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Pleitemöwe

Als Buch hier erhältlich:

Morden im Norden: Ein Toter im Fischgammel!

Fiete Mommsen will im beschaulichen Greetsiel nur eins - seine Ruhe. Schließlich hat er sich extra versetzen lassen, um seiner Exfreundin und Kollegin Janne Janssen zu entfliehen. Aber er gerät vom Regen in die Traufe: Wer kam bloß auf die Idee, eine Leiche unter Fischabfällen zu entsorgen? Ausgerechnet mit Janne soll er das herausfinden, doch die will mehr aufklären als nur den Mordfall.

Zu allem Überfluss mischen sichauchnoch seine eigenwillige Vermieterin Wanda und ihre Freunde aus der Bäckerei ein. Fiete bleibt nichts anderes übrig, als sich noch ein paar von Wandas vorzüglichen Teekeksen zu schnappen und sich in den Gammel, pardon: die Ermittlungen zu werfen.


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Wanda Und Fiete Ermitteln
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903412

Leseprobe

Prolog
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Bremerhaven, Dienstagnachmittag

Onno Eilts schwitzt. Bei dieser brütenden Sommerhitze, die trotz Klimaanlage bis in den hintersten Winkel seiner Fahrerkabine kriecht, wünscht er sich einen angenehmeren Job. Rettungsschwimmer an der Nordseeküste. Das wär’s. Gut, diese Lebensretter aus Malibu, die sich mit Waschbrettbauch und Rettungsboje ins Meer stürzen, sehen vielleicht einen Ticken besser aus. Aber um Ertrinkende an den Ohren aus dem Wasser zu ziehen, reicht auch sein Waschbärbauch. Wenn grad mal niemand ertrinken würde, könnte er einfach ins Meer rennen und runterkühlen.

Stattdessen ist er hundertfünfzig Kilometer von Greetsiel bis nach Bremerhaven an der Küste entlangkutschiert. Heute Morgen hat er extra früher angefangen, damit er seine Ladung noch vor Mittag abkippen kann. Zwanzig Tonnen Fischgedärm, Gräten und Köpfe mit toten Augen. Pingelig darf Onno nicht sein. An den beißenden Gestank nach Fisch und Verwesung hat er sich längst gewöhnt. Seine neue Freundin Britta besteht allerdings darauf, dass er jedes Mal extra lange duscht, bevor sie sich treffen. Vermutlich könnte sie den Fischmief sogar riechen, wenn die Feuerwehr mit ihrem Wasserwerfer anrücken und ihn abkärchern würde.

Langsam steuert er den blauen Vierzigtonner auf das Gelände der Biogenic GmbH, die den Gammel zu Fischmehl verarbeitet. Wie immer kreist ein Riesenschwarm Möwen am Himmel und lauert auf die nächste Entladung.

Dicht hinter dem zwei Meter hohen Zaun, der das Grundstück umgibt, fährt er im Schritttempo auf die im Boden eingelassene Lkw-Waage zu. Eine Ampel, die auf dem Wiegehäuschen angebracht ist, springt auf Rot. Onno hält, lässt das Beifahrerfenster herunter und schaltet den Motor ab.

»Moin«, ruft Nils Manninga durch eine gläserne Luke und winkt.

Onno nickt. »Moin! Ich bleib sitzen!«

»Denk dran, dass du nach dem Abladen auch drin sitzen bleibst. Sonst haben wir wieder hundertfünfundzwanzig Kilo Differenz und wissen nicht, woher die kommt.« Nils lacht. »Oder hast du zugenommen?«

Onno grinst und tätschelt stolz die Wölbung unter seinem Hemd. »Is weniger geworden.«

»Hehe! Wenn da man keine Frau im Spiel ist.« Nils legt eine Reihe etwas zu schief geratener Schneidezähne frei. »Kannst mir ja aufm Rückweg von deiner neuen Errungenschaft erzählen.« Dann drückt er auf ein paar Knöpfen herum, um danach den Daumen zu heben, der bedeutet, dass das Bruttogewicht registriert ist.

Die Ampel schaltet auf Grün um. Onno startet den Motor und gibt Gas. Die Silbermöwen kreischen frech und gieren nach Futter. Sie wissen, dass es nun nicht mehr lange dauert. Bis zum Bunker werden sie über Onno schweben und das Fahrzeug nicht aus den Augen lassen.

Die Hydraulik des Lkw ächzt, als Onno schließlich auf die Bremse tritt und am Bunker stoppt. Er wischt sich mit einem Putzlappen die Stirn ab. Sein Hemd ist von Schweißflecken übersät. Er greift sich ein Heringsbrötchen, das zwischen Windschutzscheibe und Ablage eingekeilt ist, und springt aus dem Führerhaus. Während er das Brötchen auswickelt, bummelt er zur Rückseite des Lkw. Onno beißt in das Fischbrötchen, aus dem Salzlake auf sein Hemd tropft. Mit der anderen Hand fährt er die rot-weiße Sicherheitsschranke hoch. In diesem Gefahrenbereich darf sich niemand aufhalten, solange der Gammel nicht vollständig gekippt ist. Die Gefahr, auszurutschen und womöglich kopfüber die überdimensionale Metallschräge hinabzuschlittern, direkt vor die Transportschnecke, die sich wie eine Schiffsschraube dreht, jagt sogar ihm einen Schauer über den Rücken. Eine Kontrollleuchte zeigt an, dass die Schranke eingerastet ist.

Onno schlendert zurück. Langsam drückt er den Entladehebel neben seinem Fahrersitz, damit sich der Container hebt und die Fracht in den Bunker entleert. Mit schmatzenden Geräuschen schlägt das blutige Ladegut auf der Schräge auf. Der Boden vibriert durch die Rotation der gewaltigen Schraube.

Die Silbermöwen stürzen sich im Steilflug auf Onnos Ladung und picken im Flug Brocken aus der rutschenden Masse. Einmal hat ihm sogar eins von diesen Biestern ins Ohr gehackt und sein Feierabendbrötchen aus der Hand geräubert. Das tonnenschwere Metall des Containers donnert und hallt übers Gelände. Onno lässt den Großbehälter wippen, um auch die letzten Gedärme von den Wänden zu lösen, und dirigiert ihn auf den Lkw zurück. Feierabend.

Per Transportschnecke wird das Gekröse nun aus dem Schacht in die Gammelmühle befördert und im Nullkommanix zu Fischmehl zerkleinert. Staubkorngröße. 0,6 Millimeter, um genau zu sein. Onno ist immer wieder fasziniert, mit welcher Kraft die Maschine arbeitet. Außer dem Geruch wird nichts mehr an die schleimigen Kadaverteile erinnern, wenn der gierige Magen der Gammelmühle sie erst verdaut hat.

Onno steht gerade unter der Betriebsdusche und verführt in Gedanken seine neue Flamme, da brüllt Hauke in den Duschraum: »Onno! Schnell! Zieh dir was über! Feierabend kannste vergessen! Polizei ist unterwegs!«

Vor Schreck flutscht Onno die Seife aus den Händen.

