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Romantischer Sommer mit Susan Mallery (3in1)

DER FÜR-IMMER-MANN

Quinn glaubt nicht, dass es die richtige Frau für ihn gibt.
Doch bei einem Wettkampf begegnet er der Selbstverteidigungsexpertin D.J., die ihn buchstäblich aus den Socken haut. Zwischen ihnen sprühen vom ersten Augenblick an die Funken. Da passt es sehr gut, dass D.J. ihn als Ausbilder haben möchte. So kann er ihr körperlich umso näher kommen. Nachteil: Emotional beißt er bei D.J. auf Granit. Doch so leicht lässt sich ein Special-Forces- Mann nicht von seinem Ziel abbringen …

JENNISSIMO

Jenna fällt fast der Kochlöffel aus der Hand: Ein älteres Hippie-Pärchen betritt ihren Kochshop - und erklärt, sie sei ihre leibliche Tochter. Dass Jenna adoptiert ist, wusste sie. Kein Problem. Aber andere Eltern wollte sie eigentlich nicht. Auch wenn die beiden betagten Blumenkinder jetzt kunstvoll die Macht der Liebe beschwören. Aber damit nicht genug: Ein toller Typ schreibt sich in Jennas Kurs ein, der anscheinend mehr im Sinn hat, als nur in der Küche seinen Mann zu stehen: Er will mit Jenna flirten. Und das nach ihrer Scheidung, die sie viel Kraft und noch mehr Selbstbewusstsein gekostet hat! Eine neue Liebe? Die steht definitiv nicht auf Jennas Tageskarte! Sie ist kurz davor überzukochen...

SUPERMOM SCHLÄGT ZURÜCK

Es ist an der Zeit, dass Wunder geschehen!
Kerri Sullivans Leben ist nicht einfach, aber sie hat sich trotzdem ihren Humor bewahrt. Den braucht sie auch, denn nur so kann sie ihren Sohn Cody davon überzeugen, dass seine Mutter eine Superheldin ist - und er somit Supergene hat, die ihm helfen, seine schwere Krankheit zu bekämpfen. Im echten Leben hingegen braucht sie jemanden, der die Forschung nach einem Heilmittel unterstützt. Der reiche Unternehmer Nathan King scheint genau der Richtige dafür zu sein. Doch er weigert sich. Damit ist er bei Kerri aber gerade an die Richtige geraten. Denn wenn die alleinerziehende Mutter eines gelernt hat, dann niemals ein Nein zu akzeptieren.


  • Erscheinungstag: 18.06.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1008
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769215
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Mallery

Romantischer Sommer mit Susan Mallery (3in1)

Susan Mallery

Der Für-immer-Mann

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Maike Müller

 

 

 

MIRA® TASCHENBUCH

 

 

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Quinn’s Woman
Copyright © 2003 by Susan Macias Redmond
erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: cluckva, Jasmin Awad / Shutterstock;
cocoo, denira, daffodilred / Dollarphotoclub

ISBN eBook 978-3-95649-952-4

www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

„Bringen Sie ihn lebend zurück, okay?“, sagte Sheriff Travis Haynes und nickte dabei dem schmal gebauten Private zu, der neben dem provisorischen Podium wartete.

„Klar bring ich ihn lebend zurück“, erwiderte D. J. Monroe und nahm sich eins der Gewehre, die auf dem Tisch lagen. „Aber in welchem Zustand kann keiner wissen …“

Der schmalschultrige Private wurde blass, während die anderen Männer leise lachten und D. J. ihm die Waffe zuwarf. Sie schnappte sich ein weiteres Gewehr für sich selbst und machte sich ohne einen weiteren Kommentar auf den Weg. Sie wusste, dass der junge Mann, der in den nächsten vierzehn Stunden ihr Partner war, schnell merken würde, dass er aufpassen musste, um mithalten zu können.

Und tatsächlich hörte sie nach etwa dreißig Sekunden seine schnellen Schritte auf dem feuchten Boden.

„Wie heißt du?“, fragte sie, nachdem er sie eingeholt hatte.

„Private Ronnie West, Ma’am.“

Kurz musterte sie ihn. Er war groß – mit ungefähr eins neunzig um einiges größer als sie mit ihren eins fünfundsiebzig –, dünn und hatte kaum Bartwuchs. Sein Haarschopf war leuchtend rot.

„Bist du schon achtzehn, Ronnie?“

„Ja, Ma’am. Seit fast vier Monaten.“

„Ist es in Ordnung für dich, mit einer Frau in einem Team zu sein?“

„Auf jeden Fall, Ma’am.“ Er riss seine blassblauen Augen weit auf, während er sie anschaute. „Ich fühle mich geehrt. Mein Sergeant meinte, dass Sie zu den Besten gehören und dass ich verdammt froh sein könnte, dass ich Ihnen bei der Arbeit zusehen darf.“ Er zog den Kopf ein und errötete. „Verzeihung, dass ich geflucht habe, Ma’am.“

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Die jährlichen Planspiele, ein Wettkampf zwischen der Polizei, der Feuerwehr und den Rettungssanitätern von Glenwood, Kalifornien und dem ansässigen Militärstützpunkt, boten allen Betroffenen eine Gelegenheit zu üben, zu lernen und Spaß zu haben. Am Morgen hatten Hindernisläufe, Scharfschießen und taktische Planung auf dem Programm gestanden. Das alles hatte D. J. nicht interessiert, aber sie freute sich auf die Phase der Spiele, bei der es um Aufspüren und Gefangennahme ging.

Bis zum nächsten Morgen sechs Uhr sollten sie und ihr Partner bis zu fünf feindliche Gefangene herschaffen. Das waren noch ungefähr vierzehn Stunden. In den beiden letzten Jahren hatte sie diesen Teil gewonnen, und sie war stolz darauf. Die anderen Teilnehmer hatten nicht verstanden, warum sie immer solches Glück hatte, und neideten ihr den Erfolg. Vor allem weil sie sich immer einen relativ neuen Rekruten als Partner aussuchte.

„Ronnie, lass uns ein paar Grundregeln festlegen“, meinte sie. „Du kannst so viel fluchen, wie du willst, das kann mich überhaupt nicht schocken.“ Sie lächelte ihn an. „Einverstanden?“

„Ja, Ma’am.“

„Gut. Bei dieser Mission habe ich das Sagen. Du bist hier, um was zu lernen und um Befehle auszuführen. Wenn du mir in die Quere kommst, schneide ich dir ein Ohr ab. Oder was anderes, was noch mehr wehtut. Verstanden?“

Er schluckte und nickte dann.

„Zum Schluss das Wichtigste: Du bist gut fünfzehn Zentimeter größer als ich und wiegst ungefähr zwanzig Kilo mehr. Hast du irgendeinen Zweifel daran, dass ich dich hier und jetzt überwältigen könnte?“

Er musterte ihre Armeestiefel, die Hose und das Hemd in Tarnfarben, ihren ganzen Körper bis zu ihrem Gesicht. Schließlich nahm er Haltung an. „Nein, Ma’am“, antwortete er.

„Dann wäre das ja geklärt.“

Sie verschwand in dem Zelt, das ihrem Team als Hauptquartier diente, um ihren Rucksack zu holen. Ronnie hatte seine Ausrüstung bereits bei sich. Als sie wieder in den diesigen Nachmittag hinaustrat, zog sie ein Messer aus dem Rucksack und steckte es sich in den Stiefel.

„Überprüf deine Schusswaffen“, befahl sie.

Ronnie zog die Augenbrauen hoch. „Sie sind nicht geladen.“

„Überprüf sie trotzdem. Immer überprüfen.“

„Ja, Ma’am.“

Er gehorchte und vergewisserte sich, dass sowohl seine Handfeuerwaffe als auch sein Gewehr nicht geladen waren. Nachdem er fertig war, zog sie sich das Cap tiefer ins Gesicht und fragte sich, warum die Sonne eigentlich nicht schien. Zwar konnte man bei grauem Himmel und tief hängenden Wolken keine verräterischen Schatten entdecken, doch die kühle, klamme Witterung fiel ihr auf die Nerven. Es war immerhin Juli, könnte es da nicht ein bisschen wärmer sein?

Das nordkalifornische Wetter spielt ziemlich oft nicht mit, dachte sie, während sie in Richtung Wald aufbrachen. Ronnie marschierte hinter ihr und veranstaltete dabei so viel Lärm, dass man ihn kilometerweit hören konnte. Wenigstens war er keine Plaudertasche. Ihr Partner vom letzten Jahr hatte unaufhörlich geplappert, bis sie sich gezwungen sah, ihn von hinten zu packen und ihm damit zu drohen, ihm die Kehle aufzuschlitzen.

Zwei Stunden später befanden sie sich tief in „feindlichem“ Gebiet. Um zu verhindern, dass Ronnie ihre Position verriet, verlangsamte sie das Tempo. Inzwischen war ihr T-Shirt feucht und klebte auf ihrer Haut, was sie überhaupt nicht mochte. Von ihrem Hut tropfte Wasser. Das hier war einer dieser Tage, die man am besten mit einem guten Buch auf dem Sofa verbrachte und nicht damit, in abgelegenen Wäldern nach irgendwelchen Angebern zu suchen, die immer alles besser wussten. Trotzdem – die Planspiele halfen ihr dabei, hart zu bleiben. Denn in ihrem Leben ging es einzig darum, stärker zu sein als andere. Das Buch musste warten.

Sie spürte die Bewegung weiter oben mehr, als dass sie sie hörte. Sie blieb stehen, Ronnie ebenfalls. Nachdem sie ihm leise ihren Rucksack gereicht und ihm befohlen hatte zu warten, schlich sie um eine Baumgruppe herum, sodass sie auf der anderen Seite wieder auftauchte.

Auf einem Baumstamm saß ein Mann und studierte eine Landkarte. Sie erkannte ihn als den Rettungssanitäter Fern Hill. Er war Mitte dreißig, ganz gut in Form, allerdings keine große Herausforderung. Doch sie musste nehmen, was sie kriegen konnte.

Sie trat absichtlich auf einen heruntergefallenen Ast, sodass er durchbrach, und zog sich blitzschnell in den Schatten eines dicken Baumes zurück. Der Mann sprang auf und drehte sich in die Richtung um, aus der das Geräusch gekommen war. Sein Rucksack lag auf dem Boden, genau wie sein Gewehr. Allerdings trug er seine Handfeuerwaffe, doch sie bezweifelte, dass er damit umzugehen wusste.

Während der Mann auf die Stelle zuschritt, an der sie auf den Ast getreten war, umkreiste sie ihn und näherte sich ihm dann von hinten. Als sie keine dreißig Zentimeter mehr von ihm entfernt war, packte sie seinen Arm, drehte ihn herum und ließ ihr Bein nach vorne schnellen, um ihn zu Boden zu bringen. Er landete hart, und sie konnte hören, wie die Luft aus seiner Lunge wich.

Im nächsten Moment war sie auf ihm, warf seine Waffe ins Dickicht, drehte ihn um und band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie war schon fast mit seinen Fußfesseln fertig, bevor er mit einem tiefen Luftzug endlich wieder einatmete.

„Du kannst jetzt rauskommen!“, rief sie.

Ronnie erschien mit ihrem Rucksack in der Hand. Mit offenem Mund starrte er auf den gefesselten Mann.

„Das war großartig“, sagte er. „Total schnell und geschmeidig. Er hat sie überhaupt nicht kommen gehört.“

Der Rettungssanitäter sah alles andere als erfreut aus. „Und jetzt?“, fragte er.

D. J. lächelte. „Jetzt entspannst du dich, während wir weiter nach Beute suchen. Ich werde Ronnies Zeit nicht damit verschwenden, mit nur einem Kerl zurück zum Hauptquartier zu ziehen.“

„Vergiss es. Ihr könnt mich nicht einfach hier liegen lassen. Es regnet. Der Boden ist nass.“

D. J. zuckte mit den Schultern. „Wir sind im Krieg.“

Als sie gut fünfhundert Meter entfernt waren, schrie er immer noch. Am liebsten hätte sie ihm den Mund zugeklebt, doch das hätte gegen die Spielregeln verstoßen.

Schade.

Eine Stunde später trafen sie auf drei Männer, die rauchend beisammenstanden. Sie redeten und lachten und machten sich offenbar keine Sorgen darüber, dass irgendwer sie gefangen nehmen könnte.

D. J. analysierte die Situation, ehe sie Ronnie ein Stück weiter wegzog, um sich mit ihm zu besprechen.

„Wenn du gewinnen willst, musst du alles riskieren“, flüsterte sie und setzte ihren Rucksack ab. „Den Feind fangen, während er schutz- und arglos ist. Ich werde warten, während du dich positionierst. Geh nach Osten und lauf in einem Kreis um sie herum. Wenn ich auf die Lichtung trete, wirst du dich direkt vor mir und hinter ihnen befinden. Wenn sie abgelenkt sind, näherst du dich ihnen von hinten.“

Ronnie nickte, doch sie sah den Zweifel in seinen Augen. Er wollte wissen, wie sie es schaffen wollte, drei Männer gleichzeitig abzulenken. Sie lächelte. Es war so einfach.

Rasch zog sie sich ihr langärmliges Shirt aus. Darunter trug sie ein olivfarbenes Top, allerdings keinen BH. Ronnie starrte sie überrascht an und errötete, als sie seinen Blick mit einem Stirnrunzeln quittierte.

Er trat einen Schritt zurück und stammelte eine Entschuldigung. Während er sich noch fragte, ob sie ihm jetzt ein Ohr abschneiden würde … oder etwas anderes … schob sie das Top bis knapp unter ihre Brüste hoch, zwirbelte den Stoff zu einem Knoten zusammen und klappte ihn nach innen. Der Stoff lag nun eng an ihren Brüsten an, und ihre Taille war entblößt. Als Nächstes lockerte sie die Kordel in dem Taillen-Tunnelzug ihrer Hose und rollte diese bis zu den Hüftknochen runter. Die Handfeuerwaffe steckte sie sich hinten in die Hose. Zum Schluss warf sie das Cap auf den Boden und löste ihren Zopf. Danach beugte sie sich nach vorne und verwuschelte ihre gewellten Haare, sodass ihre Frisur sexy wirkte. Sie richtete sich auf und warf den Kopf in den Nacken, wobei ihre braunen Haare nur so flogen.

Ronnie klappte die Kinnlade herunter. „Sie sehen umwerfend aus“, brachte er hervor. Danach atmete er hastig ein und sagte schnell hinterher: „Tut mir leid, Ma’am. Ich wollte nicht …“

Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Schon gut. Nimm deine Position ein. Ich gebe dir zwei Minuten Vorsprung.“

Sie wartete die versprochene Zeit ab und lief dann auf die Männergruppe zu. Die drei standen immer noch herum, redeten und rauchten. Sie drückte die Brust nach vorne, schlenderte auf sie zu und versuchte, zugleich entspannt und verloren zu wirken.

„Ich habe total die Orientierung verloren“, sagte sie leise. „Könnte mir einer der Herren vielleicht helfen?“

Sie waren alle beim Militär – Offiziere und erfahrene Berufssoldaten, die auf alles vorbereitet waren, doch nicht auf eine spärlich bekleidete Frau mitten im Wald. Es war feucht und kalt, und so überraschte es sie nicht, dass die Blicke der Männer an ihrer Brust hängen blieben.

Der Älteste von ihnen trat auf sie zu. „Was ist denn das Problem, Ma’am?“

Sind das Idioten, dachte sie zufrieden. Ihre Gewehre lehnten an einem Baum, nur noch einen weiteren Schritt und die Waffen wären außer Reichweite.

D. J. ließ verführerisch eine Locke zwischen ihren Fingern hin und her gleiten. „Das ist so untypisch für mich“, meinte sie. „Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich weiß nicht mal mehr, zu welchem Team ich gehöre. Ich habe mich nur für die Spiele angemeldet, weil mein Freund mich darum gebeten hat, und dann hat der Mistkerl mich vor drei Tagen verlassen.“ Sie blinzelte, als müsste sie Tränen zurückhalten. „Mir ist kalt, ich bin müde und habe keine Ahnung, wo ich bin.“

Die Männer näherten sich ihr.

„Keine Bewegung! Hände hoch.“

Das musste sie Ronnie lassen: Seine Stimme klang überraschend kräftig, als er die Befehle gab. Die Männer drehten sich zu ihm um. Nachdem sie wieder sie anschauten, hielt sie ihre Handfeuerwaffe auf sie gerichtet.

Zwei der Offiziere fluchten, einer lachte. „Klasse Show“, sagte er.

„Vielen Dank.“

Innerhalb weniger Minuten waren alle drei gefesselt.

Man durfte maximal fünf Gegner fangen. Lieferte man vor Mitternacht bis zu vier Gefangene ab, gab es einen Bonus. Je eher man die „Feinde“ ins Camp zurückbrachte, desto größer der Bonus. D. J. hatte erwartet, dass sie und Ronnie mindestens bis neun oder zehn Uhr brauchen würden, ehe sie vier zusammenhatten, doch sie hatten Glück gehabt.

Nachdem die Männer gefesselt waren, rollte sie ihren Hosenbund wieder hoch und löste den Knoten in ihrem Top. Sowie sie ihre Ausrüstung eingesammelt hatte, streifte sie sich ihr Hemd über.

„Unseretwegen brauchst du dich nicht anzuziehen“, meinte einer der Offiziere grinsend. „Ein bisschen nackte Haut macht sich immer gut.“

„Sehr witzig“, erwiderte sie und wandte ihm den Rücken zu. Warum dachten Männer eigentlich immer, dass Frauen ihre Aufmerksamkeit wollten?

„Weißt du noch, wo der Typ vom Rettungsdienst ist?“, fragte sie Ronnie.

„Ja, Ma’am.“

„In Ordnung. Nimm die drei hier mit und sammle ihn unterwegs ein. Nachdem du sie im Hauptquartier abgeliefert hast, überzeugst du dich davon, dass sie uns unsere Bonuspunkte geben, und anschließend treffen wir uns wieder hier. Ich werde mich nicht weiter als sechshundert Meter von hier entfernen.“ Sie musste ein bisschen lachen, da ihr einfiel, wie laut er sich im Wald bewegte. „Ich bin mir sicher, dass ich dich hören werde.“

„Ja, Ma’am.“

D. J. beobachtete Ronnie dabei, wie er die Gefangenen abführte. Die Offiziere waren nur locker aneinandergefesselt. Die Spielregeln schrieben vor, dass sie auf dem Rückweg kooperieren mussten. Bis zu ihrer Festsetzung durften sie alles Mögliche anstellen, um zu entkommen, doch eben nur bis zum ersten Schritt zurück zum Camp. Dennoch hatte sie für den Fall der Fälle ihre Namen notiert.

