abzusehen, aber Jon und sie wünschten sich dieses Kind so sehr. Maryellen konnte nichts anderes tun, als die Anweisungen der Ärztin zu befolgen, zu versuchen, sich keine Sorgen zu machen, und zu beten, dass ihr Kind heil und gesund zur Welt kommen würde.

Da sie ans Bett gefesselt war, packte jeder mit an und unterstützte sie. Vor allem ihre Mutter half, so viel sie nur konnte. Zweimal wöchentlich brachte sie warmes Essen vorbei und kümmerte sich um Katie, sooft ihr eigenes geschäftiges Leben das zuließ. Das verschaffte Jon und Maryellen die dringend benötigten Erholungspausen. Es gefiel ihr gar nicht, ihre Mutter so in Anspruch zu nehmen, denn Grace und Cliff hatten erst kürzlich geheiratet und waren dabei, ihr gemeinsames Heim einzurichten. Grace musste sich in ihrem neuen Leben zurechtfinden und hatte selbst mehr als genug um die Ohren, auch ohne die zusätzliche Belastung durch Maryellens Probleme.

Das Telefon klingelte, und Maryellen griff zügig danach, dankbar für jede Ablenkung.

»Hallo«, meldete sie sich. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Stimme nicht verriet, wie sehr sie in Selbstmitleid versunken war.

»Hier ist Ellen. Alles in Ordnung bei euch?«

Das Mitgefühl ihrer Schwiegermutter überwältigte sie beinah, und plötzlich war sie den Tränen nah. Sie fühlte sich furchtbar. So schlecht war es ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht gegangen, abgesehen von der kurzen Dauer ihrer ersten Ehe.

»Mir geht es gut«, brachte sie mühsam über die Lippen.

»Und Jon?«, fragte Ellen zögernd.

»Er ist …« Sie hatte keine Hemmungen, ihren eigenen Gemüts- und Gesundheitszustand herunterzuspielen, aber sie konnte nicht lügen, wenn es um den ihres Mannes ging. »Es geht ihm nicht gut, ganz und gar nicht gut.«

Am anderen Ende der Leitung wurde es für einen Moment still. »Joseph und ich haben uns das schon gedacht. Ich weiß, dass Jon sehr verärgert ist. Er hat es klar und deutlich gesagt, dass er absolut nichts mit uns zu tun haben will. Seine Haltung bringt seinen Vater beinahe um. Aber ich weiß, dass du versucht hast, mit ihm zu reden, und wir können gar nicht in Worte fassen, wie dankbar wir dir dafür sind.«

Maryellen hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, dass sie sich in das Verhältnis zwischen Jon und seinen Eltern eingemischt hatte, und sie wagte nicht, es noch einmal zu tun. Eine Zeit lang hatten Jon und sie sich sogar getrennt, unmittelbar vor ihrer Fehlgeburt, weil sie versucht hatte, eine Versöhnung mit seinen Eltern zu arrangieren. Aber schon zu Beginn dieses Monats, kurz nachdem ihr strikte Bettruhe verordnet worden war, hatte Jon zugegeben, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als seine Familie um Hilfe zu bitten.

Trotzdem hatte er sie nicht angerufen oder auf anderem Weg kontaktiert, soweit Maryellen wusste. Stattdessen strampelten sie sich tagtäglich ab und kamen dem Zusammenbruch immer näher. Weder Jon noch sie konnten auf Dauer in diesem ständigen Stress leben.

»Jon wollte euch anrufen«, sagte Maryellen. »Das hat er mir gesagt.«

»Tatsächlich?« Hoffnung lag in Ellens Stimme.

»Er hat es nicht getan, weil … Nun, ich glaube, er hat Angst davor. Und er ist stolz. Zu stolz.«

Ellen lachte leise. »In der Hinsicht ist er wie sein Vater.«

Auch Maryellen lächelte und versuchte sich zu entspannen. Diese nervöse Anspannung schadete dem Baby, ihr selbst und allen um sie herum. Bei seinem letzten Besuch hatte Dr. DeGroot noch einmal betont, wie wichtig es war, Ruhe zu bewahren. Als er sagte, sie solle versuchen, ihr Leben stressfrei zu halten, hätte sie beinahe laut aufgelacht.

