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Planst du noch oder liebst du schon?

Happily Inc, so heißt die Kleinstadt am Rande der kalifornischen Wüste, in der der Legende nach seit dem 19. Jahrhundert jeder die wahre Liebe findet. Hier wird fast täglich geheiratet, und Weddingplanerin Pallas Saunders übertrifft sich selbst bei den ausgefallensten Hochzeiten. Aber ihr eigenes Liebesglück? Das muss warten, der Job geht vor - das denkt Pallas zumindest, bis sie dem Künstler Nick Mitchell begegnet und der Zauber von Happily Inc auch sie für immer umfängt.

»Mallery übertrifft sich selbst mit diesen Protagonisten, die auf dem Weg zum Happy End sowohl für sich gesehen als auch gemeinsam wachsen.«
Publishers Weekly

»Der erste Teil der Mallery-Serie Happily Inc besticht durch den für die beliebte Autorin typischen Mix aus Humor, Scharfsinn und Kleinstadt-Charme.«
Booklist

»Die Liebesgeschichte ist süß und sexy, der Stil schnell und leicht … Eine tolle Wochenendlektüre!«
Kirkus Reviews

»Eine Fülle an tragenden Figuren - Nicks Künstler-Brüder bleiben im Gedächtnis - verleihen dem Plot noch mehr Tiefe, während lebendige Beschreibungen der sehr kreativen Hochzeitspläne und -orte faszinieren … Eine einfallsreiche Heldin, die ihre Berufung findet, und ein fürsorglicher Held, der herausfindet, worauf es ankommt, geben sich in dieser unbeschwerten Geschichte der Liebe hin.«
Booklist


  • Erscheinungstag: 02.07.2018
  • Aus der Serie: Happily Serie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768096
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich muss Sie bitten, Ihr Hemd auszuziehen.«

Pallas Saunders zuckte innerlich zusammen, als sie die Worte aussprach. Normalerweise war das kein Satz, den sie in einem Vorstellungsgespräch sagte, aber außergewöhnliche Umstände, außergewöhnliche Maßnahmen und so weiter.

Nick Mitchell hob seine Augenbrauen. »Wie bitte?«

Das war eine durchaus vernünftige Frage. Und ganz sicher besser, als wenn er einfach zur Tür hinausgelaufen wäre, was er auch hätte tun können.

»Es ist ein Notfall.« Sie wedelte mit der Hand in einer Geste, von der sie hoffte, dass sie sagte: Können wir bitte einfach weitermachen?

»Ich brauche schon eine bessere Erklärung.«

»Na gut.« Sie atmete tief ein und fing dann an, schnell zu reden. Sehr schnell. »In weniger als einer Stunde habe ich eine Hochzeit und mir fehlt ein römischer Legionär. J.T. ist nach Los Angeles gefahren, weil sein Agent ihn wegen eines Vorsprechens angerufen hat. Kleine Notiz an mich: Während der Casting-Saison keine Schauspieler engagieren. Sie haben ungefähr die gleiche Größe wie die anderen Männer und sind hier, weil Sie einen Job brauchen. Also bitte ziehen Sie das Hemd aus. Sie sehen einigermaßen gut aus. Ich werde Sie mit etwas Selbstbräuner eincremen, und dann werden Sie ein sehr dünnes Mädchen in einer Sänfte tragen.«

»In einer was?«

»Eines dieser überdachten Stuhldinger. Ich schwöre, das Mädchen wiegt keine fünfzig Kilo. Ich glaube, sie hat seit drei Monaten nichts mehr gegessen. Und Sie sehen stark aus. Sie werden das super machen. Bitte! Am Ende wartet auch ein Scheck auf Sie.«

Kein sonderlich großer, aber Geld war Geld. Und Nick Mitchell hatte auf ihre Anzeige für eine Teilzeitstelle als Zimmermann geantwortet. Daher war er vermutlich relativ dringend auf der Suche nach Geld. Das Gefühl kannte Pallas nur zu gut.

»Sie wollen, dass ich ein Mädchen in einer Sänfte zu seiner Hochzeit trage?«

Warum sind die Gutaussehenden immer so dumm, fragte sie sich seufzend. Denn Nick ging durchaus als gut aussehend durch. Er war groß, hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Seine Schultern waren breit und, so weit sie es sehen konnte, war er gut in Form. Wo also war das Problem?

»Meine Firma heißt Weddings in a Box – der perfekte Rahmen für jede Hochzeit.« Sie deutete auf die Wände. »Das hier ist der Rahmen. Die Leute kommen her, um zu heiraten. Ich organisiere Themenhochzeiten. Das heutige Pärchen möchte eine römische Hochzeit. Sie wären überrascht, wie beliebt die sind. Und zur römischen Hochzeit gehört die Sänfte für die Braut. Also bitte, ich flehe Sie an. Ziehen Sie Ihr Hemd aus.«

»Sie sind seltsam«, murmelte Nick, während er sein Hemd auszog und es dann auf ihren Schreibtisch warf.

Halleluja, dachte sie und ging einmal um ihn herum, um seinen Rücken zu betrachten. Wie gehofft, sah er gut aus – breite Schultern und viele Muskeln. Keine großen Tattoos, keine hässlichen Narben. Nicht dass sie etwas gegen Tattoos hatte, aber nur wenige davon passten zu einer römischen Hochzeit. Und sie hatte wirklich keine Zeit, jetzt noch Tattoos mit Concealer abzudecken. Aber wie es der Zufall so wollte, würde Nick perfekt zu den anderen Männern passen.

»Sie sind engagiert, aber wir müssen uns beeilen.«

Sie packte seine Hand und zog ihn den Flur hinunter zur Umkleidekabine der männlichen Darsteller. Eine Themenhochzeit bedurfte einer großen Besetzung. Leider hatte sie nicht Tausende von Darstellern zur Verfügung. Aber drei oder vier sollten es mindestens sein. Römische Hochzeiten bestanden aus der Gruppe der Sänftenträger und einigen Kellnern in Togen. Die Kleidungsstücke waren keine Originale, aber die Kunden waren glücklich, und das war alles, was zählte.

Sie führte Nick in den großen, schlichten Raum mit den Kleiderständern an der einen und einem langen Tisch mit beleuchteten Spiegeln an der anderen Seite. Drei Männer in verschiedenen Stadien der Entkleidung hatten sich bereits eingefunden. Zwei zogen sich gerade ihre weiße Toga über, während der dritte sich selbst im Spiegel betrachtete.

Alan löste den Blick von seinem Spiegelbild und lächelte sie und Nick an. »Hallo, Fremder.«

»Nicht mehr lange«, murmelte Pallas. »Bitte hilf Nick, sich für die Hochzeit fertig zu machen. Nick, das ist Alan. Alan, das ist Nick.« Sie schaute auf die Uhr und stieß einen kleinen Schrei aus. »Wir haben weniger als eine Stunde, Leute.« Sie wandte sich an Nick. »Haben Sie schon einmal Bräunungscreme benutzt?«

»Sehe ich aus wie jemand, der Bräunungscreme benutzt?«

Bis gerade eben war dieser Mann für sie kaum mehr als eine starke Schulter gewesen, die ein Viertel der Braut tragen konnte. Jetzt sah Pallas ihn das erste Mal richtig an. Die dunklen Augen, die sie mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Skepsis musterten. Der feste Zug um seinen erstaunlich attraktiven Mund. Er hat große Hände, bemerkte sie abwesend und bemühte sich, nicht zu lachen.

Große Hände? Ernsthaft? Weil sie in ihrem Leben dafür ja auch Zeit hatte?

Sie trat an den Schminktisch und zog eine Schublade auf. Darin befanden sich eingeschweißte Handschuhe, die mit einem Selbstbräuner getränkt waren und die sie in großen Mengen zu einem sehr guten Preis kaufen konnte.

»Ich werde Ihre Welt erschüttern«, erklärte sie ihm fröhlich. »Legen wir los.«

Nick Mitchell fühlte sich, als hätte er ein Paralleluniversum betreten. Eines, in dem die Verrückten regierten.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, rieb die Frau, mit der er eigentlich ein Bewerbungsgespräch wegen eines Zimmermannsjobs führen sollte, mit einem seltsamen Handschuhding seinen Rücken ein.