Nachdem sie allein war, setzte D. J. sich auf einen gefällten Baumstamm und zog ihren Rucksack zu sich heran. Der Nebel lichtete sich allmählich. Endlich. Aber die Sonne würde bald untergehen, es würde also heute nicht mehr wärmer werden. Sie überlegte kurz, ob sie ein Feuer anzünden sollte, doch das würde ihre Position verraten, und das ging auf gar keinen Fall.

Wenn ihr niemand zu nahe kam, konnte sie genau hier auf Ronnie warten. Aber falls sie sich verstecken musste, hatte er nicht allzu gute Chancen, sie zu finden. Für den Weg zum Camp und zurück brauchte er ungefähr zwei Stunden, wenn es ihm gelang, auf dem Rückweg einen der Jeeps anzuhalten, die um den Wald herumfuhren. Sollte er es in der von ihr vorgesehenen Zeit nicht schaffen, würde sie allein losziehen, um einen weiteren Gefangenen zu machen, und bis Mitternacht ins Camp zurückkehren.

Als die ersten fünfundvierzig Minuten verstrichen waren, hörte D. J. etwas. Keine Schritte oder Bewegungen im Unterholz. Sie konnte das Geräusch nicht richtig einordnen, aber es bewirkte, dass sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten und ihre Sinne sich schärften.

Da draußen war jemand.

Geräuschlos glitt sie vom Baumstamm in den schattigen Schutz eines Baumes. Nachdem sie ihren Rucksack unter ein paar Blättern versteckt hatte, vergewisserte sie sich, dass sie ihre Waffe bei sich hatte, ehe sie sich daranmachte herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatte.

Sie lief zuerst nach Osten und dann nach Süden, damit sie hinter ihm herauskam. Dabei verließ sie sich voll und ganz auf ihren Instinkt. Obwohl sie immer noch nichts Eindeutiges hörte, wusste sie, dass da jemand war.

Sie konnte weder verbogene Zweige entdecken, die ihr eine Richtung wiesen, noch Fußspuren oder aufgeschreckte Vögel oder Eichhörnchen. Ein paarmal war sie fast sicher, dass sie sich dieses Beinahegeräusch nur eingebildet hatte, und begann, zu ihrem Rucksack zurückzulaufen. Dann aber durchfuhr sie ein Schauer, als hätte jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel gekratzt, und sie war sich sicher, dass da draußen noch jemand war.

Sie brauchte dreißig Minuten für die Umrundung. Als sie nicht mehr weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt ankam, musste sie angewidert feststellen, dass ihr Gegner gerade dabei war, ihren Rucksack aus dem Versteck zu zerren. Er war direkt darauf zumarschiert, als hätte er von Anfang an gewusst, dass er dort lag. Wie hatte er das gemacht?

D. J. verwarf die Frage. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass der Mann ein violettes Armband trug und kein orangefarbenes wie sie, erkannte sie, dass er Freiwild war. Während er sich über ihre Sachen beugte und offensichtlich abgelenkt war, näherte sie sich für den Angriff.

Sie war keine dreißig Zentimeter mehr von ihm entfernt, als sie ihm den Lauf des Gewehrs in den Rücken drückte.

„Peng, Sie sind tot“, flüsterte sie. „Jetzt ganz langsam aufstehen.“

Der Mann schloss ruhig ihren Rucksack und hob die Hände in die Luft. „Ich habe Sie da draußen herumlärmen gehört. Was haben Sie getan? Mit ein paar Hasen Völkerball gespielt?“

Ihr gefiel weder die Frage noch der selbstgefällige Unterton in seiner Stimme. Zum einen wusste sie genau, dass sie leise gewesen war. Zum anderen war sie diejenige mit dem Gewehr in der Hand.

„Hände oben lassen“, befahl sie, während sie sich so weit von ihm entfernte, dass er ihr Gewehr nicht greifen konnte.

Wie er mit dem Rücken zu ihr dastand, versuchte sie, die Situation einzuschätzen. Der Mann war groß, etwa eins neunzig, und ziemlich muskulös. Seine gute Tarnung verriet ihr, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Teilnehmern kein Amateur war. Nichts an ihm kam ihr bekannt vor, was bedeutete, dass er vermutlich zum Militär gehörte. Zu den Spezialkräften? Hatten sie einen ihrer Männer in den Wettkampf geschickt?

Warum konnte sie seine Handfeuerwaffe nicht sehen? Sein Gewehr lag auf dem Boden neben seinem Rucksack, aber wo war seine Pistole?

„Wie lange wollen Sie noch so dastehen?“, fragte er im Plauderton. „Oder haben Sie vergessen, wie es weitergeht? Sie müssen mich auffordern, mich umzudrehen, und dann mustern wir uns von oben bis unten. Sobald Sie mir mit Ihrem Gewehr Angst eingejagt haben, fesseln Sie mich. Können Sie sich das merken, oder sollen wir es Schritt für Schritt tun?“

„Geht’s noch?“, fuhr sie ihn an. So ein arroganter Arsch – offensichtlich war er der Meinung, dass er leicht mit ihr fertigwerden konnte, nur weil sie eine Frau war. Am liebsten hätte sie ihm für seine herablassende Art in den Hintern getreten, aber sie würde auf keinen Fall einen Kampf beginnen, den sie möglicherweise nicht gewinnen konnte.

„Ich habe überhaupt kein Interesse daran, Sie zu mustern“, sagte sie. „Legen Sie die Hände auf Ihren Kopf und knien Sie sich hin.“

„Aber ich bin doch gerade erst aufgestanden“, protestierte er und klang dabei wie ein verzogenes Kind, das man aufgefordert hatte, sein Gemüse zu essen. „Warum überlegen Sie sich nicht zuerst, was Sie wollen, bevor Sie mich unnötig herumscheuchen?“

Sie knirschte mit den Zähnen. „Hören Sie mal, Sie …“

Er bewegte sich so schnell wie ein Gepard, der sich auf seine Beute stürzte, als er herumwirbelte und mit dem Fuß so kräftig gegen das Gewehr trat, dass sie die Waffe loslassen musste. Schmerz durchzuckte ihren Arm, das Gewehr landete krachend auf den Boden.

D. J. hatte kaum Zeit, die Situation zu erfassen, aber sie wusste, dass sie im Kampf mit dem verletzten Arm deutlich im Nachteil war. Doch es kam zu keinem Kampf. Ihr Gegner hatte wie aus dem Nichts seine Handfeuerwaffe gezogen und zielte damit auf ihren Kopf.

Von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an hatte sie erkannt, dass er gut war. Inzwischen war ihr klar, dass er tödlich schnelle Reflexe hatte. Er war groß, hatte dunkle Augen, und sein Lächeln wollte gar nicht recht passen zu dem kalten Eisending in seiner Hand. Er war wirklich sehr gut. Das musste sie ihm lassen. Doch war er gut genug? Er hatte gegen das Gewehr getreten und nicht gegen ihren Arm. Hatte seine Mutter ihm beigebracht, dass man keine Mädchen schlug?

Getreu ihrer Philosophie, jede verfügbare Waffe einzusetzen, beschloss sie, es herauszufinden.

Sie achtete nicht auf die Pistole und zog ihren pochenden Arm zu sich heran. Mit der freien Hand hielt sie das Handgelenk fest und zwang sich, leise zu wimmern.

Gewinnen um jeden Preis, sagte sie sich im Stillen. Sie hasste nichts so sehr, wie Schwäche zu zeigen.

Zwar hielt der Mann die Waffe weiterhin fest in der Hand, aber er machte einen halben Schritt nach vorn. „Was ist? Ich habe das Gewehr getroffen und nicht Sie.“

Wütend funkelte sie ihn an. „Vielleicht haben Sie darauf gezielt, doch Sie haben nicht getroffen.“ Sie atmete scharf ein und biss sich auf die Unterlippe. „Ich glaube, mein Handgelenk ist gebrochen.“

Er runzelte die Stirn. „Ich habe Ihr Handgelenk gar nicht berührt.“

Erneut schaute sie ihn an. „Genau. Weil Sie mit diesen Stiefeln ja auch genau spüren, womit Sie in Kontakt kommen. Mein Fehler.“

In Gedanken drückte sie sich die Daumen, und als er nach unten auf seine Stiefel blickte, hätte sie vor Freude fast gejubelt. Eine Nanosekunde Unaufmerksamkeit war alles, was sie benötigte.

D. J. schlug mit ihrem Fuß aus und traf ihr Gegenüber in der Magengrube. Doch selbst als die gesamte Luft aus seiner Lunge entwich, griff er noch nach ihrem Bein. Sie hatte allerdings diese Reaktion vorausgeahnt und sich bereits weggedreht.

Die Pistole verschwand genauso schnell, wie sie aufgetaucht war. Der Luftmangel hatte ihn sicher geschwächt, doch er bewegte sich dennoch auf sie zu. D. J. bereitete sich auf seinen Angriff vor, aber der passierte dann so schnell, dass sie die Bewegung kaum sah. Und im nächsten Moment stürzte sie auch schon auf den nassen Boden.

Ein Teil ihres Gehirns versuchte zu verstehen, was genau er getan hatte, während der Rest begriff, dass er sich offenbar noch zurückgehalten hatte – denn sie verspürte keinerlei Schmerzen. Er hatte sie kräftig genug angegriffen, um sie zu Fall zu bringen, jedoch nicht so kräftig, als dass er ihr wehgetan hätte. Wie konnte er nur so viel Kontrolle haben?

Sie hätte sich gern darüber empört, dass er sie anders behandelt hatte, nur weil sie eine Frau war, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, wieder auf die Füße zu kommen und herauszufinden, was er als Nächstes plante.

So schnell sie konnte, ordnete D. J. ihre Gedanken. Sie wusste, dass sie angreifen musste, statt darauf zu warten, besiegt zu werden. Also holte sie tief Luft, um sich zu sammeln und bewegte sich auf ihn zu. Als er mit dem Arm ausholte, duckte sie sich und drehte sich, doch statt ihm wie geplant gegen das Knie zu treten, rutschte sie auf den nassen Blättern aus. Irgendetwas blinkte, und sie streckte instinktiv die Hand aus. Sie kriegte seine Pistole zu fassen. Er schlug ihr mit der Hand auf den Unterarm, und die Waffe fiel herunter. Sie schaffte es, mit einem Fuß dagegenzutreten, sodass sie wieder in die Luft flog. Mit einer grazilen Pirouette fing sie sie auf und drehte sich langsam zu ihm um. Er duckte sich, sie rutschte abermals aus und fiel. Ihre rechte Hand schoss nach vorn, und sie traf ihn versehentlich mit der Waffe am Hinterkopf. Er plumpste wie ein Stein zu Boden.

Ihr erster Gedanke war, dass er tot war. Dann sah sie, dass sich sein Brustkorb regelmäßig hob und senkte. Ihr zweiter Gedanke war, dass sie ihn fesseln musste, solange er bewusstlos war, weil es ihr mit Sicherheit nicht gelingen würde, wenn er erst wieder wach war.

2. Kapitel

Als Quinn das Bewusstsein wiedererlangte, lag er mit auf dem Rücken gefesselten Händen im Matsch. In Gedanken fluchte er angewidert. Seine Gegnerin hatte ihn bezwungen – nicht weil sie besser trainiert oder kräftiger war, sondern weil sie einfach nur Glück gehabt hatte. Lief es so nicht immer?

Schlimmer noch: Die Frau hatte ihn gefesselt, während er bewusstlos gewesen war – anders hätte sie ihn auch nicht unter Kontrolle bringen können. Sie hatte beherzt und entschlossen gehandelt, das musste er ihr zugestehen, aber der Treffer gegen seinen Kopf war eher Zufall gewesen.

Und was jetzt? Am besten tat er noch eine Weile so, als wäre er bewusstlos. Zumindest so lange, bis die Frau, die ihn gefesselt hatte, sich Sorgen um seine Verfassung machen würde. Doch bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, spürte er mit Interesse eine Hand an seinem Knöchel. Von dieser Show wollte er keinen einzigen Teil verpassen, also öffnete er doch die Augen.

Die Sonne war inzwischen untergegangen, aber sie hatte eine kleine batteriebetriebene Lampe auf den Boden gestellt, die ausreichend Licht spendete. Er war sich nicht sicher, warum sie es riskierte, Licht zu machen, aber es gefiel ihm, dass er sehen konnte, was sie tat.

Die Frau hockte sich neben ihn. Sie tastete die Innenseite seines linken Knöchels ab und zog das Messer heraus, das er in seinen Stiefel geschoben hatte. Er drehte den Kopf und sah, dass sie das andere Messer, das er sich in den Ausrüstungsgürtel gesteckt hatte, schon herausgenommen hatte.

Dann fuhr sie mit der Hand an der Innenseite seines Beins bis zum Knie hinauf und dann an der Außenseite wieder hinunter zu seinem Stiefel. Nachdem sie das Gleiche am anderen Bein wiederholt hatte, bewegte sie sich in der Hocke ein Stückchen zur Seite und drückte die Handfläche auf seinen Oberschenkel. Als sie fast bei seinem besten Stück angelangt war, grinste er.

„Ein bisschen weiter nach links“, sagte er.

Sie sah auf. Bei ihrem Kampf hatte sie irgendwann den Hut verloren. Er nahm lange dunkle, zu einem Zopf zurückgebundene Haare wahr sowie braune Augen, einen wohlgeformten Mund und Sommersprossen auf leicht gebräunter Haut. Hübsch, dachte er abwesend. Nein, mehr als hübsch. Sie war zugleich elegant und taff. Eine faszinierende Kombination.

Eine ihrer wohlgeformten Augenbrauen bewegte sich nach oben. „Ein bisschen weiter nach links?“, wiederholte sie, ließ die Hand dann zu seiner Lende gleiten und tätschelte ihn. „Ich weiß, dass die meisten Männer ihre private Ausrüstung gern als Waffe betrachten, aber für mich ist das nicht besonders interessant.“

Leise lachte er. „Das sagen Sie jetzt, wo ich gefesselt und Ihrer Gnade ausgeliefert bin.“

„M-hm. Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich werde unter gar keinen Umständen meine Meinung ändern.“

Sie stand auf, machte einen Schritt über ihn hinweg auf seine andere Körperseite und hockte sich wieder hin. Jetzt fuhr sie mit den Händen an seinem anderen Oberschenkel entlang. Von dort aus tastete sie sich zu seinem Magen vor und weiter bis zu seiner Brust.

Er mochte es, wie sich ihre Hände auf seinem Körper anfühlten. Ihre Bewegungen waren schnell genug, um zu demonstrieren, dass sie wirklich nicht interessiert war, aber gewissenhaft genug, um versteckte Waffen zu finden. Zumindest dachte sie das.

Nachdem sie seine Jackentaschen durchsucht und auch den Saum und das Innenfutter kontrolliert hatte, setzte sie sich auf die Fersen. „Anscheinend sind Sie entwaffnet.“

„Wollen Sie mir nicht das Hemd ausziehen?“, fragte er. „Ich könnte mir was auf die Haut geklebt haben.“

„Wenn dem so sein sollte, kommen Sie in nächster Zeit wohl kaum dran, oder?“ Sie tippte auf seinen Oberarm. „Meine Knoten sind echt fies.“

Das hatte er auch schon herausgefunden. Das Zerren an den Stricken hatte sie kein bisschen gelockert. Er musste eine andere Fluchtmöglichkeit finden. Auch wenn er im Augenblick gar nicht woandershin wollte, denn sie war das Unterhaltsamste, was er seit Monaten erlebt hatte.

Er ließ den Blick über ihren Oberkörper schweifen und verharrte lange genug an ihren Brüsten, dass sie es bemerkte. Dann verlagerte er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, und ihre Lippen waren ganz schmal geworden, aber sie beschwerte sich nicht. Irgendwo auf dem Weg hatte sie die Regeln gelernt – wenn sie in einer Männerwelt mitspielen wollte, musste sie auch nach Männerregeln spielen. Doch das bedeutete nicht, dass sie verpflichtet war, diese Regeln zu mögen.

In einem kleinen Willenskampf starrten sie einander an. Quinn wusste, dass er sie irgendwann mürbe machen konnte, aber er entschied sich für etwas Interessanteres. Eine Herausforderung.

„Sie haben geschummelt“, sagte er leise.

Er wartete auf ein Blinzeln, ein Erröten, ein Schuldeingeständnis. Stattdessen zuckte sie nur mit den Schultern. „Ich habe gewonnen.“

„Sie haben mich zufällig erwischt und das ausgenutzt.“

„Da stimmt.“ Sie veränderte ihre Position, bis sie neben ihm saß. „Hätten Sie irgendwas anders gemacht?“

Ohne ihren Zufallstreffer hätte er auf jeden Fall gewonnen, aber es gab keinen Grund, ihr das zu sagen. Sie wusste es bereits.

„Außerdem“, fuhr sie fort, „war das meine einzige Chance, Sie zu fesseln. Das hätten Sie sonst niemals zugelassen.“

„Guter Punkt.“

„Also, wer sind Sie?“

„Ihr Kriegsgefangener. Haben Sie vor, mich zu misshandeln?“

Ihr Mundwinkel zuckte. „Sparen Sie sich den hoffnungsvollen Tonfall. Sie sind bei mir in Sicherheit.“

„So ein Pech.“

Fast hätte sie gelächelt, aber es gelang ihr, die Kontrolle zu behalten. Als ihr Gesichtsausdruck wieder ernst war, sagte sie: „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich weiß.“

Sie wollte wissen, wer er war, und er würde es ihr sagen … später. Im Augenblick hatte er einfach nur Spaß, trotz des kühlen Abends und des feuchten Matsches. Er hatte gedacht, die Planspiele würden langweilig werden und keinerlei Herausforderung bieten. Er hatte sich geirrt.

Sie zog ein Knie an die Brust und lehnte sich zu ihm hinüber. „Wenn Sie mir Ihren Namen nicht verraten wollen, dann sagen Sie mir wenigstens, warum Sie nach unten geguckt haben. Sie sind ein guter Kämpfer. Sie hätten wissen müssen, dass es ein Fehler war.“

Ein guter Kämpfer? Jetzt war es an ihm, ein Lächeln zu unterdrücken. Das war eine schamlose Untertreibung. Sie hatte gegen ihn keine Chance gehabt, und er ging davon aus, dass sie das auch genau wusste.

Sie schob ihr Kinn auf eine Art nach vorn, die puren Stolz signalisierte. Wer war sie? Militär?

„Ich wusste, dass Sie mich reinlegen würden, und wollte sehen, was Sie vorhaben“, sagte er.

Sie erstarrte. „Sie haben mich auf die Probe gestellt?“

„Ich würde eher sagen: mit Ihnen gespielt.“

Einen Moment lang klang es, als würde sie fauchen. Ihre dunklen Augen wurden wieder zu schmalen Schlitzen, und er hatte das Gefühl, dass sie ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.

