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Rokesby – Wie heiratet man eine Bridgerton?

Als Buch hier erhältlich:

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Rauschende Feste, ruchlose Verehrer und rührende Hochzeiten – das Must-Read für alle Fans historischer Romane.

Georgiana Bridgertons Ruf ist ruiniert, weil ihr letzter Verehrer ein wenig über die Stränge geschlagen ist. Wenn sie nicht fortan von der Gesellschaft geächtet werden will, muss sie den Schuft jetzt heiraten. Allerdings bietet sich ihr plötzlich ein Ausweg, als ihr Jugendfreund Nicholas Rokesby, Sohn des Earl of Manston, um ihre Hand anhält; natürlich nur, weil der Earl, Georgies Patenonkel, das von ihm verlangt. Auch wenn Georgie Nicholas wirklich schätzt, sie kann gar nicht anders, als Nein zu sagen. Doch schon die nächste Nacht bringt ihren Entschluss gehörig ins Wanken ...


  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Aus der Serie: Rokesby
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905157
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Abi und ihr Jahr der Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Widerstandskraft.

Und auch für Paul.
Es ist wunderbar, einen Arzt in der Familie zu haben, aber nicht so wunderbar, wie einfach dich zu haben.

1. KAPITEL

Kent, England

1791

Wenigstens war niemand gestorben.

Darüber hinaus hatte Nicholas Rokesby keine Ahnung, warum man ihn zurück nach Kent gerufen hatte.

Wenn jemand gestorben wäre, so seine Überlegung, hätte sein Vater das in der Nachricht doch erwähnt, die er ihm nach Edinburgh gesandt hatte. Er hatte sie per Eilboten geschickt, daher handelte es sich offenbar um eine dringende Angelegenheit, aber wenn jemand gestorben wäre, hätte Lord Manston doch bestimmt mehr geschrieben als:

Bitte kehre so schnell Du kannst nach Crake zurück. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Deine Mutter und ich baldmöglichst mit Dir sprechen können.

Ich bedaure, Dich bei Deinen Studien unterbrechen zu müssen.

Dein Dich liebender Vater

Manston

Auf dem letzten Abschnitt seiner Reise blickte Nicholas hinauf in das vertraute Blätterdach. Von Edinburgh nach London war er in der Postkutsche gereist, die letzten fünfzehn Meilen legte er nun zu Pferd zurück.

Der Regen hatte – dem Himmel sei Dank – zwar endlich aufgehört, doch sein Reittier schleuderte immer noch absurde Massen von Matsch in die Höhe. Wenn er schließlich in Crake ankäme, so befürchtete er, würde er vor lauter Schlamm und Blütenstaub aussehen, als hätte er die Borkenflechte.

Crake. Nicht mal mehr eine Meile.

Ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit, und dann würde er herausfinden, was seinen Vater so in Aufregung versetzt hatte.

Und er erwartete, dass es sich um etwas Ernstes handelte. Keinen Todesfall natürlich, aber wenn er erfahren musste, dass man ihn quer durch England und Schottland gejagt hatte, nur weil einer seiner Brüder vom König einen Preis bekam, würde er irgendwem den Arm amputieren.

Schließlich wusste er genau, wie man das machte. Alle Medizinstudenten waren aufgefordert, Operationen beizuwohnen, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Dergleichen gehörte nicht zu seinen Lieblingsstudieninhalten – Nicholas zog die intellektuellen Aspekte der Medizin vor: Symptome erkennen und die wechselhaften Rätsel lösen, die schließlich zu einer Diagnose führen. Aber heutzutage war es auch wichtig zu wissen, wie man Gliedmaßen amputiert. Oft war es das einzige Mittel gegen eine fortschreitende Infektion. Etwas zum Stillstand bringen, was man nicht heilen konnte.

Zu heilen war jedoch besser.

Nein, noch besser war die Prophylaxe. Probleme verhindern, noch bevor sie auftreten konnten.

Im Geiste verdrehte Nicholas die Augen, als Crake endlich in Sicht kam. Er hatte das Gefühl, dass das Problem, das ihn an diesem regnerischen Frühlingstag nach Crake führte, vermutlich längst in vollem Schwang war.

Außerdem bekamen seine Brüder gar keine Preise vom König. Natürlich handelte es sich bei allen dreien um aufrechte Gentlemen, aber königliche Preise wären nun wirklich zu viel des Guten gewesen.

Er nahm die letzte Kurve der Auffahrt und ließ sein Pferd im Trab gehen. Die Bäume verschwanden aus dem Blickfeld, und plötzlich stand sein Zuhause vor ihm, vornehm und gediegen, zweieinhalb Stein gewordene Jahrhunderte, die sich aus dem Boden erhoben. Nicholas hatte immer darüber gestaunt, wie sich ein so großes, prachtvolles Gebäude den Blicken der Ankömmlinge bis zum letzten Moment entziehen konnte. Vermutlich lag eine gewisse Poesie darin, dass ihn etwas, was stets Teil seiner selbst gewesen war, immer wieder überraschen konnte.

Die Rosen seiner Mutter standen in voller Blüte, rot, rosa, wild durcheinander, so, wie es der Familie gefiel. Beim Näherkommen nahm Nicholas ihren Duft in der feuchten Luft wahr, der ihm über die Kleider strich und ihn sanft in die Nase stach. Er hatte nie sonderlich viel übrig gehabt für den Duft der Rosen – er zog robustere Blumen vor –, doch wenn in Augenblicken wie diesen alles zusammenkam: die Rosen und der Dunst, die feuchte Erde …

Dann war er zu Hause.

Da spielte es dann auch keine Rolle, dass er gar nicht hier sein sollte, zumindest nicht die nächsten paar Wochen.

Dies war sein Zuhause, er war zu Hause, und es schenkte ihm Frieden, selbst wenn er gleichzeitig voll Unruhe war und sich fragte, welcher Art das Unglück war, dessentwegen man ihn zurückgerufen hatte.

Die Dienstboten waren anscheinend auf seine bevorstehende Ankunft vorbereitet, denn in der Auffahrt wartete bereits ein Lakai, um sich seines Pferdes anzunehmen, und Wheelock hatte die Tür schon aufgerissen, noch bevor Nicholas die Vordertreppe erklommen hatte.

»Mr. Nicholas«, sagte der Butler. »Ihr Vater möchte Sie umgehend sprechen.«

Nicholas deutete auf seine schlammbespritzte Kleidung. »Er wird doch sicher wollen, dass ich vorher …«

»Er sagte umgehend, Sir.« Wheelock nickte kaum merklich, um auf den rückwärtigen Teil des Hauses zu weisen. »Er ist mit Ihrer Mutter im Grüngoldenen.«

Nicholas runzelte verwirrt die Stirn. In seiner Familie ging man zwar ungezwungener um als anderswo, vor allem wenn sie draußen auf dem Land waren, aber ein schlammbespritzter Mantel wurde im Lieblingssalon seiner Mutter bestimmt nicht gern gesehen.

»Um den kümmere ich mich«, sagte Wheelock und streckte die Hand nach dem Mantel aus. Der Mann war schon immer außergewöhnlich gut im Gedankenlesen gewesen.

Nicholas blickte auf seine Stiefel hinab.

»Ich würde einfach hingehen«, riet Wheelock.

Lieber Gott, vielleicht war doch jemand gestorben.

»Wissen Sie, worum es bei alldem geht?«, fragte er und drehte sich um, sodass Wheelock ihm den Mantel von den Schultern nehmen konnte.

»Es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern.«

Nicholas warf einen Blick über die Schultern. »Dann wissen Sie es also.«

»Sir.« Wheelock wirkte schmerzlich berührt.

»In weniger als einem Monat wäre ich doch sowieso hergekommen.«

Wheelock wich Nicholas’ Blick aus und klopfte angelegentlich getrocknete Schmutzflecken vom Mantel. »Die Zeit drängt, soweit ich weiß.«

Nicholas rieb sich die Augen. Gott, war er müde. »Macht es Ihnen Freude, in Rätseln zu sprechen?«

»Nicht besonders.«

Was eine ausgemachte Lüge war. Normalerweise genoss Wheelock die spezielle Sorte Untertreibung, die Butlern vorbehalten war, die sich ihrer Stellung sehr sicher waren. Doch Nicholas sah, dass Wheelock dieses Gespräch wirklich keine Freude machte.