»Gib Gummi«, schreit Hauke und knallt die Tür von außen zu.

Als Onno wenige Minuten später in die Produktionshalle hechtet, kleben ihm sein T-Shirt und die Cargoshorts wie eine zweite Haut am Körper, weil er sich kaum abtrocknen konnte.

Die gesamte Belegschaft steht vor der Transportschnecke. Einige pressen sich die Hand vor den Mund. Andere schütteln den Kopf. Die bestialischen Verwesungsgase der Fischinnereien, die sich trotz Absauganlage in der Halle stauen, verschlagen sogar ihm den Atem. Er hält die Luft an und atmet nur so viel wie nötig. Jetzt hängt der Gestank auch noch in seinen Feierabendklamotten.

»Das musst du heute geladen haben«, sagt Günther.

Onno blickt prüfend auf die Fischgedärme, die auf dem gestoppten Transportband liegen. »Jo, kann ich so nich sagen. Unsere Ladungen sehen doch alle gleich aus.«

»Der Bunker war leer, bevor du abgekippt hast.«

»Dann wird’s wohl meine sein.« Onno kapiert die ganze Aufregung nicht. Die anderen starren immer noch auf das suppige Förderband. Ole, der neben ihm steht, hält sich den Bauch und guckt, als hätte er gestern zehn Jever zu viel getankt.

»Mensch, bist du blind?«, keift Hauke, tritt zu Onno und zeigt auf etwas inmitten der Gedärme.

Jetzt peilt auch Onno, was die anderen in dem Matsch entdeckt haben.

Das Fischbrötchen in seinem Magen rumort. Bei genauem Hinschauen erkennt er einen hellen Fleck auf dem Förderband, der sich deutlich vom restlichen Blut und Gekröse abhebt. Sieht aus wie menschliche Haare. Blond. Mit Schleim und Blut verschmiert.

Bei dem Gedanken daran, was er hundertfünfzig Kilometer lang ahnungslos hinter sich im Container gefahren hat, sacken Onnos Beine weg.

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Greetsiel, einen Tag zuvor

Angebrannt. Ein eindeutiges Zeichen! Für Wanda Poppen steht fest: Joost Lüpkes will keinen Kuchen.

Wanda knallt das heiße Blech ins Spülbecken ihrer Backstube, dass es nur so scheppert. Die Ofenhandschuhe pfeffert sie im hohen Bogen hinterher. Sie dreht sich um und streift die Hände an ihrer Schürze ab. Maltesermädchen Fienchen, das neben der Tür zum Wohnbereich auf einem Kissen döst, blinzelt. Wanda pustet durch.

Joost ist ein oller Gnadderkopp. Immer muss er das letzte Wort haben. Aber: Man konnte ihn zu jeder Zeit aus dem Bett klingeln, wenn Not am Moped war. Vor ein paar Tagen, als ihr pinkfarbenes Dreiradmoped mit Aufbau ums Verrecken nicht anspringen wollte, war er sofort da. Um vier Uhr morgens. Binnen fünf Minuten fand Joost den Fehler. Der Benzinfilter war verstopft. Ratzfatz säuberte er das Teil und rettete damit ihre Brötchenauslieferung.

Joosts Schwiegertochter Ibba hat den Kuchen für ihn bestellt. Die beiden waren von Anfang an wie Kampfhähne, weil sie ihn am liebsten ins Altenheim verfrachtet hätte. Seine Buddelschiffsammlung könne er sogar mitnehmen, hat sie gesagt. An Ostern, Weihnachten und Silvester singe der hauseigene Shantychor Greetsieler Heulbojen e. V., der übrigens noch einen Bassbariton brauche, und jede Woche würden Ausflüge ins Umland angeboten. Nie im Leben wär der freiwillig in diesen Rentnerschuppen eingezogen. Also hat er ihr an den Kopf gehämmert, sie sei eine schrappige Erbschleicherin, und seitdem kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Wie es aussieht, wird das auch so bleiben.

Jetzt ist die Buddelschiffsammlung im Müll. Hätte er mal doch besser im Shantychor mitgesungen. Dabei wäre er jedenfalls nicht zwischen Krabbenkutter und Kaimauer gefallen. Diesen blöden Sturz hätt er sich schenken können. Genickbruch. Vermutlich hockt er gerade mit erhobener Faust über den Wolken, krakeelt wie ein Kutterkapitän und beschimpft mit Bassbariton Gott, was der mit ihm für ’nen Scheiß veranstaltet. Vor allem mit der Buddelschiffsammlung. Gott ist ganz schön leichtsinnig. Der ahnt nicht, wen er sich da eingehandelt hat. Joost wird so lange rummotzen, bis der liebe Gott drei Kreuzzeichen macht und doch noch nachgibt. Bis dahin sabotiert Joost alles, was ihn seiner Beisetzung näher bringt. Den eigenen Beerdigungskuchen sowieso. Erst recht, weil Ibba den bestellt hat.

Die Trauerfeier ist um elf Uhr. Dann soll er auf dem neuen Greetsieler Friedhof seine letzte Ruhe finden. Das ist zumindest Ibbas Plan. Aber Joost hat noch nie getan, was andere wollten. Letzte Ruhe – dass er da nicht mitspielen würde, war klar. Joost und Wanda hatten viele Gemeinsamkeiten und waren mit siebenundsechzig Jahren sogar im gleichen Alter. Eindeutig zu früh, um den Löffel abzugeben! Mit wem soll sie sich nun kabbeln, wenn Gott ihn ernsthaft da oben behalten wollte?

Auch wenn ihm seine Beerdigung nicht in den Kram passt, muss er nicht gleich ihren Kuchen ruinieren. Schlimm genug, dass sie demnächst zusehen darf, wer ihr nachts das Moped repariert.

Wanda dreht den Wasserhahn auf, um die Bescherung einzuweichen. Zur Strafe für seine Kuchensabotage müssten die Totengräber Joost bei der Hitze sechsmal um die Kirche tragen.

Viermal hat er heute Morgen zugeschlagen.

Das erste Mal um drei Uhr. Bäcker Kai Schauten hatte sich beim Hieven eines Mehlsacks verhoben. Auf Augenhöhe mit Fienchen kam er aus dem Lagerraum gekrochen. Zum Glück hatte er die Brot- und Brötchenbestellung für die Eröffnungsfeier des Fünfsternehotels Möwchen grad fertig.

Das zweite Mal, als Gesa anrief. Die alleinerziehende Mutter vom fünfjährigen Tomke half Wanda im Verkauf, wenn der Kleine im Kindergarten war. Heute nicht, weil Tomke Ohrenschmerzen hat. Dann muss Joost eben allein mit Ibba Beerdigung feiern, denkt sie. Geschieht ihm ganz recht.