„Quinn Reynolds“, sagte er, um sie abzulenken. „Und nachdem Sie mich schon überall befummelt haben, könnten wir uns doch einfach duzen.“

Sie ignorierte den Köder. „Sie verraten mir also nichts, wenn ich danach frage, sondern geben die Informationen nach Ihren Bedingungen preis?“

„So was in der Art.“ Da er davon ausging, dass sie ihm ihren Namen nicht verraten würde, wechselte er das Thema. „Wo ist dein Partner?“

„Er wird jeden Moment zurück sein, und dann bringen wir Sie zum Hauptquartier. Unsere ersten vier Gefangenen hat er schon abgeliefert. Wo ist Ihr Partner?“

„Ich bin so spät angekommen, dass man mir niemanden mehr zuweisen konnte. Außerdem arbeite ich lieber allein.“

„Natürlich tun Sie das.“ Sie klang leicht amüsiert. „Da seid ihr paramilitärischen Machotypen doch alle gleich.“

„Das ist mehr als nur ein bisschen wertend.“

„Es ist treffend.“

Dem hatte Quinn nichts entgegenzusetzen. Stattdessen blickte er in den dunklen Himmel. „Es wird gleich wieder anfangen zu regnen. Wenn du mich nicht bald zum Hauptquartier zurückbringen willst, könntest du mich wenigstens irgendwohin zerren, wo ich geschützter bin.“

Sie sah ebenfalls zum Himmel, konnte in der Dunkelheit aber nicht viel erkennen. Er rechnete schon damit, dass sie ihn im Matsch liegen lassen würde, da holte sie überraschenderweise eine Plane aus ihrem Rucksack und breitete sie unter einem in der Nähe stehenden Baum aus. Dann packte sie ihn unter den Armen und zog ihn auf die Plane.

Ihre Kraft beeindruckte ihn, während ihr verärgerter Gesichtsausdruck ihn amüsierte. Worüber regte sie sich so auf? Dass ihr Partner noch nicht zurück war? Dass sie beide wussten, dass er besser als sie und vermutlich nur so lange ihr Gefangener war, wie es ihm gefiel?

„Und wohin gehörst du?“, fragte er. „Nicht zum Militär.“

Sie saß mit verschränkten Beinen am Rand der Plane. „Wie können Sie sich so sicher sein?“

„Irre ich mich?“

Sie schüttelte den Kopf.

In genau diesem Augenblick öffnete der Himmel seine Schleusen. Regen fiel schwer auf den Boden. Innerhalb weniger Sekunden bildete sich an der Stelle, wo er gelegen hatte, eine Pfütze. Er zog die Knie an die Brust, um seine Füße vor dem Regenguss zu schützen.

Wütend sah sie ihn an, und er konnte ihre Gedanken geradezu hören. Woher hatte er gewusst, dass es regnen würde? Wer ist der Kerl? Allerdings nahm er an, dass sie in ihrem Kopf wahrscheinlich nicht das Wort Kerl benutzte. Sie hatte sich ohne Zweifel etwas Netteres ausgesucht.

„Wenn du mir deinen Namen nicht verraten willst“, sagte er, „kann ich versuchen, ihn zu erraten.“

Sie richtete die Lampe und ignorierte ihn.

„Brenda“, begann er.

Sie blinzelte nicht.

„Bambi? Heather? Chloe? Annie? Sarah? Destiny? Chastity?“

Sie seufzte. „D. J.“

Er wollte wissen, wofür die Initialen standen, fragte aber nicht, weil sie genau damit rechnete. Stattdessen sagte er: „Ich würde dir ja gern die Hand schütteln, aber ich bin im Augenblick gefesselt.“

Sie lächelte. „Das sehe ich.“

Hey – eine Spur von Humor. Das gefiel ihm. Eine raue, taffe Frau in einer äußerst weiblichen Verpackung. Wenn er sie dazu kriegen könnte, ihn noch mal gründlich abzusuchen – sein Abend wäre perfekt.

D. J. sah auf die Uhr. Seit Ronnies Aufbruch waren fast vier Stunden vergangen. Entweder hatte er sich verlaufen, oder jemand hatte ihn gefangen. Wäre er in der Nähe gewesen, hätte sie auf jeden Fall gehört, wie er sich durchs Dickicht schlug. Die Stille verriet ihr, dass sie mit ihrem Gefangenen ganz allein war.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Quinn. Für einen Mann, der seit Stunden gefesselt auf dem Boden saß, wirkte er überraschend entspannt. Der Regen hatte aufgehört, aber es war immer noch kühl und feucht. Sie zitterte leicht. Sie hätte nichts lieber getan, als zum Camp zurückzugehen. Es gab nur eine Sache, die sie daran hinderte … eine sehr große, sehr starke, sehr männliche Sache.

„Die Regeln legen fest, dass ein Gefangener alles versuchen darf, um zu entkommen“, sagte sie. „Aber sobald man zum Hauptquartier aufbricht, muss er ruhig mitgehen.“

Quinn nickte. „Das habe ich auch gehört.“

„Und?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich war noch nie der Typ, der sich an Regeln hält.“

Genau das hatte sie befürchtet. Mit Ronnies Hilfe hätte sie zumindest versuchen können, Quinn unter Kontrolle zu halten. Aber solange sie auf sich allein gestellt war, würde er entkommen. Sie gab es zwar nicht gern zu, aber es war die Wahrheit. Er war zu gut.

Sie musterte seinen kräftigen Körper und fragte sich, wer und was er war. Wie viel konnte er, was sie nicht konnte? Wo hatte er es gelernt? Sie war noch nie jemandem wie ihm begegnet und hätte ihm gern Tausende von Fragen gestellt. Aber Interesse zu zeigen würde bedeuten, sich in die Karten schauen zu lassen – und sie hatte gelernt, dass sie das niemals tun durfte.

„Wenn du nicht kooperierst, sitzen wir bis morgen früh hier fest“, sagte sie. „Bis uns die Patrouille einsammelt.“

„Von mir aus – dann muss ich keinen Mitternachtsmarsch machen, und du kriegst Punkte für meine Gefangennahme.“

Sie traute diesem einfachen Abkommen nicht. Er gehörte zu der Sorte Mann, der immer einen Plan hatte. Trotzdem – er hatte noch keinerlei Anstalten gemacht zu fliehen … jedenfalls bisher noch nicht.

Er veränderte seine Position, sodass er sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm lehnte und mehr saß als lag. Dann zeigte er mit dem Kinn zu ihrem Rucksack.

„Wenn wir hier über Nacht festsitzen, wie wär’s dann mit etwas zu essen?“

Bei seinen Worten knurrte ihr Magen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Eine Flut von Anrufen hatte sie vom Mittagessen abgehalten, bevor sie zu den Planspielen aufgebrochen war, die am Nachmittag begonnen hatten.

Sie griff nach ihrem Rucksack und hielt dann inne. „Wo ist deine Ausrüstung?“, fragte sie.

„Versteckt.“

Ihre war auch versteckt gewesen, bis er sie gefunden hatte. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, seinen Rucksack aufzuspüren, beschloss dann aber, dass es die Sache angesichts der kalten, regnerischen Nacht nicht wert war. Was sie dabeihatte, würde für beide reichen.

Sie kramte vier Müsliriegel hervor, zwei Schokoriegel, einen Apfel und noch eine Flasche Wasser.

„Kein Fast Food?“, fragte er. „Ich habe einen Riesenappetit auf Pommes.“

„Tut mir leid, stehen leider nicht auf der Gefängnisspeisekarte“, erwiderte sie, während sie die verpackten Snacks auf zwei gleich große Haufen verteilte.

Er sah sich das Essen an und zuckte mit den Schultern. „Besser als ein MRE.“

Ein Meal ready to eat. Eine Mahlzeit für Soldaten, die ins Gefecht mitgenommen werden kann. Sie hatte schon mehrere probiert, und obwohl sie nicht so schlecht waren wie ihr Ruf, aß sie lieber das, was sie in ihrem Rucksack hatte.

„Dann bist du vom Militär?“, fragte sie.

„Gewissermaßen.“

„Spezialkräfte?“

„So was in der Art.“

Sie war sich nicht sicher, ob er so wortkarg war, um sie zu ärgern, oder weil er nicht darüber sprechen durfte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.

Sie goss etwas Wasser aus der neuen Flasche in die Flasche, aus der sie getrunken hatte. Als in beiden die gleiche Menge war, stellte sie eine neben Quinn auf den Boden. Er drehte sich halb von ihr weg, sodass sie seine gefesselten Handgelenke sehen konnte.

„Machst du mich los, damit ich essen kann?“, fragte er.

Leise lachte sie. „Das hättest du wohl gern.“

Er rollte zurück in eine Sitzposition. „Dann wirst du mich wohl füttern müssen.“

Die Aussicht schien ihn nicht besonders zu stören. Sie konnte sogar Belustigung in seinen dunklen Augen sehen. Doch das ignorierte sie genauso wie den neckenden Unterton in seiner Stimme. Wenn er dachte, ihn zu füttern würde sie nervös machen, hatte er sich gehörig geschnitten.

„Ich habe dich noch nie in der Stadt gesehen“, sagte sie, während sie den ersten Müsliriegel auspackte. „Du bist nicht hier stationiert, oder?“

„Nein. Ich bin vorgestern eingeflogen und heute Morgen nach Glenwood gekommen. Ich bin hier, um mich mit meinem Bruder zu treffen.“

Sie brach den Müsliriegel in kleine Stücke und hielt ihm das erste hin. Da er keine Anstalten machte, sich nach vorn zu beugen, musste sie den Arm quer über seinen Körper ausstrecken. Erst als ihre Finger praktisch seinen Mund berührten, machte er endlich den Mund auf und biss in den Riegel.

Er zwinkerte. „Das Ambiente ist noch verbesserungswürdig, aber über den Service kann ich mich nicht beklagen.“

Sie ignorierte ihn. „Von wo bist du hergeflogen?“

„Aus dem Nahen Osten.“

Die Art, wie er ihr antwortete, machte klar, dass sie vermutlich keine weiteren Informationen von ihm bekommen würde. Sie wartete, bis er fertig gekaut hatte, ehe sie ihm das nächste Stück hinhielt.

„Was ist mit dir?“, fragte er, als er mit dem Kauen fertig war. „Lebst du in Glenwood?“

„Ja.“

„Was machst du?“

Sie zögerte, weil sie ungern persönliche Informationen preisgab. Quinn wartete mit interessiertem Gesichtsausdruck und entspannter Körpersprache. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und warf ihm die nackten Fakten hin.

„Ich arbeite als Beraterin“, sagte sie. „Ich unterrichte Schulklassen und bringe den Kindern bei, wie sie sich schützen können. Ich bringe Frauen die Grundlagen der Selbstverteidigung bei. Außerdem stehe ich für diverse Organisationen auf Staats- und Landesebene auf Abruf bereit, genau wie für einige Privatgesellschaften. Sie fordern mich an, wenn Kinder aus gefährlichen Situationen herausgeholt werden müssen.“

„Kindesmitnahme?“

„Manchmal.“ Kindesmitnahme bedeutete die Entführung des eigenen Kindes durch den nicht sorgeberechtigten Elternteil. „Manchmal geht es auch um Entführung, weil Geld erpresst werden soll oder weil jemand Rache üben will.“

Ihr wurde bewusst, dass sie versuchte, Quinn zu beeindrucken, und hörte sofort auf zu reden. Sei kein Idiot, ermahnte sie sich. Was interessierte es sie, was dieser Kerl von ihr dachte?

Sie gab ihm das letzte Stück vom Müsliriegel und packte dann einen für sich selbst aus.

„Gibt es auch einen Mister D. J.?“, fragte er.

„Nein.“

„Einfach nur nein?“ Quinn zog die Augenbrauen hoch. „Dann vielleicht einen Exmister D. J.?“

„Ganz kalt.“

„Warum nicht? So eine hübsche Frau wie du sollte verheiratet sein.“

Sie lachte. „Du klingst wie eine italienische Großmutter. Ich habe kein Interesse daran zu heiraten. Die Ehe ist eine Institution, die von Männern erfunden wurde, damit ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Sie bekommen eine Vollzeithaushälterin, die im gleichen Haus lebt, und wenn sie Kinder haben, auch noch ein Kindermädchen. Nicht nur, dass sie nichts dafür bezahlen müssen – die meisten Ehefrauen machen das neben ihrem Job alles ehrenamtlich. Für Männer ist die Ehe eine tolle Sache, aber welchen Vorteil ziehen die Frauen daraus?“

„Sicherheit. Schutz.“

„Genau. Erzähl das mal den Frauen im örtlichen Frauenhaus. Denen, die von ihren liebenden Ehemännern verprügelt wurden.“

„Du hast die ganze Sache offenbar von vorne bis hinten durchdacht“, sagte er.

„Hat nicht lange gedauert.“

Sie aß ihren Müsliriegel auf und öffnete den zweiten für ihn.

„Dann hältst du deine Männer also an der kurzen Leine?“ Sie beugte sich zu ihm hinüber. „Ich halte sie in einem Käfig.“

Sie hatte damit gerechnet, dass er sich von ihrer Meinung und Unverblümtheit auf den Schlips getreten fühlte, doch stattdessen lachte er. Ihr Unterarm streifte seine Brust, und sie spürte, wie sein Körper von seiner Belustigung erschüttert wurde.

Er schaute ihr tief in die Augen. „Rennen sie alle verängstigt vor dir weg, oder gibt es auch ein paar, die mutig genug sind, sich gegen dich zur Wehr zu setzen?“

„Die meisten machen schnell einen Abflug. Sie wollen weiche, sanfte, treuherzige Frauen.“

„Du kannst weich sein.“

„Stimmt. So bin ich. Eine zarte Blume.“

„Du bist trotzdem eine Frau, D. J. Daran ändern auch Kampfstiefel und ein paar schicke Moves nichts.“

Sie sah sich selbst als kompetent und unabhängig. Weich sein implizierte Schwäche, und schwach wollte sie auf keinen Fall sein. „Meine Moves sind nicht schick, und ich habe mehr drauf als nur ein paar.“

„Kernige Worte für ein Mädchen.“

Sie hielt das Stück Müsliriegel hoch. „Willst du das hier essen, oder willst du weiter rumquatschen?“

Er machte höflich den Mund auf, und sie hielt ihm die Müslischnitte an den Mund. Doch diesmal berührte seine Lippe ihre Fingerspitzen, als er abbiss. Dort, wo ihre Haut sich berührt hatte, spürte sie so etwas wie einen heißen Blitz, der von einem kurzen Zusammenkrampfen ihres Magens begleitet wurde. D. J. hätte vor Überraschung beinahe einen Satz gemacht. Was um alles in der Welt war das? Sie reagierte nicht auf Männer. Nie. Nicht so. Einige mochte sie, andere nicht, und es gab nur ganz wenige Exemplare, denen sie vertraute.

Unruhig, aber entschlossen, es nicht zu zeigen, fütterte sie ihn weiter mit dem Müsliriegel, wobei sie jeden weiteren Hautkontakt gewissenhaft vermied. Während sie ihren zweiten Riegel aß, versuchte sie zu analysieren, was hier vor sich ging. Also, Quinn war anders als die meisten Männer, die sie je kennengelernt hatte. Er war von ihr genauso unbeeindruckt wie von der Tatsache, dass er gefesselt war. Er war ein ausgezeichneter Kämpfer, gehörte vermutlich den Spezialkräften an und war höchstwahrscheinlich im Ausland stationiert. Er war …

Groß, ein dunkler Typ und gut aussehend. Natürlich.

Sie spürte eine große Woge der Erleichterung, als sie begriff, was hier los war. Quinn Reynolds erinnerte sie an die Haynes-Brüder. Die vier ähnelten sich stark in ihrer körperlichen Statur, der gebräunten Haut und der Gesichtsform.

Travis Haynes, den Sheriff, und Kyle Haynes, einen der Deputys, kannte sie, seit sie nach Glenwood gezogen war. In den vergangenen Jahren hatte sie auch die anderen Brüder kennengelernt.

Sie alle waren gute Kerle und gehörten zu den wenigen Männern, denen sie vertraute. Quinns Ähnlichkeit mit ihnen war groß genug, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

D. J. entspannte sich. Sie gab Quinn den Schokoriegel zu essen, aß ihren eigenen, teilte anschließend mit ihrem Taschenmesser einen Apfel in zwei Hälften und schnitt ihn in Spalten.

„Ich glaube nicht, dass dein Partner noch kommt“, meinte er.

D. J. sah auf ihre Uhr und nickte dann zustimmend. „Ronnie hat sich im Wald nicht besonders gut geschlagen“, gab sie zu. „Ich schätze, er hat sich verlaufen. Oder wurde vom Gegner gefangen.“

„Bist du sicher, dass du ihn nicht irgendwo gefesselt zurückgelassen hast?“

Sie grinste. „Er und ich waren Partner. Ich würde ihm niemals wehtun. Ich habe mich damit begnügt, ihm zu drohen.“

„Hatte er Angst?“

„Panik. Gerade mal achtzehn und frisch rekrutiert. Aber er hat sich an meine Befehle gehalten, und in den ersten beiden Stunden haben wir vier Gefangene festgesetzt. Drei davon waren Armyoffiziere.“

„Wie?“

Sie erzählte, wie sie die Männer abgelenkt und Ronnie sich von hinten angeschlichen hatte. Als sie fertig war, schüttelte Quinn den Kopf.

„Machst du immer alles, was nötig ist, um zu gewinnen?“

„Ich mache alles, was nötig ist, um die Kontrolle zu behalten. Das ist ein Unterschied.“

Er warf einen kurzen Blick auf ihre Hand. „Ich habe dich vorhin also gar nicht am Handgelenk getroffen. Du hast nur so getan.“

„Natürlich.“

„Gute Aktion.“

Wo sie gerade dabei waren, über die jüngsten Ereignisse zu sprechen …

„Wie konntest du mich zu Boden werfen, ohne mir wehzutun?“, fragte sie. „Ich habe kaum etwas gespürt.“

„Ich habe tolle Hände, mit denen mache ich so was.“

Sie verdrehte die Augen. „Ich meine das ernst.“

„Ich auch. Ich würde einer Frau nie mehr wehtun als nötig.“

Aber wenn er wollte, könnte er so ziemlich jedem wehtun, mit dem er es zu tun bekam.