»Tut mir leid«, sagte Nicholas. »Es ist nicht recht von mir, Sie in eine solche Lage zu bringen. Sie brauchen mich nicht anzukündigen. Gehe ich meine Eltern eben mit den Stiefeln suchen.«

»Grüngold«, erinnerte Wheelock ihn.

»Natürlich«, murmelte Nicholas. Als ob er das vergessen würde.

Der grüngoldene Salon lag am Ende des Flurs. Nicholas hatte die kurze Entfernung oft genug zurückgelegt, um zu wissen, dass seine Eltern seine Ankunft eigentlich hätten mitbekommen müssen. Die Böden waren aus Marmor und immer makellos poliert. Auf Strümpfen schlitterte man dahin wie auf Eis, und wenn man Schuhe trug, klapperten die Absätze so laut, dass man damit ein kleines Orchester hätte begleiten können.

Doch als er die offene Tür erreichte und ins Zimmer blickte, sahen seine Eltern beide nicht in seine Richtung. Sein Vater stand am Fenster und schaute hinaus auf den grünen Rasen, und seine Mutter hatte sich auf ihrem Lieblingsplatz auf dem mintgrünen Sofa zusammengerollt.

Sie hatte immer behauptet, dass die linke Seite bequemer sei als die rechte. Ihre fünf Kinder hatten diese Hypothese alle geprüft, waren von einer Seite auf die andere gerutscht, und keines war zu demselben Schluss gekommen. Gerechterweise muss angemerkt werden, dass keines von ihnen zu überhaupt irgendeinem belegbaren Schluss gekommen war. Mary hatte erklärt, dass sich beide Seiten gleich anfühlten, Edmund darauf hingewiesen, dass man es sowieso nur dann bequem haben könne, wenn man die Beine hochlege, was allgemein verboten war, und Andrew war so oft hin- und hergehüpft, dass ein Sitzpolster aufgeplatzt war. George hatte die gesamte Übung für lächerlich erklärt, aber nicht, ehe er die Sache selbst kurz getestet hatte, und was Nicholas betraf …

Er war bei diesem Familienexperiment erst fünf gewesen. Doch er hatte sich auf jeden möglichen Platz gesetzt, ehe er aufstand und erklärte: »Also, das Gegenteil können wir aber auch nicht beweisen.«

Inzwischen hatte er entdeckt, dass das für vieles im Leben galt.

Etwas galt noch lang nicht als bewiesen, nur weil man das Gegenteil widerlegen konnte.

Und wenn seine Mutter am liebsten auf der linken Sofaseite saß, wie käme er dazu, ihr zu widersprechen?

Er zögerte einen Moment in der Tür und wartete darauf, dass seine Eltern seine Anwesenheit zur Kenntnis nahmen. Als das nicht geschah, betrat er den Salon und blieb vor dem Teppich stehen. Er hatte schon auf dem Flur eine Schlammspur hinterlassen.

Er räusperte sich, worauf sich beide endlich umdrehten.

Seine Mutter sagte als Erste etwas. »Nicholas«, sagte sie und streckte ihm die Arme entgegen. »Gott sei Dank, dass du hier bist.«

Er blickte misstrauisch von einem Elternteil zum anderen. »Ist etwas passiert?«

Eine wirklich dumme Frage. Natürlich war etwas passiert. Zumindest trug keiner Schwarz, also …

»Setz dich«, sagte sein Vater und deutete aufs Sofa.

Nicholas setzte sich neben seine Mutter und ergriff ihre Hand. Das schien ihm das Richtige zu sein. Zu seiner Überraschung schob sie sie beiseite und stand auf.

»Ich lasse euch beide jetzt allein«, erklärte sie. Sie legte Nicholas eine Hand auf die Schulter, um ihm zu bedeuten, dass er nicht aufzustehen brauchte. »Es wird leichter, wenn ich nicht dabei bin.«

Was zum Teufel? Sie hatten ein Problem, das der Lösung harrte, und seine Mutter nahm die Angelegenheit nicht nur nicht in die Hand, sondern zog sich aus freien Stücken zurück?

Das war nicht normal.

»Danke, dass du so schnell hergekommen bist«, murmelte sie und beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen. »Das ist so tröstlich für mich, dass ich es gar nicht sagen kann.« Sie blickte zu ihrem Ehemann. »Du findest mich an meinem Schreibtisch, wenn du mich brauchen solltest, um …«

Sie schien um Worte verlegen zu sein. Nicholas hatte sie noch nie so verstört erlebt.

»Falls du mich brauchst«, sagte sie schließlich.

Nicholas sah seiner Mutter nach, wie sie den Raum verließ, schweigend und vermutlich mit offenem Mund, bis sie hinter sich die Tür schloss. Er wandte sich zu seinem Vater um. »Was ist hier los?«

Sein Vater seufzte, und nach einem langen, schicksalsschweren Augenblick sagte er: »Es ist etwas vorgefallen.«

Sein Vater war schon immer ein Meister des eleganten Understatements gewesen.

»Du solltest dir einen Brandy eingießen.«

»Sir.« Nicholas wollte keinen Brandy. Er wollte eine Erklärung. Doch er hatte seinen Vater vor sich, also akzeptierte er den Brandy.

»Es geht um Georgiana.«

»Bridgerton?«, fragte Nicholas ungläubig, als gäbe es eine andere Georgiana, die sein Vater meinen könnte.

Lord Manston nickte grimmig. »Dann hast du nichts davon gehört.«

»Ich war in Edinburgh«, erinnerte Nicholas ihn.

Sein Vater trank einen Schluck Brandy. Einen weitaus größeren Schluck, als um diese Uhrzeit vernünftig gewesen wäre. Oder eigentlich zu jeder Zeit. »Na, das zumindest erleichtert mich.«

»Bei allem Respekt, möchte ich dich doch darum bitten, etwas deutlicher zu werden.«

»Es gab einen Vorfall.«

»Noch deutlicher«, brummte Nicholas.

Wenn sein Vater ihn gehört hatte – und wenn er ehrlich war, glaubte Nicholas, dass dem so war –, so reagierte er nicht darauf. Stattdessen räusperte er sich und sagte: »Sie wurde entführt.«

»Was?« Nicholas sprang auf, das Brandyglas entglitt ihm und fiel auf den unbezahlbaren Teppich. »Wieso sagst du das denn nicht gleich? Lieber Himmel, hat irgendwer …«

»Beruhige dich«, sagte sein Vater scharf. »Sie wurde gerettet. Sie ist in Sicherheit.«

»Wurde sie …«

»Sie wurde nicht entehrt.«

Nicholas überlief ein ungewohntes Gefühl. Erleichterung, gemischt mit irgendetwas anderem. Etwas Ätzendem, Saurem.

Er kannte Frauen, denen man Gewalt angetan hatte. Es rief etwas in ihnen hervor. Körperlich, was er wohl ein wenig nachfühlen konnte, und seelisch, was er nicht einmal ansatzweise erfassen konnte.

Dieses Gefühl in ihm … es war stärker als Erleichterung. Es war beißend, wurde begleitet von tief sitzendem, brennendem Zorn.

Georgiana Bridgerton war wie eine Schwester für ihn. Nein, nicht wie eine Schwester. Nicht genau. Aber ihr Bruder Edmund war für ihn wie ein Bruder, er stand ihm näher als sein eigener, wenn er ehrlich war.

Lord und Lady Manston hatten ihre Familienplanung abgeschlossen geglaubt, als Nicholas unterwegs war. Er war ganze acht Jahre jünger als sein nächstjüngstes Geschwister, und als er alt genug war, um etwas anderes zu tun, als in Windeln herumzukrabbeln, waren die anderen längst auf dem Internat.