»Joseph und ich haben den Cedar Cove Chronicle abonniert und lassen ihn uns nach Oregon schicken«, sagte Ellen. »Wir haben von dem Brand im Lighthouse gelesen. Wir wissen, dass Jon dort gearbeitet hat.«

»Ja, das war eine schreckliche Nachricht.« Ohne seinen Job als Küchenchef blieben Jon nur seine Einkünfte als Fotograf, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Seine Werke wurden in einer Galerie in Seattle ausgestellt und verkauften sich gut, aber er verdiente bei Weitem nicht genug Geld, um alle Ausgaben zu bestreiten, zumal Maryellen jetzt nicht mehr krankenversichert war.

»Jon arbeitet also nirgendwo anders?«

»Seine Fotos verkaufen sich sehr gut«, versicherte sie ihrer Schwiegermutter. »Er ist so begabt.« Nur durch seine Kunst hatte Maryellen ihn überhaupt kennengelernt. Er hatte seine Fotos in der Kunstgalerie in der Harbor Street ausgestellt, die sie als Geschäftsführerin leitete. Die Bilder waren zu den begehrtesten Verkaufsstücken der Galerie geworden.

Anders als einige der anderen Künstler mied Jon die Öffentlichkeit. Erst nach Katies Geburt hatte Maryellen erfahren, dass der Mann, den sie liebte, im Gefängnis gesessen hatte. Damals hatten seine Eltern gelogen, um Jons jüngeren Bruder zu schützen, und so war Jon wegen eines Verbrechens verurteilt worden, das er nicht begangen hatte.

»Joseph und ich wollen helfen«, beharrte Ellen. »Was können wir tun?«

»Ich … Ich weiß nicht …« Ihr war nicht wohl dabei, das Offensichtliche zuzugeben, nämlich dass sie hier vor Ort, im Haus, jemanden brauchte, der sich um Katie kümmerte, das Essen zubereitete und putzte.

»Irgendwas stimmt doch nicht«, stellte Ellen knapp fest. »Was ist los?«

»Ich … Es gibt Probleme mit der Schwangerschaft. Ich bin zu strikter Bettruhe verdonnert worden.« In diesem Moment spürte sie, wie das Baby trat, als wollte es sie daran erinnern.

»Was ist mit Katie? Du kannst sie doch nicht versorgen, wenn du ans Bett gefesselt bist.«

»Tue ich auch nicht. Ich kann es nicht. Sie ist bei ihrem Vater.« Jon gab sein Bestes, allem gerecht zu werden und sich neben den Fotos auch um ihr Kind, den Haushalt und alles andere zu kümmern.

»Aber wie soll er das denn schaffen?«, fragte Ellen hörbar besorgt.

»Er schafft es nicht.« Mehr wollte sie dazu nicht sagen.

»Wir kommen«, erklärte ihre Schwiegermutter kurzerhand. »Ihr beiden braucht uns.«

Maryellen seufzte, einerseits erleichtert, andererseits voller Furcht, wie Jon darauf reagieren würde. »Ich kann euch nicht darum bitten.«

»Das hast du auch nicht getan. Unser Sohn wird seinen albernen Stolz herunterschlucken müssen. Es geht hier um seine Familie, und so, wie ich das sehe, ist das der Weg des Schicksals, uns alle wieder zusammenzubringen. Jetzt kann Jon uns nicht einfach ignorieren. Er ist unser Sohn, und Katie und euer Baby sind unsere Enkelkinder.« Entschlossenheit klang aus Ellens Stimme. Sie würde sich nicht abwimmeln lassen.

»Gib mir Zeit, erst einmal mit ihm zu reden«, bat Maryellen.

»Tu das, wenn du willst, aber was er dazu sagt, ändert überhaupt nichts an meinem Entschluss. Joseph und ich kommen nach Cedar Cove, fertig. Überlass alles mir, Maryellen«, setzte sie hinzu, und es war deutlich, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. »Ich melde mich.«

Sie beendeten das Gespräch, und sobald Maryellen aufgelegt hatte, fühlte sie sich besser als davor. Was sie Jon sagen würde, wusste sie nicht. Vielleicht würde sie das Telefonat gar nicht erwähnen. Vielleicht würde sie tatsächlich alles Ellen und Joseph überlassen. Sie war es so leid, sich mit ihrem Mann über dieses Thema zu streiten. Er hatte bereits einmal nachgegeben und sich bereit erklärt, seine Familie um Hilfe zu bitten, und dann einfach nichts getan. Noch einmal konnte und wollte sie diese kräftezehrende Auseinandersetzung nicht führen.