Aber beim dritten Sabotageakt gegen sein Begräbnis hat er echt übertrieben. Mal abgesehen davon, steht der in keinem Zusammenhang mit seiner Bestattung. Ibbas Kuchen, Kai Schautens Hexenschuss und die Tatsache, dass sie nicht zur Beerdigung kann, weil Gesa fehlt, ergeben Sinn. Aber das?

Mit einem Metallschaber kratzt Wanda die matschige Butterkuchenkohle in die Mülltonne. Als sie sich umdreht, um einen neuen Teig anzusetzen, fällt ihr vor Schreck das Blech aus der Hand und schlägt krachend auf dem Fliesenboden auf.

»Ist was passiert?« Fiete Mommsen blinzelt genauso verschlafen wie Fienchen.

»Menschenskinners noch mal!« Wanda presst beide Hände auf die Brust und schnappt nach Luft. Die restliche Butterkuchenpampe, die noch am Blech klebte, hat sich gleichmäßig in alle Fugen verteilt. »Wenn du dich noch einmal so anschleichst, kannste gegen deinen eigenen Mörder ermitteln«, schimpft Wanda. Fiete steht in karierten Boxershorts, Flip-Flops und Star Wars-Shirt mit grün-spitzohrigem Außerirdischen vor ihr und fährt sich mit der Hand durch die blonde Strubbelfrisur. So wie der aufm Kopp aussieht, sollte er Svenjas Frisurenkoje dringend einen Besuch abstatten. Wanda bückt sich und angelt nach dem verbeulten Blech.

Seit Thies Ricklefsen, der alte Dorfsheriff, vor zwei Wochen nach Ibiza gezogen ist, bewohnt Fiete zwei Zimmer über Wandas Backstube. »Wieso der Neue nu’ so Knall auf Fall hierher versetzt wird, hab ich nich rausgekriegt«, hat Thies noch gesagt. Da Wanda die beiden leer stehenden Räume nicht braucht, hat sie diese kurzerhand inklusive Kost und Wäschewaschen für dreihundert Euro an Fiete vermietet. Ein paar zusätzliche Einnahmen schaden nicht. Aber warum nu’ ausgerechnet der oberpiefige Thies seiner Tochter Marieke nach Ibiza hinterher is, hat sie nicht rausgekriegt. Mal gucken, wie lange das dauert, bis der hinter jeder Mauer ’ne Grasplantage wittert.

Wanda greift einen Besen, um die gröbsten Brocken zusammenzufegen. »Lernt man das Rumgeschleiche auf der Polizeischule?«

»Hörte sich an wie ein zertrümmertes Fenster. Hätten ja auch Einbrecher sein können.«

»Und was hätten die klauen sollen? Den Beerdigungskuchen vom alten Lüpkes?«

Fiete zeigt abschätzig auf das Krümelmosaik vor seinen Füßen. »Den da sicher nicht.«

»Schmeckt dir mein Butterkuchen nicht, oder was?« Wanda kehrt die Krümel zusammen und holt dabei weiter aus als nötig.

Fiete hopst rückwärts und fällt beinahe über Fienchens Kissen. Mit der rechten Hand rettet er sich am Türrahmen. »Wenn der immer so aussieht …«

Wanda holt noch mal aus. »Und wenn du immer in diesen albernen T-Shirts rumrennst, würd ich mich nicht wundern, wenn man dich genauso liegen lässt wie angebrannten Beerdigungskuchen.«

»Wie schafft man es, morgens um halb sechs Uhr schon so gute Laune zu haben?«, murmelt Fiete, dreht sich um und schlappt Fienchen hinterher, die sich in die Wohnstube verzogen hat.

»Frühstück steht aufm Tisch«, ruft Wanda ihm nach.

Der Neue ist ganz anders als Thies und trägt nicht mal Uniform. Zum Glück zieht er im Dienst keine Shirts mit grünen Außerirdischen an.

Wäre Thies noch da, dem hätte sie von Joosts Feldzug gegen seine Beerdigung erzählt. Vor allem von der Sache auf dem Weg zum Hotel Möwchen. Aber Fiete? Da muss sich erst noch zeigen, ob der ein vertrauenswürdiger Nachfolger ist.

Ostfriesischer Beerdigungskuchen –
Butterkuchen zur Teetafel nach Wanda

Schmeckt frisch am besten, falls Joost seine Finger nicht im Spiel hat.

Boden:

200 ml Milch

1 Päckchen Hefe

2 Eier

500 g Mehl

80 g Zucker

100 g weiche Butter

1 Prise Salz

Belag:

150 ml Schlagsahne

150 g Zucker

150 g Butter

200 g Mandelblättchen

Für den Teig:

Die Hefe mit etwas Zucker in der lauwarmen Milch auflösen. Eine Mulde in das Mehl drücken und mit Eiern, Salz, weicher Butter und der Milchhefe verkneten. 40 Minuten zugedeckt an einem warmen Ort gehen lassen. Auf einem gefetteten Blech ausrollen und abermals 20 Minuten zugedeckt gehen lassen.

Für den Belag:

Die Butter leicht erwärmen. Zucker und Mandelblättchen hinzugeben. Alles miteinander verrühren und auf dem Boden verstreichen. Etwa 20 Minuten bei 180 Grad Ober-/Unterhitze goldbraun backen. Anschließend sofort die flüssige Sahne auf den Kuchen träufeln.

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Etwa zeitgleich bei Greetsiel Seafood

Ein beißender Gestank nach Fäulnis steigt Tamme Gerdes in die Nase, als er den schmalen Kiesweg vom Wohnhaus zur Filetierhalle betritt. Auflandiger Wind treibt ihm den Geruch von verfaulenden Gedärmen und Gekröse entgegen. Es sticht und brennt in seinen Augen, als hätte er drei Doppelzentner Zwiebeln geschält.

Ein gieriger Schwarm Möwen stürzt im Steilflug auf seinen Betrieb zu. Die Drecksviecher sind sofort da, wenn es nach Futter stinkt. Das nervtötende Gekreische macht ihn ganz irre. Verdammt! Wahrscheinlich hat sein Mitarbeiter Miroslav die Hallentüren wieder sperrangelweit offen stehen lassen.

Heute werden die Fischabfälle, die beim Filetieren von Heringen, Makrelen und Kabeljau anfallen, abgeholt und zur Gammelmühle nach Bremerhaven transportiert, wo sie zu Fischmehl verarbeitet werden.

Tamme reibt sich mit dem Ärmel seines blau-weiß gestreiften Fischerhemds über die Augen. Wenn sein Nachbar, dieser Quertreiber, eine Prise von dem Gestank und Lärm mitbekommt, ist direkt wieder die Hölle los. Tamme wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, die Wiebke ihm zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hat. Fünf Uhr dreißig. Gut, dass die beim Lebensmittelamt keine Frühaufsteher sind. Vor ein paar Wochen wäre ihm das noch egal gewesen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Auf weitere Auflagen kann er verzichten. Was das jetzt für den Betrieb bedeuten würde, darüber will er nicht nachdenken. Er hat schon genug Probleme am Hals.