Doch Edmund Bridgerton war noch da, nur ein paar Meilen entfernt in Aubrey Hall. Sie waren fast genau gleich alt, geboren im Abstand von nur zwei Monaten.

Sie waren unzertrennlich gewesen.

»Was ist geschehen?«, fragte Nicholas seinen Vater.

»Ein verdammter Glücksritter hat sich an sie rangemacht«, stieß sein Vater hervor. »Nithercotts Sohn.«

»Freddie Oakes?«, fragte Nicholas reichlich überrascht. Sie waren zusammen im Internat gewesen, zumindest ein paar Jahre. Freddie hatte die Schule nicht abgeschlossen. Er war beliebt und umgänglich gewesen und ein unglaublich guter Kricketspieler, aber wie sich herausstellte, war es noch schlimmer, bei den Prüfungen zu schummeln, als sie nicht zu bestehen, und so war er im Alter von sechzehn aus Eton hinausgeflogen.

»Stimmt«, murmelte Lord Manston, »du kennst ihn ja.«

»Nicht gut. Wir waren nie Freunde.«

»Nein?«

»Wir waren auch nie keine Freunde«, stellte Nicholas klar. »Mit Freddie Oakes kam jeder klar.«

Lord Manston warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Du verteidigst ihn?«

»Nein«, sagte Nicholas rasch, obwohl er noch keine Ahnung hatte, was sich wirklich zugetragen hatte. Allerdings fiel es ihm schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem Georgiana die Schuldige war. »Ich will nur sagen, dass er immer sehr beliebt war. Er war nicht gemein, aber man tat gut daran, ihm nicht in die Quere zu kommen.«

»Dann war er ein Raufbold?«

»Nein.« Nicholas rieb sich die Augen. Verdammt, war er müde. Und es war schier unmöglich, jemandem die damalige Schulhierarchie zu erklären, der nicht dabei gewesen war. »Es ist nur … ich weiß nicht. Wie gesagt, wir waren keine Freunde. Er war wohl … etwas geistlos.«

Sein Vater bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick.

»Oder vielleicht auch nicht. Ich kann es ehrlich nicht sagen. Ich habe nie irgendwelche Gespräche geführt, die über das Frühstück und wer in den Ferien nach Hause fuhr hinausging.« Nicholas dachte einen Augenblick nach, kramte in seinen Erinnerungen. »Er hat sehr viel Kricket gespielt.«

»Du doch auch.«

»Aber nicht gut.«

Es kündete von der Not seines Vaters, dass er seinen Sohn nicht umgehend korrigierte. Nach den Vorstellungen des Earl of Manston waren all seine vier Söhne ein Abbild seiner selbst und daher hervorragende Athleten, die sich auf sämtlichen Spielfeldern Etons hervorgetan hatten.

Darin lag er nur zu fünfundzwanzig Prozent falsch.

Nicholas war als Sportler nicht gänzlich unbegabt. Im Gegenteil, er focht recht zufriedenstellend, und als Schütze, gleich ob mit Pfeil und Bogen oder einem Gewehr, übertraf er sämtliche Brüder. Aber sobald man ihm mit einem Ball und ein paar Männern auf ein Spielfeld stellte, egal welches, war er einfach hoffnungslos. Man musste sich seiner Position innerhalb einer Gruppe bewusst sein. Es war eine Fähigkeit, vielleicht auch ein Instinkt, der oder die ihm völlig abging. Egal ob beim Kricket oder bei den für Eton typischen Fußballvarianten …

Er war in allen schrecklich schlecht. All seine schlimmsten Erinnerungen an die Schule hatten mit irgendwelchen Spielfeldern zu tun. Das Gefühl, beobachtet und für mangelhaft befunden zu werden … noch furchtbarer war nur das Warten, während die Teams zusammengestellt wurden. Jungs brauchten nicht lang, um zu kapieren, wer mit einem Ball umgehen konnte.

Und wer nicht.

Bei den Schulleistungen war es wohl ähnlich. Es dauerte nur wenige Monate, ehe jeder wusste, dass er derjenige mit den Bestnoten in den Naturwissenschaften war. Sogar Freddie Oakes hatte ihn hin und wieder um Hilfe gebeten.

Nicholas kniete sich hin, um endlich das Glas aufzuheben, das er fallen gelassen hatte. Er betrachtete es ein paar Augenblicke, während er überlegte, ob er jetzt eher Klarheit oder eher etwas Ablenkung brauchte.

Vermutlich etwas dazwischen.

Er sah seinen Vater an. »Vielleicht solltest du mir mal erzählen, was passiert ist«, sagte er und ging durchs Zimmer, um sich nachzuschenken. Ob er es dann trank, konnte er später noch entscheiden.

»Na schön.« Sein Vater setzte sein eigenes Glas mit einem dumpfen Geräusch ab. »Ich weiß nicht genau, wann sie sich kennengelernt haben, aber Oakes hat seine Absichten klar vermittelt. Er hat sie umworben. Deine Mutter schien zu glauben, dass er ihr einen Antrag machen würde.«

Nicholas konnte sich keine Vorstellung machen, warum seine Mutter glaubte, ausgerechnet Freddie Oakes’ Gedanken lesen zu können, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren.

»Ich weiß nicht, ob Georgiana Ja gesagt hätte«, fuhr Lord Manston fort. »Oakes ist dem Glücksspiel zu ergeben – das wissen wir alle –, aber irgendwann wird er die Baronie erben, und Georgiana ist auch nicht mehr die Jüngste.«

Mit sechsundzwanzig war Georgie genau ein Jahr jünger als Nicholas, doch er wusste genau, dass Frauenjahre anders gezählt wurden, zumindest soweit es die Sitten und Gebräuche der englischen Ehe betraf.

»Jedenfalls«, sprach sein Vater weiter, »waren Lady Bridgerton und deine Mutter in London – zum Einkaufen, nehme ich an, ich habe nicht gefragt –, und Georgiana hat sie begleitet.«

»Aber nicht zur Saison«, murmelte Nicholas. Soweit er wusste, hatte Georgiana nie eine richtige Londoner Saison absolviert. Sie hatte gesagt, sie wolle keine. Er hatte nie nachgefragt. Eine Saison in London war für ihn ebenso verlockend wie die Aussicht, sich einen Zahn ziehen zu lassen, warum also hätte er ihre Bemerkung infrage stellen sollen?

»Nur zu Besuch«, bestätigte sein Vater. »Bestimmt sind sie zu der einen oder anderen Veranstaltung gegangen. Die Saison ist ohnehin fast vorbei. Aber Oakes wurde ein paarmal vorstellig und hat Georgiana ausgeführt.«

Nicholas goss etwas Brandy in sein Glas und drehte sich zu seinem Vater um. »Mit Lady Bridgertons Erlaubnis?«

Lord Manston nickte grimmig und nahm einen großen Schluck. »Es war alles so, wie es sein sollte. Ihre Zofe war dabei. Sie statteten einem Buchladen einen Besuch ab.«

»Das klingt nach Georgie.«

Sein Vater nickte. »Oakes hat sie sich auf dem Weg nach draußen geschnappt. Beziehungsweise ist mit ihr einfach davongefahren. In die Kutsche ist sie noch bereitwillig gestiegen, warum sollte sie auch nicht?«

»Und die Zofe?«

»Oakes stieß sie zu Boden, ehe sie in die Kutsche klettern konnte.«

»Mein Gott, geht es ihr gut?« Wenn sie sich den Kopf gestoßen haben sollte, könnte sie ernsthaft verletzt worden sein.

Lord Manston blinzelte, worauf Nicholas der Gedanke kam, dass sein Vater sich um das Wohlergehen der Zofe wohl nicht weiter gekümmert hatte. »Wenn du nichts weiter gehört hast, wird es ihr wohl gutgehen«, meinte Nicholas.