Gerade als sie dachte, Jon und Katie müssten jetzt eigentlich nach Hause kommen, hörte sie einen Wagen in die Auffahrt einbiegen. Sie gab sich Mühe, ausgeruht und entspannt auszusehen, versuchte zu lächeln und wartete darauf, dass ihr Mann und ihre Tochter das Haus betraten.

Stattdessen klingelte es an der Tür.

Besuch? Mitten am Tag?

Bevor sie sich rühren konnte, wurde die Tür bereits geöffnet. Herein kamen Rachel Pendergast und Teri Miller, und mit ihnen strömten warme Frühlingsluft, Sonnenschein und Lachen ins Haus. Sie arbeiteten im Get Nailed, dem Salon, in dem Maryellen sich die Haare schneiden und ihre Maniküre machen ließ. Vor ihrer erzwungenen Bettruhe …

»Rachel? Teri?« Sie hätte nicht überraschter sein können – und nicht erfreuter. »Was tut ihr hier?«

»Wir sind in wohltätiger Mission hier«, verkündete Rachel und stellte eine weiße Papiertüte auf den Couchtisch vor Maryellen, bevor sie nach ihrer Hand griff. Verächtlich seufzend schüttelte sie den Kopf. »Nun schau sich einer diese Fingernägel an«, murmelte sie.

»Und ich dachte, du könntest einen Haarschnitt gebrauchen«, setzte Teri fröhlich hinzu. »Und da wir sowieso schon hier herausfahren, dachten wir uns, wir bringen das Mittagessen für uns alle einfach mit.«

Maryellen war nach Lachen und Weinen zugleich zumute. »Woher wisst ihr, dass ich mich nach ein wenig liebevoller Zuwendung sehne?«, fragte sie, den Tränen nah.

»Das hat uns ein Vögelchen gezwitschert«, meinte Rachel fröhlich grinsend. Sie ging in die Küche und kam mit drei Tellern zurück.

»Das Haus ist wunderschön«, sagte Teri. Die Hände in die breiten Hüften gestemmt, schaute sie sich um. »Rachel hat erzählt, dass Jon das meiste selbst gemacht hat. Du hast dir einen wirklich begabten Mann geangelt, meine Liebe.«

Dem musste Maryellen zustimmen. Sie mochte die beiden Frauen sehr – Rachel kümmerte sich schon seit Jahren um ihre Maniküre, während Teri ihr erst seit Kurzem die Haare schnitt. Teri hatte ein Gespür für das Ausgefallene und war sehr unterhaltsam. Vor allem aber war sie ein warmherziger, mitfühlender Mensch, und ihr heutiger Besuch war der beste Beweis dafür.

Im Laufe der Jahre hatte Maryellen die beiden recht gut kennengelernt und einmal sogar versucht, Teri mit Jon zu verkuppeln. Inzwischen fragte sie sich, wie sie auf die Idee hatte kommen können. Die beiden passten überhaupt nicht zueinander, aber darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Damals hatte sie sich bereits selbst zu Jon hingezogen gefühlt, sich aber mit allen Mitteln gegen dieses Gefühl gewehrt. Irgendwie war es ihr gelungen, sich einzureden, dass er sie und sie ihn vergessen würde, wenn erst eine andere Frau seine Aufmerksamkeit erregen würde. Aber Jon war nun einmal nur an ihr interessiert.

»Wir haben dir Teriyaki-Hühnchen mit Reis und Gemüse mitgebracht«, sagte Rachel und holte die Take-away-Behälter aus der weißen Tüte.

Seit Wochen hatte Maryellen praktisch keinen Appetit mehr. Zu jeder Mahlzeit musste Jon sie sanft drängen, aber jetzt überfiel sie plötzlich ein Bärenhunger.

»Das klingt superlecker.«

»Gut.« Rachel reichte ihr einen gefüllten Teller und ein Paar Essstäbchen.