„Eine Frau zu sein ist manchmal von Vorteil“, sagte er. „Männer erwarten von Frauen nicht unbedingt, dass sie hart drauf sind. Bist du schon mal in Schwierigkeiten geraten, weil du in bestimmten Situationen deine Weiblichkeit eingesetzt hast? Hast die Kontrolle verloren, weil du eine Frau bist?“

„Ich gehe niemals blind in eine Situation hinein, also nein. Ich bin auf jede Eventualität vorbereitet.“

„Lässt du dich manchmal persönlich mit hineinziehen?“

„Keine Spur.“

Er dachte über ihre Antwort nach. „Du könntest gut verdeckt ermitteln.“

„Vielleicht.“ Nicht ihr Stil. „Aber das würde ein Maß an Verletzlichkeit erfordern, das ich nicht zulasse.“

„Manchmal erfordern die Umstände das. Bist du nicht diejenige, die bereit ist, alles zu tun, um zu gewinnen?“

„Nein. Um die Kontrolle zu behalten.“ Sie musterte ihn. „Was ist mit dir? Arbeitest du manchmal undercover?“

„Manchmal schon. Aber meistens krieche ich in der Dunkelheit herum, um Leute von Orten wegzuholen, an denen sie sich nicht aufhalten sollen.“

Das war vermutlich eine sehr vereinfachte Darstellung seiner Arbeit. Sie hätte gern noch mehr gewusst darüber, aber da sie nicht damit rechnete, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, sagte sie nichts, sondern sah auf ihre Uhr. Es war nach elf.

„Wirst du Ärger bekommen, weil du die ganze Nacht weg bist?“, fragte er.

„Du?“

„Ich hoffe es.“ Er veränderte seine Position, sodass er ausgestreckt auf der Plane lag. „Wenn du mich schon zwingst, im Regen auszuharren, könntest du dich wenigstens dicht an mich kuscheln, damit wir uns wärmen können.“

„Ich denke, nicht.“

„Da spricht gerade die Frau in dir.“

Sie wollte gerade anfangen zu protestieren, als ihr klar wurde, dass er recht hatte. Es war so kühl, dass sie fröstelte. Sie würden beide kein Auge zumachen, wenn sie sich nicht gegenseitig wärmten. Aber sich einfach zu einem fremden Mann zu legen … Sie zögerte.

„Schüchtern?“, fragte er vergnügt.

Sie ignorierte ihn und rutschte dichter an ihn heran. Zwar hatte sie mit ein paar Männern „geschlafen“, aber sie war nie der Typ gewesen, der die Nacht mit ihnen verbracht hatte. Sie hatte sich niemals erlaubt, danach einzuschlafen. Natürlich lag die Sache hier ganz anders: Quinn war nicht ihr Liebhaber, sondern ihr Gefangener. Das änderte die Dynamik entscheidend.

Er war kräftig und groß, und als sie dicht neben ihm lag, konnte sie seine Wärme spüren.

„Ich könnte ein Kissen gebrauchen“, sagte er.

„Okay.“

Sie packte ihren Rucksack und schob ihn unter seinen Kopf. Er lächelte sie an.

„Danke.“

„Gern geschehen. Und jetzt schlaf.“ Sie streckte den Arm aus, um die Lampe auszuschalten, doch bevor sie es schaffte, sagte er: „Ich kann nicht. Meine Arme tun weh.“

Sie starrte ihn an. Nun, da sie nebeneinanderlagen, war sein Gesicht ziemlich nah an ihrem. Sie konnte die Stoppeln auf seinem Gesicht genauso gut erkennen wie seine langen dunklen Wimpern.

„Ich werde dich nicht losmachen“, erwiderte sie. „Aber wenn du versprichst, dich zu benehmen, bringe ich dich ins Camp.“

Seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich benehme mich fast nie.“

„Warum überrascht mich das nicht?“

Sie langte nach hinten und knipste die Laterne aus, ehe sie dicht an ihn heranrutschte. Inzwischen war es ihm irgendwie gelungen, sich so weit zu bewegen, dass ihr Kopf auf seiner Schulter zum Liegen kam.

Ihr erster Impuls war, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Doch das wollte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen, also zwang sie sich, ihre Position beizubehalten. Wenige Minuten später verblasste ihre Sorge. Quinn war gefesselt; sie war sicher.

Sie konzentrierte sich ganz bewusst darauf, ihre Atmung zu verlangsamen. Nachdem wieder ein paar Minuten vergangen waren, wurde ihr der nicht eben unerfreuliche männliche Duft bewusst, den sein Körper verströmte. Er generierte viel Wärme, und sie stellte fest, dass sie sich entspannte.

„Das ist schön“, sagte er in die Dunkelheit.

„Hmm.“

„Bekomme ich keinen Gutenachtkuss?“

Wie von allein gingen ihre Augen auf, und sie starrte in die Dunkelheit. Einen Kuss? „Nein.“

Er machte ein leises gackerndes Geräusch. Sie brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er versuchte, ein Küken zu imitieren.

„Ja, genau, das wird bestimmt funktionieren“, sagte sie.

„Du bist durchaus in Versuchung“, meinte er, „aber nervös. Das ist in Ordnung. Ich verstehe das. Ich bin ein großer, gut aussehender, knackiger Kerl, der dich anmacht. Aber du brauchst nicht nervös zu sein. Ich werde ganz vorsichtig sein.“

„Träum weiter.“

Der Mann hatte ganz offensichtlich keine Probleme mit seinem Selbstvertrauen. Zwar hatte sie keinen Zweifel daran, dass sie in Sicherheit war. Aber eines machte sie tatsächlich nervös: die Tatsache, dass sie die Vorstellung, ihn zu küssen, durchaus reizvoll fand.

„Du verpasst etwas“, sagte er. „Du bräuchtest nicht mal die Fesseln zu lösen. Du könntest mit mir machen, was du willst. Würde mir gar nichts ausmachen.“

„Halt die Klappe und schlaf.“

Schwer seufzte er. „Nur ein Kuss.“

„Nein.“

„Ohne Zunge.“

„Du spinnst wohl! Hör auf damit.“

„Komm schon. Du willst es doch auch. Es dauert nicht lange. Dann können wir schlafen.“

D. J. wusste nicht, ob sie dieses verrückte Gespräch überhaupt führen wollte, aber sie griff trotzdem nach der Lampe und knipste sie an.

„Du gehst mir auf die Nerven“, sagte sie.

Quinn spitzte die Lippen, als wolle er einen Fisch nach-ahmen. Sie musste einfach lachen.

Er war groß, gefährlich und vermutlich zum Töten ausgebildet – und er brachte sie zum Lachen. Irgendwie passte das alles nicht zusammen …

„Du musst mir dein Wort geben, dass du danach still bist und schläfst. Keine Unterhaltung, keine weiteren Forderungen.“

„Ich würde mir ja gern die Hand aufs Herz legen, aber ich bin momentan ein bisschen gefesselt.“

„War das ein Ja?“

„Ja.“

Sie beugte sich zu ihm hinüber. Ein Kuss, sagte sie sich. Nur ein schnelles Gutenachtküsschen. Das bedeutete doch nichts. Sie würde nicht zulassen, dass es etwas bedeutete. Sie tat das nur, damit er still war – nicht weil sie … interessiert war.

Ihr Mund berührte seinen kaum. Wieder spürte sie denselben heißen Blitz wie zuvor, als ihre Finger seine Lippen gestreift hatten, und wieder zog sich tief in ihrem Bauch etwas zusammen. Sie wappnete sich für eine aggressive Erwiderung seinerseits, doch er bewegte sich nicht. Sie war sich nicht mal sicher, ob er atmete.

Langsam verstärkte sie den Druck ein wenig. Sie vertiefte den Kuss nicht unbedingt, aber sie beendete ihn auch nicht. Etwas Warmes durchströmte sie, ihre Gedanken verschwammen. Sie entspannte sich, und es war, als ob …

Panik stieg in ihr auf, als sie begriff, dass sie den Körperkontakt tatsächlich genoss. Versuchung, Verlangen, Sehnsucht – das war alles zu riskant. Zu gefährlich. So dumm war sie doch nicht. So dumm war sie in ihrem gesamten Leben nicht gewesen.

Aber sie durfte ihn nicht spüren lassen, was sie fühlte. Statt sich ruckartig zurückzuziehen, beendete sie den Kuss ganz langsam und öffnete die Augen.

Sie wappnete sich für einen verbalen Schlag, aber Quinn lächelte nur. Kein siegreiches Lächeln, sondern eines, das verriet, dass es auch für ihn ein intimer besonderer Moment gewesen war.

Das kann nicht wahr sein, dachte sie, während sie die Lampe ausschaltete und sich auf die Plane legte. Wir haben uns geküsst. Na und? Es küssen sich andauernd irgendwelche Leute. Das bedeutet gar nichts. Hatte es noch nie. Nicht für sie.

3. Kapitel

Quinn erwachte noch vor dem Morgengrauen. Er erkannte das graue Licht vor der Hauptklappe des großen Militärzeltes und streckte sich auf dem Feldbett aus. Das provisorische Bett war tausendmal bequemer als die Plane, auf der er den ersten Teil der Nacht verbracht hatte. Natürlich hatte er da nicht allein schlafen müssen. Er hatte die Gesellschaft einer faszinierenden und schönen Frau gegen etwas Komfort eingetauscht. Ein schlechter Tausch.

Er lächelte, als er an den vergangenen Abend dachte. Wenn D. J. aufwachte und sah, dass er entkommen war, würde sie bestimmt ausflippen. Zu schade, dass er diesen Auftritt verpasste. Zumindest wusste er, dass sie kommen und im Camp nach ihm suchen würde, um ihn zu fragen, wie er das geschafft hatte. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er die zerschnittenen Seile säuberlich aufgerollt neben ihr zurückgelassen. Die Botschaft war eindeutig: Er war entkommen, und er hatte ein Messer gehabt, das sie übersehen hatte. Der Herausforderung würde sie auf keinen Fall widerstehen können.

Fünfzehn Minuten später saß er an einem der Tische in dem Gemeinschaftszelt und trank seinen Kaffee. Die Tageszeitung lag ausgebreitet vor ihm, doch anstatt darin zu lesen, beobachtete er den Zelteingang und wartete darauf, dass eine große, durchtrainierte Brünette hereingeplatzt kam und nach einer Erklärung verlangte …

Stattdessen kam sein Bruder Gage zusammen mit einem anderen Mann herein, blickte sich um und kam auf ihn zu.

„Du hast es geschafft“, sagte Gage grinsend.

Quinn stand auf, gab seinem Bruder die Hand und umarmte ihn kurz. Nachdem sie einander auf den Rücken geklopft und sich vergewissert hatten, dass sie seit ihrer letzten Begegnung beide überlebt hatten und wohlauf waren, sah Quinn den Mann an, der Gage begleitet hatte.

Sein Bruder machte einen Schritt zurück. „Das ist Travis Haynes. Er ist hier der Sheriff.“

Quinn schüttelte dem Mann die Hand und zog die Augenbrauen zusammen. Haynes kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er war sich sicher, dass sie sich nie begegnet waren. Trotzdem arbeitete es in seinem Kopf … es war fast wie eine Erinnerung, aber nicht ganz.

Travis musterte ihn, dann schüttelte er den Kopf. „Ich fass es nicht“, sagte er und deutete dann zum Tisch. „Wir sollten uns lieber setzen, ehe wir weitersprechen.“

Neugierig, aber nicht beunruhigt, nahm Quinn wieder auf seinem Stuhl Platz. Gage setzte sich ihm gegenüber, Travis zu seiner Rechten. Gage legte die Unterarme auf den Tisch.

„Geht’s dir gut?“, fragte er Quinn.

Quinn nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Wenn du was zu sagen hast, dann raus damit.“

Gage nickte. „Ich wollte nur …“

Travis beugte sich vor. „Ich gehe besser. Nachdem ihr zwei geredet habt, können wir uns noch mal zusammensetzen.“

„Nein.“ Gage schüttelte den Kopf. „Bleib. Das betrifft dich ja auch. Außerdem – falls Quinn Fragen hat, kannst du sie am besten beantworten.“ Er sah seinen Bruder an. „Entschuldige, dass ich in solchen Rätseln spreche. Ich wollte es dir nicht in einer Telefonnachricht oder einem Brief erzählen. Ich fand es besser herzukommen.“

Quinn zuckte mit den Schultern. Manchmal hatte er aufgrund seiner Arbeit monatelang keinen Kontakt zu seiner Familie. Dann konnten sie nur kommunizieren, indem sie ihm unter einer besonderen Nummer eine Nachricht hinterließen und auf seinen Rückruf warteten. Manchmal konnte er sich innerhalb weniger Tage melden, aber meistens dauerte es Wochen oder Monate. Gage hatte seine erste Nachricht vor knapp zwei Monaten hinterlassen. Die zweite, in der er Quinn gebeten hatte, ihn in Glenwood zu treffen, war Quinn erst übermittelt worden, als er in die Staaten zurückgekehrt war.

„Hast du mit Mom gesprochen?“, fragte Gage.

„Vor ein paar Tagen. Sie sagte, alles sei in Ordnung.“ Er zog die Augenbrauen hoch. Hatte sie ihm etwas verschwiegen? War sie krank?

Sein Bruder erriet seine Gedanken sofort. „Es geht ihr gut“, sagte er. „Ich habe mich nur gefragt, ob sie irgendwas erwähnt hat …“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Das ist schwerer als ich dachte.“

„Spuck’s einfach aus.“

„Also gut.“ Gage starrte ihn an. „Ralph Reynolds ist nicht unser biologischer Vater. Er und Mom konnten keine Kinder miteinander kriegen. Aber weil sie es sich beide wünschten, wurde sie von einem anderen Kerl schwanger. Jemand, den sie in Dallas kennengelernt hatte. Sein Name ist Earl Haynes. Travis ist einer seiner Söhne. Was ihn zu unserem Halbbruder macht.“ Gage grinste. „Davon haben wir übrigens so einige. Anscheinend laufen ziemlich viele Söhne von Earl Haynes auf dieser Welt herum.“

Quinn hörte zwar die Worte, doch sie hatten zunächst keinerlei Bedeutung. Ralph Reynolds war nicht ihr biologischer Vater?

Ein halbes Dutzend Erinnerungen blitzten in seinem Kopf auf – keine davon war schön. An seinen Vater, wie er wegging. An seinen Vater, für den er nie gut genug war. An seinen Vater, der ihm immer wieder klarmachte, dass Quinn Gage niemals das Wasser reichen könnte. An seinen Vater … der gar nicht sein Vater war? War das möglich?

„Ich hatte auch schwer daran zu knapsen“, sagte Gage leise.

Daran hatte Quinn keinen Zweifel. Gage und der alte Mann hatten sich nah gestanden. Immer. Während Quinn es kaum erwarten konnte, aus Possum Landing rauszukommen, war Gage dortgeblieben und hatte sich sein eigenes Leben aufgebaut. Er war stolz darauf gewesen, die fünfte Reynolds-Generation in der Stadt zu sein. Er war, verdammt noch mal, Sheriff dort geworden.

„Bist du sicher?“, fragte er.

Gage nickte. „Mom hat es mir gesagt. Vor gut dreißig Jahren war es für unfruchtbare Paare viel schwieriger, Hilfe zu bekommen. Außerdem hatten unsere Eltern kein Geld für teure Behandlungen. Dad war derjenige, der keine Kinder zeugen konnte, nicht sie. Dad – Ralph – hatte die Idee, jemanden zu suchen, der ihm ähnlich sah, damit Mom sich von ihm schwängern lassen konnte.“

Quinn erstarrte. „Das klingt barbarisch, selbst für den alten Mann.“

„Sie war auch nicht besonders glücklich über diese Idee“, räumte Gage ein. „Aber schließlich erklärte sie sich einverstanden und fuhr nach Dallas. Sie traf sich mit Earl Haynes. Er war für eine Tagung in der Stadt.“

„Und neun Monate später wurdest du geboren?“

„Ja.“ Gage schüttelte den Kopf. „Ralph war glücklich mit seinem neugeborenen Sohn. Alle gingen davon aus, dass er der Vater war, und alles war gut.“

Bis ich auf die Welt kam, dachte Quinn teilnahmslos. Er war längst immun gegen die Tatsache, dass der Mann, den er immer für seinen Vater gehalten hatte, ihn nicht gewollt hatte.

„Ein Jahr später fuhr sie noch mal hin“, fuhr Gage fort. „Sie wurde schwanger mit dir. Wir sind also immer noch Brüder.“

So richtig begreife ich das alles gar nicht, dachte Quinn. Aber das war auch nicht nötig. Er konnte sich auch später noch damit auseinandersetzen. Fürs Erste entspannte er sich auf seinem Stuhl und grinste Gage an.

„Verflucht, und ich dachte schon, jetzt wäre ich dich endlich los.“

Sein Bruder boxte ihn gegen den Arm. „Vergiss es. Ich bin immer noch älter, sehe besser aus und bin auch immer noch stärker als du.“

Letzteres brachte Quinn zum Lachen. „Ja, stimmt.“ Er wandte sich Travis Haynes zu. „Du bist also auch Sheriff?“

„Strafverfolgung liegt offenbar in der Familie. Ich bin Sheriff, mein Bruder Kyle ist Deputy. Craig, der Älteste von uns vieren, arbeitet für das Fern Hill Police Department und meine Halbschwester Hannah sitzt in der Einsatzzentrale. Jordan ist das schwarze Schaf – er ist Feuerwehrmann.“

Gage sah Quinn an. „Ich bin Sheriff, und du hältst die Welt auf deine ganz eigene Art zusammen. Wie viel davon ist im Genpool festgelegt?“

Quinn hatte seine Zweifel. „Ich glaube nicht an das Schicksal.“

„Das liegt daran, dass du ein paar Dinge noch nicht weißt.“ Gage schob Quinns Kaffee näher an ihn heran. „Trink aus. Du wirst es brauchen.“

„Warum?“

„Anscheinend hat Earl es nicht einfach dabei belassen, mit unserer Mutter zu schlafen. Er hat außerdem …“

Ein Aufruhr an der Tür unterbrach Gage. Quinn drehte sich um und sah D. J. ins Zelt stürmen. Sie schaute sich um, bis sie ihn entdeckte. In dem Moment verengten sich ihre braunen Augen, und sie stapfte zu seinem Tisch.

Sie vibrierte förmlich vor Wut. Mit den kaki-olivfarbenen Klamotten, den langen dunklen Haaren und dem Gewehr in der Hand war sie der Inbegriff einer Kriegerin – der Anblick war umwerfend.

Ein junger Polizist wollte gerade ihren Weg kreuzen, besann sich jedoch eines Besseren und machte einen Bogen um sie herum. Quinn bezweifelte, dass D. J. überhaupt Notiz davon genommen hatte. Als sie den Tisch erreichte, warf sie ihm die durchgeschnittenen Seile hin.

„Wie zum Teufel hast du das gemacht?“, fragte sie. Sie war so wütend, dass Quinn keinerlei Zweifel daran hegte, dass sie ihm direkt an den Kragen gegangen wäre, wenn sie allein gewesen wären.