Sein Vater schwieg eine Weile und sagte dann: »Sie ist wieder zu Hause.«

»Georgie?«

Sein Vater nickte. »Die Entführung dauerte nur einen Tag, aber der Schaden ist angerichtet.«

»Ich dachte, du sagtest, sie wäre nicht …«

Sein Vater knallte das Glas auf den Tisch. »Um ihren Ruf zu zerstören, musste ihr nicht tatsächlich Gewalt angetan worden sein. Lieber Himmel, Junge, benutz doch deinen Verstand. Was er ihr tatsächlich angetan hat, spielt dabei keine Rolle. Sie ist ruiniert. Und jeder weiß es.« Er bedachte Nicholas mit einem vernichtenden Blick. »Nur du anscheinend nicht.«

Irgendwo verbarg sich in dieser Bemerkung eine Beleidigung, doch Nicholas entschied, darüber hinwegzublicken. »Ich war in Edinburgh«, sagte er mit angespannter Stimme. »Ich wusste von alledem nichts.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Das alles nimmt uns sehr mit.« Lord Manston fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sie ist meine Patentochter, weißt du.«

»Ich weiß.«

»Ich habe einen Eid geschworen, sie zu beschützen. In der Kirche.«

Da sein Vater nicht sonderlich religiös war, wusste Nicholas nicht recht, warum der Ort, an dem er den Schwur abgeleistet hatte, für seinen Vater von solcher Bedeutung war, nickte aber dennoch. Er setzte das Glas an die Lippen, trank aber nicht, sondern verbarg seine Miene dahinter, während er seinen Vater beobachtete.

So hatte er ihn noch nie erlebt. Er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte.

»Ich kann nicht dulden, dass sie ruiniert ist«, erklärte sein Vater entschlossen. »Wir können das nicht dulden.«

Nicholas hielt den Atem an. Später wurde ihm klar, dass seine Lungen wussten, was sein Verstand noch nicht erfasst hatte. Sein Leben sollte eine dramatische Wendung nehmen.

»Es gibt nur einen Ausweg«, sagte sein Vater. »Du musst sie heiraten.«

2. KAPITEL

Angesichts dieser väterlichen Ansage schossen Nicholas eine ganze Menge Dinge durch den Kopf.

Was hast du gerade gesagt?

Bist du übergeschnappt?

Du musst übergeschnappt sein.

Ja, ich bin mir sicher, dass du übergeschnappt bist.

Moment Mal, habe ich da gerade recht gehört?

Und alles mündete in: BIST DU VOLLKOMMEN VERRÜCKT GEWORDEN?

Was er sagte, war jedoch nur: »Wie bitte?«

»Du musst sie heiraten«, wiederholte sein Vater.

Und bewies damit a), dass Nicholas ihn nicht falsch verstanden hatte und b), dass sein Vater tatsächlich vollkommen verrückt geworden war.

Nicholas stürzte den Brandy in einem Zug hinunter. »Ich kann Georgiana nicht heiraten«, sagte er.

»Warum nicht?«

»Weil … weil …« Es gab so viele Gründe, dass Nicholas sie unmöglich zu einer einzigen Aussage zusammenfassen konnte.

Sein Vater hob eine Augenbraue. »Bist du schon mit einer anderen verheiratet?«

»Natürlich nicht!«

»Hast du einer anderen die Ehe versprochen

»Um Himmels willen, Vater …«

»Dann sehe ich keinen Grund, warum du deiner Pflicht nicht nachkommen kannst.«

»Es ist nicht meine Pflicht!«, fuhr Nicholas auf.

Sein Vater sah ihn streng an, sehr streng, und Nicholas kam sich wieder vor wie ein Kind, das wegen irgendeines kleinen Vergehens ausgescholten wurde.

Aber hier handelte es sich um keine Kleinigkeit. Hier ging es um eine Ehe. Und auch wenn es richtig und ehrenhaft sein mochte, Georgiana Bridgerton zu heiraten – sein mochte –, war es ganz gewiss nicht seine Pflicht.

»Vater«, versuchte er es noch einmal, »ich bin nicht in der Lage zu heiraten.«

»Natürlich bist du das. Du bist siebenundzwanzig Jahre alt, bei klarem Verstand und bei guter Gesundheit.«

»Ich wohne in einem Zimmer in Edinburgh. Ich habe nicht mal einen Kammerdiener.«

Sein Vater winkte ab. »Das lässt sich leicht beheben. Wir können dir ein Haus besorgen. Dein Bruder kennt ein paar Architekten, die uns dabei unterstützen können. Eine ausgezeichnete Investition für uns.«

Einen Augenblick konnte Nicholas ihn nur anstarren. Nun redete sein Vater von Immobilienanlagen?

»Du darfst es als Hochzeitsgeschenk betrachten. Aber vielleicht ist es dir lieber, erst einmal eins zu mieten – dann bist du nicht so festgelegt, was euren Wohnort anbetrifft.«

Nicholas legte sich eine Hand an die Stirn und presste Daumen und Mittelfinger gegen die Schläfen. Er musste sich konzentrieren. Nachdenken. Sein Vater redete noch, ließ sich aus über Integrität, Pflicht, Erbpachtverträge und Mietpreise. Nicholas schwirrte der Kopf.

»Hast du irgendeine Ahnung, was ein Medizinstudium einem alles abverlangt?«, fragte er und schloss die Augen hinter der Hand. »Ich habe keine Zeit für eine Ehefrau.«

»Sie braucht deine Zeit nicht, sie braucht deinen Namen.«

Nicholas ließ die Hand sinken. Sah seinen Vater an. »Du meinst das wirklich ernst.«

Sein Vater warf ihm einen Blick zu, als wollte er fragen, ob er ihm wohl nicht richtig zugehört habe.

»Ich kann nicht jemanden heiraten mit der dezidierten Absicht, sie zu ignorieren.«

»Ich hoffe, dass dies nicht der Fall sein wird«, erwiderte sein Vater. »Ich versuche nur zu erklären, dass deine Kooperation diesbezüglich keinen nachteiligen Einfluss auf dein Leben in dieser entscheidenden Phase haben muss.«

»Das waren aber furchtbar viele Worte, um mir zu sagen, ich solle mich als schlechter Ehemann erweisen.«

»Nein, es waren furchtbar viele Worte, um dir zu sagen, du sollst dich schlussendlich als Held einer jungen Frau erweisen.«

Nicholas verdrehte die Augen. »Wonach ich hingehen und mich als schlechter Ehemann erweisen kann.«

»Wenn das dein Wunsch ist«, sagte sein Vater ruhig.

Nicholas war sich nicht sicher, wie lang er seinen Vater ungläubig anstarrte. Erst als ihm bewusst wurde, dass er langsam mit dem Kopf schüttelte, zwang er sich dazu, sich abzuwenden. Er ging zum Fenster und schaute blicklos hinaus. Er wollte seinen Vater jetzt nicht ansehen. Er wollte nicht über ihn oder seinen verrückten Vorschlag nachdenken.

Nein, ein Vorschlag war es ja nicht, oder? Es war ein Befehl. Sein Vater hatte nicht gesagt: »Würdest du Georgiana heiraten?«

Er hatte gesagt: »Du musst sie heiraten.«

Das war nicht dasselbe.

»Du kannst sie in Kent zurücklassen«, sagte sein Vater nach einer, wie er wohl befand, angemessen rücksichtsvollen Dauer des Schweigens. »Sie braucht dich nicht nach Edinburgh zu begleiten. Vermutlich würde sie dich gar nicht nach Edinburgh begleiten wollen. Ich glaube nicht, dass sie je dort war.«

Nicholas wandte sich um.

»Natürlich wäre das ganz dir überlassen«, fuhr sein Vater fort. »Schließlich bist du es, der das Opfer bringt.«

»Es kommt mir ganz schön merkwürdig vor, dass du anscheinend glaubst, mich so überreden zu können«, erklärte Nicholas.