»Chef!«, ruft Miroslav, der ihm am Ende des Wegs entgegenrennt, und reißt Tamme aus seinen Gedanken.

»Halt bloß die Klappe! Hab ich dir Vollpfosten nicht schon tausendmal erklärt, dass du die Hallentür schließen sollst!« Tamme stapft durch den Kies und rutscht dabei mit dem rechten Fuß weg. »Mann! Und dieser dämliche Kiesweg geht mir auch auf den Geist!« Mit dem linken Fuß tritt er in die Kieselsteine, als wolle er seinem ärgsten Feind mit Schmackes in die Eier treten. Die Steinfontäne spritzt in alle Richtungen und auf Miroslav zu, der sich hinter eine Rotbuche rettet.

»Chef, Tür zu!«, ruft er und lugt mit einem Auge hinter dem Stamm hervor.

»Ja, die Tür muss zu sein! Und die Fenster auch!«

»Sag ich ja«, antwortet Miroslav und zuckt mit den Schultern. »Tür zu!«

Tamme hält inne. »Wie? Die Tür ist zu?«

»Tür zu. Lkw kommt morgen. Hat Platten und Achse kaputt.«

»Ja, Platten wären hier auch besser als dieser bescheuerte Kies, den sich meine Frau ausgedacht hat.« Aber es musste ja unbedingt weißer Kies sein. Wie der im Garten von Lady Gaga in Beverly Hills. Nur ist das hier nicht mal der Dunstkreis einer Nobelgegend. Diese Mucken, die Wiebke neuerdings an den Tag legt, passen ihm überhaupt nicht. Tamme stiefelt unbeirrt weiter auf die Halle zu.

»Hast du nicht im Vorgarten geguckt?«, ruft Miroslav ihm nach.

»Wusstest du nicht, dass ich mich jeden Morgen bei Sonnenaufgang in den Vorgarten setze und den Blümchen beim Wachsen zusehe?«

Miroslav setzt seine karierte Kappe ab und kratzt sich am Kopf, als würde er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung ziehen. »Chef, musst du im Garten gucken! Sieht nicht gut aus!«

»Darum kann sich meine Frau kümmern, wenn sie von ihrer Beautyfarm zurück ist«, keift Tamme über die Schulter. Wenn die wieder auftaucht, hat er erst mal ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.

»Kannst du nicht lassen, bis Frau wieder da! Nachbar ruft Polizei!«

Beim Stichwort Polizei bleibt Tamme stehen und schaut Miroslav an. »Dass ich nicht lache. Diese Pfeife von Polizist, die sich seit Neuestem auf der Wache den Hintern platt sitzt, kannste mit ’m Stein um den Hals in der Nordsee versenken.« Dabei fuchtelt er wild mit der Hand in der Luft herum, um einen Schwarm Fliegen zu verscheuchen. »Was ist denn mit dem verdammten Vorgarten?« Tamme macht auf dem Absatz kehrt und stapft an Miroslav vorbei in die andere Richtung.

Miroslav hält kaum Schritt. Der Gestank nach Verwesung ätzt in Tammes Nase wie Schwefelsäure. Sein Mitarbeiter bleibt an der Hausecke zum Vorgarten stehen und lässt ihn alleine auf Entdeckungsreise gehen.

»Verdammte Hacke!«, brüllt Tamme. »Welches Arschloch hat mir diesen Dreck in den Vorgarten gekippt?«

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Am Morgen in der Bäckerei

Seit fünfzehn Minuten sitzt die morgendliche Frühstücksrunde der Bäckerei Poppen auf ihrem Stammplatz am runden Tisch neben dem Brotregal und wartet auf Kaffee. Bis gestern tranken alle Versammelten noch Tee, und der Aufgebrühte für Kaffeetrinker kam aus einer Glaskanne, den Wanda in ihrer Backstube mit Filter aufsetzte.

»Wat ziehste für’n Flunsch?«, fragt Kuhbauer Hinnerk Schoof und kneift seine Augenbrauen zusammen, die an eine abgenutzte Scheuerbürste erinnern.

»Heut is doch ’n toller Tag. Endlich haste auch Coffee to go.« Das Coffee to go klingt bei Henni Eilts allerdings eher wie Koffi Togo. »Ab heute rennen dir die Touris hier die Bude ein und du kannst das Geld mit der Schubkarre nache Bank fahren.«

Obwohl Henni moderner Technik und Neuerungen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, redete sie Wanda gut zu, als es um die Anschaffung der Maschine ging.

Wanda drückt auf den Tasten ihrer neuen Jura-Highspeed-5000-Turbo-Xpress-Kaffeemaschine herum, an der viel zu viele Knöpfe gleichzeitig blinken. »Erst mal hab ich das Geld für dieses Teil mit der Schubkarre von der Bank abgeholt«, schimpft sie. Die Maschine zischt und rauscht wie bei einem Raketenstart, während die grünen und roten Lämpchen rhythmisch zucken.

»Biste sicher, dass dat überhaupt ’ne Kaffeemaschine is? Sieht aus wie die Lichtorgel im Tanzcafé Baccara«, sagt Onno Eilts, Hennis kleiner Bruder, grinsend. Jüngerer Bruder trifft es jedoch besser, weil Onno seine Schwester locker zwei Köpfe überragt. »Oder, Hinnerk? Wat meinste?« Onno rammt seinen Ellbogen gegen Hinnerks.

»Mit’m Baccara kennt ihr beide euch ja bestens aus«, sagt Henni und strickt wie jeden Morgen Socken. »Ihr mit euren Schpietdeets. Als wenn euch eine nehmen würde.« Dabei schaut sie Wanda an.

Wanda weiß, Henni ist nicht gerade unglücklich darüber, dass Onno nicht der begehrteste Knurrhahn in der Nordsee ist. Zum einen hätte sie sonst niemanden mehr zum Anranzen. Und zum anderen würde sie sich die Augen aus dem Kopf heulen, wenn sie keinen mehr bemuttern könnte.

Eine Dampfwolke steigt aus dem Auslass der Maschine auf und erfüllt die Bäckerei mit Kaffeeduft. Ein dünner Strahl beigebrauner Flüssigkeit rinnt in die Tasse.

»Wo du recht hast, haste recht.« Wanda sieht der Maschine zu, die krächzend und zischend verkündet, dass der erste Brühvorgang beendet ist. »Deshalb kriegste auch den ersten Cappuccino.« Wanda balanciert die Tasse auf den Stammtisch zu.

Henni räumt ihren Handarbeitsbeutel mitsamt Strickzeug beiseite und bestaunt den Inhalt der Tasse. Auch Onno und Hinnerk starren auf das Gebräu, auf dem mittig ein brauner Tupfen thront.