»Gleichmäßige Bewegungen«, sagte sie. »Die Farbe muss fünf Minuten trocknen, dann prüfen Sie, ob es irgendwo Streifen gibt. Machen Sie erst Ihre Arme und die Brust, dann die Beine, sowohl hinten als auch vorne.«

Sie zog die Handschuhe aus und reichte sie ihm. »Kriegen Sie das hin?«

Ihre Miene war zu zwei Dritteln ernst und zu einem frustriert – als hätte die Welt sich verschworen, um ihr den Tag schwer zu machen.

Im ersten Moment wollte er wiederholen, dass er nur wegen des Zimmermannsjobs hier war, dann erkannte er aber, dass ihr das klar sein musste. Also gut – dann sollte es wohl ein Legionär mit falschem Teint sein. Wenigstens wäre das eine gute Geschichte für seine Brüder.

Er zog die Handschuhe an und begann, die Bräunungscreme aufzutragen. Es war weniger eklig, als er gedacht hatte. Pallas legte ihm sein Togakostüm bereit und bat die anderen Männer, ihm seinen Platz zu zeigen.

»Ich muss mich umziehen«, rief sie noch und eilte zur Tür. »Wenn Sie irgendetwas brauchen, fragen Sie Alan. Er weiß alles.«

Alan zwinkerte ihr zu. »Das stimmt.« Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, wandte er sich Nick zu. »Und wie lautet deine Geschichte?«

Nick streifte die Handschuhe ab und wischte sich die Hände an einem auf dem Tisch liegenden Handtuch ab. Dann zog er seine Jeans aus. »Ich bin Zimmermann. Ich habe auf eine Anzeige geantwortet.« Nachdem er die Handschuhe wieder angezogen hatte, begann er, seine Beine einzuschmieren.

»Ich verstehe. Brauchst du dabei Hilfe?«

Nick schaute nicht auf. »Nein, danke.«

»Tja, ich bin Alan, wie du ja gehört hast. Die beiden da sind Joseph und Jonathan. Ich nenne sie die Js. Sie gehen hier auf die örtliche Highschool und verdienen sich an Samstagen ein wenig Geld. Sie spielen Football.«

Einer der Teenager schaute auf. »Wir spielen Basketball, Alan. Das sagen wir dir immer wieder.«

»Egal. Es ist Sport – wen interessieren schon die Details. Das kommt doch alles aufs Gleiche raus.« Alan schaute wieder zu Nick. »Ich war am Broadway. So habe ich Gerald kennengelernt. Er war mein Mentor, bevor er in Rente gegangen und hierhergezogen ist. Ich bin im Winter des Wetters wegen hergekommen und geblieben. Nach Geralds Tod bin ich nach L. A. gezogen, aber wenn ich gerade mal wieder zu Besuch hier bin, mache ich hier mit, weil es Spaß bringt.«

Während er sprach, sah Nick, dass der andere Mann wesentlich älter war, als er anfangs gedacht hatte. Er war mindestens Ende vierzig.

»Und die Leute lieben wirklich römische Hochzeiten?«, fragte er.

»Du hast ja keine Ahnung. Es gibt auch Cowboyhochzeiten, aber die mache ich nicht.« Alan schüttelte sich. »Pferde sind das Schlimmste! Und sie stinken. Eine schöne Prinzessinnenhochzeit dagegen gefällt mir sehr gut. Ich bin ein sehr attraktiver Höfling, wenn ich das so sagen darf. Aber heute sind wir Römer. Ave Cäsar.«

Zehn Minuten später starrte Nick sich im Spiegel an. Er trug tatsächlich eine Toga. Oder zumindest ein Togakostüm. Der kurze weiße Rock reichte ihm bis zur Mitte der Oberschenkel. Das Oberteil war über einer Schulter verknotet, und Alan hatte ihm eine Krone aus Weinlaub gegeben, die er sich auf den Kopf setzen sollte. Während er seine Sandalen schnürte, dachte er, dass er seinen Brüdern hiervon vielleicht doch nichts erzählen würde. Sie würden ihn für den Rest seines Lebens damit aufziehen.

»Es ist ganz einfach«, erklärte Alan, nachdem er angezogen war. »Die Braut sitzt in der Sänfte. Wir heben sie hoch und tragen sie hinein. Dann steigt sie aus, und wir tragen die Sänfte wieder hinaus. Die Js und ich bedienen auch bei der Feier, aber ich bezweifle, dass Pallas das von dir erwartet. Also kannst du danach gehen.«

Nick verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass er sein Vorstellungsgespräch noch nicht gehabt hatte. Um ehrlich zu sein, bekam er langsam Zweifel, was diesen Job anging. Er hatte etwas gesucht, das seine Tage ausfüllte, während er sich überlegte, was er bezüglich seiner großen Auftragsarbeit tun sollte. Auch wenn dieser Ort ausreichend Ablenkung bot, war er nicht genau das, was er suchte.

Pallas kehrte zurück. Die Jeans und das T-Shirt hatte sie gegen ein schlichtes dunkelgrünes Kleid getauscht, das ihre haselnussbraunen Augen betonte. Ihre langen braunen Haare waren immer noch zu dem ausgefeilten Zopf geflochten, und Nick glaubte nicht, dass sie geschminkt war. Sie war ja auch nicht die Braut – sie war nur hier, um den Traum der Braut wahr werden zu lassen.

Sie kam auf ihn zu und nickte anerkennend. »Sie sehen toll aus. Danke, dass Sie das machen. Ich hätte solche Probleme bekommen, wenn Sie nicht eingesprungen wären. Hat Alan Ihnen erzählt, wie es ablaufen wird?«

»Wir tragen die Braut hinein und verschwinden dann leise.«

»Richtig. Oh, wir müssen ja noch das Bewerbungsgespräch führen. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich es so nah an eine Hochzeit gelegt habe, außer dass ich wohl die Tage vertauscht habe. Es ist einfach so viel zu tun.«

In ihren Augen sah er Sorge, Panik und mehr als ein wenig Entschlossenheit. Eine interessante Kombination.

Sie straffte die Schultern. »Eine Krise nach der anderen, wie Gerald immer gesagt hat. Wir sind bereit für die Hochzeit. Gentlemen, wenn Sie bitte Ihre Positionen einnehmen.«

Sie führte sie nach unten. Nick war nicht sicher, was ihn erwartete, aber schneller als gedacht standen sie in einem Raum mit einer hypernervösen Braut, verschiedenen Brautjungfern in römisch inspirierten Kleidern und einer echte Sänfte.

Er trat näher an den überdachten Stuhl heran und betrachtete die Schnitzereien an den Seiten. Sie waren von Hand gemacht und dann an einem Rahmen aus Leichtmetall befestigt worden.

Pallas brachte alle auf Position. Die Braut setzte sich. Alan nahm den Platz vorne rechts ein, was Nick so deutete, dass er wohl das Sagen hatte.

»Auf drei, meine Herren. Wir heben sie langsam und gleichzeitig und aus den Knien hoch.« Alan lächelte die Braut an. »Nicht dass wir uns über dich Sorgen machen müssten, Darling. Du bist nicht breiter als ein Grashalm und siehst in deinem Kleid so bezaubernd aus. Das ist ein Designerteil, oder? Du Glückliche.«

Die Braut entspannte sich sichtlich. »Danke. Ich liebe mein Kleid.«

»Und es liebt dich auch. Sollen wir dann? Auf drei.«

Nick wartete auf den Countdown, dann hoben sie die Braut hoch. Der Tragebalken hatte eine gepolsterte Ausbuchtung für seine Schulter, sodass er seine Hände nur einsetzen musste, um das Gleichgewicht zu halten, aber nicht, um die Sänfte zu tragen. Wie Pallas versprochen hatte, war die Braut leicht und das Gewicht problemlos zu stemmen.

Mit den anderen zusammen ging er den Flur hinunter. Ein Fotograf machte Bilder. Eine große Flügeltür öffnete sich für sie, und sie betraten einen riesigen Raum mit einer mindestens sieben Meter hohen Decke.

Auf beiden Seiten des breiten Ganges hatten sich die Gäste versammelt, und der Bräutigam in der festlicheren Version einer Toga wartete am geschnitzten Altar. Obwohl es mitten am Nachmittag war, spendeten flackernde Fackeln Licht.

Sie erreichten das Ende des Gangs. Alan bedeutete ihnen, die Sänfte abzusetzen. Als die Braut bei ihrem römischen Bräutigam stand, trugen sie die Sänfte wieder hinaus. Alan führte sie in einen großen Innenhof, der schon für die Feier geschmückt war. Die Sänfte wurde in einer Ecke abgestellt.