Statt auf ihre Frage oder ihre Stimmung zu reagieren, trank er in aller Ruhe von seinem Kaffee und zog ihr dann mit dem Fuß einen Stuhl vor.

„Setz dich“, sagte er ruhig.

Sie blieb stehen. „Ich habe dich was gefragt.“

„Ich weiß.“

Er sah ihr ruhig in die Augen, verkniff sich ein Lächeln und wartete darauf, was sie als Nächstes tun würde. Am liebsten hätte er seine Hände in ihre Haare vergraben, sie eng an sich gezogen und so geküsst, dass sie beide nicht mehr gewusst hätten, wo sie waren. Doch auch das tat er nicht.

Er hätte wahrscheinlich noch eine Weile so dagesessen und sie angesehen, aber dann stand Travis auf, stellte sich zwischen sie beide und legte D. J. die Hände auf die Schultern.

Er drückte sie nicht allzu sanft auf den Stuhl. „Entspann dich“, meinte er. „Ich hole dir erst mal einen Kaffee.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Danke“, sagte sie, aber es klang nicht besonders dankbar.

Als Travis zurückkam, stellte er den Becher vor ihr ab und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. „Wie ich sehe, hast du Quinn bereits kennengelernt. Das hier ist sein Bruder Gage.“

D. J. sah zu Gage, nickte kurz und wandte sich dann wieder Quinn zu. „Ich will Antworten.“

Auffällig blickte er auf seine Uhr. „Ich hätte früher mit dir gerechnet. Hast wohl ausgeschlafen. Aber nach unserer gemeinsamen Nacht überrascht es mich nicht, dass du müde warst.“

Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl. Quinn rechnete damit, dass das Gewehr in seine Richtung schwingen würde. Doch bevor sie körperlich werden konnte, fing Travis an zu lachen.

„Gemeinsame Nacht? Ich glaube dir kein Wort“, meinte er unbeschwert. „D. J. hätte dich bei lebendigem Leib aufgefressen und wieder ausgespuckt.“

Quinn sah ihr in die Augen und zog die Augenbrauen hoch. „Da bin ich mir nicht so sicher.“

Falls er so dreist war, sie jetzt auch noch süffisant anzugrinsen, würde sie ihn umbringen, so sauer war sie auf ihn. An Ort und Stelle, vor Zeugen. Auch wenn sie eigentlich nicht der Typ war für unbesonnenes Verhalten.

Sie beobachtete ihn, wie er seinen Kaffee trank, als hätte er alle Zeit der Welt. Was er vermutlich auch hatte. Er sah ausgeruht aus, geduscht und gänzlich entspannt. Sie war müde, schmutzig und hatte Blätter in den Haaren. Schlimmer – er war geflohen. Sie wollte wissen, wie, und sie wollte es ihm heimzahlen.

Sie weigerte sich zuzugeben, dass ihre Wut auch mit der Erinnerung an den kurzen Kuss von letzter Nacht zu tun hatte. Unfassbar, dass sie nachgegeben und ihn tatsächlich geküsst hatte … und dass es ihr gefallen hatte. Auch wenn er das niemals erfahren würde.

„Wie habt ihr zwei euch kennengelernt?“, wollte Gage wissen.

„D. J. hat mich bei den Planspielen überwältigt“, erzählte Quinn seinem Bruder.

Gage, der ungefähr genauso alt war wie Quinn, denselben dunklen Teint und die gleichen starken, gut aussehenden Gesichtszüge hatte, sah ihn überrascht an. „Das soll wohl ein Witz sein!“

„Nein. Kein Witz.“

In Gages Gesicht spiegelte sich Zweifel, und D. J. konnte es ihm nicht verübeln. Sosehr sie sich auch gewünscht hatte, diejenige zu sein, die die Zügel in der Hand hielt – Quinn hatte den gesamten Abend über die Kontrolle gehabt. Er war nur so lange ihr Gefangener gewesen, wie es ihm Spaß gemacht hatte. Sie wollte wissen, warum. Und sie wollte wissen, was er alles konnte.

Aber wie sollte sie danach fragen?

Während sie über die Frage nachdachte, nahm sie ihren Kaffee und wandte sich Travis zu, um ihm dafür zu danken. Erst jetzt fiel ihr auf, wie ähnlich die drei Männer sich sahen. Derselbe Körperbau, dieselbe Hautfarbe. Sogar die Form ihrer dunklen Augen ähnelte sich.

„Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie. „Veranstaltet die Haynes-Familie einen Lookalike-Wettbewerb, oder was?“

Travis wandte sich ihr zu und lächelte. „Lustig, dass du das sagst.“

Während sie frühstückte, hörte D. J. aufmerksam zu, wie Travis und Gage ihr ihre Familienverbindung erklärten. Sie fand es spannend, etwas über Quinns Jugendzeit zu erfahren, weil es so ungewöhnlich war, dass ein Junge aus Possum Landing in Texas zu einem gefährlichen Agenten heranwuchs, aber ganz offensichtlich war genau das geschehen.

Sie nahm sich ein Stück Schinken und biss gerade davon ab, als ein großer, dünner, vollkommen durchnässter junger Mann mit flammend roten Haaren an ihren Tisch trat.

D. J. musterte Ronnie von oben bis unten und seufzte. „Hast du dich verlaufen, oder hat man dich gefangen genommen?“

Er wurde rot. „Ähm, beides, Ma’am.“

„Ich nehme an, zuerst hast du dich verlaufen.“

Er ließ den Kopf hängen. „Ja, Ma’am. Ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie nicht wiedergefunden habe.“

Die Männer am Tisch hatten ihr Gespräch eingestellt, um der Unterhaltung zu lauschen. Sie sah dem Achtzehnjährigen an, wie schlecht er sich fühlte. Es gab keinen Grund, ihn vor den Augen der anderen anzuzählen – das war noch nie ihr Stil gewesen.

„Fehler passieren“, sagte sie. „Und jetzt hol dir was zu essen und einen Kaffee.“

Ronnie, so schien es, konnte kaum fassen, dass er ungeschoren davonkam. „Ma’am?“, fragte er und sah sie mit großen Augen an.

Sie erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Ich schneide dir nicht die Ohren ab, Ronnie. Geh frühstücken.“

Er strahlte sie an. „Ja, Ma’am. Sofort.“

Als er weg war, sah sie zuerst Travis an, der ihr gegenübersaß, und danach seinen Bruder Kyle. Beide grinsten.

„Ich will es nicht hören!“, sagte sie warnend.

„Sieht dir gar nicht ähnlich, so weich zu sein“, meinte Travis.

„Bin ich auch nicht. Der Junge hat alles gegeben und es vergeigt. Das passiert.“

Kyle lehnte sich zu ihr rüber. „Er findet dich heiß.“

D. J. verdrehte die Augen. „Ja, genau. Ich bin mir sicher, dass ich in den nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten in all seinen Träumen die Hauptrolle spielen werde.“

Kyle lachte in sich hinein.

D. J. kommentierte das nicht weiter, sondern widmete sich wieder ihrem Frühstück. Nach ein paar Sekunden wurden die Gespräche wieder aufgenommen, und sie hörte wieder mehr zu, als aktiv daran teilzunehmen.

Quinn saß am Ende des Tisches. Obwohl sie ihn nie direkt ansah, war sie sich seiner Anwesenheit sehr bewusst. Genau wie der äußerlichen Ähnlichkeit zwischen ihm und den anderen Männern am Tisch.

Inzwischen waren auch Craig und Jordan Haynes angekommen und hatten sich dazugesetzt. Craig war der älteste der Haynes-Brüder, Jordan der zweitälteste. Die zweieiigen Zwillinge Kevin und Nash Harmon waren ebenfalls Teil der Gruppe. D. J. hatte noch nicht ganz herausgefunden, welche Beziehung sie zu den anderen Männern hatten, aber als Earl in Dallas Quinns Mutter geschwängert hatte, hatte er offenbar auch ein Schäferstündchen mit der Mutter der Zwillinge gehalten. Quinn und Gage waren von Kindestagen an eng befreundet mit ihnen und hatten erst vor Kurzem erfahren, dass sie Halbbrüder waren. Außer ihr waren alle am Tisch Mitglieder der ausgedehnten Haynes-Familie.

Sie vermutete, dass sich einige unter diesen Umständen ausgeschlossen gefühlt hätten. Aber sie nicht. Sie war einst Teil einer Familie gewesen und war sehr glücklich ohne familiäre Verpflichtungen irgendeiner Art.

D. J. sah Travis an, während er erzählte, sah aber hin und wieder hinüber zu Quinn. Er hatte sein Frühstück beendet. Nun saß er da, hörte zu und nickte gelegentlich, sprach selbst aber nicht viel. Während er am Vorabend und kurz nach ihrer Ankunft an diesem Morgen zu zwei Dritteln nervtötend, zu einem Drittel charmant und äußerst redselig gewesen war, war er mit Anwachsen der Gruppe immer stiller geworden. War er nicht gern in Gesellschaft?

Sie wollte gerade wegsehen, als Quinn sich leicht bewegte und sich ihre Blicke trafen. Seine dunklen Augen gaben seine Gedanken genauso wenig preis wie sein neutraler Gesichtsausdruck. Möglicherweise überlegte er gerade, ob er sich noch einen Kaffee holen sollte. Dennoch spürte sie das Knistern zwischen ihnen. Eine Spannung, die ihr eine Gänsehaut verursachte.

Die Gefühle waren intensiv und ihr so wenig vertraut, dass sie unruhig wurde. Ablenkung kam in Gestalt von Ronnie, der mit seinem Frühstück zurückkam.

Bis sie ihn allen vorgestellt hatte und mit dem Stuhl zur Seite gerückt war, um Platz zu machen, hatte sie sich erfolgreich eingeredet, dass sie sich die merkwürdige Reaktion auf Quinn nur eingebildet hatte.

Travis wartete, bis Ronnie den Mund voll hatte, dann grinste er D. J. an. „Du hast dieses Jahr also nicht gewonnen.“

Der Junge verschluckte sich.

D. J. sah Travis wütend an und klopfte Ronnie auf den Rücken. Als er sich beruhigt hatte, stürzte er sein Glas Milch zur Hälfte runter und sackte auf seinem Stuhl zusammen.

„Also, noch mal wegen der Sache, dass ich nicht zurückgekommen bin“, begann er.

D. J. schnitt ihm mit einem strengen Blick das Wort ab. „Lass gut sein“, sagte sie. „Früher oder später musste meine Glückssträhne ja mal zu Ende sein.“

„Zu schade, dass sie nicht in der Lage war, sich allein einen Gefangenen zu greifen“, sagte Quinn gedehnt. „Ach nein, Moment. Du hattest ja jemanden, nicht wahr?“

D. J. ignorierte ihn.

Ronnie riss die Augen auf. „Ihnen ist ein Gefangener entwischt?“

Travis lachte leise. „Du bewegst dich auf dünnem Eis, mein Junge. D. J. wird dir den Kopf abreißen.“

Ronnie widmete sich wieder voll und ganz seinem Frühstück.

D. J. konnte nicht anders, als zu Quinn hinüberzugucken, der die Dreistigkeit besaß, sie anzulächeln. Einfach nur zu lächeln. Als wäre er glücklich oder so.

Nash Harmon, ein eins fünfundachtzig großes Mitglied der Haynes-Familie, stand auf. „Ich unterbreche das Ganze hier ja nur ungern, aber ich muss mich noch um ein paar Dinge kümmern.“

Kevin, sein Zwillingsbruder, johlte. „Dinge? Du meinst nicht zufällig Stephanie?“

Nash lächelte. „Genau die meine ich.“ Er schaute zu Quinn. „Du hast es wahrscheinlich noch nicht gehört: Ich habe mich kürzlich verlobt. Natürlich bin ich nicht der Einzige. Kevin plant seine Hochzeit für Anfang Oktober, und von Gage weißt du ja schon.“

D. J. registrierte, dass Quinn seinen Bruder ansah. Gage zuckte mit den Schultern. „Wir hatten keine Zeit, darüber zu reden. Ich werde auch heiraten.“

„Glückwunsch“, erwiderte Quinn.

„Ihr drei habt euch alle erst vor Kurzem verlobt?“, fragte sie, bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte. „Liegt das an dem Wasser, das ihr trinkt?“

Travis stand auf. „Möglich. Jetzt nimmst du sofort eine andere Flasche, hm?“

„Na klar.“ D. J. schüttelte den Kopf. „Verheiratet …“

Sie konnte sich gerade noch ein „Igitt“ verkneifen, obwohl sie genau das dachte. Ihrer Erfahrung nach war die Ehe schlecht für Frauen und gut für Männer. Okay, die Haynes-Brüder führten anscheinend gute Beziehungen. Und ihre Freundin Rebecca hatte einen ganz ordentlichen Kerl geheiratet, aber das waren Ausnahmen.

Offenbar hatte jeder dringende Termine. Binnen zwei Minuten waren alle aufgestanden, bis auf D. J. und Quinn. Sie rechnete damit, dass er ebenfalls aufstehen würde, doch das tat er nicht. Stattdessen trank er von seinem Kaffee und sah sie an.

Sie redete sich ein, dass das die Gelegenheit war, ihm die Fragen zu stellen, die ihr unter den Nägeln brannten. Sie wollte unbedingt Antworten, aber das Problem war, dass sie unter seinem festen Blick am liebsten unruhig auf dem Stuhl hin und her gerutscht wäre. Was sie natürlich nicht tat. Sie würde ihn niemals wissen lassen, dass es ihm gelang, ihr Unbehagen zu bereiten. Und genauso wenig würde sie zugeben, dass sie wissen wollte, was ihm durch den Kopf ging, während er sie ansah.

Sie unterdrückte den unglaublich dummen Impuls, sich in die Haare zu greifen, um sicherzugehen, dass ihre Frisur gut saß – als ob das eine Rolle spielte. Dann wandte sie sich ihm zu und beschloss, die Sache direkt anzugehen.

„Wie bist du entkommen?“, fragte sie. „Die Seile waren zerschnitten, aber ich habe dich nach Messern abgesucht und sie in den Rucksack gepackt. Und der lag nicht in Reichweite. Ich habe es heute Morgen überprüft. Außerdem hattest du ihn nicht geöffnet. Also hattest du irgendwo noch ein Messer. Eins, das ich übersehen habe.“

Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass irgendwer ins Camp geschlichen und ihn befreit hatte, doch sie verwarf die Idee sofort wieder. Ihr Bauch sagte ihr, dass Quinn ganz allein entkommen war. Es war ihm gelungen, sie auszutricksen, und zwar während sie geschlafen hatte.

Was sie noch mehr ärgerte, war, dass er seine Jacke über sie ausgebreitet hatte, als ob sie Schutz vor den Naturgewalten brauchte.

„Wie hättest du ein Messer übersehen sollen?“, fragte er, und seine Augen leuchteten vor Belustigung. „Du hast mich doch gründlich durchsucht, was übrigens sehr angenehm war. Wenn du das also gern wiederholen möchtest …“ Seine Stimme versiegte.

Sie ignorierte den Vorschlag genauso wie den neckenden Tonfall. „Wo war das Messer?“

Sie rechnete halb damit, dass er auf einer neuerlichen Leibesvisitation bestehen würde. Stattdessen klappte er den Kragen seines schweren Militärhemdes hoch und zog eine kurze Klinge heraus. Kein Messer … nur die Klinge.

Natürlich, dachte sie, schwer beeindruckt von dem Einfallsreichtum. Niemand beachtete steife Hemdkragen. Die Spitzen sollten so sein. Quinn hatte sich nur ein bisschen winden müssen, um die Hände vor seinen Körper zu bekommen, und schon war die Klinge in Reichweite gewesen.

Angesichts der Möglichkeiten platzte sie fast vor Neugier. „Was hast du noch drauf, das ich nicht kann?“

Statt eine neunmalkluge Bemerkung zu machen, stand Quinn auf. „Das war ein nettes Frühstück“, sagte er.

Sie erhob sich ebenfalls. „Warte. Ich will es wirklich wissen.“

Zwar ließ er ihr Gesicht nicht eine Sekunde aus den Augen, und doch veränderte sich alles. Der neckende Tonfall war weg, genauso wie die Belustigung. Stattdessen spiegelte sich eine große Müdigkeit auf seinem Gesicht. Er weiß Dinge, dachte sie und machte unweigerlich einen Schritt zurück. Er hat Dinge gesehen und getan, die ein Mensch nicht erleben sollte. In seinem Leben ging es um wesentlich mehr als darum, einfach nur irgendwelche Leute von Orten wegzuholen, an denen sie nicht sein sollten.

„Ich spiele nicht“, sagte sie. „Ich will von dir lernen. Ich bin eine gute Schülerin.“

„Warum ist das so wichtig?“

„Deine Fähigkeiten könnten mir bei der Arbeit helfen. Ich will besser werden.“

„Du bist doch gut genug für deinen Job.“

„Ja, aber ich will besser sein als gut genug. Ich will am besten sein.“

„Es gibt kein ‚am besten‘.“

Natürlich gibt es das, dachte sie. Das gibt es doch immer. Und die meiste Zeit arbeite ich wie eine Wahnsinnige, um genau das zu erreichen.

„Ich bezahle dich auch“, sagte sie.

Er lächelte. „Danke, aber ich bin nicht interessiert. Mach’s gut, D. J.“

Und dann war er weg. Er ging einfach aus dem Zelt, ohne sich noch mal umzudrehen.

Sie sah ihm nach, und in diesem Moment beschloss sie, dass sie ihn vom Gegenteil überzeugen würde. Sie wusste zwar nicht, wie, aber sie würde Quinn Reynolds dazu bringen, ihr zu zeigen, was er draufhatte. Sie würde stärker, schneller und klüger werden, und dann würden die Geister endlich Ruhe geben.

Zwei Tage später hatte D. J. noch immer keinen Plan geschmiedet. Was könnte ein Mann wie Quinn wollen, das sie ihm geben konnte? Sie war fast die ganze Nacht herumgegeistert, und nachdem ihr das keine klaren Gedanken beschert hatte, war sie in aller Herrgottsfrühe zu einem Fünf-Kilometer-Lauf aufgebrochen. Nun ging sie in ihrem Büro auf und ab, wobei sie gelegentlich stehen blieb und gegen den Sandsack in der Ecke schlug.

„Ich sehe dir an, dass du heute Morgen schlechte Laune hast. Willst du darüber reden?“

D. J. drehte sich zu der Stimme um und sah Rebecca Lucas in der Tür zu ihrem Arbeitszimmer stehen. In der einen Hand hielt sie eine Thermosflasche und in der anderen eine pinkfarbene Schachtel vom Bäcker. Sogleich besserte sich D. J.s Stimmung.