Maryellen saß im Schneidersitz auf dem Sofa, während es sich ihre Freundinnen in den Sesseln auf der anderen Seite des Couchtisches bequem machten. Sie ließen es sich schmecken, und Teri erläuterte, dass das Essen von einem neuen Imbiss am Stadtrand stammte. Alle drei waren sich einig, dass es köstlich war und mehr als eine Wiederholung wert. Teri hatte sogar daran gedacht, ihr einen Flyer der Speisekarte mitzubringen. »Für den Fall, dass ihr euch von dort etwas liefern lassen möchtet.«

»Ich schlage vor, dass wir dir die Haare kurz schneiden«, meinte Teri als Nächstes. »Richtig kurz, meine ich. Du hast Besseres zu tun, als an deinen Haaren herumzustylen.«

Maryellen lächelte. Mehr als sich täglich zu kämmen, war zurzeit sowieso nicht drin. »Jon wird das nicht gefallen.«

»Hey, er ist nicht derjenige, der es waschen und bürsten muss«, sagte Teri. »Er wird sich schon daran gewöhnen.«

Maryellen konnte sich denken, wie er reagieren würde. Das letzte Mal hatte sie sich eine Kurzhaarfrisur schneiden lassen, nachdem Katie geboren war. Bis dahin hatte sie ihr dunkles Haar lang und glatt getragen, so lang, dass es ihr bis zur Taille herabfiel, so wie jetzt auch. Jon hatte zwar nie ausgesprochen, dass ihm der Kurzhaarschnitt nicht gefiel, aber sie hatte gespürt, dass er enttäuscht gewesen war. Er sagte ihr oft, wie sehr er ihr langes, glänzendes Haar liebte und wie schön er es fand.

»Na gut, was meinst du mit richtig kurz?«, fragte Maryellen.

Teris dunkle Augen glitzerten. »Wart’s einfach ab, du wirst schon sehen.«

»Ich hoffe, euch ist klar, dass ich mir das gar nicht leisten kann.«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, beruhigte Rachel sie rasch. »Das ist alles geklärt.«

»Und ein mehr als großzügiges Trinkgeld haben wir auch bekommen«, setzte Rachel hinzu.

»Von wem?«, fragte Maryellen, obwohl sie es sich denken konnte.

»Deiner guten Fee, die übrigens männlich ist. Mehr sage ich nicht dazu.«

»Cliff.« Genau, wie Maryellen gedacht hatte. Ihr neuer Stiefvater Cliff Harding hatte das Ganze arrangiert.

»Wie schon gesagt«, wehrte Rachel ab, »meine Lippen sind versiegelt.«

Die nächsten zwei Stunden waren das reinste Vergnügen. Teri wusch ihr die Haare in der Spüle, und während sie sie ihr schnitt, trocken föhnte und stylte, kümmerte Rachel sich um Maryellens Fingernägel. Sie schickte gedanklich einen Dank an Cliff für diese Wohltat – und für so vieles mehr. Seit ihre Mutter und er sich kennengelernt hatten, hatte er Maryellen immer wieder damit beeindruckt, was für ein liebevoller, umsichtiger Mann er war.

»Erzählt mir den neuesten Klatsch«, bat sie, während ihre Freundinnen arbeiteten.

»Tja«, meinte Teri und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das Allerneueste ist, dass Nate Olsen zurück in der Stadt ist.«

Nate war der junge Marineoffizier, mit dem Rachel sich traf. Ihre Freundin hatte seit drei – oder waren es vier? – Jahren eine recht uneindeutige Beziehung mit einem Witwer namens Bruce Peyton. Dann war Nate in ihr Leben getreten. Maryellen fragte sich oft, für wen der beiden Rachel sich schließlich entscheiden würde.

»Ach, hör auf damit!«, rief die. »Nate und ich gehen gelegentlich einfach so miteinander aus, das ist alles.«

Maryellen bezweifelte dieses »einfach so«, sagte aber nichts dazu.

»Was ist mit Bruce?«, fragte sie, wohlwissend, wie nahe Rachel und Bruce’ Tochter Jolene einander standen.

»Wir sind befreundet, nichts weiter.« Rachel wischte die Frage ein wenig unwirsch beiseite, aber Maryellen hegte den Verdacht, dass ihre Freundin mehr für Bruce empfand, als es ihr bewusst war.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, fragte Teri, während sie geschickt mit ihrer Schere hantierte. »Rachel hat zwei Männer an der Angel, und ich habe keinen einzigen.«

»Du hättest eben bei der Junggesellenversteigerung mitbieten sollen«, neckte Rachel sie. Bei der Wohltätigkeitsveranstaltung hatte sie ihr erstes Date mit Nate ersteigert.