»Die Leute lieben es, darauf herumzuturnen und Fotos zu machen«, erklärte Alan. »Okay, du kannst jetzt gehen.« Er zeigte auf eine Tür. »Wenn du da durchgehst, findest du eine Treppe, die dich in den ersten Stock bringt. Die Umkleide befindet sich am Ende auf der rechten Seite.«

»Danke.«

Nick folgte den Anweisungen und trat durch die Tür. Bevor er jedoch die Treppe hinaufgehen konnte, erblickte er eine andere, nur angelehnte Tür.

»O nein«, murmelte er, als er näher heranging.

Er stieß die Tür auf und einen unterdrückten Fluch aus, als er eintrat.

Verschiedene geschnitzte Holzpaneele hingen an Schienen, von wo aus sie an ihren Platz geschoben werden konnten. Nick trat zur Seite und folgte dem Verlauf der Schienen mit seinem Blick. Er schätzte, dass sie in den großen Ballsaal führten, in dem er gerade gewesen war.

Diese Paneele – locker drei Meter hoch und doppelt so breit – waren auserlesene Kunstwerke. Die Schnitzereien zeigten, wie er annahm, das frühe Palastleben. Es gab mehrere Szenen eines königlichen Hofstaats und auch ein paar Landschaftsbilder. Sicher, das Arrangement war kitschig, aber die Schnitzereien waren unglaublich. Jede Figur in dem ersten Relief wirkte so echt, als würde sie gleich anfangen, sich zu bewegen. Er fuhr die Linien nach, die mit wenigen eleganten Strichen Tiefe schafften, und spürte raue Kanten. Dann sah er genauer hin und erkannte, dass die Paneele schon ziemlich angeschlagen und trocken waren und dringend ein wenig Liebe und Zuneigung benötigten. War das der Job, für den Pallas einen Zimmermann suchte?

Nachdenklich ging er den Weg zurück, den er gekommen war, und umrundete den jetzt leeren Innenhof. Dann schlich Nick sich zurück in den Ballsaal und betrachtete die geschnitzten Paneele an den Wänden, die römische Szenen zeigten. Sie waren genauso brillant wie die anderen und schrien selbst aus der Entfernung danach, restauriert zu werden.

Und er hatte gedacht, Pallas suche jemanden, der Fenster reparierte oder Schränke baute. An etwas wie dem hier zu arbeiten … Hatte Atsuko von den Paneelen gewusst? Hatte sie deshalb vorgeschlagen, dass Nick sich auf den Job bewarb? Denn auch wenn er in einer Glasbläserfamilie aufgewachsen war, hatte er sich in den letzten zehn Jahren in die Arbeit mit Holz verliebt.

Glas war kalt und launenhaft, aber Holz lebte. Holz hatte eine Seele.

Er kehrte wieder in den Innenhof zurück und nahm die Treppe nach oben. Eigentlich hatte er vorgehabt, seine Bewerbung für den Job zurückzuziehen – diese ganze Nummer mit dem Selbstbräuner und dem Tragen der Braut war ziemlich abschreckend gewesen. Aber jetzt, da er die Paneele gesehen hatte, wusste er, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste sie restaurieren und dafür sorgen, dass sie noch für zukünftige Generationen in perfekter Verfassung waren.

Wie dramatisch, dachte er, als er den Umkleideraum betrat. Nur waren die Paneele die Dramatik und die Verschrobenheit von Pallas’ Hochzeitsservice wert. Sie hatten sein absolut Bestes verdient, und er war entschlossen, dass sie es bekommen würden. Sosehr er es auch leugnen wollte, er war durch und durch ein Künstler. Das Blut seines Vaters rann in seinen Adern und damit der Drang, etwas zu erschaffen. Oder, wie in diesem Fall, etwas wiederherzustellen.

Pallas nahm nur selten mehr als eine Hochzeit pro Wochenende an. Es war einfach zu schwierig, alles in kürzester Zeit auf- und wieder abzubauen. Die einzige Ausnahme bildeten Brautpaare, die ihre Hochzeit am Freitag feiern wollten – dann konnte sie für Sonntag noch eine zweite organisieren. Doch obwohl eine Sonntagshochzeit aufgrund der ungewöhnlichen Zeit preislich günstiger war, wollten die meisten Brautpaare die traditionelle Party am Samstagabend. Was bedeutete, dass Pallas sonntags meistens freihatte.

Am frühen Montagmorgen machte sie sich auf den Weg zu Weddings in a Box und ging einmal über das Gelände. Das Hauptgebäude war u-förmig mit einem Innenhof in der Mitte. Am westlichen Ende gab es eine kleine Lobby, deren Fassade italienisches Flair versprühte. Die Nordseite war gemauert und erinnerte an ein mittelalterliches Schloss. Die südliche Seite war mit Holz verkleidet, was ihr ein ranchähnliches, rustikales Westernfeeling verlieh.

Ein Gebäude und drei Optionen, woraus sich leicht ein Dutzend verschiedene Hochzeitsthemen entwickeln ließen. Ein wenig skurril, sicher, aber Pallas liebte jeden falschen Backstein und jedes nicht funktionierende Fenster.

Sie hielt nach Schäden an Gebäude und Zaun Ausschau – denn einmal war ein Trauzeuge mit seinem Wagen in das Tor gefahren – und nach verlorenen oder liegen gelassenen Gegenständen. Die Feiern dauerten oft bis tief in die Nacht, der Alkohol floss in Strömen und schon mehr als ein Schuh, BH oder Slip hatte am nächsten Tag auf dem Rasen gelegen.

Was war das nur mit Hochzeiten und unverantwortlichem Sex? Klar, die Braut und der Bräutigam hatten mit Sicherheit welchen, aber das entsprach der Tradition. Alle anderen sollten warten, bis sie wieder zu Hause waren – nur taten sie es selten. Zum Glück fand Pallas heute nur einen Wimpel und ein paar Blütenblätter. Um die aufzuheben, brauchte sie keine Schutzhandschuhe.

Sie ging nach drinnen und machte sich auf den Weg in die Geschäftsräume im ersten Stock. Erst vor wenigen Wochen war sie in das Büro gezogen, das sie in Gedanken immer noch als Geralds Büro bezeichnete. Im ersten Monat nach seinem Tod – und nachdem sie erfahren hatte, dass sie die Alleinerbin des Geschäfts war – hatte sie unter Schock gestanden. In den folgenden zwei Monaten hatte sie es nicht über sich gebracht, irgendetwas zu verändern. Im letzten Monat hatte sie dann erkannt, dass es einfach dumm war, fünfzig Mal am Tag von ihrem Schreibtisch zu seinem zu rennen. Gerald hätte ihr Weddings in a Box nicht hinterlassen, wenn er nicht gewollt hätte, dass sie die Firma weiterentwickelte. Also war sie in sein Büro gezogen.

Sie hatte befürchtet, dass es sie traurig machen würde, an dem Ort zu sein, wo alles an ihn erinnerte. Doch sie hatte schnell festgestellt, dass sie sich ihm hier näher fühlte. Er war für sie wie ein zweiter Vater gewesen, und auch wenn sie ihn jeden Tag vermisste, wusste sie, dass er mit dem, was sie tat, glücklich wäre.

Sie warf einen Blick in ihren Kalender, wobei sie es sorgfältig vermied, auf den Stapel Rechnungen in ihrem Posteingang zu schauen. Weddings in a Box mochte ein fröhliches, interessantes Geschäft sein, aber es hing finanziell gesehen am seidenen Faden. Themenhochzeiten waren nicht billig, genauso wenig wie der Veranstaltungsort und die dazugehörigen Besonderheiten.

Morgen, versprach sie sich. Morgen würde sie mutig sein. Sie checkte ihre E-Mails und sah, dass zwei weitere Bräute die unterschriebenen Verträge zurückgeschickt hatten. Das waren gute Neuigkeiten. Sie würde sie noch einmal durchgehen, bevor sie …

»Guten Morgen.«

Als sie aufschaute, sah sie einen Mann im Türrahmen stehen. Und nicht nur irgendeinen Mann – sondern Nick Mitchell.