„Dänischer Plunder?“, fragte sie, während sie auf ihre Freundin zuging.

„Natürlich. Bringe ich den nicht immer mit?“

„Du bist eine gute Freundin.“

„Ich weiß.“

Rebecca ging voran ins Hauptbüro, wo sie die Schachtel auf den Tisch stellte und die Thermosflasche öffnete.

„Und – warum bist du heute Morgen so griesgrämig?“, fragte sie, als sie den Kaffee in zwei Becher goss. „Wenn du jemand anderes wärest, würde ich auf Ärger mit einem Mann tippen.“

„Den habe ich auch – aber nicht auf die romantische Art.“

Rebecca reichte ihr den Kaffee. „Schade. Du brauchst einen Mann in deinem Leben.“

„Und was genau soll ich mit einem Mann in meinem Leben anfangen?“

Rebecca schüttelte leicht den Kopf, während sie sich selbst Kaffee einschenkte, die Kuchenschachtel öffnete und sie zu D. J. hinüberschob.

D. J. nahm sich eine Serviette und einen Dänischen Plunder. Der erste Bissen war himmlisch. Der zweite noch besser. Langsam kaute sie den klebrigen, süßen Plunderteig.

Rebecca bediente sich ebenfalls und knabberte zaghaft daran. Wie immer schwiegen sie, bis jede von ihnen mindestens ein Plunderteilchen verspeist hatte und den ersten Zucker-Kick verspürte.

D. J. war als Erste fertig und leckte sich die Finger. Rebecca tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab.

Wir könnten unterschiedlicher nicht sein, dachte D. J. zärtlich. Rebecca war ein richtiges Mädchen – angefangen bei ihren langen, lockigen Haaren bis zu ihren weichen, fließenden Blümchenkleidern. Sie trug alberne Schuhe, zarten Schmuck und hätte sich im Leben nicht ungeschminkt in der Stadt blicken lassen.

„Warum starrst du denn mein Kleid so an?“, fragte Rebecca, als sie ihr Teilchen aufgegessen hatte. „Findest du es so schrecklich?“

„Nein. Es ist toll.“

D. J. betrachtete die hellblauen Streublümchen auf dem weißen Stoff, die Spitze am Kragenrand und die engen Puffärmel, während sie angestrengt versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

„Ich verstehe nur nicht, warum du dich so … mädchenhaft kleidest.“

Rebecca nahm sich noch einen Dänischen Plunder. „Wir müssen ja nicht alle so aussehen, als ob wir direkt vom Ausverkauf im Armyshop kommen. Olivgrün ist nicht meine Farbe. Außerdem gefällt es Austin, wie ich mich anziehe.“

Ende der Diskussion, sagte D. J. zu sich selbst. Wenn Austin erwähnen würde, dass er es besser fände, wenn sich die Erde andersherum drehte, würde Rebecca losziehen und versuchen, es möglich zu machen. Sie himmelte ihren Mann an, was D. J. nur deshalb ertragen konnte, weil Austin wirklich ein netter Kerl war und seine Frau genauso liebte wie sie ihn. D. J. war fest davon überzeugt, dass Austin jeden, der versuchen würde, Rebecca wehzutun, in briefmarkengroße Stücke zerreißen würde.

Rebecca musterte sie von oben bis unten, und D. J. wurde sich ihrer Camouflage-Hose und schweren Stiefel bewusst.

„Rechnest du später noch mit einem Krieg?“

„Sehr witzig.“ D. J. nahm sich ein zweites Plunderteilchen. „Also, was gibt’s Neues?“

Rebecca berichtete von den jüngsten Eskapaden ihrer vier Kinder, inklusive Davids wachsender Autofaszination. „Der wird mal der reinste Straßenschreck“, sagte Rebecca mit einer Mischung aus Sorge und Stolz. „Er blättert jetzt schon Austins Automagazine durch und macht uns Vorschläge für seinen sechzehnten Geburtstag.“

Die Unterhaltung ging weiter. Rebecca hatte es zu einem Ritual gemacht, zwei- bis dreimal pro Woche morgens vorbeizukommen. D. J. liebte es, Geschichten von ihrer Familie zu hören. Da sie nicht vorhatte zu heiraten und sie ihre Zweifel daran hatte, dass sie eine gute alleinerziehende Mutter abgäbe, standen ihr keine Kinder so nah wie die von Rebecca.

„Ich gebe nächste Woche eine Party“, verkündete Rebecca, während sie beiden Kaffee nachschenkte.

D. J. hielt abwehrend die Hände hoch. „Nein, danke.“

„Wie kannst du das sagen?“

„Bei dir gibt es zwei Arten von Partys. Entweder sie sind für Pärchen, was bedeutet, dass du mich mit irgendeinem Typen zusammensteckst, den ich nicht kennenlernen will, oder es ist so ein Mädchending, wo irgendjemand versucht, mir irgendwas Nutzloses zu verkaufen.“

„Kosmetik“, bestätigte Rebecca. „Und die ist nicht nutzlos. Ich weiß, du bist kein großer Fan von Schminke, aber du kannst doch deiner Haut mal was Gutes tun. Die Hautpflegeserie ist richtig toll. Außerdem musst du mal unter die Leute.“

„Ich bin dauernd unter Leuten.“

„Ich spreche davon, ein bisschen Zeit mit normalen Frauen zu verbringen.“

„Ich verbringe Zeit mit dir.“

Rebecca seufzte. „Warum kannst du nicht etwas geselliger sein?“

„Das ist nicht mein Ding.“

„Und was ist dein Ding?“

D. J. dachte an Quinn. Er machte sie neugierig. „Da ist so ein Typ, den ich bei den Planspielen kennengelernt habe“, sagte sie.

Rebeccas Gesicht hellte sich augenblicklich auf. „Will er mit dir ausgehen?“

„Nicht so kennengelernt. Ich habe ihn gefangen genommen, aber nur weil ich Glück hatte. Ich möchte, dass er mir beibringt, was er draufhat.“

„Und das wäre?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich habe ein bisschen herumgefragt und herausgefunden, dass er für eine geheime Abteilung des Militärs arbeitet. Ich wette, er weiß mehr darüber, wie man Menschen umbringt, als alle, die ich kenne.“

Rebecca schüttelte sich. „Nicht gerade jemand, den man gern zum Essen einladen möchte. Was ist so toll an dem Typen? Du tötest keine Menschen. Du hältst sie am Leben.“

„Je mehr ich weiß, desto besser.“

Ihre Freundin musterte sie. „Du wirkst sehr entschlossen. Bist du sicher, dass es dabei nur um den Wissensaustausch geht?“

D. J. machte sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. Das war eine dämliche Frage. Na ja, vielleicht nicht ganz so dämlich. Immerhin hatte es diesen Kuss gegeben.

Sofort schob sie die Erinnerung weg. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten, jegliche Reaktion ihrerseits war der Erschöpfung, dem Adrenalin oder einem Spinnenbiss zuzuschreiben.

„Dein Schweigen ist so … beredt“, meinte Rebecca.

D. J. gab sich alle Mühe, gelassen zu wirken. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Das glaube ich.“ Sie warf sich die langen Haare über die Schulter und schüttelte den Kopf. „Wenn er so was Besonderes ist, kannst du dich dann nicht einfach mit ihm verabreden? Muss jede Begegnung ein Kampf sein?“

„Ich habe ihn gebeten, mir ein paar Dinge beizubringen, aber er war nicht interessiert. Ich habe ihm sogar angeboten, ihn zu bezahlen.“

„Nicht gerade der beste Weg, ihn für dich einzunehmen.“

„Ich will ja gar nicht, dass er mich mag.“

„Warum nicht?“

Das war ein altes Thema und eines, mit dem D. J. nicht wieder anfangen wollte. Rebecca hatte nie verstanden, warum sie sich so vehement gegen eine feste Beziehung mit einem Mann sträubte. Sie begriff nicht, dass es einen verwundbar machte, wenn man sich auf andere einließ. In den meisten Beziehungen lauerte irgendwo die Gefahr. Männer waren größer, stärker und – meistens – gemeiner. Nicht alle, natürlich, aber D. J. war nicht bereit, ein Risiko einzugehen.

„Ich will keinen Freund, sondern einen Lehrmeister“, meinte sie. „Versuch nicht, mir was anderes einzureden. Sag mir einfach, wie ich ihn davon überzeugen kann, mir zu helfen.“

„Mache ich, aber nur unter Protest. Du brauchst einen guten Mann in deinem Leben.“

D. J. ließ die Hand in der Luft kreisen, um Rebecca zu verstehen zu geben, dass das Thema erledigt war.

Ihre Freundin lächelte verschmitzt. „Es gibt nur eine Art, einen Mann dazu zu bringen, etwas zu tun, das er nicht tun will.“

Endlich, dachte D. J., nützliche Informationen. „Und zwar?“

„Gib ihm etwas, was er unbedingt haben will und auf anderem Wege nicht bekommen kann.“

4. Kapitel

D. J. drückte sich vor der Hotelzimmertür herum. Es ging ihr ziemlich auf die Nerven, von sich selbst zu behaupten, dass sie sich irgendwo herumdrückte, aber anders konnte man ihr Verhalten nicht beschreiben. Sie hob die Hand, um endlich zu klopfen, machte dann zwei Schritte zurück und steckte die Hände wieder in die Taschen ihrer Jeans.

Eigentlich war es verrückt, dass sie überhaupt hier war. Aber sie wollte eben unbedingt, dass Quinn ihr ein paar Tricks beibrachte. Die Frage war nur, ob er dem ganzen Plan zustimmen würde.

Rebecca hatte gesagt, sie musste etwas finden, das er wollte und auf anderem Wege nicht bekäme, und ihm genau das anbieten. Ein toller Rat, nur hatte sie keine Ahnung, was ihn interessierte. Außer einer Sache, die er erwähnt hatte, während er ihr Gefangener gewesen war.

Er hatte sie geneckt, hatte gesagt, sie solle seine Wehrlosigkeit ausnutzen, hatte gewitzelt, dass sie ihn noch gründlicher durchsuchen sollte, und er hatte sie küssen wollen. Sie ging vielleicht nicht jeden Freitag mit einem anderen Kerl aus, aber sie wusste das eine und andere über Männer. Wer einen Mann zu etwas bewegen wollte, das er im Grunde ablehnte, schaffte das nicht mit raffiniertem Kochen, gewitzten Gesprächen oder einer schillernden Persönlichkeit. Nein, Männer waren viel einfacher gestrickt. Vielleicht konnte sie das zu ihrem Vorteil nutzen.

Sie ging zur Tür und hob wieder die Hand. Diesmal klopfte sie und wünschte sich sogleich, sie hätte es nicht getan. Zu planen, einen Deal mit Quinn zu machen, war eine Sache, es aber tatsächlich durchzuziehen war etwas völlig anderes. Normalerweise bot sie niemandem an, irgendwelche Gefälligkeiten mit Sex zu bezahlen. Genau genommen hatte sie das noch nie gemacht. Aber außergewöhnliche Umstände erforderten …

Die Tür öffnete sich.

D. J. hatte sich ein paar Eröffnungssätze zurechtgelegt – sie ging nie unvorbereitet in ein Gefecht. Doch die ganze Vorbereitung hatte sie nicht auf den Moment vorbereiten können, in dem sie Quinn wiedersah. Sie holte tief Luft, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

Oberstes Gebot: Ein Mann war ein Mann war ein Mann. Einige mochte sie, einigen wünschte sie die Pest an den Hals, und der Rest beeinflusste ihr Leben im Grunde überhaupt nicht. Sie betrachtete sich selbst als sensibel, unabhängig und rational. Warum also bekam sie plötzlich so ein Engegefühl in der Brust, als sie Quinn in der Tür zu seinem Hotelzimmer stehen sah?

Die Nerven, sagte sie sich nachdrücklich. Für gewöhnlich erlaubte sie sich nicht, sie zu spüren, aber ganz offensichtlich wollten sie sie ärgern. Noch ein paarmal tief durchatmen und alles war wieder gut. Wirklich.

Quinn starrte sie mehrere Sekunden lang an und lächelte schließlich. Als sich seine Mundwinkel nach oben bogen, stützte er einen Unterarm lässig am Türrahmen ab und verlagerte sein Gewicht auf ein Bein. Das andere war leicht gebeugt. Er sah entspannt aus … und wie ein Raubtier. Kräftig, groß, mächtig.

Seine äußerliche Ähnlichkeit mit den Haynes-Brüdern nahm einen Teil ihrer Anspannung, aber eben nur einen Teil. Er mochte wie sie aussehen, aber war er auch so vertrauenswürdig wie sie? Spielte das eine Rolle?

„Guten Nachmittag, D. J.“, sagte er. „Was für eine Überraschung.“

Er musterte sie mit seinen dunklen Augen und schien jedes Detail wahrzunehmen.

Wieder verspürte sie den lächerlichen Drang, ihre Frisur zu kontrollieren. Aber sie tat es nicht, sondern taxierte ihn ebenfalls, begutachtete sein blaues kurzärmliges Hemd, das er sich locker in die Jeans gesteckt hatte. Er war barfuß und hatte zerzauste Haare. Auch wenn es mitten am Nachmittag war – er sah aus, als käme er direkt aus dem Bett.

Er stieß sich vom Türrahmen ab und machte einen Schritt zurück. Eine eindeutige Einladung. Komm doch rein.

Selbstbewusst betrat sie das Zimmer, obwohl sie sich gar nicht so fühlte. Ihr Kopf war plötzlich voll bekannter Statistiken: die Anzahl der jährlichen Übergriffe auf Frauen in Hotelzimmern, die Anzahl der Frauen, die nach einem Date in Hotelzimmern vergewaltigt wurden, die Anzahl der …

Sie atmete tief durch und sortierte gewissenhaft ihre Gedanken. Quinn würde sie nicht angreifen. Sie war aus eigenem Antrieb hergekommen. Niemand war betrunken, niemand würde verletzt werden. Alles eine Frage der Perspektive, sagte sie sich. Im Notfall könnte sie ihn einfach zusammentreten und abhauen. Er mochte fünfundzwanzig Kilo mehr an Muskelmasse haben, aber mit seinen nackten Füßen hatte er ihren Armeestiefeln nichts entgegenzusetzen.

„Setz dich“, sagte er und zeigte auf einen Sessel am Fenster.

Sie sah sich in dem Zimmer um: ein großes Bett, ein Tisch mit einem schnörkellosen Stuhl, eine niedrige Kommode, auf der ein Fernseher stand. Es lagen keinerlei persönliche Gegenstände herum, mit Ausnahme eines gebundenen Krimis, der aufgeschlagen auf dem Bett lag. Keine Bilder, kein Portemonnaie, keine schmutzigen Socken.

Statt sich auf den Stuhl zu setzen, den er ihr angeboten hatte, nahm sie sich den Schreibtischstuhl und drehte ihn um. Sie war keine drei Meter von der Tür entfernt. Als sich Quinn auf den Bettrand setzte, hatte sie einen freien Fluchtweg zur Tür wie auch zum Fenster. Auch wenn sie nicht vorhatte, einen von beiden zu benutzen.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie sagen wollte. Irgendwie hatte sie ihre sorgfältig konstruierten Eröffnungssätze alle vergessen. Das sah ihr so gar nicht ähnlich, aber es half nichts – sie musste improvisieren.

„Was du da bei den Planspielen gemacht hast, hat mich beeindruckt“, sagte sie.

Quinn grinste. „Ich bin eben ein beeindruckender Typ.“

Sie ignorierte den Kommentar und das Lächeln und erst recht dieses merkwürdige Kribbeln in ihrem Bauch. War ihr das Sandwich, das sie zu Mittag gegessen hatte, etwa nicht bekommen?

„Ich habe meine Meinung nicht geändert“, fuhr sie fort. „Ich will immer noch, dass du mir beibringst, was du draufhast.“

„Ich habe meine Meinung auch nicht geändert. Danke, aber ich bin nicht interessiert.“

„Ich habe vor, dich zu überzeugen.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Wie denn?“

„Mit allen erforderlichen Mitteln. Ich dachte, wir könnten ein Abkommen schließen. Du gibst mir, was ich will, und ich gebe dir, was du willst.“

Quinn war schon von so einigen Frauen angebaggert worden. Einige waren ehrlich an ihm interessiert gewesen, andere hatten es nur auf sein Geld abgesehen. Dennoch hatte ihn keins dieser Angebote so sehr überrascht wie das von D. J.

Sex gegen Informationen? Warum?

Auf der Suche nach Hinweisen musterte er ihr Gesicht. Er sah nichts außer einer leichten Anspannung, die ihm verriet, dass sie nervöser war, als sie ihn wissen lassen wollte. Er ließ seinen Blick schweifen. Sie trug ein Trägertop und eine enge Jeans. Keinen BH. Er konnte nicht behaupten, dass er nicht versucht war, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass nichts im Leben einfach war. Die Menschen taten alles aus bestimmten Gründen. Was war ihr Grund?

„Was ist so wichtig für dich, dass du dich selbst als Handelsgut anbietest?“, fragte er.

Bei der Frage zuckte sie leicht zusammen, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. „So betrachte ich die Sache nicht.“

Wie betrachtete sie die Sache denn dann? Er konnte sehen, dass es ihr nicht leichtgefallen war, ihm diesen Deal vorzuschlagen. Von ihrer ersten Begegnung wusste er, dass sie furchtlos, entschlossen und immer auf der Suche nach einem Vorteil war. Ihre Platzwahl hier im Zimmer war typisch für sie – sie hatte nicht den bequemeren Sessel auf der anderen Seite des Raumes gewählt, weil der Platz sie in eine benachteiligte Position gerückt hätte. Sie hätte keinen freien Weg zur Tür gehabt, und sich aus den weichen Kissen zu erheben hätte sie wertvolle Sekunden gekostet.

Was also brachte sie dazu, ihm ein solches Angebot zu machen? Wollte sie wirklich nur ein paar Techniken von ihm lernen?

„Meine Arbeit ist mir wichtig“, sagte sie. „Ich habe dir erzählt, dass ich oft engagiert werde, wenn Kinder entführt wurden. Ich bin dafür ausgebildet, mit dem Rettungsteam einzugreifen, und manchmal geraten solche Situationen außer Kontrolle. Dann muss ich improvisieren. Je mehr ich kann, desto besser kann ich reagieren und umso mehr Kinder werden gerettet.“

M-hm, du machst es für die Kinder, dachte er, aber er war weder besonders beeindruckt noch überzeugt. Er zweifelte nicht daran, dass sie gut war, aber das war nicht der Grund für ihren Besuch.