»Wat is dat denn für ’ne Plörre?« Hinnerk verzieht das Gesicht und reibt sich am Kinn. »Sieht ja aus wie Rasierschaum.«

»Willste deinen Rasierschaum to go haben? Dann haste beim nächsten Speeddate im Baccara vielleicht mal ’ne reelle Chance.«

Wahrscheinlich rennt Hinnerk sowieso nur deshalb mit Onno mit, weil im Eintrittspreis vom Baccara ein Stück Ostfriesentorte mit drin ist. Seit seine Frau Antje vor Kurzem mit dem Masseur aus dem Vitalis über Nacht nach Borkum durchgebrannt ist, steht Hinnerk mit hundertsiebenundfünfzig Milchkühen, fünfzehn Schafen, dreiundzwanzig Hühnern und Hahn Norbert alleine da. Und weil Antjes Spezialität Ostfriesentorte mit einer Extraportion Rumrosinen war, liegt die Vermutung nahe, dass das für ihn so was wie ’n Antje-Gedächtniskuchen ist.

Demonstrativ stellt Wanda einen To-go-Becher unter den Auslauf und drückt erneut den Startknopf. »Außerdem ist Speeddate so was von 1920. Dingens-ship ist das neue Speeddate. Willkommen im 21. Jahrhundert.« Wanda zeigt den beiden Datinghelden einen Vogel.

»Mann, Mann, Mann, biste heute auf Krawall?« Onno rollt mit den Augen und kratzt sich an einer Geheimratsecke, die in den letzten Monaten verdächtig weit nach hinten gerutscht ist. Wenn der weiter an den braunen Fusseln schubbert, ist bald Kahlschlag angesagt.

»Weißte, wie viele Kaffee to go ich verkaufen muss, damit sich dieses Ungetüm rechnet? Zwölftausend Stück.«

Die Truppe stiert mit weit aufgerissenen Augen auf Wanda.

»Ja, is so.«

»Da hatte dein Steuerberater ja ’nen Spitzentipp von wegen, du sollst langsam mal mitte Zeit gehen«, stellt Hinnerk fest und beäugt den Becher, den Wanda vor ihm abstellt. »Ich hab ja direkt gesagt, alles, was die Touris brauchen, kriegen sie hier, und was sie nich kriegen, brauchen die nich. Genauso wie das da.« Hinnerk zieht die Nase kraus.

»Zwölftausend Stück«, wiederholt Onno. »Weißte, wie viele Becher dat sind?«

Henni schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Zwölftausend. Sacht ja schon die Zahl.«

»Nee, ich mein, wie viel dat is.« Dabei reißt Onno die Arme so weit auseinander, dass er Hinnerk beinahe den Becher aus der Hand schlägt.

»Bei einer Million Touristen im Jahr is dat ja nur ’n Bruchteil«, winkt Hinnerk ab.

»Stell dir mal vor, von den Touris trinkt jeder einen Becher to go. Natürlich von hier«, malt Onno das Szenario aus.

»Dann bräuchte ich die zwei Zimmer da oben als Becherlager«, ergänzt Wanda.

»Und Greetsiel ’ne eigene Müllverbrennungsanlage.« Henni kramt ihr Strickzeug wieder vor. »Ich weiß nicht, wieso man mit den Bechern durch die Gegend rennen muss. Die Leute sind hier im Urlaub. Haben die keine Zeit für Kaffee im Sitzen? Heißt doch extra Kaffeepause. Pause heißt, ich setz mich hin und stricke.«

»Also das, was du den ganzen Tag bei dir im Handarbeitsladen machst. Knütten und Klönen.« Onno grinst.

»Nee«, sagt Hinnerk. »Dat is ’n geheimes Erkennungszeichen.«

»Wat muss ich denn erkennen, wenn mir einer mit ’nem Becher übern Weg läuft?«, will Henni wissen.

»Dass die alle wichtig und bisi sind«, klärt Hinnerk auf.

»Und weil die sich alle wichtig finden und gegenseitig erkennen wollen, versinken wir im Müll.« Henni wechselt die Wollknäuel und strickt mit Blau weiter.

»Wir ham ja noch ’n viel größeres Problem«, stellt Hinnerk fest und lehnt sich wissend auf seinem Stuhl zurück. »Eine Million Touristen mit Coffee to go bedeutet, dass Fiete die Ortseinfahrt hinten bei den Zwillingsmühlen absperren kann, weil überall Becher rumliegen. Das Zeug verrottet ja nich. So’n Becher dauert Ewigkeiten, bis er wech ist. Oder ’ne Plastiktüte. Vierhundert Jahre. Da brauchen wir uns nich wundern, wenn jedes Jahr zwanzigtausend Tonnen Plastikmüll in unserer Nordsee schwimmen. Vor Helgoland forschen die, was die Eissturmvögel im Magen haben – ’n Eissturmvogel is nämlich ’n Bioindikator. Hundert Millionen Tonnen Plastikmüll jährlich, wenn du Karibik, Hawaii und alles mitrechnest.« Hinnerk schaut seinen To-go-Becher an. »Deine Becher hier sind unser Untergang. Mikro- und Nanoplastik. Das schwimmt im Meer, und die Tiere fressen das. Am Ende haben wir Mikroplastik aufm Krabbenbrötchen. Da gibt’s sogar ’ne Studie, dass die Wattwürmer davon Entzündungen kriegen. Und Muscheln filtern Wasser. Kannste dir vorstellen, wie viele Nanopartikel in so ’ne Muschel passen?«

Die drei sehen Hinnerk beeindruckt an.

»Und überhaupt, wat sollen wir in Ostfriesland mit Coffee to go? Da fahren die Touris ma besser nach New York, wenn die Kaffee trinken wollen«, beendet Hinnerk seinen Vortrag.

Henni hört auf zu stricken. »Zwanzigtausend Tonnen Plastik? Bei uns? Wo schwimmt dat denn? Ich nehm nur meine gehäkelten Einkaufsbeutel. Die sind aus Baumwolle.«

»Das schwimmt ja auch nich alles oben aufm Wasser. ’n Großteil sinkt auf den Boden ab. Das is wie ’n Endlager«, antwortet Hinnerk, der es sichtbar genießt, weil er bei diesem Thema auftrumpfen kann. Auch wenn er meistens nicht sehr gesprächig ist, wenn er einmal in Fahrt kommt, ist der nicht zu bremsen.

Onno schaut in die Runde und sagt: »Ich weiß aber, wo dat schwimmt. Nimm nur mal den vorletzten Sonntag.«

»Da warste beim Speeddate in Bensersiel«, wirft Wanda ein.

»Nee. Danach! Da war er mit Britta aus Braunschweig am Strand.« Hinnerk grinst und reibt mit der Hand über seinen NATO-grünen Stalloverall, der mit dunkelbraunen Flecken getüpfelt ist.

Was anderes als seinen Arbeitsanzug trägt er selten. Ein Wunder, dass er in dem Teil nicht noch zum Speeddate rennt, denkt Wanda und schaut Henni an.

»Ihr braucht gar nich so gucken. Ich hab schließlich ’nen Schlag bei Frauen.« Onnos Wangen glühen.