In ihr kollidierten verschiedenen Emotionen. Dankbarkeit dafür, dass er sie am Samstag gerettet hatte; leichte Verlegenheit darüber, wie sie ihn ausgezogen und ihm den dunkleren Teint verpasst hatte; sehr große Verlegenheit angesichts der Tatsache, dass sie inzwischen wusste, wer er war, und Enttäuschung darüber, dass sie immer noch nach einem Teilzeitzimmermann suchen musste. Oh, und Verwirrung darüber, warum er hier war.

Sie erhob sich und ignorierte, dass er der attraktivste Mann war, der jemals ihr Büro betreten hatte. Lächelnd sagte sie: »Hi. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich dachte, wir könnten jetzt das Bewerbungsgespräch führen.«

Das letzte Gespräch hatte sie aus Versehen direkt vor einer Hochzeit eingeplant. Nur konnte er jetzt unmöglich noch für sie arbeiten wollen, oder? »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie mir am Samstag ausgeholfen haben.«

»Gern geschehen. Man bekommt nicht jeden Tag die Gelegenheit, als Legionär aufzutreten.«

»Außer man arbeitet hier, dann passiert es viel zu häufig.« Sie zögerte. »Es tut mir leid, wie das alles gelaufen ist.«

»Mir nicht. Es war eine Erfahrung, von der ich noch sehr lange erzählen kann.«

»Ich bin erleichtert, dass Sie nicht sauer sind. Alan meinte, Sie wären ein netter Typ. Und er verfügt über eine ziemlich gute Menschenkenntnis.«

»Das freut mich zu hören.«

»Sie fühlen sich von Alan nicht bedroht?« So ging es nämlich vielen heterosexuellen Männern.

»Nicht einmal ansatzweise.« Er ließ ein Grinsen aufblitzen. »Ich arbeite mit einer Kettensäge. Es braucht schon einiges, damit ich mich bedroht fühle.«

»Das erklärt natürlich einiges.« Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und beschloss dann, es einfach auszusprechen. »Ich will nicht unhöflich sein, Nick, aber es hat keinen Sinn, dass wir ein Bewerbungsgespräch führen. Als ich unseren Termin vereinbart habe, hatte ich mir einfach nur den Namen in meinen Kalender geschrieben. Nun habe ich aber gestern ein wenig über Sie recherchiert.«

Er hob eine Augenbraue. »Google oder Bing?«

Sie lächelte. »Beides. Und beides mit demselben Ergebnis.« Ihr Lächeln schwand, als sie sich an das erinnerte, was sie gelesen hatte. Nick Mitchell hatte so gar nichts mit einem arbeitslosen Zimmermann zu tun. Er war ein weltbekannter Künstler, der schon verschiedene Preise gewonnen hatte. Ja, er arbeitete mit Holz, aber auf einem komplett anderen Level. Ihn anzuheuern wäre, als würde man einen erfolgreichen Rennfahrer bitten, jemandem das Autofahren beizubringen.

»Ich weiß nicht, was meine Freundin Atsuko sich gedacht hat, als sie mir Ihren Namen gab. Sie sind ein berühmter Künstler, und ich bin die Besitzerin einer kleinen Firma, in der ein paar Reparaturen nötig sind. Und zwar so billig wie möglich.« Sie versuchte, bei den letzten Worten nicht zusammenzuzucken, denn jemand wie Nick Mitchell würde nicht verstehen, wie es war, jeden Penny dreimal umzudrehen, um das Geschäft am Laufen zu halten. »Aber ich weiß es zu schätzen, dass Sie vorbeigekommen sind«, fügte sie an. »Und dass Sie das mit der Bräunungscreme so gelassen hingenommen haben.«

»Es war lustig. Ich hatte viel Spaß. Und der Selbstbräuner war … interessant.«

»Keine Erfahrung, die Sie wiederholen wollen?«

»Äh, nein.«

Sie stand neben ihrem Schreibtisch und wartete darauf, dass Nick Mitchell ging, doch er schien damit keine Eile zu haben.

»Welche Reparaturen benötigen Sie?«, fragte er.

Warum interessierte er sich dafür? »Nick, ich meine es ernst. Ich kann nur ein paar Dollar über dem Mindestlohn bezahlen. Mehr kann ich mir nicht leisten.«

»Geht es um die Holzpaneele?«

»Ja, aber …«

Er nickte in Richtung Flur. »Kommen Sie, sehen wir sie uns einmal an.«

Sie war mehr als nur ein wenig verwirrt, aber okay. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und durch den leeren Ballsaal zu den seitlichen Lagerräumen. Pallas zog die großen Türen auf und schaltete das Deckenlicht an. Dann wartete sie, während Nick sich die Paneele anschaute.

Die hölzernen Rechtecke waren riesig – hoch, breit und auf einer Seite komplett mit Schnitzereien versehen. Während sie ihn beobachtete, ging Nick zum ersten Paneel und legte seine Hände an das Holz. Er schloss die Augen halb und fuhr mit den Fingern die Schnitzereien entlang. Pallas hatte das seltsame Gefühl, Zeugin von etwas zutiefst Persönlichem zu sein, was ihr unangenehm war und mehr als nur ein wenig versponnen vorkam.

»Was wissen Sie hierüber?«, fragte er, während er die Paneele weiterstudierte.

»Nicht viel. Sie waren schon hier, bevor ich angefangen habe, für Gerald zu arbeiten. Um ehrlich zu sein, ich habe mir nie viele Gedanken über sie gemacht. Sie waren einfach ein hübscher Hintergrund. Als er starb und mir seine Firma überließ, habe ich eine Inventur durchgeführt. Das war das erste Mal, dass ich mir die Paneele richtig angesehen und erkannt habe, in welch schlechtem Zustand sie sind.«

»Ja. Sie sind alt, und die trockene Luft konserviert sie in gewisser Hinsicht, sorgt andererseits aber dafür, dass sie reißen. Man kann die Handwerkskunst in ihnen erkennen. Jemand hat sich sehr viel Zeit genommen, um sie zu erschaffen. Jemand mit viel Talent.«

»Ich wünschte, ich wüsste mehr darüber«, gab sie zu. Sie hätte Gerald danach fragen sollen, aber das Thema war nie aufgekommen. Sie hatte nie gewusst, was genau seine Pläne waren. Sie hatte sich immer als seine Angestellte gesehen und ihn als tollen Freund. Das Erbe – ein unerwartetes und unglaublich großzügiges Geschenk – hatte sie vollkommen überrascht.

»Meine Brüder arbeiten mit Glas«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Sie sprechen immer von Schönheit und Klarheit. Von der Reinheit. Glas kann alles sein. Es existiert nicht, bis wir es zum Leben erwecken. Aber Holz lebt. Holz hat eine Seele – es sagt dem Künstler, was es sein soll. Man kann das zwar ignorieren, aber wenn man es tut, werden die Schnitzereien nie wahrhaftig werden.«

Er drehte sich zu ihr um. Sein dunkler Blick war intensiv. »Ich will an denen hier arbeiten.«

Sie starrte ihn an. »Wie bitte? Nein, das ist doch lächerlich. Sie waren schon im People-Magazin.«

Er lachte leise. »Wieso sollte das eine Rolle spielen?«

»Tut es eben.« Sie würde ignorieren, dass er in der »Sexiest Man Alive«-Ausgabe und das Foto sehr beeindruckend gewesen war. »Ich werde einen Zimmermann finden, der …«

»Nein. Keinen Zimmermann. Diese Paneele sind unglaublich, Pallas. Sie haben es verdient, mit Ehrfurcht behandelt zu werden. Ich tue es für den Preis, den Sie dafür eingeplant hatten. Ich will den Job.«

»Warum?«

Er drehte sich wieder zu den Paneelen um und berührte sie mit den Händen. »Sie haben mir gesagt, dass sie mir vertrauen.« Er ließ seine Hände sinken und sah sie an. »Keine Sorge. Ich drehe nicht durch. Diese Art der Arbeit ist sehr selten. Ich werde es genießen. Ich befinde mich im Moment zwischen zwei Projekten, also habe ich die Zeit.«

Er hielt inne, als überlege er, wie viel er ihr erzählen solle. »Ich habe eine anstehende Auftragsarbeit in Dubai. In den nächsten Monaten werde ich erfahren, ob ich sie bekomme. Ich bezweifle, dass das wirklich infrage steht, aber bis ich die Bestätigung bekomme, will ich mich nicht für etwas Großes verpflichten.«

»Dubai?«

»Ein Hotel will mich engagieren, um ein Stück für die Lobby zu erschaffen. Ich wäre ungefähr zwei Jahre lang vor Ort.«

»Das ist ziemlich lang.«

»Ich weiß, aber es wäre eine interessante Erfahrung. Diese hier«, er zeigte lächelnd auf die Paneele, »werden mich bis dahin beschäftigt halten. Ich verspreche, mich gut um sie zu kümmern.«

»Ich zweifle Ihre Fähigkeiten nicht an«, erwiderte sie. »Oder Ihre Hingabe. Aber ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, wie wenig ich bezahlen kann.«

»Es geht hier nicht ums Geld.«

Richtig. Weil ein Kerl wie Nick nicht notwendigerweise für Geld arbeitet, rief sie sich in Erinnerung. Wäre das nicht nett, wenn das bei ihr auch so wäre?