„Und das ist alles?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich unterrichte Selbstverteidigung. Mein Unternehmen bietet alle möglichen Seminare an. Wie schützt man seine Kinder zum Beispiel, oder wie verhält man sich bei einem Überfall. Je mehr ich weiß, desto mehr lernen meine Schüler.“

„Für das, was du tust, bist du bereits bestens ausgebildet“, erwiderte er. Als sie zum Protest anhob, schnitt er ihr das Wort ab. „Wie viele schwarze Gürtel hast du?“, fragte er.

Sie verzog den Mund. „Drei.“

„Kannst du mit Schusswaffen umgehen?“

„Ja, aber …“

Wieder unterbrach er sie – diesmal mit einem kurzen Kopfschütteln. Er stand auf und war nicht überrascht, als sie sich ebenfalls erhob.

Er ging zu ihr hinüber und bedeutete ihr mit einer Geste, einen Schritt vor zu machen. Als sie seiner Aufforderung widerwillig nachkam, umkreiste er sie. Er sah sich die Muskeln an ihren Armen und am oberen Rücken an und ihre schmalen Hüften. Er rief sich in Erinnerung, wie sie gegeneinander gekämpft hatten und was sie bei ihm versucht hatte.

„Du hast deinen Oberkörper trainiert“, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. „Frauen sind dort eigentlich im Nachteil, aber du hast viel getan, um das zu ändern. Du bist stark, du hast Durchhaltevermögen, du bist gut trainiert. Wie gesagt: Du kannst genug.“

„Nicht genug, um dich zu schlagen“, konterte sie.

„Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich Kinder entführe.“

„Ich will die Herausforderung. Das müsstest du doch verstehen.“

Er verstand eine Menge Dinge. Zum Beispiel, dass sie Geheimnisse hatte – genau wie er.

„Du wirst niemals stark genug sein“, sagte er. „Es wird immer jemanden geben, der schneller, klüger und besser ist.“

„Aber dein Wissen könnte mir einen Vorteil verschaffen.“ Sein Wissen. Sein Wissen könnte sie verfolgen wie ein schlechter Traum und in ihr den Wunsch wecken, tot zu sein.

Er wandte sich von ihr ab und ging zum Fenster hinüber. Sie stellte keine Fragen über seine Welt. Sie wollte keine Geschichten hören. Sie war nur an seinen Fähigkeiten interessiert.

Er sah auf seine Hände. Sicher, er könnte ihr Dutzende Dinge beibringen. Würde das reichen? Würde sie sich dann sicher fühlen? Das hing von ihren Geheimnissen ab.

Die Ironie an der Situation war, dass er gern Ja sagen wollte. Nicht weil er ihr irgendeinen ihrer Gründe, warum es für sie so wichtig war, glaubte, sondern weil sie etwas an sich hatte, das ihn faszinierte. Sie war eine reizvolle Kombination aus taff und verletzlich. Aber er hatte vor langer Zeit gelernt, sich allein auf die Arbeit zu konzentrieren und niemals zuzulassen, sich von irgendetwas oder irgendjemandem berühren zu lassen.

Konnte es mit D. J. anders sein? Sie hatte ihn zum Lachen gebracht, hatte ihn vergessen lassen, wer und was er war. Sie hatte ihn daran erinnert, dass es eine normale Welt gab. Sie war taff genug, dass er nicht die ganze Zeit aufpassen musste, und verletzlich genug, dass …

Er unterbrach sich mitten in dem Gedanken. Sie zu wollen war erlaubt. Sie interessant zu finden war dämlich, aber verständlich. Alles andere war ein Hirngespinst, das sein Gehirn wahrscheinlich derart vernebeln würde, dass er dafür bei seinem nächsten Auftrag mit dem Leben bezahlen würde. Das war absolut keine Option.

Ja, er wollte ihr helfen. Aber er konnte es ihr nicht leicht machen. Das würde sie niemals respektieren.

Er drehte sich wieder zu ihr. Sie machte ein teilnahmsloses Gesicht, doch er konnte sehen, wie viel Anstrengung es sie kostete. Sie wollte sein Einverständnis erzwingen oder ihm einen weiteren verlockenden Deal anbieten.

„Du bist nicht fit genug“, sagte er. „Du wärest niemals in der Lage, mit mir mitzuhalten.“

Wenn er etwas über D. J. wusste, dann, wie berechenbar sie war. Sogleich wurde sie wütend und funkelte ihn an. „Ich schaffe alles, was du schaffst.“

„Sicher.“ Er klang absichtlich nicht überzeugt.

„Ich werde es dir beweisen.“

Genau was er wollte.

Er tat, als würde er über ihren Vorschlag nachdenken, obwohl er sich schon längst entschieden hatte, und zuckte dann die Schultern. „Du kriegst eine Chance. Wenn du es vermasselst, ist es aus.“

„Okay.“

„Wir werden morgen früh anfangen. Zuerst laufen gehen, dann ein Work-out. Wenn du mithalten kannst, reden wir darüber, was ich dir beibringen kann. Wenn du zurückfällst oder anfängst rumzujammern, ist es aus.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich jammere nicht rum.“

„Das werden wir ja sehen.“

Er ging zurück zum Bett und setzte sich. D. J. machte es sich wieder auf ihrem Stuhl bequem und bemühte sich, nicht zu zufrieden auszusehen. Den meisten Leuten wäre das leichte Ziehen an ihrem Mundwinkel nicht aufgefallen – oder die Entschlossenheit, die kurz in ihren Augen aufleuchtete. Aber er war darauf trainiert, solche Nuancen wahrzunehmen. Sie war wild entschlossen, am nächsten Morgen so gut zu sein, dass er seine Worte zurücknehmen müsste. Er konnte es kaum erwarten.

Doch zunächst mussten sie sich noch auf die Bezahlung einigen.

„Kein Sex“, sagte er.

„Was?“

„Du wirst mich nicht mit Sex bezahlen.“

„Warum nicht?“, fragte sie etwas argwöhnisch.

Er gestattete sich ein Lächeln. „Das würde es zu leicht machen.“

„Und wie willst du dann bezahlt werden?“

„Das habe ich noch nicht entschieden, aber du wirst es als Erste erfahren.“

Am gleichen Abend fuhr Quinn quer durch die Stadt, um sich mit seinem Bruder in dem Bed & Breakfast zu treffen, wo Gage eingecheckt hatte. Er hatte angeboten, auch für Quinn ein Zimmer zu reservieren, aber Quinn bevorzugte die Anonymität von großen Hotels. In B&Bs musste man geselliger sein, und darin war er nicht immer gut.

Er hatte den Großteil des vergangenen Tages mit seinem Bruder verbracht. Sie hatten viel über ihre neue Verwandtschaft gesprochen. Es waren nicht nur neue Halbbrüder, es gab auch eine Halbschwester, dazu Ehepartner und Kinder. Die Haynes schienen allesamt ein Faible für große Familien zu haben.

Zwischen dem großen Haynes-Clan und seinem und Gages Elternhaus in Possum Landing lagen Welten. Die Reynolds-Familie bildete sich zwar einiges ein auf ihre Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, aber das war nicht annähernd vergleichbar mit der Größe der Familie Haynes.

Er parkte seinen Mietwagen und ging die Treppe zum Haupteingang des großen restaurierten viktorianischen Hauses hinauf. Gage wartete drinnen im vorderen Salon auf ihn. Travis Haynes war bei ihm.

„Hey Quinn.“ Gage schüttelte ihm die Hand, dann klopfte er ihm auf den Rücken. „Du bist noch in der Stadt. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du schon Hals über Kopf abgereist bist.“

„Diesmal nicht.“ Quinns Arbeit verlangte von ihm, darauf vorbereitet zu sein, in kürzester Zeit aufzubrechen. Mehr als ein Heimatbesuch war deshalb unterbrochen worden.

Er begrüßte Travis. „Wenn du hier bist, wer sorgt dann in Glenwood für Recht und Ordnung?“

Travis lachte. „Mein jüngster Bruder.“

Die drei Männer machten es sich auf den weichen Sofas im Salon bequem.

„Quinn, ich muss dich warnen: Meine Frau spricht bereits von einem großen Familientreffen“, sagte Travis. „Seit Gage, Nash und Kevin aufgetaucht sind, gab es davon schon so einige. Ich dachte, Elizabeth hätte es nicht mehr auf dem Schirm. Aber nun, da du hier bist, möchte sie nicht, dass du dich irgendwie vernachlässigt fühlst. Also mach dich auf etwas gefasst. Wir sprechen von Picknicks, Bowlingabenden, Grillfesten, solche Sachen halt. Frauen, Kinder, Hunde und Babys.“

Quinn verdächtigte seinen Bruder, auf seinen Mangel an Geselligkeit hingewiesen zu haben. „Durch den einen oder anderen Grillabend kann ich mich schon irgendwie durchwursteln.“

„Gut. Ich werde mein Bestes geben, um alles einfach zu halten, aber ehrlich gesagt hört Elizabeth nicht auf mich. Sie war schon immer sehr unabhängig.“

Er sprach mit der souveränen Zuneigung eines Mannes, der sich in seiner Beziehung sicher fühlte. Quinn wusste, dass Travis mehrere Kinder hatte und fest verwurzelt war in seiner Gemeinde. Gage wäre in der Lage, sich mit so einem Leben zu identifizieren, aber für Quinn war es so fremd wie Leben auf dem Mars. Er hatte dem normalen Leben an dem Tag den Rücken gekehrt, als er seine momentane Arbeit übernommen hatte. Damals hatte man ihn davor gewarnt, dass es eine Entscheidung für immer war. Nicht der Job würde ihn daran hindern, in diese Welt zurückzukehren, sondern das, was er gesehen hatte – was er geworden war.

Zuerst hatte Quinn das nicht geglaubt, aber inzwischen wusste er, dass sie recht hatten. Er lebte in einer schattenreichen Welt, in der es keinen Platz gab für Beziehungen, Zuneigung oder Verpflichtungen. Lange Zeit hatte ihn das nicht gestört, aber vor Kurzem hatte er angefangen, sich zu fragen, ob es nicht noch etwas anderes gab, außer am Leben zu bleiben und den Job zu erledigen.

„Wir reden alle darüber, wie du D. J. besiegt hast“, sagte Travis grinsend. „Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie immer noch wütend auf dich, weil du deine Fesseln durchgeschnitten hast und entkommen bist, während sie geschlafen hat.“

Quinn zuckte mit den Schultern. „Sie war gut.“

„Nicht gut genug“, erwiderte Travis. „Ich weiß nicht, was genau du machst, aber du bist gut ausgebildet.“

Gut ausgebildet war die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Wer ist sie?“, fragte er. „Ich weiß, dass sie Selbstverteidigungskurse für Frauen gibt und für die Sicherheit von Kindern sorgt, aber wo hat sie ihre Ausbildung gemacht?“

Travis zog die Augenbrauen hoch. „Interessant. Die Lady hat sich auch nach dir erkundigt.“

Es gefiel Quinn, dass D. J. an ihn gedacht hatte. War er doch mehr für sie als nur ein potenzieller Lehrmeister? Er dachte an ihr Temperament, ihre Kompetenz und den sanften Druck ihres leichten Kusses.

Ärger, dachte er. Aber von der besten Sorte.

„Interessierst du dich für sie?“, fragte Gage. „Sie entspricht nicht gerade deinem Beuteschema.“

Quinn lachte. „Allerdings nicht.“

Gage sah zu Travis. „Mein Bruder neigt dazu, sich hübsche Frauen auszusuchen, die nicht viel zu sagen haben.“

„Ich unterhalte mich eben nicht so gern.“

„Ich weiß, dass das nicht stimmt.“

„Ich habe es gern einfach.“

„D. J. ist vieles, aber nicht einfach und nicht bequem“, warnte Travis ihn.

„Das habe ich schon gemerkt“, entgegnete Quinn.

D. J. war eine Herausforderung. In der Vergangenheit war er nicht in der Lage gewesen, was zu riskieren. Er konnte sich auf nichts einlassen, das mehr als ein paar Tage dauerte. Verpflichtungen gehörten nicht zu seinem Job. Nachdem man manchmal monatelang am Rande der Menschlichkeit gelebt hatte, wurden Verpflichtungen zu einer Unmöglichkeit.

Waren sie jetzt möglich? Konnte er sich noch daran erinnern, wie es sich anfühlte, wenn man eine Frau nicht nur für den Sex wollte? Zum ersten Mal seit Jahren spürte er, dass etwas anderes möglich war. D. J. war vielleicht die einzige Frau, der er je begegnet war, der er die Wahrheit über sich erzählen konnte. War das für sie beide eine gute Sache?

„Sie ist seit ungefähr vier Jahren in der Stadt“, erzählte Travis ihm. „Vorher lebte sie in Südkalifornien. Wenn du mehr Hintergrundinfos haben willst, musst du sie selbst fragen.“

„Geht klar.“

Travis beugte sich vor. „Quinn, du gehörst zur Familie. Meine Brüder, Hannah und ich sind froh, dass Gage und du uns gefunden habt. Wir wollen euch besser kennenlernen. Unser Vater hat sich einen Scheißdreck für seine Kinder interessiert, deswegen haben wir schon früh gelernt, uns selbst umeinander zu kümmern.“ Er zögerte, dann zuckte er mit den Schultern. „D. J. ist nicht wie andere Frauen. Sie ist taff und entschlossen. Eine höllisch gute Kämpferin. Aber tief drinnen – ich kann es nicht erklären. Ich werde kein Idiot sein und dir erzählen, dass du die Finger von ihr lassen sollst. Aber sie liegt mir sehr am Herzen. Uns allen.“

„Ich verstehe.“

Das tat er wirklich. Travis war hin- und hergerissen zwischen den neu entdeckten Familienbanden sowie der Loyalität, die damit einherging, und seiner Beziehung zu D. J. Er wollte nicht, dass Quinn D. J. benutzte und dann wegwarf.

Gage schüttelte den Kopf. „Travis, ich denke, sie ist durchaus in der Lage, selbst auf sich aufzupassen.“

„Ich weiß.“ Doch er klang nicht so richtig überzeugt. Das kam ebenfalls bei Quinn an. Trotz allem hatte D. J. etwas Verletzliches an sich, so als ob sie noch schweres Gepäck aus ihrem früheren Leben mit sich herumschleppte.

Quinn überlegte kurz, ob er Travis irgendwie beschwichtigen sollte, aber sein Halbbruder kannte ihn im Grunde gar nicht. Worte waren bedeutungslos, bis sie durch Taten untermauert wurden. Mit der Zeit würde Travis schon erkennen, dass Quinn keinerlei Interesse daran hatte, irgendwen zu benutzen. Für ihn war D. J. einmalig und reizvoll.

Was würde Travis sagen, wenn er wüsste, dass D. J. Quinn Sex angeboten hatte, wenn er ihr im Gegenzug beibrachte, was sie lernen wollte? Er hatte das ungute Gefühl, dass Travis ihm nicht glauben würde und die Sache vielleicht sogar aus dem Ruder laufen könnte. Nicht so gut für ihr brüderliches Band.

Nein, diese Information behielt er lieber für sich. Quinn würde nichts sagen, und er bezweifelte, dass D. J. in die Welt posaunen würde, was sie gemacht hatte. Es wäre ihr kleines Geheimnis … und es erinnerte ihn daran, dass er sich immer noch überlegen musste, wie sie ihn bezahlen sollte. Es gab endlos viele Möglichkeiten.

Etwa eine Stunde später fuhr Travis nach Hause. Quinn sah auf seine Uhr. „In deinem Zimmer wartet doch sicher eine Blondine auf dich“, sagte er zu Gage.

„Nein. Kari ist für ein paar Tage in San Francisco, um dort eine Freundin zu besuchen. Wir könnten uns eine Flasche Scotch kaufen und uns volllaufen lassen.“

Quinn hob die Hände. „Danke, aber ich bin nicht in der Stimmung für einen Kater.“

Gage lachte. „Ich auch nicht. Ich schätze, wir werden alt.“

„Das ist der Lauf der Welt.“

Sein Bruder streckte die Beine vor sich aus und legte die Hände auf seinen Bauch. „Ich habe heute mit Mom gesprochen. Sie und John feilen noch an den letzten Details für die Hochzeit. Meinst du, du wirst dir freinehmen können?“

„Keine Ahnung. Ich werde mein Bestes geben.“

„Mom würde sich sehr freuen, wenn du kommen würdest.“

„Ich möchte gern kommen.“

Quinn fand, dass er in den vergangenen zehn Jahren so viele Feiertage und besondere Anlässe verpasst hatte, dass es für drei Leben reichte. Als sein Vater – in diesem Falle Ralph Reynolds – noch am Leben war, hatte es ihm nichts ausgemacht fernzubleiben, aber inzwischen war es ihm wichtig geworden.

Er musterte Gage. Sie sahen sich so ähnlich, dass jeder sie sofort für Brüder hielt. Gage, der ein Jahr älter war, war der Lieblingssohn gewesen. Ein begnadeter Athlet, klug, beliebt. Lange Zeit war Quinn dicht hinter ihm gewesen, hatte seine sportlichen Rekorde fast erreicht und manchmal sogar überboten. Er hat genauso gute Noten gehabt, in einigen Fächern sogar bessere, doch das hatte keine Rolle gespielt. Nicht für den Mann, der sie großgezogen hatte. In seinen Augen konnte Gage nichts falsch machen und Quinn nichts richtig.

„Du vermisst ihn immer noch?“, fragte er.

Gage sah ihn an. „Dad?“

Quinn nickte.

„Manchmal schon. Für mich ist er einfach mein Vater.“ Er verzog das Gesicht. „Anfangs war das anders. Als ich von der Sache erfuhr, dachte ich, meine Welt würde zusammenbrechen. Ich wusste nicht, wer ich war oder wohin ich gehörte.“

„Fünf Reynolds-Generationen in Possum Landing“, sagte Quinn.

„Genau. Und plötzlich gehörte ich nicht mehr dazu.“

Für Quinn war das eine gute Sache, aber er wusste, dass sein Bruder anderer Ansicht war.

„Was hat deine Meinung geändert?“, fragte er.

Gage lächelte. „Kari. Sie hat mir den Kopf zurechtgesetzt und mir gesagt, ich müsse langsam darüber hinwegkommen. Ich brauchte nicht lange, um zu kapieren, dass sie recht hatte. Dad hatte Mom vielleicht nicht geschwängert, aber in allem, was zählte, war er trotzdem mein Vater.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Nicht gerade tröstlich für dich, ich weiß.“

Quinn zog eine Schulter hoch. „Er war eben, wie er war.“

„Es gab einen Grund für seinen Hass auf dich.“

Quinn schaute ihn an. „Das habe ich auch schon begriffen.“

„Wie meinst du das?“

„Du sagtest, dass sie keine Kinder haben konnten und Mom von Earl Haynes schwanger wurde. Das war der Deal. Aber irgendetwas ist passiert, sodass sie im folgenden Jahr noch mal zu Earl fuhr. Ich weiß nicht, ob sie einfach nur mit ihm reden wollte oder ob sie mehr im Hinterkopf hatte, aber auf jeden Fall kam sie schwanger zurück. Ist doch klar, dass Ralph das nicht besonders toll fand. Du warst der Sohn, den er immer wollte. Ich war die lebende, atmende Erinnerung an die Untreue seiner Ehefrau.“

Gage setzte sich gerade hin und fluchte. Seine Reaktion verriet Quinn, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte – von seinem betroffenen Gesichtsausdruck ganz zu schweigen.