»Die Männer waren alle viel zu teuer für mich«, murrte Teri, immer noch schnippelnd. Lange Haarsträhnen fielen zu Boden. Sie bückte sich, um die Haare aufzusammeln. »Möchtest du die für eine Perücke für eine Krebspatientin spenden?«, fragte sie.

»Natürlich!« Maryellen gefiel der Gedanke, jemandem in Not helfen zu können – zumal sie selbst so viel Hilfe und Unterstützung erfuhr. »Das ist eine tolle Idee.«

Ein paar Minuten später schaltete Teri den Fernseher ein, um sich die Wettervorhersage fürs Wochenende anzuschauen. »Hey«, sagte sie und wandte sich vom Bildschirm ab, nachdem sie sich die Lokalnachrichten angesehen hatte. »Demnächst findet eine große Schachmeisterschaft in Seattle statt.«

»Magst du Schach?«, fragte Maryellen.

Teri zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht viel Ahnung davon. Es ist so ähnlich wie Dame, oder?«

Rachel und Maryellen wechselten einen Blick. »Na ja«, meinte Rachel, »nicht wirklich. Es ist ein bisschen komplizierter.«

Kurz nachdem die beiden Frauen ihre Arbeit getan, ihre Utensilien zusammengepackt und sich verabschiedet hatten, kamen Jon und Katie nach Hause. Jon wirkte erschöpft und ihre Kleine ebenfalls. Als Jon seine Frau erblickte, stutzte er.

»Gefällt es dir?«, fragte sie zögernd und fasste sich mit der rechten Hand an die Haare. Dann erklärte sie ihm, wie es überhaupt zu dieser großen Veränderung gekommen war – und erwähnte, wie froh sie war, ihre Haare für eine Perücke spenden zu können, die einer Krebspatientin zugutekommen würde.

Jon nickte. »Das ist großartig«, sagte er, »und mir gefällt dein neuer Look. Ich fand es immer schön, dass du die Haare lang trägst, aber diese Frisur ist … nett. Wirklich. Sie steht dir, und mir ist klar, dass sie sehr viel praktischer ist.«

Über diese Reaktion freute sich Maryellen natürlich sehr. Katie kroch ihr auf den Schoß und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war sie eingeschlafen, und Maryellen legte sie vorsichtig auf das Sofa neben sich, um sie nicht zu wecken.

Sie fragte Jon nicht, wie sein Tag verlaufen war. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, und das sagte ihr alles, was sie wissen musste. Er hatte den Tag damit verbracht, alles Mögliche zu erledigen – Lebensmitteleinkäufe, Videos fürs Wochenende, einen Besuch in der Bücherei.

»Setz dich eine Weile zu mir«, drängte sie ihn und richtete sich auf.

»Ich habe noch jede Menge zu tun.«

Sie klopfte mit der Hand auf den leeren Platz neben sich. »Jon«, flüsterte sie, »bitte.«

Er zögerte. Ihr war klar, dass er hin- und hergerissen war. Einerseits musste er arbeiten und dafür die Zeit nutzen, in der Katie schlief, andererseits wollte er auch mit seiner Frau Zeit verbringen. Ihr einladendes Lächeln überzeugte ihn offenbar, denn er ließ sich neben sie aufs Sofa sinken und legte ihr seinen Arm um die Schultern.

»Ich liebe dich so sehr«, sagte sie.

Er küsste sie auf die Stirn. »Ich liebe dich auch.«

»In ein paar Monaten haben wir all das überstanden.«

»Es fühlt sich an, als würde es schon ewig so gehen«, murmelte er.

»Die letzten paar Wochen der Schwangerschaft … Das werden die schwierigsten. Es wird erst einmal schlechter werden, bevor es besser wird.«

Ein tiefer Seufzer war die Antwort. »Wir werden schon zurechtkommen.«

»Das glaube ich auch.« Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn direkt an. »Deine Stiefmutter hat heute Nachmittag angerufen«, kam sie ohne Umschweife zum Punkt.

Jon versteifte sich, sagte aber zunächst nichts. »Hat sie angerufen, oder warst du das?«

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