»Nutzen Sie mich aus«, drängte er. »Es wird Ihnen gefallen.«

Sie wusste genau, wie der Kommentar gemeint war. Aber für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte sie sich das Gedankenspiel, dass Nick Mitchell ihr einen nicht ganz unschuldigen Vorschlag unterbreitet hatte. Als Mann. Es war eine Ewigkeit her, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte.

Sie wusste, dass die Gründe dafür kompliziert waren. Sie sah total normal aus, hatte einen durchschnittlichen Körper und keine Angewohnheiten, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen lagen. Theoretisch sollte sie in der Lage sein, einen netten Mann zum Ausgehen und fürs Bett zu finden. Aber auch wenn es den einen oder anderen Mann in ihrem Leben gegeben hatte, war keiner »dem Einen« auch nur nahe gekommen. Oder auch nur »dem für den Moment«.

Zum Teil lag das an dem Ort, in dem sie wohnte. Happily Inc war eine relativ kleine Stadt, in der wenig alleinstehende Männer lebten. Diejenigen, die sie kannte, waren Verwandte von ihr, also igitt. Dann war da noch die Tatsache, dass sie dazu neigte, sich emotional zurückzuhalten. Sie wusste allzu gut, warum. Sie wusste nur nicht, wie sie es ändern konnte. Und deshalb war es selten und kostbar, dass sie angesprochen wurde. Nicht dass Nick das getan hatte. Er sprach lediglich über …

»Pallas?«

»Hm?« Oh, richtig. Er wollte eine Antwort. »Wenn Sie gewillt sind, meinen traurigen kleinen Stundenlohn zu akzeptieren, biete ich ihn nur zu gerne an«, erklärte sie.

»Dann ist das abgemacht.« Er streckte ihr seine Hand hin.

Sie schüttelte sie, ignorierte, wie groß sie war und die kurze Hitzewelle, die sie überkam. Nick war so weit außerhalb ihrer Liga, dass er genauso gut ein Außerirdischer hätte sein können. Trotzdem war er nett anzusehen. Sie würde die Show genießen, solange sie dauerte.

»Sie können arbeiten, wann immer Sie wollen«, sagte sie. »Solange Ihre Arbeitszeiten nicht mit einer Hochzeit kollidieren. Ich werde Ihnen einen Terminplan geben, damit Sie den Überblick haben. Sie werden zweimal im Monat bezahlt. Benötigen Sie irgendwelche Werkzeuge oder Materialien?«

»Ich bringe alles mit.«

»Gut.« Denn sie hätte gar nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. »Ich schätze, dann sehen wir uns.«

»Darauf können Sie sich verlassen.«

Wenn das nur wahr wäre, dachte Pallas amüsiert. Sie überlegte, wie unangemessen es wäre, ihn zu bitten, mit freiem Oberkörper zu arbeiten. Dabei hatte er einen fabelhaften römischen Soldaten abgegeben.

Vielleicht würde eine der Bräute demnächst eine Garten-Eden-Hochzeit wünschen, bei der alle Anwesenden nackt waren. Nick könnte wieder einspringen. Eine Fantasie, um mir den Tag zu versüßen, dachte Pallas auf dem Weg zurück zu ihrem Büro. Und eine, die sie mit Sicherheit nicht vergessen würde.

2. Kapitel

Nick reichte seinem Bruder ein Bier. Der Abend war klar und versprach, kalt zu werden, aber im Moment war es noch warm genug. Sie saßen auf Mathias’ rückwärtiger Veranda, die auf das sechzehnte Loch des Golfplatzes hinausging. Zur Linken lag ein, nun ja, definitiv offenes, grasbewachsenes Gelände. Es war weniger die Landschaft, die einer Erklärung bedurfte, als vielmehr die Bewohner.

»Man gewöhnt sich daran«, sagte Mathias, als Nick die Schatten beobachtete, die sich im Dämmerlicht bewegten. »Sie kehren zur Nacht heim.«

»Wohin? In einen Stall?«

»Ich habe nie gefragt«, gab Mathias zu. »Ich schätze, sie verlassen die offene Landschaft, um Raubtieren aus dem Weg zu gehen.«

Nick machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass es hier keine Raubtiere gab – zumindest keine, von denen er wusste. Instinkt war Instinkt, und er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man mit der Natur nicht diskutieren konnte.

Ein paar Meilen südwestlich der Stadt, direkt hinter dem Golfplatz, lagen Hunderte Hektar Grasland. Wenn man weiterging, kam man an die Mülldeponie der Stadt – einen Hightech-Gewerbehof, wo alles, was möglich war, recycelt oder aufbereitet wurde. Aber das Interessanteste war nicht, dass Happily Inc eine der niedrigsten Müllraten pro Einwohner des Landes hatte, sondern die Tiere, die das Gebiet zwischen der Mülldeponie und dem Golfplatz zu ihrer Heimat erkoren hatten.

Bislang hatte Nick Zebras, Gazellen und etwas, das einem Wasserbüffel glich, gesehen. Er hätte auch schwören können, dass in den letzten Tagen eine Giraffe herumgewandert war, aber dabei konnte es sich auch um eine optische Täuschung gehandelt haben.

»Es ist seltsam«, murmelte er und trank einen Schluck Bier.

»Wir sind in Fool’s Gold aufgewachsen«, merkte Mathias an. »Wir dürfen eine andere Stadt nicht als seltsam bezeichnen.«

Das stimmt vermutlich, überlegte Nick. Und es war ja einer der Gründe, aus denen er sich in Happily Inc so wohlfühlte. Sobald man einmal an einem seltsamen Ort gelebt hatte, war es schwer, sich in der Normalität zurechtzufinden.

Aber es gab deutliche Unterschiede. Fool’s Gold lag am Fuße der Sierra Nevada. Happily Inc lag mitten in der Wüste. In beiden Städten gab es Berge, aber die hier wirkten jüngeren Datums und hatten härtere Gipfel und schärfere Kanten. Für sein Künstlerauge waren die Farbspiele besonders interessant. Die Dämmerung war eine Mischung aus Ochsenblutrot und Karneol mit umbra- und sepiafarbenen Schatten.

Er war seit drei Wochen in der Stadt. Mathias besaß ein lächerlich großes Haus am Rande des Golfplatzes und hatte ihm angeboten, bei ihm zu wohnen, bis er entschieden hatte, was er tun wollte.

»Warum bist du hierhergezogen?«, fragte Nick. »Warum nicht nach Sedona oder in irgendein Künstlerdorf in Tennessee?«

»Atsuko hatte hier bereits unsere Arbeiten verkauft«, erklärte Mathias und meinte die Galeriebesitzerin im Ort. »Sie wollte, dass wir einander kennenlernen. Und als sie gehört hat, dass wir aus Fool’s Gold wegziehen wollen, hat sie uns eingeladen, sie hier zu besuchen. Eines führte zum anderen, und da sind wir nun.«

Meine Brüder haben das gut gemacht, dachte Nick. Atsuko hatte Kontakte in der ganzen Welt. Mit ihr als Vermittlerin mussten sie sich nicht um die geschäftliche Seite ihrer Arbeit kümmern. Stattdessen konnten sie sich voll und ganz auf ihre Kunst konzentrieren. Ihr Atelier war groß und offen. Sie hatten einander als Gesellschaft und doch ausreichend Platz.