»Du hattest ’n Date am Strand?«, fragt Henni und schaut über den Rand ihrer Brille. »Dann haste dat an mir vorbei gemacht.« Sie guckt ihren kleinen Bruder beleidigt an.

»Hinnerk hätt ja auch ’n Date haben können, aber diese Rosi, die an Hinnerk am Reißen war, hatte knallrote Haare. Wahrscheinlich hat er ’n Trauma«, versucht Onno vom Thema abzulenken, starrt Wanda an und grient.

Wanda sieht Henni an der Nasenspitze an, dass das letzte Wort über Onnos Date noch längst nicht gesprochen ist. Da braucht der gar nicht hoffen, mit seinem Ablenkungsmanöver auf Wandas Frisur durchzukommen.

»Ich hab das vom Deich aus beobachtet«, fährt Hinnerk dazwischen, der ohne seinen 30x60-Kompaktfeldstecher nirgendwo hingeht, seit er Mitglied des Naturschutzbunds ist. »Als Onno Britta grad küssen wollte, hat er sich mit dem Fuß in ’ner Angelschnur verheddert.« Hinnerk kann sich vor Lachen kaum halten. »Und aus war’s mit de Romantik.«

Onnos Gesicht ist mit hektischen Flecken getüpfelt. »Die Britta wollte unbedingt knutschen. So wat spürt man doch. Ich wollte nur sagen, dass da am Strand jede Menge Plastik rumliegt«, verteidigt Onno sein Missgeschick. »Romantisch ist der ganze Müll jedenfalls nich. Was haben denn Plastiktüten, abgeschnittene Scheuerfäden von Fischernetzen und Plastikflaschen am Strand und in der Natur verloren?«

»Recycling ist das Zauberwort.« Hinnerk dreht den Becher vor sich hin und her.

»Warum erfindet da nicht mal einer wat mit Rezükling?«, fragt Henni.

»Ich hab die Plane von den Strohballen auch recycelt«, sagt Hinnerk und blickt aus dem Schaufenster der Bäckerei, wo sein verbeulter Audi 80 parkt. Da, wo vor Kurzem eine Glasscheibe war, klebt seit Wochen eine mit Paketband befestigte Folie.

»Tamme Gerdes hat übrigens auch grad ’n Müllproblem«, sagt Hinnerk, steht auf und schiebt den Stuhl unter den Tisch.

Wanda kommt Hinnerk zuvor. Sie grapscht ihren Schlüsselbund, hastet zur Eingangstür und schließt ab. Dann dreht sie das Schild um. Das »is offen« zeigt nach innen.

Hinnerk steht vor Wanda und kratzt sich am Kinn. Henni und Onno schauen sich fragend an.

»Setz dich«, befiehlt Wanda, rückt ihre Schürze zurecht und wartet, bis Hinnerk wieder auf seinem Platz sitzt. »Wie lange kennen wir uns?« Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

»Ganz schön lange«, bemerkt Onno.

»Ich würd manchmal sagen … zu lange.« Hinnerk lacht und schlägt die Hände auf die schmuddeligen Hosenbeine.

Henni hebt eine Hand und zählt mit den Fingern. »Fünfunddreißig Jahre? Ich kann mich noch dran erinnern, dass du damals nach deinem Urlaub direkt hiergeblieben und mit deiner Reisetasche bei Klaas eingezogen bist.«

»Kann ich mich gar nich mehr dran erinnern«, wendet Onno ein.

»Nee, da warste noch Quark im Universum.« Hinnerk haut Onno auf die Schulter.

»Vorhin auf dem Weg zum Möwchen bin ich doch am Vorgarten von Tamme vorbeigefahren …« Wanda stemmt die Hände in die Hüften. »Mal angenommen, einer von uns hätte Dreck am Stecken. Würden wir uns gegenseitig verraten oder sogar bei der Polizei anschwärzen?«

Hinnerks Antje-Gedächtniskuchen –
Ostfriesentorte

Für den Biskuit:

6 Eier

200 g Zucker

200 g Mehl

1 Päckchen Vanillezucker

1 ½ Teelöffel Backpulver

Für die Füllung:

800 ml Sahne

1 Päckchen Vanillezucker

Rumrosinen nach Belieben – Hinnerk meint, die schmecken am besten ohne das Kuchengedöns / etwa 2 Tassen

100 g Mandeln zum Aufstreuen

Eier trennen und Eiweiß steif schlagen. Zucker löffelweise einrühren. Hierbei ist Geduld gefragt! Eigelb cremig rühren und langsam hinzugeben. Mehl, Backpulver und Vanillezucker portionsweise unterheben.

1520 Minuten bei 150 Grad Umluft backen.

Den Biskuit zweimal durchschneiden und nach Belieben Rumrosinen und Vanillezucker darauf verteilen, mit Sahne bestreichen. Die Böden aufeinandersetzen. Anschließend die Torte mit Sahne bestreichen und mit gerösteten Mandeln und Rumrosinen verzieren.

Rumrosinen: Ein ausreichend großes Weckglas zu 3 / 4 mit ungeschwefelten Rosinen füllen und bis zum Rand mit Rum übergießen. Mindestens 2 Tage ziehen lassen!

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Etwa zeitgleich vor der Polizeiwache

Seichter Wolkenschaum hüllt die aufsteigende Sonne in ein grellweißes Licht. Die Zwillingsmühlen, die Einwohner und Touristen wie ein stummes Empfangskomitee am Ortseingang begrüßen, strecken ihr ihre Flügel entgegen. Bäume, Sträucher und Ufergräser werfen lange Schatten auf die spiegelglatte Oberfläche des Wassers. Am Holzsteg des Bootsverleihs Dreessen dümpeln Kanus und Ruderboote vor sich hin. Um diese Uhrzeit wirkt Greetsiel verlassen und wie von der Welt vergessen. Nur eine Silbermöwe hockt verschlafen auf einem grünen Begrenzungspoller. Beschwingt klappt Fiete die Sonnenblende herunter, als er die Mühlenstraße Richtung Wache fährt.

Vor dem hutzeligen roten Backsteinhäuschen in der Okko-tom-Brook-Straße parkt Fiete das Polizeiauto rückwärts ein, damit er beim nächsten Einsatz nur noch Vollgas geben muss.

»Moin!«, dröhnt es von der gegenüberliegenden Straßenseite, als Fiete den linken Fuß aus dem Auto hebt. Abbo Ubben steht hinter seiner Rhododendronhecke und fuchtelt um diese Uhrzeit bereits wieder mit der Heckenschere herum. Dass es an der Hecke nichts mehr zu schneiden gibt, hat Fiete schon vor ein paar Tagen gesehen, auch wenn er mit Gartenarbeit nichts am Hut hat. Lieber zieht er seine Brooks-Adrenaline-GTS-Laufschuhe an und trainiert für den Australian-Outback-Marathon, als stundenlang im Garten zu schwitzen, um Rasen und Büsche zu stutzen. Obwohl – im Outback ist er ja schon. Und wenn er genauer hinschaut, hat Abbo Ähnlichkeit mit einem australischen Haarnasenwombat.