Aber offenbar führten sie zwei verschiedene Gespräche, denn sein Vater entgegnete: »Es geht doch nur um eine Ehe.«

Darauf schnaubte Nicholas nur laut und sagte: »Sag das zu Mutter, und dann komm zurück und sag es noch einmal zu mir.«

Die Miene seines Vaters wurde verdrossen. »Wir reden von Georgiana. Warum bist du nur so widerspenstig?«

»Ach, ich weiß nicht … Vielleicht weil du mich von meinen Studien weggerufen hast, mich quer durch England und Schottland gejagt hast und mich bei meiner Ankunft nicht etwa darauf hingewiesen hast, dass ich eventuell die Lösung für ein schwieriges Problem liefern könnte. Du hast mich nicht gefragt, was ich von einer Heirat halten würde. Du hast mir einfach befohlen, eine Frau zu heiraten, die praktisch meine Schwester ist.«

»Aber sie ist nicht deine Schwester.«

Nicholas machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Hör auf«, sagte er. »Hör bitte einfach auf.«

»Deine Mutter ist auch der Meinung, dass das die beste Lösung ist.«

»O Gott.« Sie hatten sich gegen ihn verschworen.

»Es ist die einzige Lösung.«

»Einen Moment«, murmelte Nicholas. Erneut presste er sich die Finger an die Schläfen. Sein Kopf fing an zu hämmern. »Ich brauche jetzt einfach einen Moment.«

»Wir haben keinen …«

»Verflixt und zugenäht, würdest du vielleicht mal einen Moment den Mund halten, damit ich nachdenken kann?«

Sein Vater riss die Augen auf und wich einen Schritt zurück.

Nicholas blickte auf seine Hände. Sie zitterten. So hatte er noch nie zu seinem Vater gesprochen. Er hätte es nicht für möglich gehalten. »Ich brauche einen Brandy«, sagte er. Einen ordentlichen diesmal. Er ging zurück zur Anrichte und füllte sein Glas fast bis zum Rand.

»Die ganze Reise von Schottland habe ich mich gefragt«, meinte er schließlich nachdenklich, »was um alles in der Welt passiert sein könnte, dass man mich auf so geheimnisvolle und gleichzeitig so nachdrückliche Weise nach Hause beordert. Ich habe mich gefragt, ob wohl jemand gestorben sein könnte.«

»Niemals würde ich …«

»Nein«, unterbrach Nicholas. Er wollte jetzt nichts von seinem Vater hören. Das war seine kleine Rede, sein Sarkasmus, und er würde sich dafür die Zeit nehmen, die er brauchte.

»Nein«, sagte er noch einmal. »Gestorben war sicher niemand. In einem solchen Fall hätte mein Vater niemals eine so kryptische Nachricht verfasst. Aber was könnte es sonst sein? Was hätte ihn dazu veranlassen können, mich zu einem so unglaublich ungünstigen Zeitpunkt nach Hause zu rufen?«

Lord Manston öffnete den Mund, doch Nicholas brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen.

»Obwohl ungünstig es ja noch nicht einmal ansatzweise trifft. Wusstest du, dass ich meine Examen verpasse?« Nicholas hielt inne, aber nicht lange genug, um anzudeuten, dass diese Frage etwas anderes als rein rhetorisch war. »Meine Professoren haben sich bereit erklärt, sie bei meiner Rückkehr nachzuholen, aber ich musste ihnen natürlich gestehen, dass ich nicht wüsste, wann ich zurückkommen würde.« Er trank einen großen Schluck Brandy. »Also, das war wirklich eine unangenehme Unterredung.«

Nicholas sah zu seinem Vater hinüber, forderte ihn beinahe heraus, ihn zu unterbrechen. »Ich glaube nicht, dass sie mir diese Nachfrist gewähren wollten«, sprach er weiter, »aber hierbei hat es sich um einen jener Fälle gehandelt, in denen es von Vorteil ist, der Sohn eines Earls zu sein. Natürlich macht man sich damit keine Freunde. Keiner mag den Burschen, der seine Verbindungen spielen lässt, um sich um seine Examen herumzumogeln. Selbst wenn dieser Bursche jede Absicht hat, seine Examen zu einem späteren, wenn auch, wie ich vielleicht bereits erwähnt habe, ungewissen Zeitpunkt abzulegen.«

»Ich habe mich schon dafür entschuldigt, dass ich dich aus deinen Studien herausreißen musste«, sagte Lord Manston angespannt.

»Ja«, erwiderte Nicholas ausdrucklos, »in deinem höchst detailreichen Brief.«

Sein Vater starrte ihn einen Augenblick an und fragte dann: »Hast du deinen Launen jetzt genug freien Lauf gelassen?«

»Fürs Erste.« Nicholas nahm einen Schluck Brandy und überlegte es sich noch einmal anders. Eine Sache wollte er noch loswerden. »Lass dir aber gesagt sein: Bei all den Möglichkeiten, die mir auf dem Heimweg durch den Kopf gegangen sind, bin ich nicht auf die Idee gekommen, bei meiner Rückkehr feststellen zu müssen, dass mein Vater mich versprochen hat.«

»Dass ich dich versprochen habe«, wiederholte sein Vater mit etwas unbehaglichem Schnaufen. »Das klingt ja, als wärst du ein Mädchen.«

»So komme ich mir im Moment auch vor, und ich muss dir sagen, es gefällt mir nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich empfinde ganz neuen Respekt für alle weiblichen Wesen, wie sie es hinnehmen, dass wir ihnen ständig Vorschriften machen.«

Lord Manston schnaubte. »Wenn du glaubst, es wäre mir je gelungen, deiner Mutter oder deiner Schwester Vorschriften zu machen, dann befindest du dich in einem traurigen Irrtum.«

Nicholas stellte das Glas ab. Er hatte genug. Es war ja noch nicht einmal Mittag. »Warum tust du es dann bei mir?«

»Weil ich keine andere Wahl habe«, herrschte sein Vater ihn an. »Georgiana braucht dich.«

»Du würdest deinen Sohn dem Wohl deiner Patentochter opfern.«

»Das tue ich nicht, und das weißt du auch.«

Es fühlte sich aber so an. Es fühlte sich so an, als wählte sein Vater ein Lieblingskind, und Nicholas war es nicht.

Es war nicht mal ein Rokesby.

Doch selbst Nicholas musste zugeben, dass die Leben der Rokesbys und Bridgertons eng miteinander verwoben waren. Nachbarn waren sie schon seit Jahrhunderten, doch erst in der gegenwärtigen Generation hatten sie diese Verbindung wahrhaft gefestigt. Die Lords und Ladys waren eng miteinander befreundet, jede Familie hatte von der anderen Familie ein Patenkind anvertraut bekommen.

Das Ganze war noch fester zementiert worden, als der älteste Rokesby-Sohn die älteste Bridgerton-Tochter geheiratet hatte. Und dann hatte der dritte Rokesby-Sohn eine Bridgerton-Kusine geehelicht.

Ehrlich, wenn man jemandem ein Garnknäuel und einen Stammbaum in die Hand gäbe, könnte derjenige ein regelrechtes Fadenspiel damit veranstalten.

»Ich muss darüber nachdenken«, erklärte Nicholas, denn das war das Einzige, was er in diesem Augenblick sagen konnte, um den Druck seines Vaters vorübergehend abzuwehren.

»Natürlich«, meinte sein Vater. »Ich kann verstehen, dass das alles sehr überraschend kommt.«

Milde ausgedrückt.

»Aber die Zeit drängt. Bis morgen wirst du deine Entscheidung getroffen haben müssen.«

»Bis morgen?«

Sein Vater besaß den Anstand, wenigstens ein bisschen bedauernd zu klingen, als er sagte: »Es hilft alles nichts.«

»Ich war beinahe zwei Wochen lang unterwegs, durch mindestens sechs sturzflutartige Regengüsse, habe meine Studien unterbrochen und praktisch Befehl erhalten, meine Nachbarin zu heiraten, und du willst mir nicht mal ein paar Tage Bedenkzeit gewähren?«

»Hier geht es nicht um dich, sondern um Georgie.«

»Wie kann es hier nicht um mich gehen?« Nicholas brüllte beinahe.