Während Mathias hier beim Golfplatz und den Zebras wohnte, hatte Ronan ein Haus in den Bergen. Es war hauptsächlich aus Stein und Naturmaterialien gemacht und passte sich perfekt der Umgebung an. Es gab sogar ein großes Studio im hinteren Bereich, in dem Ronan arbeitete, wenn er nicht in die Stadt fahren wollte.

Als Nick gemerkt hatte, dass es an der Zeit war, woandershin zu ziehen, hatte er viele Optionen überdacht. Aber Happily Inc war die offensichtliche Wahl gewesen. Vor allem mit dem möglichen Auftrag in Dubai.

Die Dämmerung wurde zur Nacht, und Millionen von Sternen leuchteten auf. Nick betrachtete den Himmel und fragte sich, ob er sich wohl so weit südlich befand, dass er hier andere Sternbilder sehen würde als die, mit denen er sich auskannte. Vermutlich nicht.

»Hast du es je bedauert, weggezogen zu sein?«, fragte er.

»Nein.«

Wegen unseres Vaters, dachte Nick grimmig. Ceallach hatte in ihrer aller Leben Spuren hinterlassen. Teilweise auf gute, öfter aber auf schlechte Weise.

Es gab fünf Mitchell-Söhne. Die ältesten beiden waren nicht mit irgendeiner Form von Ceallachs Talent gesegnet – oder war es eher ein Fluch? Deshalb waren sie von ihrem Vater meist ignoriert worden, während den jüngeren dreien der Großteil seiner Aufmerksamkeit gegolten hatte.

»Geht es Ronan gut?«, fragte er. Ihr jüngster Bruder hatte es am schwersten.

»Wir sprechen nicht darüber.«

»Immer noch nicht?«

»Niemals.«

Was eine Bürde sein musste. Mathias und Ronan hatten einander schon immer nahegestanden. Vermutlich, weil sie Zwillinge waren – zumindest früher einmal.

Da sie beide nicht darüber reden wollten, wechselten sie das Thema. »Wie war dein Date am Samstag?«

Mathias schaute ihn über seine Bierflasche hinweg an. »Das war kein Date.«

»Du hast nicht eine Frau zum Essen ausgeführt und danach Sex mit ihr gehabt?«

»Doch, das habe ich schon.«

»Wieso war es dann kein Date?«

»Weil ich sie nicht wiedersehen werde.«

»Ja, ich schätze, das verändert die Definition eines Dates.«

Seit er nach Happily Inc gezogen war, hatte Mathias angefangen, sich mit den verschiedenen Brautjungfern zu treffen, die in die Stadt kamen. Er verbrachte eine oder zwei Nächte mit ihnen, und dann waren sie wieder fort.

Nick mochte Frauen genauso gerne wie jeder Mann, aber Menge oder Abwechslung hatten ihn nie interessiert. Er mochte die Vorstellung, jemanden in seinem Leben zu haben – solange er die Dinge unter Kontrolle behielt. Er wollte ausreichend Leidenschaft, damit es interessant blieb, aber nicht so viel, dass sie ihn verschlang. Manchmal war dieses Gleichgewicht schwer zu finden, also tat er lieber nichts.

»Sei nur vorsichtig«, warnte er seinen Bruder jetzt. »Du willst nicht, dass eine Frau in sechs Monaten zurückkommt und sagt, dass sie wahnsinnig in dich verliebt ist.«

»Das wird nicht passieren.«

Nick hoffte, dass Mathias recht hatte.

»Atsuko hat erzählt, dass du für eine der Hochzeitsfirmen arbeiten wirst.«

»Jupp. Für Weddings in a Box

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Und was machst du da? Servietten falten?«

»Ich habe noch nie Servietten gefaltet. Das könnte interessant sein.«

Mathias starrte ihn an. »Muss ich mir Sorgen um dich machen?«

»Ich weiß nicht. Musst du?«

Der Blick seines Bruders wurde finster. Nick lachte. »Ich werde zwei Sets Holzpaneele restaurieren. Sie sind alt und in schlechtem Zustand. Die Arbeit ist brillant. Ich muss mal ein wenig recherchieren, um herauszufinden, wer sie angefertigt hat.«

»Du solltest Atsuko fragen. Sie weiß viel und hat gute Verbindungen in der Kunstszene.«

Er kannte die Galeriebesitzerin erst seit ein paar Wochen, war aber bereits von ihr beeindruckt. Sie war Mitte fünfzig und stand mit Käufern auf der ganzen Welt in Kontakt. Atsuko verhandelte hart, erzielte exzellente Preise und kümmerte sich um den Versand der Kunstwerke. Er hatte in den letzten drei Wochen durch Atsuko mehr verkauft als in den letzten drei Jahren.

Die Philosophie seines Vaters war immer gewesen, die Käufer zu sich kommen zu lassen. Nick glaubte langsam, dass das eine sehr kurzsichtige Betrachtungsweise war.

»Hast du was aus Dubai gehört?«, fragte Mathias.

»Nein. Es wird noch einige Monate dauern, bis sie sich entscheiden. Dann muss ich mir überlegen, ob ich es überhaupt machen will. Zwei Jahre sind eine lange Zeit.«

»Ist das jetzt der Moment, in dem ich dich darauf hinweise, dass du den Auftrag noch nicht hast?«

Nick grinste. »Hey, wir reden hier von mir. Wem sollten sie den Auftrag sonst geben?«

»Jemandem mit Talent.«

»Du bist eifersüchtig.«

»Nicht auf dich, großer Bruder.«

Nick lachte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die nächtliche Weite. »Gibt es hier Fledermäuse?«

»Hast du Angst?«

»Nein, ich bin von ihnen fasziniert. In meinem Kopf tauchen immer wieder Bilder von einem Kunstwerk mit vielen Fledermäusen auf.«

Mathias schüttelte den Kopf. »Mit dir stimmt doch was nicht.«

»Ja, da hast du vermutlich recht.«

»Frucht- oder Vampirfledermäuse?«

»Frucht. Glaube ich. Ich sollte mal recherchieren.«

»Über Fledermäuse.« Mathias trank von seinem Bier. »Glaubst du, Mom hat dich als Säugling auf den Kopf fallen lassen?«

Nick lachte. »Nicht so oft wie dich.«

Pallas liebte es, sich mit ihren Freundinnen zum Lunch zu treffen. Ein Lunch-Treffen mit ihrer Mutter war hingegen eine ganz andere Sache. Zum einen wegen der Logistik. Sie wählten nicht abwechselnd Restaurants aus, sondern trafen sich immer im exklusiven Privatklub für die leitenden Angestellten der Bank. Wobei exklusiver Privatklub ein hochtrabender Titel für ein etwas netteres Arrangement aus Tischen und Stühlen in einem eckigen, fensterlosen Raum war. Es gab keine Küche, sondern das Essen wurde geliefert. Trotzdem waren ein eigener Kellner für jeden Tisch und weiße Tischdecken die Norm. Was bedeutete, dass Pallas statt Jeans und T-Shirt ein Kleid anziehen musste.

Während sie über den Fluss auf die Nordseite der Stadt fuhr, sagte sie sich, dass alles gut werden würde. Sie hatte es seit achtundzwanzig Jahren mit ihrer Mutter zu tun. Sie wusste, wie sie das Gespräch mit einem Minimum an Schmerzen und Vorwürfen überstehen konnte. Sie musste nur nicken und sagen, was von ihr erwartet wurde. Das war keine große Sache.

Nur war es auf die eine oder andere Weise eben doch immer eine große Sache.

Ihr Leben lang hatte Pallas verzweifelt versucht, ihre Mutter zufriedenzustellen. Was eigentlich kein Problem sein sollte. Libby Saunders liebte Regeln. Der praktischste Plan wäre gewesen, sich an diese Regeln zu halten, und voilà: mütterliche Liebe. Nur hatte es so kein einziges Mal funktioniert.

Vielleicht hatte es etwas mit dem alten Sprichwort zu tun, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert war. Oder damit, dass Pallas sich immer hin- und hergerissen gefühlt hatte zwischen dem Wunsch, ihre Mutter glücklich zu machen, und dem, sich selbst glücklich zu machen. Was auch immer die Ursache war, ihre Kindheit war ein ständiger Kampf gewesen – den sie nie gewonnen hatte. Was nicht daran lag, dass sie es nicht versucht hätte.