Fiete nickt ihm zu, entgegnet ein »Moin!« und hofft, dass er die Wache heute schneller erreicht, als der Nachbar hinter der Hecke hervorschießen kann. Mist. Fietes Schlüsselbund landet klimpernd auf dem Pflaster. Er bückt sich hektisch und stößt sich den Kopf am Außenspiegel. Ehe er sichs versieht, steht Abbo vor ihm.

»Ganz schön spät heute Morgen.« Abbo lässt die Schere dicht vor Fietes Gesicht zuschnappen.

Instinktiv zuckt Fiete zurück. »Nicht später als sonst.« Wanda hat ihn gleich an seinem ersten Tag vor Abbo gewarnt. »Dat is ’n Klookschieter. Greetsiel braucht keine Tageszeitung, dafür gibt’s den Abbo.« Dem wird er garantiert nicht auf die Nase binden, warum er spät dran ist. Wanda hatte ihn gebeten, den Beerdigungskuchen bei Lüpkes abzuliefern. Wobei gebeten nicht ganz richtig ist. Als er Wanda erklären wollte, dass er seinen Dienst pünktlich antreten müsse und nebenberuflich kein Taxiunternehmen führe, hielt sie ihm einen zehnminütigen Vortrag. Am Ende kam heraus – »ein Dorfsheriff muss sich hier bei uns eben um alles kümmern«. Danach drückte sie ihm wortlos das Kuchenblech in die Hand und ließ ihn stehen.

»Ich muss dann mal.« Fiete schaut auf den Bund. Er braucht dringend eine farbige Gummiöse für den Wachenschlüssel, damit er ihn flotter parat hat, wenn Abbo ihm wieder auflauert. In seiner ersten Woche hatte er Abbos morgendliche Auftritte noch als freundlichen Empfang interpretiert.

»Heute Morgen schon einen Einsatz gehabt?«, fängt Abbo an und wippt auf den Füßen.

»Montagmorgen eben.« Fiete quetscht sich zwischen Auto und Nachbarhecke auf Abbo zu und hakt mit der Hosentasche am Außenspiegel ein, was Abbo jedoch nicht veranlasst, ein paar Schritte zurückzutreten. Der Nachteil vom Rückwärtseinparken ist, er kann nicht mehr fliehen, wenn Abbo ihm den Weg von vorne versperrt. Das Heck des Polizeiwagens steht zu dicht an der Revier-Hauswand. Links neben der Fahrertür ragt die Buchsbaumhecke von Ole Petersen empor. Flucht vor Abbo – unmöglich.

»Was war denn los?« Abbos Schere kommt dem glänzenden Lack des Kotflügels bedrohlich nahe.

Fiete zupft an seiner Hosentasche. Gummiöse. Heute. Rot! Eine Tasse Kaffee und die Emder Zeitung. Bis mittags sollte man das Reden ganz verbieten. Vor allem das mit Abbo.

»Die Umgehungsstraße?«, bohrt Abbo, als hätte Fiete eine besonders lange Leitung.

»Umgehungsstraße«, wiederholt Fiete pflichtbewusst und tritt auf Abbo zu. Ein Unfall wird es nicht gewesen sein, sonst hätte man ihn alarmiert. Nebenher wühlt er zwischen den Schlüsseln und drückt die Schultern durch. Nicht angucken, weitergehen. Und tatsächlich weicht Abbo zwei Schritte beiseite. »Ach … die Umgehungsstraße

»Quatschereien interessieren mich ja grundsätzlich nicht«, legt Abbo los. »Aber das muss ’ne Riesensauerei gewesen sein.«

Wovon zum Henker redet der? Hat einer ’nen Anhänger Gülle verloren? Dann hätte man ihn verständigt, um die Straße zu sperren, und die Feuerwehr wegen der Fahrbahnreinigung. Fiete kramt das Handy aus der Brusttasche seines Leinenhemds. Kein entgangener Anruf. Er kratzt sich gedankenverloren an der Nase und presst ein wichtiges »Hm« heraus.

»So was gab es hier noch nie«, sagt Abbo und fuhrwerkt dabei mit seinem Schneidwerkzeug in der Luft herum.

»Und woher weißt du das?«, fragt Fiete.

Abbo deutet auf seine Straßenseite. »Ich hab doch diesen Giersch unter meinem Rhodo. Da muss ich einmal die Woche ran, sonst wuchert mir das bis in den Suppenpott. Ich hab zufällig in der Rabatte gekniet, als zwei Touris darüber diskutiert haben.«

Wenn Fiete nur wüsste, worüber. »Hm …«, brummt er und nickt.

»Thies hätte den an deiner Stelle sofort mit aufs Revier genommen.«

»Den Touristen?«, fragt Fiete, ist gedanklich aber ganz woanders. Direkt ins Auto springen und selbst nachschauen, die Blöße will er sich vor dem nicht geben. Wandas Warnung war berechtigt. Auch wenn er Abbo los wäre, würde der todsicher hinter der Gardine hängen.

Der Wombat reißt die Augen weit auf. »War der das?«

»Öhm – nein, weiß ich nicht, ich meine, ich darf mich zu laufenden Ermittlungen nicht äußern. Dienstgeheimnis«, stottert er.

»Ach, dann weißt du noch gar nicht, wer die Sauerei da veranstaltet hat?« Abbo schaut ihn herausfordernd an.

»Bin dicht dran.«

»Thies und ich, wir waren … SO!«, dabei kreuzt er Mittel- und Zeigefinger, um seinem Verhältnis zu Thies mehr Nachdruck zu verleihen. »Der hat mich immer um Rat gefragt, wenn er an ’nem schweren Fall dran war. Is ja meine Bürgerpflicht«, legt Abbo nach. »Außerdem bin ich Frührentner, da is man froh, wenn man noch gebraucht wird.«

Fiete geht schnurstracks Richtung Wache, aber der Wombat klebt ihm an der Hacke wie ein ausgespuckter Kaugummi. Endlich an der Tür zur Wache angekommen, steht Abbo wieder dicht neben ihm.

»Seit dem letzten Kutterkorso vor drei Jahren habe ich dieses Sausen im rechten Ohr.« Abbo zieht sein Ohrläppchen lang. »Als wenn ich unter ’nem Windrad stehen würde. Weil der Boolken mit dem Schiffshorn getutet hat, als ich direkt danebenstand.«

Klarer Fall von erhöhtem Mitteilungsbedürfnis. Fiete gibt sich jedoch Mühe, freundlich zu bleiben. »Vielen Dank für dein Angebot.« Er steckt den Schlüssel ins Schloss. Wenn Abbo sowieso schlecht hört, ist fraglich, was er von der Unterhaltung der Touristen überhaupt verstanden hat.

»Kleiner Tipp gefällig?« Abbo grinst. »Da wohnen nicht so viele, die es gewesen sein könnten«, flüstert er.