»Du wirst nicht mal merken, dass du verheiratet bist.«

»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?« Nicholas war sich absolut sicher, dass er mit seinem Vater noch nie so gesprochen hatte, er hätte sich das nie getraut. Aber er konnte einfach nicht fassen, was sein Vater alles von sich gab.

Er musste einfach dem Wahnsinn anheimgefallen sein. Es war eine Sache, ihm, Nicholas, nahezulegen, Georgiana Bridgerton zu heiraten, der Vorschlag wies eine gewisse Don-Quijote-hafte Logik auf. Aber anzudeuten, dass diese Tat bedeutungslos sei … dass Nicholas einfach so weitermachen könne wie bisher, als hätte er sie nicht geheiratet …

Kannte sein Vater ihn denn gar nicht?

»Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen«, sagte Nicholas. Er stolzierte zur Tür, plötzlich froh, die schlammigen Stiefel nicht ausgezogen zu haben.

»Nicholas …«

»Nein. Jetzt nicht.« Er legte eine Hand an den Türrahmen, hielt inne, um tief durchzuatmen. Er traute sich nicht, seinen Vater noch einmal anzusehen, sondern sagte nur: »Deine Sorge um deine Patentochter ist vorbildlich, und ich hätte – ich hätte vielleicht auf dich gehört, wenn du deinen Wunsch als Bitte formuliert hättest.«

»Du bist zornig. Ich verstehe das.«

»Das glaube ich nicht. Die absolute Geringschätzung, die du den Gefühlen deines eigenen Sohnes entgegenbringst …«

»Falsch!«, fiel sein Vater ihm barsch ins Wort. »Ich versichere dir, dass ich deine Interessen immer im Hinterkopf habe. Wenn ich das nicht klar herausgestellt habe, dann, weil ich mir Sorgen wegen Georgiana mache und nicht deinetwegen.«

Nicholas schluckte. Jeder Muskel in seinem Körper war zum Zerreißen angespannt.

»Ich hatte viel mehr Zeit, mich an die Idee zu gewöhnen«, sagte sein Vater ruhig. »Zeit macht einen Unterschied.«

Nicholas wandte sich zu ihm um. »Ist es das, was du dir für mich erhoffst? Eine lieblose, körperlose Ehe?«

»Natürlich nicht. Aber ihr mögt euch doch. Und Georgiana ist eine schöne junge Frau. Ich bin zuversichtlich, ihr werdet im Lauf der Zeit noch herausfinden, wie gut ihr zueinanderpasst.«

»Deine anderen Kinder haben aus Liebe geheiratet«, sagte Nicholas leise. »Alle vier.«

»Für dich hatte ich mir dasselbe erhofft.« Sein Vater lächelte, aber es war ein trauriges, wehmütiges Lächeln. »Ich würde es nicht von vornherein ausschließen.«

»Ich werde mich nicht in Georgiana verlieben. Mein Gott, wenn es denn hätte sein sollen, wäre es dann nicht schon längst passiert?«

Sein Vater schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln. Nicht spöttisch, nur amüsiert.

Doch Nicholas wollte nichts davon wissen. »Ich kann mir nicht mal vorstellen, sie zu küssen.«

»Du brauchst sie ja auch nicht zu küssen. Nur zu heiraten.«

Nicholas blieb der Mund offen stehen. »Das hast du jetzt nicht gesagt.«

»Eine Ehe beginnt nur sehr selten voll Leidenschaft«, erklärte Lord Manston, plötzlich ganz freundlicher, väterlicher Ratgeber. »Deine Mutter und ich …«

»Ich will nichts von Mutter und dir hören.«

»Sei nicht so prüde«, sagte sein Vater und schnaubte.

Das war der Augenblick, in dem Nicholas sich fragte, ob er die ganze Sache vielleicht nur träumte. Denn er konnte sich kein anderes Szenario vorstellen, in dem sein Vater irgendwelche intimen Details über seine Mutter offenbarte.

»Du wirst einmal Arzt sein«, meinte sein Vater trocken. »Da weißt du doch bestimmt, dass deine Mutter und ich nicht fünf Kinder in die Welt hätten setzen können, ohne …«

»Hör auf!« Nicholas schrie es beinahe. »Mein Gott, ich will nichts davon hören!«

Sein Vater lachte. Er lachte!

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Nicholas schließlich, ohne sich die Mühe zu machen, seinen mürrischen Ton zu verbergen, »aber ich kann dir morgen noch keine Antwort geben.«

»Du musst aber.«

»Du lieber Himmel, hörst du mir eigentlich zu?«

»Mir bleibt keine Zeit, dir zuzuhören. Georgianas Leben ist ruiniert.«

Sie drehten sich im Kreis. Es war, als zögen sie draußen auf dem Rasen ihre Runden, immer auf derselben Bahn, bis das Gras niedergetrampelt war. Aber Nicholas war inzwischen viel zu erschöpft, als dass er versucht hätte, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Er fragte nur: »Und was macht es für einen Unterschied, wenn ich ein paar Tage zum Nachdenken brauche?«

»Wenn du sie nicht heiratest«, antwortete Lord Manston, »müssen ihre Eltern jemand anderen finden, der das tut.«

Was zu einer schrecklichen Vorstellung führte. »Hast du das alles mit Lord und Lady Bridgerton besprochen?«

Sein Vater zögerte einen Augenblick, bevor er sagte: »Das habe ich nicht.«

»Du würdest mich in dieser Sache nicht anlügen …«

»Wie kannst du es wagen, meine Ehre infrage zu stellen?«

»Deine Ehre nicht. Bei deinem Urteilsvermögen bin ich mir nicht mehr so sicher.«

Sein Vater schluckte unbehaglich. »Ich hätte es vorgeschlagen, aber ich wollte ihnen keine Hoffnungen machen für den Fall, dass du dich weigerst.«

Nicholas betrachtete ihn skeptisch. »Du hast nicht den Eindruck vermittelt, als stünde es mir offen, mich zu weigern.«

»Wir wissen beide, dass ich dich nicht zwingen kann, das Mädchen zu heiraten.«

»Du wärst nur zutiefst von mir enttäuscht, wenn ich es nicht täte.«

Sein Vater schwieg.

»Das ist wohl Antwort genug«, brummte Nicholas. Erschöpft sank er in einen Sessel. Was zum Teufel sollte er nur tun?

Sein Vater erkannte offenbar, dass er genug hatte, denn er räusperte sich ein paarmal und sagte dann: »Ich könnte ja deine Mutter holen.«

»Wie du meinst.«

Nicholas hatte nicht beabsichtigt, so giftig zu klingen, aber wirklich, was sollte seine Mutter schon groß ausrichten?

»Sie hat mich noch immer beruhigen können, wenn ich mir Sorgen mache. Vielleicht kann sie dir auch helfen.«

»Von mir aus«, stieß Nicholas hervor. Er war zu erschöpft, um sich noch herumzustreiten.

Doch bevor Lord Manston den Raum verlassen konnte, ging die Tür auf, und Lady Manston kam leise herein. »Ist alles geregelt?«

»Er wird darüber nachdenken«, erwiderte ihr Gatte.

»Du hättest nicht aus dem Zimmer zu gehen brauchen«, sagte Nicholas.

»Ich dachte, es wäre einfacher, wenn ich nicht dabei wäre.«

»Es war so oder so schwierig.«

»Das ist wohl wahr.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie. »Mir tut es wirklich leid, dass du in diese Lage gebracht wurdest.«

Nicholas rang sich etwas ab, das einem Lächeln recht nahe kam.

Sie räusperte sich. Es klang verlegen. »Ich wollte euch auch sagen, dass wir unser Dinner heute Abend in Aubrey Hall einnehmen werden.«

»Du machst doch sicher Witze«, meinte Nicholas. Aubrey Hall war der Familiensitz der Bridgertons. Er konnte nur annehmen, dass sämtliche Bridgertons anwesend sein würden.

Seine Mutter schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln. »Ich fürchte nicht, mein Sohn. Es wurde schon vor einiger Zeit geplant, und ich habe Lady Bridgerton gegenüber erwähnt, dass du zu Hause sein würdest.«

Nicholas stöhnte. Warum hatte seine Mutter das getan?