Cade, ihr Zwillingsbruder, war wesentlich klüger gewesen. Er hatte sich einfach aus dem Schlachtfeld der Konflikte zurückgezogen und war seinen eigenen Weg gegangen, sowohl emotional als auch physisch. Pallas erinnerte sich immer noch an ihren gemeinsamen fünften Geburtstag. Libby hatte ihre Kinder gefragt, ob sie später einmal in der Bank arbeiten wollten. Pallas hatte sofort Ja gesagt, auch wenn sie überhaupt keine Ahnung hatte, was »in der Bank arbeiten« bedeutete. Sie wusste nur, dass ihre Mutter jeden Tag dorthin ging und es wichtig war. In der Bank zu arbeiten würde dafür sorgen, dass ihre Mom sie ausreichend liebte, sodass sie sich nicht immer so verängstigt fühlen musste.

Cade hatte sein glückliches Lächeln gelächelt und gesagt: »Nein. Ich werde später mal Cowboy.«

Libby war nicht amüsiert gewesen, aber Cade war von seinem Entschluss nicht abgerückt. Er liebte Pferde und nicht stickige Banken. Nicht ein einziges Mal war er ins Wanken geraten. Mit achtzehn war Pallas pflichtbewusst aufs College gegangen, um Finanzwesen zu studieren. Cade dagegen war losgezogen, um sein Handwerk auf einer Pferdefarm in Kentucky zu lernen. Fünf Jahre später war er nach Texas gezogen.

Sie waren in Verbindung geblieben, und nach allem, was er ihr erzählte, war Cade vollkommen glücklich. Das Leben weit weg von Libby und der Bank war offensichtlich sehr, sehr gut. Pallas konnte das nicht beurteilen. Sie versuchte immer noch, sich der strengen Matriarchin der Familie gegenüber zu beweisen.

Sie parkte auf dem Gästeparkplatz und achtete darauf, einen Platz am entferntesten Ende zu nehmen, damit sie niemanden störte. Dann ging sie in die Bank.

Ihr Ururgroßvater hatte die California First Savings and Loan im Jahr 1891 gegründet. Es war nicht die erste Bank des Landes und auch nicht die zweite, aber es gab sie noch. Eine Tatsache, auf die man stolz sein konnte, wie Pallas vermutete. Viele Menschen glaubten, sie müsse reich sein, weil sie aus einer Bankiersfamilie stammte. Leider stimmte das nicht. Ihr Großvater war zwar der einzige Erbe gewesen, aber er hatte sieben Töchter gezeugt, die alle wiederum eigene Kinder bekommen hatten. Pallas’ Anteil an der Bank war nicht nur sehr gering, sondern sie würde auch vor ihrem neununddreißigsten Geburtstag nichts erben. Man konnte Grandpa Frank nicht vorwerfen, keinen Sinn für Humor zu haben.

Sich finanziell unbeschwert einen Weg in der Welt zu suchen war also nicht infrage gekommen. Bis heute hatte sie noch Studiengebühren abzubezahlen. Und sie hatte Geralds Firma, die nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für finanziellen Erfolg war.

Es war Anfang April. Abgesehen von einem freien Wochenende im Juni hatte sie ab jetzt bis Ende September jedes Wochenende eine Hochzeit. Wenn alles gut lief, würde sie ihre Rechnungen bezahlen, ein paar Reparaturen erledigen und sich selbst ein kleines Gehalt zahlen können. Vorausgesetzt, sie behielt die Firma. Denn sosehr sie Gerald liebte und sein vollkommen unerwartetes Geschenk schätzte, hatte sie nie davon geträumt, Weddings in a Box zu ihrer Lebensaufgabe zu machen. Pallas hatte immer gedacht, dass sie eines Tages mit ihrer Mutter zusammen in der Bank arbeiten würde.

Sie betrat das alte Gebäude im spanischen Kolonialstil. Die Mischung aus hohen Decken und dunklem Holz vermittelte ihr das Gefühl, in eine vergangene, elegantere Welt zu treten. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Wandgemälde der Wüste bei Sonnenaufgang dominierte die östliche Wand. Es war ein Projekt aus den Zeiten der Großen Depression, das von der Regierung bezahlt worden war. Aus Gründen, die Pallas nicht ganz klar waren, hatte ihre Mutter das Gemälde immer gehasst, aber sie konnte es nicht übermalen. Es war so sehr Teil der Bank wie die Marmorfußböden und die altmodischen Kassenschalter.

Pallas durchquerte die Lobby und ging in Richtung der Büros, in denen die Geschäftsleitung residierte. Trotz ihrer mutigen Schritte verspürte sie den Drang zu flüchten. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Als sie noch drei Meter von der Tür zum Büro ihrer Mutter entfernt war, trat Libby auf den Flur hinaus und schenkte ihr ein angespanntes Lächeln.

Pallas fühlte sich sofort wieder, als wäre sie acht Jahre alt und hätte einen wertvollen Teller zerbrochen. Oder Matsch auf dem Fußboden verteilt. Oder sonst eine der vielen Regeln gebrochen, die ihre Kindheit geprägt hatten.

»Hallo, Pallas.«

»Mom.«

Libby bot ihr die Wange für den üblichen kurzen Begrüßungskuss. Im Saunders-Clan hielt man nicht viel von Umarmungen.

Ihr braunes Haar und die mittlere Größe hatte Pallas von ihrer Mutter geerbt. Sie wusste, dass sie die haselnussbraunen Augen ihrem Vater verdankte, ansonsten dominierten jedoch Libbys Gene. Ihr Lächeln war das gleiche, genau wie ihre Art zu gehen. Als Teenager hatte Pallas es gehasst, ihrer Mutter so ähnlich zu sehen. Irgendwann hatte sie sich dann damit abgefunden und versucht zu schätzen, dass Libby trotz der voranschreitenden Jahre nie zu altern schien. Zumindest das war etwas, worauf sie sich freuen konnte.

Wie immer trug ihre Mutter einen dunklen Anzug und eine weiße Bluse – der angemessene Aufzug für ihre Position als Senior-Vizepräsidentin. Ihre Haare waren zu einem strengen Knoten zurückgebunden, sie war nur dezent und sehr geschmackvoll geschminkt, ihr Schmuck war elegant und schlicht – Perlenohrringe und, obwohl sie seit achtzehn Jahren verwitwet war, ein goldener Ehering.

»Danke, dass du dir Zeit genommen hast«, sagte Libby, als sie den Weg zu dem kleinen Speisesalon voranging.

Pallas wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Es ist mir ein Vergnügen« entsprach nicht ganz der Wahrheit, und »Gern geschehen« klang irgendwie seltsam spöttisch. Sie entschied sich für ein nichtssagendes Geräusch.

Wie üblich war der Tisch mit Porzellan und Kristallgläsern gedeckt. Zwei große Liefertüten standen auf dem Sideboard. Als Kind war Pallas von der Tatsache unglaublich beeindruckt gewesen, dass jedes Restaurant der Stadt mit Freuden das Mittagessen hierherliefern würde. Jetzt fragte sie sich, warum Libby sich nicht einfach ein Sandwich holen oder ihr Essen von zu Hause mitbringen konnte wie alle anderen Leute in Amerika.

Ihr fiel außerdem der fehlende Kellner auf, was kein gutes Zeichen war. Nicht dass sie jemanden brauchte, der ihr das Essen auf den Teller füllte – es war eher, dass Libby anscheinend keinen zufälligen Zeugen bei diesem Gespräch haben wollte. Pallas versuchte ein paar Sekunden lang, herauszufinden, was sie dieses Mal wieder verkehrt gemacht hatte, bevor sie aufgab. Sie würde es niemals erraten. Außerdem würde Libby es ihr sowieso immer wieder unter die Nase reiben, sobald sie dazu bereit wäre.

»Würdest du uns das Essen reichen?«, fragte Libby und setzte sich.

»Sicher.«

Pallas trug die Tüten zum Tisch und öffnete sie.

In der ersten befanden sich grüner Salat, gekochtes Hühnchen und Gemüse. Aus der zweiten Tüte holte sie gekühlten Eistee und ein Brötchen, dazu ein kleines Päckchen Butter. Letztere sind für mich, dachte Pallas und war nicht sicher, ob sie darüber amüsiert sein sollte. Libby würde zum Lunch niemals Kohlenhydrate zu sich nehmen.

Pallas verteilte das Essen auf zwei Teller und holte dann Eiswürfel aus dem kleinen Kühlschrank in der Ecke. Ihre Mutter schenkte den Eistee ein, und sie setzten sich einander gegenüber.