Währenddessen in der Bäckerei

Henni schaut Wanda entsetzt an. »Wie, einer von uns hat Dreck am Stecken?« Henni packt ihr Strickzeug weg und lugt über ihren Brillenrand.

Wanda steht neben dem Frühstücksrundentisch. So wie Henni guckt, ist klar, was kommt.

»Onno, was haste jetzt wieder angestellt?«, fährt sie ihren Bruder an.

Onno, der so schnell gar nicht begreift, woher die Einschläge kommen, setzt eine unschuldige Miene auf. »Wieso denn immer ich?«

Vermutlich weil Onno verlässlich in der ersten Reihe mitmischt, wenn es darum geht, Blödsinn zu verzapfen.

»Dieses Date, bei dem du rumgeknutscht hast, haste ja auch schön verheimlicht. Und wer war das mit Abbos Opel Ascona, damit er’s nicht rechtzeitig zur Oldtimer-Rallye nach Bremen schafft?«

War klar, dass Henni mit der Revanche auf Onnos heimliche Knutscherei nicht lange wartet.

Onno knibbelt an seinen Fingernägeln und schweigt.

»Siehste? Deshalb!«, meckert Henni und klammert sich an ihre Cappuccinotasse, sodass die Knöchel hervortreten.

»Das war Notwehr«, springt Hinnerk Onno bei.

Seinen ausgeprägten Beschützerinstinkt kriegt der in diesem Leben nicht mehr klein. Da ist der wie ein Buntbarsch, der seine Jungen zum Schutz vor Angreifern im Maul parkt.

Onno nickt. »Genau.«

»Eure einzige Not war Muffensausen, dass Abbo euch mit deiner Rostbeule abhängen könnte«, stichelt Henni.

»Hat er aber nicht geschafft.« Onnos Augen leuchten.

»Mit ’nem Kilo Agata Frühkartoffel festkochend, die du in seinen Auspuff gefriemelt hast, ist das auch man schwieriger.«

»Das war nur ’n halbes Kilo. Mehr passte nich rein. Vorm Katalysator is Ende«, stellt Onno richtig und handelt sich gleich den nächsten bösen Blick seiner Schwester ein.

»Das musste sportlich sehen«, verteidigt Hinnerk ihn.

»Frag mal Abbos Frau Rieka, wie sportlich die das fand. Abbo hat sportliche fünf Paar Stricknadeln abgebrochen, um die Teile wieder rauszupopeln.«

Hinnerk lacht. »Der Allerhellste is er nich.«

»Zur Sicherheit hat Rieka gleich zehn Paar neue bei mir gekauft«, sagt Henni.

»Onno wollte nur deinen Umsatz ankurbeln«, merkt Hinnerk an.

»Und das Kurbeln hat er mit der Satellitenschüssel von Ole Petersen geübt, bloß weil der HSV-Fan ist, oder was?«

»Dafür brauchste ’nen Zehnerschlüssel für die Schraube, und dann kannste die drehen und nich kurbeln«, klärt Onno sie auf.

»Und den Zehner hat Ole direkt neben die Schüssel gelegt, falls ’ne Sturmwarnung kommt?«

»Das war auch Notwehr«, behauptet Hinnerk.

»Weil St. Pauli gegen den HSV verloren hat und ihr beide fünfzig Euro an Ole, die ihr lieber in der Börse aufn Kopp gehauen hättet.« Henni funkelt die beiden Freunde an und lehnt sich zurück.

Hinnerk gibt keine Widerworte mehr und spielt an seinen Hosenträgern.

Ein Tourist schlendert vor dem Schaufenster entlang. Er hält an und linst durch die Scheibe, während sein Rauhaardackel am Fahrradständer eine Nachricht für den nächsten Kumpel hinterlässt. Fienchen steht aufgeregt innen vor der Tür, blafft und wedelt mit dem Schwänzchen wie ein Propeller.

Wanda nickt dem Urlauber freundlich zu, der lächelnd zurückgrüßt und mit seinem Dackel weiterzieht. »Ich muss gleich wieder aufschließen«, drängelt sie die Runde und sieht zuerst Onno, dann Hinnerk scharf an.

»Wir verraten nix«, entscheidet Henni für alle.

»Um halb sechs hab ich doch zum ersten Mal das Möwchen beliefert.« Wanda dreht sich um, stellt eine Tasse unter den Auslauf und drückt auf Start. »Als ich auf die Umgehungsstraße Richtung Norden abgebogen bin, hab ich es schon gesehen.«

»Kannste ma schneller erzählen?« Hinnerk schlägt ein Bein über und pult in der Brusttasche seiner Latzhose herum.

»Der ganze Vorgarten von Tamme Gerdes war weiß«, fährt Wanda fort und rückt einen Stuhl für sich an den Tisch.

Onno trommelt mit den Fingern auf der pinkfarbenen Plastiktischdecke herum. »Umgekippter Milchlaster?«

»Möwen – überall. Ein Gewimmel und Gekreisch wie in diesem Hitchcock-Film.«

»Bei Tamme fliegen doch immer Möwen«, stellt Onno fest.

»Ja, aber diese haben da gefrühstückt.« Wanda pustet in ihre Kaffeetasse.

»Gefrühstückt?«, hakt Henni ein. »Hinnerk, warum sagst du nich mal was? Das musst du von deinem Hof aus doch auch gesehen haben.«

»Da war ich wohl grad im Kuhstall.« Hinnerk hibbelt mit dem Fuß im Kreis. »Außerdem sind das bestimmt zweihundertfünfzig Meter bis zu Tammes Vorgarten. Auf die Entfernung seh ich sowieso nix.«

»Und auf die Entfernung von Gesicht bis Badezimmerspiegel anscheinend auch nicht. Im Lebensmittelladen gibt’s diese Woche übrigens Rasierklingen im Angebot«, bemerkt Wanda und setzt die Tasse ab.

Seit Antje weg ist, nimmt er das mit dem Rasieren nicht mehr so genau, weil keiner mehr meckert, wenn er stachelig ist wie ein Kaktus. Hinnerk muss einen Moment überlegen. Onno kratzt sich am Kinn. Das Wort »Angebot« löst bei ihm eine Art Kaufreflex aus. Vor allem bei Baumärkten. Beim letzten Superschnäppchentag im Baumarkt in Norden hat er gleich zwei Makita-Akku-Bohrschrauber mit zwanzigfacher Drehmomenteinstellung plus Bohrstufe ergattert. Einen davon hat er Ole aufgeschwatzt. Natürlich zum regulären Ladenpreis. Die fünfzig Euro der verlorenen Fußballwette konnte er Ole wohl nicht verzeihen.

»Wozu haste denn deinen neuen Feldstecher?«, hakt Henni nach.

»Für den Großen Brachvogel. Aber nicht, um meine Nachbarn auszuspionieren.« Hinnerk schiebt beleidigt die Unterlippe vor.

»Das könnte aber spannender sein.« Onno lacht.

»Was war denn nu’ mit dem Möwenfrühstück?«, will Henni wissen.

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