»Sie ist furchtbar erpicht auf Neuigkeiten von deinem Studium. Das sind alle. Aber du bist müde. Es bleibt dir überlassen.«

»Dann brauche ich nicht hinzugehen?«

Seine Mutter lächelte reizend. »Alle werden dort sein.«

»Ach so«, sagte Nicholas eine Spur bitter. »Dann bleibt es mir also doch nicht überlassen.«

Klang ganz nach dem Rest seines Lebens.

3. KAPITEL

Georgiana Bridgerton hatte im Leben schon viele Dinge verloren – ein ledergebundenes Notizbuch, das sie besonders gemocht hatte, den Schlüssel zur Schmuckschatulle ihrer Schwester Billie, zwei linke Schuhe – aber dies war das erste Mal, dass sie ihren guten Ruf verloren hatte.

Er war weitaus schwieriger zu ersetzen als das Notizbuch.

Oder die Schuhe.

Bei der Schmuckschatulle hatte sie sich mit einem Hammer beholfen, und auch wenn sich keiner über das nachfolgende Gemetzel gefreut hatte, konnte doch Billies Smaragdarmband gerettet werden.

Um niemals wieder verliehen zu werden, aber das hatte Georgie auch verdient.

Was jedoch den guten Ruf anging …

Dabei handelte es sich um ein schlüpfriges, wankelmütiges Ding, das sich nicht so leicht wiederherstellen oder zurückrufen ließ, und es spielte auch keine Rolle, wenn man mit dem erwähnten Verlust ÜBERHAUPT NICHTS ZU TUN HATTE. Die Gesellschaft war nicht freundlich zu Frauen, die die Regeln brachen.

Die Gesellschaft war nicht freundlich zu Frauen, Punktum. Georgie starrte aufs Fußende ihres Bettes, wo ihre drei Katzen saßen, Judyth, Blanche und Katzenkopf. »Es ist nicht gerecht«, sagte sie.

Judyth legte eine silbergraue Pfote auf Georgies Fußgelenk, eine Geste, wie man sie mitfühlender nicht erwarten konnte von der unnahbarsten ihrer drei Stubentiger.

»Ich konnte nichts dafür.«

Es war nicht das erste Mal, dass sie diese vier Worte äußerte, und zwar in genau dieser Reihenfolge.

»Ich habe nie gesagt, dass ich ihn heiraten würde.«

Oder die.

Blanche gähnte.

»Ich weiß«, erwiderte Georgie. »Ich habe die Regeln ja nicht mal gebrochen. Ich breche nie die Regeln.«

Das stimmte. Sie brach keine Regeln. Weswegen Freddie Oakes vermutlich gedacht hatte, es würde ganz leicht sein, sie an ihrer Stelle zu brechen.

Sie hatte ihn wohl ermutigt – nicht darin, sie zu entführen, wohlbemerkt, aber sie hatte sich verhalten, wie sich eine vornehme junge Dame eben verhielt, wenn ein passender junger Gentleman Interesse an ihr bekundete. Entmutigt hatte sie ihn jedenfalls nicht. Sie hatten einmal auf Lady Manstons Soiree miteinander getanzt und zweimal im örtlichen Tanzsaal, und als Georgie mit ihrer Mutter nach London gefahren war, hatte er sie völlig comme il faut im Bridgerton House aufgesucht.

In seinem Benehmen hatte nichts – gar nichts – darauf schließen lassen, dass er ein amoralischer, bankrotter Schuft war. Als er daher einen Ausflug zu Pembertons Buchhandlung vorschlug, hatte sie entzückt eingewilligt. Sie liebte Buchhandlungen, und jeder wusste, dass die besten in London zu finden waren.

Sie hatte sich gekleidet, wie sich eine unverheiratete Dame für einen solchen Ausflug kleiden würde, und als Freddie in der Kutsche seiner Familie eintraf, hatte sie sich mit lächelnder Miene und in Begleitung ihrer Zofe Marian zu ihm begeben.

Eine Dame setzte sich nicht ohne Begleitung zu einem Gentleman in eine geschlossene Kutsche. An solche Regeln hielt Georgie sich immer.

Von der Buchhandlung aus hatten sie sich zum Pot & Pineapple begeben, um sich dort an wirklich köstlichem Tee und Kuchen zu laben, und auch da war alles völlig regelkonform verlaufen und wie man es von einer jungen Dame erwartete.

Georgie wollte das wirklich ein für alle Mal klarstellen, nicht dass ihr irgendwer außer den Katzen zugehört hätte. Sie hatte nichts falsch gemacht.

Nichts falsch gemacht.

Als es Zeit wurde zum Aufbruch, hatte Freddie sich ihrer voll Liebenswürdigkeit und Fürsorge angenommen, hatte ihr sorgsam in die Kutsche geholfen, ehe er selbst eingestiegen war. Der Stallbursche der Oakes’ war dabei, Marian dieselbe Höflichkeit zu erweisen, doch dann hatte Freddie sie zu Boden gestoßen, die Tür zugeschlagen und mit der Faust gegen das Kutschendach getrommelt, worauf sie sich umgehend in Bewegung gesetzt hatten und die Berkeley Street hinuntergerast waren.

Beinahe hätten sie einen Hund überfahren.

Marian war völlig außer sich gewesen, genau wie der Stallbursche der Oakes’. Er war in den Plan nicht eingeweiht und hatte eine fristlose Kündigung und die ewige Verdammnis befürchtet. Die Familien Oakes und Bridgerton wussten jedoch, wer für den Skandal verantwortlich war, und waren beide liberal genug, es nicht an ihren Dienstboten auszulassen.

Aber die restliche Gesellschaft … oho, die hatte einen Riesenspaß mit den Neuigkeiten. Und die allgemeine Meinung ging dahin, dass Georgiana Bridgerton bekommen hatte, was sie verdiente.

Hochnäsige alte Jungfer.

Hässliches Weib.

Sie sollte sich bei ihm bedanken. Ist ja nicht so, als hätte sie einen anderen Heiratsantrag in petto.

Natürlich traf das alles nicht zu. Sie war weder eine hochnäsige alte Jungfer noch ein hässliches Weib, und zufälligerweise hatte sie tatsächlich einen Heiratsantrag erhalten, doch da sie ihn nicht angenommen hatte, hatte sie beschlossen, Stillschweigen darüber zu wahren, um den Mann nicht in Verlegenheit zu bringen.

Sie war eben ein netter Mensch. Oder versuchte es zumindest zu sein.

Allerdings war sie wohl wirklich eine alte Jungfer. Georgie war sich nicht sicher, bei welchem Alter die Grenze zwischen »taufrisch« und »schon etwas in die Jahre gekommen« lag, aber mit sechsundzwanzig hatte sie sie vermutlich überschritten.

Aber sie hatte es aus freien Stücken getan. Sie hatte keine Londoner Saison gewollt. Sie war nicht schüchtern, nahm sie zumindest an, aber der Gedanke an all die Menschenmassen von früh bis spät erschöpfte sie. Was ihr die ältere Schwester von ihrem Aufenthalt in London erzählt hatte, war nicht dazu angetan, sie vom Gegenteil zu überzeugen. (Billie hatte buchstäblich jemanden in Brand gesteckt, wenn auch nicht absichtlich.)

Es stimmte, dass Billie danach den zukünftigen Earl of Manston geheiratet hatte, aber das hatte nichts mit ihrer katastrophalen, kurzen Saison zu tun. George Rokesby wohnte nur drei Meilen entfernt, und sie kannten sich schon ihr Leben lang. Wenn Billie einen Ehemann finden konnte, ohne den Süden Englands zu verlassen, dann würde Georgie das sicher auch können.

Es war nicht schwer gewesen, ihre Eltern dazu zu überreden, das traditionelle Debüt in London auszulassen. Georgie war als Kind kränklich gewesen, hatte ständig an Husten und Atemnot gelitten. Größtenteils war sie dem entwachsen, doch ihre Mutter machte noch immer großes Aufheben darum, was Georgie das eine oder andere Mal vielleicht ausgenutzt haben mochte. Und gelogen hatte sie ja nicht, die rußige, schmutzige Londoner Luft tat ihrer Lunge bestimmt nicht gut. Oder der Lunge anderer Leute.