Pallas sagte sich, dass es keinen Grund gab, trotzig zu sein. Dennoch nahm sie sich – im Gegensatz zum leichten Träufeln ihrer Mutter – zwei volle Löffel Salatdressing. Was hatte Libby nur an sich, dass Pallas sich in ihrer Gegenwart immer wie eine mürrische Pubertierende benahm?

»Ich bin so froh, dass du endlich deinen Abschluss gemacht hast«, sagte ihre Mutter lächelnd. »Es ist schade, dass du so lange gebraucht hast, aber das ist ja nun Vergangenheit.«

Pallas legte ihre Gabel ab und ermahnte sich, einfach zu atmen. Die Zeit würde verstreichen, und bald könnte sie gehen. Oder sie könnte mit etwas um sich werfen oder schreien. Das würde auch funktionieren.

Libby hatte zwar Pallas’ Studium in Südkalifornien finanziert, doch es hatte verschiedene Bedingungen gegeben. Zuerst einmal, dass Pallas mindestens einen Notendurchschnitt von Zwei plus hielt. Zweitens, dass Pallas sich ihr eigenes Taschengeld verdiente. Pallas hatte sich daraufhin einen Job im nahe gelegenen Disneyland gesucht. Sie hatte ihn so sehr geliebt, dass sie noch zusätzliche Schichten angenommen hatte, und im dritten Semester war ihr Notendurchschnitt auf Zwei minus gefallen. Kaum hatte Libby davon erfahren, hatte sie ihr eine E-Mail geschickt, in der sie erklärte, nicht länger für das Studium, das Zimmer im Studentenwohnheim oder sonst irgendetwas aufzukommen. Pallas war von da an komplett auf sich allein gestellt gewesen. Und zwar für immer.

Mit weniger als dreißig Dollar in der Tasche war sie gezwungen gewesen, zumindest vorübergehend nach Happily Inc zurückzukehren und bei einer Freundin einzuziehen, während sie überlegte, was sie nun tun sollte. Irgendwann hatte sie angefangen, für Gerald bei Weddings in a Box zu arbeiten und nebenbei auf dem Community College zu studieren. Später war sie dann auf die staatliche Universität gewechselt. Es hatte achteinhalb Jahre gedauert, aber sie hatte es geschafft. Sie war nun die stolze Besitzerin eines Diploms im Finanzwesen.

Ihre Mutter sah sie an. »Ich nehme an, du hast deine Lektion gelernt.«

»Ich weiß nicht mal, was das heißen soll, Mom.«

»Dass du nicht wieder so dumm sein wirst.«

Pallas wollte darauf hinweisen, dass sie lediglich einmal eine Drei in Erdkunde bekommen hatte, nie mit Drogen erwischt worden war oder auch nur den falschen Mann gedatet hatte. Aber es war zwecklos. Für Libby würde das nicht den geringsten Unterschied machen. Die Regeln waren gebrochen worden, und das hatte immer Konsequenzen.

»Ich bin ziemlich sicher, dass jeder außer dir ab und zu mal dumm ist«, sagte sie. »Aber, wie auch immer, ja, ich habe meinen Abschluss.«

»Ausgezeichnet.« Ihre Mutter lächelte wieder. »Dann ist es an der Zeit. Pallas, ich freue mich, dir eine Position hier in der Bank anbieten zu können. Du kannst in zwei Wochen anfangen.«

Da war es. Das Einzige, was sie gewollt hatte, seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war. Die Chance, hier zu arbeiten – mit ihrer Mutter.

Pallas wartete darauf, Vorfreude zu verspüren oder auch nur ein Gefühl von Zufriedenheit. Endlich. Endlich würde sie sich Respekt verschaffen. Stabilität. Sie würde ein Teil des Familienvermächtnisses sein. Sie war begeistert. Wirklich.

Oder auch nicht. Denn was sie in Wirklichkeit empfand, war … nichts.

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Wo liegt das Problem? Ich dachte, du würdest dich freuen.«

»Das tue ich auch. Ich weiß das Angebot sehr zu schätzen …«

»Nimm mir gegenüber nicht das Wort aber in den Mund, Pallas. Das meine ich ernst. Ich warte seit beinahe zehn Jahren hierauf. Wenn du am College nicht so geschludert hättest, hättest du die letzten acht Jahre deines Lebens nicht vergeudet.«

»Es war eine Drei, Mom. Weil ich Überstunden gemacht habe.«

»Im Disneyland«, stieß ihre Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich habe den Job geliebt und viel gelernt. Und fürs Protokoll: Ich betrachte mein Leben nicht als Verschwendung, aber danke für den Vertrauensvorschuss.«

Auf Libbys Miene zeichnete sich Ungeduld ab. »Was ist dann dein Problem? Du solltest diese Gelegenheit mit beiden Händen ergreifen.«

»Ich kann Weddings in a Box nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen verlassen. Ich bin bis Ende September mit Hochzeiten ausgebucht und habe zudem Angestellte, die von ihrem Gehalt abhängig sind.«

»Guter Gott, das kann nicht dein Ernst sein. Arbeitet irgendeiner deiner Angestellten Vollzeit? Gibt es nicht jemand anderen, der sich um die Hochzeiten kümmern kann? Ich meine, das sind doch nur Leute, die heiraten. Wie schwer kann das wohl sein?«

Es war eine Sache, wenn Pallas darüber nachdachte, ob es möglich wäre, ihre Firma zum Erfolg zu führen. Aber es war etwas ganz anderes, zu hören, wie ihre Mutter diese Firma auseinandernahm. Pallas spürte, wie ihre Nackenhaare sich sträubten. Ihre Stimmung wandelte sich von leicht genervt zu schwer verärgert.

»Das bin ich Gerald schuldig«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig und leise zu halten. »Er hat mir sein Lebenswerk hinterlassen, und ich werde mein Bestes geben, um sein Geschenk zu würdigen.«

»Der Mann ist tot. Ihm ist es egal.«

»Das ist selbst für dich hart.«

»Das ist nicht hart, das ist realistisch.« Libbys braune Augen flammten wütend auf. »Ich fasse es nicht. Was ist nur mit dir los, Pallas? Du willst einfach nie tun, was man von dir erwartet. So bist du schon immer gewesen. Trotzig. Stur. Das hast du von deinem Großvater.«

Diesen Vorwurf hörte Pallas schon ihr gesamtes Leben lang. Es fiel ihr schwer, nicht die Augen zu verdrehen. Außerdem liebte sie Grandpa Frank. Was also war so schlimm daran, wie er zu sein?

»Nun, wie lange hast du vor, dieses lächerliche Geschäft noch zu betreiben?«, fragte ihre Mutter.

»Dir mag nicht gefallen, was ich tue, Mom, aber das gibt dir nicht das Recht, dich über Weddings in a Box lustig zu machen. Es handelt sich um eine Firma, die Menschen glücklich macht. Selbst du solltest den Wert darin erkennen.«

Libby presste die Lippen zusammen. »Okay. Wie lange hast du vor, noch da zu arbeiten?«

»Ich bin mir nicht sicher. Wie gesagt, ich bin bis Ende September ausgebucht. Ich hatte überlegt, die Firma danach zu verkaufen.« Vielleicht an Alan, auch wenn der nie Interesse daran gezeigt hatte, das Geschäft zu übernehmen.

»Das ist noch sehr lange hin. Ich kann dir nicht versprechen, dass es dann noch eine freie Stelle gibt. Oder überhaupt jemals wieder.« Die Miene ihrer Mutter wirkte wieder streng. »Das hier könnte eine einmalige Chance sein, Pallas. Bist du gewillt, für ein wertloses Erbe alles aufzugeben, wofür du gearbeitet hast?«

Und da war es wieder – das Libby-Ultimatum. Sie sollte nicht überrascht sein. Oder verletzt. Und doch …

»Für mich ist es nicht wertlos.« Pallas erinnerte sich noch daran, wie überrascht sie gewesen war, als sie erfahren hatte, dass ihr Chef ihr Weddings in a Box hinterlassen hatte. Sie wusste, dass sie Freunde gewesen waren und ihm sehr viel an ihr gelegen hatte. Aber ihr einfach so die Firma zu überlassen war unglaublich.

»Diese Entscheidung wird Konsequenzen haben«, warnte ihre Mutter sie.

»Das ist immer so.«

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