Aber nun glaubte halb London, sie hätte auf die Saison verzichtet, weil sie sich darüber erhaben fühlte, und die andere Hälfte vermutete, sie hätte irgendeinen schlimmen Makel, den ihre Eltern vor der Gesellschaft zu verbergen trachteten.

Gott behüte, dass eine junge Dame beschloss, London zu meiden, weil sie nicht in London sein wollte.

»Ich denke schon kursiv«, sagte Georgie laut. Ganz gesund war das sicher nicht. Sie streckte sich zu ihren Füßen und nahm Blanche in die Arme. »Bin ich ruiniert?«, fragte sie die überwiegend schwarze Katze. »Natürlich bin ich das, aber was hat das zu bedeuten?«

Blanche zuckte mit den Schultern.

Vielleicht lag es auch nur an der Art, wie Georgie sie hielt. »Tut mir leid«, murmelte sie und setzte sie wieder ab. Doch sie übte etwas Druck auf den Rücken der Katze aus, damit die sich an sie kuschelte. Blanche befolgte den Hinweis, rollte sich zusammen und nahm schnurrend Georgies Streicheleinheiten entgegen.

Was sollte sie nur tun?

»Der Mann hat nie Schuld«, sagte sie laut.

Freddie Oakes hatte sich nicht in sein Schlafzimmer verkrochen, er brauchte nicht das Schluchzen der Mutter zu überhören, die ihrem Kummer über sein Unglück freien Lauf ließ.

»Wahrscheinlich feiern sie ihn in seinem Club. Erstklassige Aktion, alter Knabe«, stieß sie im übertriebenen Akzent der englischen Elite hervor. Sollte heißen, ihrem eigenen Akzent, aber es war leicht, ihn grotesk klingen zu lassen.

»Dich mit der kleinen Bridgerton davonzumachen«, äffte sie die Herren in ihrer Vorstellung weiter nach, »war sehr vorausschauend von dir. Das Mädel ist vierhunderttausend Pfund im Jahr wert, habe ich gehört.«

War sie nicht.

Also, vierhunderttausend Pfund im Jahr wert. Das war keiner. Doch die Übertreibung verstärkte die Wirkung ihrer Geschichte, und wenn irgendwer das Recht hatte, sie auszuschmücken, dann ja wohl sie.

»Hast du es mit ihr gemacht? Sie durchgenudelt? Es ihr besorgt?«

Lieber Gott, wenn ihre Mutter sie jetzt hören könnte.

Und was würde Freddie auf eine solche Frage wohl antworten? Würde er lügen? Spielte das überhaupt eine Rolle? Selbst wenn er sagte, dass sie nicht miteinander geschlafen hätten …

Und das hatten sie nicht. Georgie hatte es zuverlässig verhindert, indem sie ihm das Knie in die Weichteile stieß.

Doch selbst wenn er die Wahrheit sagte und zugab, dass sie nicht im selben Bett gelegen hatten, machte es keinen Unterschied. Sie hatte zehn Stunden lang allein mit ihm in der Kutsche gesessen, und dann weitere drei Stunden allein in einem Zimmer, bevor sie ihn entmannt hatte, metaphorisch gesprochen. Sie könnte die intakteste Jungfernschaft der Welt besitzen und würde immer noch als entjungfert gelten.

»Mein Hymen könnte drei Fuß dick sein, und trotzdem würde mich niemand für eine Jungfrau halten.«

Sie blickte zu ihren Katzen. »Stimmt’s, Mädels?«

Blanche leckte sich die Pfote.

Judyth ignorierte sie.

Und Katzenkopf … nun ja, Katzenkopf war ein Kater. Der alte orange getigerte Kater würde es ohnehin nicht verstehen.

Aber alle Entrüstung der Welt konnte Georgie nicht davon abhalten, im Geiste in die Londoner Clubs zurückzukehren, wo die zukünftigen Führer der Nation zweifellos immer noch über ihren Ruin tratschten.

Es war schrecklich, fürchterlich, und sie sagte sich auch dauernd, dass sie vielleicht gar nicht mehr über sie redeten, dass sie sich vielleicht den wirklich wichtigen Dingen zugewandt hatten, zum Beispiel der Revolution in Frankreich oder der Landwirtschaft im Norden. Sachen, um die sie sich wirklich kümmern sollten, da die Hälfte von ihnen irgendwann einen Sitz im Oberhaus bekleiden würde.

Aber das taten sie nicht, Georgie wusste, dass sie es nicht taten. Sie schrieben ihren Namen in dieses verdammte Wettbuch, wägten ab, wie hoch die Chancen standen, dass sie bis zum Ende des Monats Mrs. Oakes sein würde. Und sie kannte genug unreife junge Männer, um zu wissen, dass sie Spottverse über sie verfassten und sich dabei vor Lachen schier ausschütteten.

Georgiana in der Kutschen, lässt sich einen lutschen.

Gott, war das schlimm. Aber vermutlich zutreffend. Genau so etwas würden sie sagen.

Georgiana im Gasthof …

Auf Gasthof fiel ihr kein Reim ein. Vermutlich sollte sie dankbar dafür sein.

Jetzt muss sie dich heiraten, heiraten …

Georgie kniff die Augen zusammen. »Von wegen.«

»Georgiana?«

Georgie lauschte in Richtung Tür. Ihre Mutter kam den Flur entlang. Na wunderbar.

»Georgiana?«

»Ich bin in meinem Zimmer, Mama.«

»Nun, das weiß ich, aber …« Ihre Mutter klopfte.

Georgie fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie nicht mit dem erwarteten Herein reagieren würde.

Noch ein Klopfen. »Georgiana?«

Georgie seufzte. »Herein.«

So widerborstig war sie dann doch nicht. Vielleicht fehlte ihr auch einfach nur die Energie dazu.

Lady Bridgerton trat ein, schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Sie sah wunderschön aus, wie immer, das Blau ihrer Augen noch betont von dem kornblumenblauen Seidenschal, den sie sich um die Schultern gelegt hatte.

Georgie liebte ihre Mutter, wirklich, aber manchmal wünschte sie sich, sie wäre nicht ganz so mühelos elegant.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte ihre Mutter.

»Mit mir selbst.«

»Oh.« Anscheinend hatte ihre Mutter mit etwas anderem gerechnet, auch wenn Georgie sich wirklich nicht denken konnte, welche Antwort sie vorgezogen hätte – dass sie mit ihren Katzen ins Gespräch vertieft war?

Ihre Mutter rang sich ein Lächeln ab. »Wie fühlst du dich?«

Auf diese Frage wollte ihre Mutter sicher keine ehrliche Auskunft. »Ich weiß nicht recht, wie ich darauf antworten soll.«

»Natürlich.« Lady Bridgerton setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Georgie sah, dass ihre Augen ein wenig geschwollen waren. Sie schluckte. Fast ein Monat war vergangen, und ihre Mutter weinte immer noch jeden Tag.

Sie hasste es, dafür verantwortlich zu sein.

Es war nicht ihre Schuld, aber sie war dafür verantwortlich. Irgendwie. Sie hatte keine große Lust, das bis ins letzte Detail auszuarbeiten.

Georgie hob Judyth hoch und hielt sie ihrer Mutter entgegen. »Katze?«

Lady Bridgerton blinzelte und nahm sie dann entgegen. »Ja, bitte.«

Georgie streichelte Blanche, ihre Mutter streichelte Judyth. »Es hilft«, sagte Georgie.

Ihre Mutter nickte abwesend. »Stimmt.«

Georgie räusperte sich. »Wolltest du irgendetwas Bestimmtes?«

»Oh ja. Wir erwarten Gäste zum Dinner.«

Georgie unterdrückte ein Stöhnen. Gerade noch. »Wirklich?«

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