Nachdem er die ganze Logistik rund um die Schwangerschaft seiner Mutter verstanden hatte, war ihm alles andere auch klar gewesen. Seltsam – noch vor ein paar Jahren hätte er seine Seele verkauft, um zu verstehen, wie der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, Gage so sehr lieben und ihn mit derselben Intensität hassen konnte. Er erinnerte sich an die Zeit, als er zehn war und sich in den Schlaf geweint hatte. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihn gehalten und versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, dass sein Vater ihn nicht hasste. Er hatte sie angefleht, ihr zu sagen, warum sich sein Vater so verhielt, und sie hatte es nie getan. Wie konnte sie nur?

Nach all der Zeit hatte er es endlich verstanden und stellte fest, dass die Wahrheit nichts änderte. Sie hatte damals keine Rolle gespielt, und sie tat es auch heute nicht.

„Tut mir leid“, sagte Gage.

„Es war nicht deine Schuld. Ich bin mir nicht mal sicher, ob überhaupt irgendwer schuld war.“

Der alte Mann war tot. Quinn konnte die Vergangenheit endlich ruhen lassen und nach vorne sehen.

„Du und Kari – habt ihr schon ein Datum festgelegt?“, fragte er.

Gage zögerte, als wäre er nicht sicher, ob er das Thema so einfach wechseln wollte. Dann grinste er. „Silvester. Sie sagt, weil das romantisch ist, aber ich denke, sie will sichergehen, dass ich niemals den Hochzeitstag vergesse.“

Quinn hatte seinen Bruder mit der großen, hübschen Blondine gesehen und war überrascht, dass sie so lange warten wollten, bis sie sich für ewig aneinander banden. „Warum so spät?“

„Wegen Moms Hochzeit. Wenn Kari und ich uns ein früheres Datum ausgesucht hätten, hätte Mom ihre eigenen Pläne zurückschrauben müssen. Sie und John wollen für die Flitterwochen nach Australien fahren, für länger. Keiner von uns wollte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Kari und ich haben noch das ganze Leben vor uns. Ein paar Monate zu warten spielt da keine Rolle.“

Gage wusste genau, wo er auf dieser Welt hingehörte. Das war schon immer so gewesen. Er war derjenige, der ins Bild passte, und jetzt hatte er die Frau dazu gefunden.

Quinn freute sich für ihn. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie niedergeschlagen sein Bruder gewesen war, als Kari ihn vor acht Jahren verlassen hatte. Gage hatte ein „Für immer und ewig“ mit einer jungen Frau geplant, die sich ihre Zukunft jedoch anders vorgestellt hatte. Trotzdem war es ihnen irgendwie gelungen, einander wiederzufinden.

„Denkst du manchmal darüber nach, was passiert wäre, wenn Kari damals nicht die Stadt verlassen hätte?“, fragte er.

Gage nickte. „Früher habe ich andauernd darüber nachgedacht. Als sie nach Possum Landing zurückkam, wurde mir klar, dass wir damals zu jung waren. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es geschafft hätten. Aber diesmal weiß ich, dass eine lange gemeinsame Zukunft vor uns liegt.“

„Das ist schön.“

Sein Bruder sah ihn an. „Ich würde dich gern fragen, ob es in deinem Leben auch jemanden gibt.“

Quinn lachte. „Ich bleibe nie lange genug, als dass so etwas passieren könnte.“

„Wird sich das jemals ändern?“

Dableiben? „Ich habe darüber nachgedacht“, gab er zu.

„Ich werde dich nicht nach deinem Job fragen“, sagte Gage. „Aber wenn du reden willst, bin ich bereit zuzuhören.“

„Das weiß ich zu schätzen.“

„Wenn du über Dad reden willst, höre ich dir auch gern zu.“

Quinn wusste, dass das ein ehrlich gemeintes Angebot war, aber nach all den Jahren gab es nicht mehr viel zu sagen über Ralph Reynolds.

5. Kapitel

Fünf Minuten vor ihrer Verabredung mit Quinn traf D. J. in dem Park ein, in dem sie sich treffen wollten. Sie war die drei Blocks von ihrem Büro zu Fuß gegangen und hatte die Zeit genutzt, einen klaren Kopf zu kriegen und sich zu konzentrieren. Besonders gut war ihr das nicht gelungen.

Schlafmangel, sagte sie sich, während sie ihre Beine dehnte. Unter anderen Umständen würde sie sagen, sie sei nervös. Aber nicht diesmal. Dazu gab es keinen Grund. Quinn war einfach nur irgendein Typ, der Dinge konnte, die sie lernen wollte. Sonst nichts.

Als sie sich nach vorn beugte, um ihre rückseitige Oberschenkelmuskulatur zu dehnen, presste sie die Lippen zusammen. Okay, vielleicht – nur vielleicht – löste Quinn etwas in ihr aus, das sie so noch nicht erlebt hatte. Vielleicht war es auf ihrer Seite doch mehr als die bloße Bewunderung seiner Fähigkeiten. Sie drückte die Handflächen ins Gras und spürte das Ziehen in der Rückseite ihrer Beine. Vielleicht fand sie ihn attraktiv.

D. J. fühlte sich mit diesem Konzept nicht besonders wohl. Zwar gab sie gern zu, dass einige Männer besser aussahen als andere. Doch für gewöhnlich war ihr das egal. Wenn sie sich für ihren Körperbau interessierte, ging es dabei eher um den potenziellen Grad der Bedrohung. Es spielte doch überhaupt keine Rolle, ob sie Quinn attraktiv fand, oder?

Sie schlang die Arme um ihre Waden, drückte das Gesicht an ihre Knie und richtete sich wieder auf. Und hätte fast geschrien.

Quinn stand keine drei Meter vor ihr. Irgendwie hatte er sich so leise angeschlichen, dass sie ihn nicht gehört hatte. Ihr Herz fing an zu rasen, und auf dem Rücken brach ihr der Schweiß aus. Das alles zeigte ihr, wie verwundbar sie war, und sie wäre gern ein paar Meter zurückgewichen. Doch sie zwang sich, stehen zu bleiben.

„Morgen“, begrüßte er sie lässig lächelnd. „Bereit für einen Tritt in den Hintern?“

Scheinbar selbstbewusst stemmte sie die Hände in die Hüften. „Solang es deiner ist.“

„Wir werden sehen. Hast du dich schon aufgewärmt?“

Sie nickte.

„Dann los.“

Er machte sich in Richtung Joggingpfad auf, und sie lief neben ihm.

Sie trugen beide Shorts und ein T-Shirt. So früh am Morgen hingen noch ein paar Nebelschwaden in der Luft, doch die würden sich bald lichten, und dann würde es warm werden. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt auf ihre Klamotten achtete, aber sie selbst konnte nicht umhin, seine muskulösen Oberschenkel zu bemerken und seine breiten Schultern in dem abgetragenen T-Shirt. Einmal mehr erinnerte er sie an ein Raubtier.

Sie sagte sich, dass das leichte Zusammenkrampfen ihres Magens eine natürliche Reaktion auf die unmittelbare Nähe zu einem gefährlichen Tier war und rein gar nichts mit seinem durchtrainierten Körper oder seiner ganzen männlichen Erscheinung zu tun hatte.

D. J. passte sich Quinns langen Schritten an und atmete langsam und gleichmäßig.

„Am Ende des Laufes müssen wir ein Fitnessstudio finden“, sagte er. „Ich habe eine Route ausgesucht, die bei deinem Büro endet. Ich dachte mir, du kennst bestimmt das nächstgelegene Studio für ein Work-out.“

Woher wusste er, wo sie arbeitete? Travis oder Kyle, sagte sie sich. Sie wussten, wo ihr Büro lag, und sie gehörten zu Quinns neuer Familie.

„Ich habe einen Kraftraum hinten im Büro“, erwiderte sie, als sie unter mehreren Bäumen entlangjoggten. „Wir können dort trainieren.“

„Super.“ Er warf ihr ein Lächeln zu und beschleunigte das Tempo. „Sind zehn Kilometer okay für dich?“

Zehn Kilometer? Mit Vollgas? „Kein Problem.“

Sie kamen schneller an ihrem Büro an, als sie für möglich gehalten hätte. D. J. hielt sich für ziemlich sportlich, aber Quinn hatte das Lauftempo immer weiter angezogen, bis sie nach Luft geschnappt hatte. Doch sie hatte mitgehalten und sich nicht beklagt.

Nachdem sie die Eingangstür aufgeschlossen hatte, ging sie in das leere Empfangsbüro. Ihre Teilzeithilfe fing immer erst nach dem Mittagessen an.

Sie hatte ein paar Wasserflaschen auf dem Empfangstisch liegen lassen. Nachdem sie Quinn eine Flasche zugeworfen hatte, nahm sie sich selbst eine und trank ein Drittel davon. Sie wollte mehr, wusste aber, dass sie warten musste, bis sie sich ein wenig abgekühlt hatte.

Der Schweiß tropfte von ihrem Körper. Am Morgen hatte sie sich die Haare zu einem französischen Zopf geflochten. Nun klebte das lange Ende an ihrem T-Shirt. Ihr war heiß, sie war rot, und sie verspürte das dringende Bedürfnis zu duschen. Aber es stand ja noch der zweite Teil der Prüfung an.

„Der Kraftraum ist dahinten“, sagte sie und sprach betont langsam, um nicht zu keuchen.

Im Gegensatz zu ihr wirkte Quinn, als hätte der Lauf ihn kein bisschen angestrengt. Er schwitzte zwar, war aber überhaupt nicht außer Atem. Er trank sein Wasser.

Sie führte ihn den kurzen Flur entlang zu dem großen offenen Hinterzimmer. Als sie auf der Suche nach Büroräumen gewesen war, hatte sie extra darauf geachtet, dass es genügend Platz für einen Kraftraum gab. An der hinteren Wand befanden sich Spiegel. Auf der rechten Seite des Raumes standen Kraftmaschinen, während sich linker Hand ein mit dicken Matten ausgestatteter Sparringsbereich befand.

D. J. trank ihr Wasser aus und warf die leere Plastikflasche in einen grünen Abfalleimer für Recyclingmüll. Dann drehte sie sich zu Quinn um.

„Wir können anfangen“, sagte sie.

Er zog die Augenbrauen hoch. „Am besten zeigst du mir dein Routinetraining.“

Eigentlich trainierte sie lieber allein, aber darum ging es jetzt nicht.

Sie schnappte sich zwei Zehn-Kilo-Hanteln und begann mit Ausfallschritten. Anschließend ging sie an die Geräte. Quinn sagte nichts, während sie verschiedene Übungen durchlief, doch sie konnte seine Blicke spüren. Seine stille Aufmerksamkeit wurde ihr allmählich lästig, aber richtig unbehaglich wurde ihr erst, als er in ihr Work-out einstieg und sie seine körperliche Kraft wahrnahm. An der Beinpresse schaffte er fünfunddreißig Kilo mehr als sie. Nachdem sie mit einem Set Gewichte fertig war, hob er sie mit einer Hand auf, als würden sie nichts wiegen. Als sie zum Bankdrücken ging und so viele Gewichte auf die Langhantel lud, dass ihre Muskeln beim letzten Satz zitterten, stand er neben ihrem Kopf und sah ihr zu. Nachdem sie fertig war, sammelte er das Equipment beiläufig ein und verstaute es, ohne auch nur ein Mal schwer zu atmen. Sie machte eine Pause, um sich den Schweiß von Gesicht und Nacken zu wischen, und musterte ihn im Spiegel, seine kräftigen Brustmuskeln und seine durchtrainierten Beine. Dabei sah er nicht aus wie einer dieser Typen aus dem Fitnessstudio. Seine Muskeln erfüllten einen Zweck. Er war der Typ Mann, der wusste, wie man seinen Lebensunterhalt auf die harte Tour bestritt.

Er machte ihr Angst.

D. J. schluckte das Gefühl herunter und konzentrierte sich wieder auf die Trizepspresse. Dann lehnte sie sich auf der Bank zurück und atmete kräftig aus.

„Das war’s“, sagte sie und fragte sich, ob sie genügend Kraft hatte, um aufzustehen. Ihre Knochen fühlten sich an, als hätten sie sich in Knete verwandelt. Ihre Muskeln waren so widerstandsfähig wie gekochte Nudeln.

„Nicht schlecht“, sagte er und hielt ihr die Hand hin.

Sie sah von der Hand zu seinem Gesicht und zurück. Sie verstand die Geste. Er bot ihr an, ihr hochzuhelfen. Der logische, rationale Teil ihres Gehirns riet ihr, Kraft zu sparen und die Hilfe anzunehmen. Die weniger kontrollierte Seite ihrer Psyche warnte sie, dass er sie, wenn er erst ihre Hand in seiner hatte, spielend leicht herumdrehen und in einen Schwitzkasten nehmen könnte, aus dem sie sich niemals würde befreien können.

Mit Bedacht nahm D. J. seine Hand und zog sich hoch.

Nichts Schlimmes passierte – abgesehen davon, dass sie schließlich viel zu dicht vor Quinn stand. Zwischen ihnen lagen nur noch wenige Zentimeter. Sie war ihm so nah, dass sie die verschiedenen Braun- und Goldtöne erkennen konnte, die seine Iris färbten.

„Du trainierst hart“, sagte er. „Du hast Kraft und viel Disziplin.“

Seine Worte erfreuten sie. „Toll. Dann können wir also …“

Er schnitt ihr mit einem Lächeln das Wort ab. „Jetzt wollen wir mal sehen, was du auf den Matten draufhast.“

Am liebsten hätte sie aus Protest aufgestöhnt. Sie wollte sich nur noch auf den Boden legen und eine Woche schlafen. Sie wollte eine Ganzkörpermassage gefolgt von einigen Saunagängen. Beim Gedanken daran, ihr Gewicht auch nur eine Sekunde länger zu tragen, zitterten ihre Beine.

„Warum nicht?“, erwiderte sie scheinbar ungerührt und ging voran zu den Kampfmatten.

Quinn stand ihr gegenüber. Er war entspannt, hatte die Beine leicht gebeugt und ließ die Arme seitlich herabhängen.

„Greif mich an“, forderte er sie auf.

D. J. wünschte, sie wäre so stark, dass sie sich einfach auf ihn setzen und die Luft aus ihm herausdrücken könnte. Aber das war sie nun mal nicht, und so blieb ihr keine andere Option, als zu tun, was er verlangte.

Sie erwog verschiedene Taktiken. Ihre einzige Chance, eine annehmbare Vorführung zu präsentieren, war, ihn zu

überraschen. Sie fingierte einen Schlag mit der rechten Hand, wandte sich nach rechts, machte eine Vierteldrehung in seine Richtung und trat ihn direkt in sein …

Klonk. Der Fußboden kam aus dem Nichts angeflogen, als sie sich flach auf dem Rücken liegend wiederfand. Jetzt war sie nicht nur müde, sondern ihr tat alles weh. Sie rappelte sich wieder auf.

„Noch mal“, sagte er.

Sie griff ihn ein zweites Mal an, sogar ein drittes und viertes – leider ohne besseres Ergebnis. Als sie das letzte Mal zu Boden ging, stand sie zu dicht am Rand der Matte und knallte mit dem Ellbogen auf den harten Holzfußboden. Es tat so weh, dass ihr sofort schlecht wurde.

Quinn kniete sich neben sie. „Geht’s?“

Sie nickte nur und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen, als er ihren Arm berührte und den Ellbogen untersuchte.

„Ist nichts gebrochen“, erklärte er.

Super. Wenn „nicht gebrochen“ so wehtat, wie war es dann, wenn der Knochen wirklich kaputtging? Als Kind hatte sie sich mal den Arm gebrochen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es so wehgetan hatte.

Sie zwang sich, wieder aufzustehen, und rechnete damit, dass sie ihn noch einmal angreifen sollte. Stattdessen stellte er sich vor sie.

„Wir machen das mal in Zeitlupe“, sagte er. „Du fängst an, dich zu bewegen, und ich zeige dir, wie ich pariere.“

Schritt für Schritt führte er sie durch den Bewegungsablauf, bis sie erkannte, wie es ihm gelungen war, sie jedes Mal zu stoppen.

„Jetzt, wo du weißt, was ich machen werde, kannst du anders reagieren“, sagte er.

„Okay.“

„Bereit?“

Sie nickte und fing an. Als er dieses Mal herumwirbelte und sie packen wollte, sprang sie außer Reichweite. Nanosekunden später schoss sein Bein hervor und traf sie, ein Arm bewegte sich, und sie wurde herumgewirbelt und segelte abermals auf die Matte. Doch statt ein paar Schritte nach hinten zu machen, so wie er es zuvor getan hatte, bewegte er sich nach vorn und beugte sich zu ihr.

D. J. hatte nicht erwartet, dass er ihr so nahe kommen würde. Während sie nach Luft rang, verschwamm ihre Wahrnehmung an den Rändern. Quinn verschwand, und an seiner Stelle sah sie ihren Vater bedrohlich über sich auftauchen. Sie konnte den Alkohol riechen. Warum sagten eigentlich immer alle, dass man von Wodka keine Fahne bekam? Es stimmte nicht, und D. J. krampfte sich der Magen zusammen, als sie die blutunterlaufenen Augen des Mannes sah. Und den wütenden Zug um seinen Mund. Der Baseballschläger, den er in der Hand hielt, wanderte nach oben und senkte sich dann langsam auf sie herab. Sie wappnete sich für den Moment, in dem das harte Holz knirschend auf ihre Knochen träfe, und versuchte, nicht an den Schmerz zu denken, der in ihr explodieren würde, wenn er nicht nur ihren Körper zerbrach, sondern auch ihre Seele.

Sie blinzelte, und er war weg. Da war nur noch Quinn, der auf sie herabstarrte. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen, als er lächelte.

„Der Sturz hat dir die Luft genommen“, sagte er. „Kannst du wieder atmen?“

Konnte sie? Sie machte versuchsweise einen Atemzug und spürte, wie sich ihre Lunge mit Luft füllte. Ihr war heiß und kalt zugleich, als hätte sie plötzlich Fieber bekommen. Sie konnte die Panik schmecken – metallisch, wie Blut.

„Du hast Potenzial“, sagte Quinn, als er ihr wieder die Hand hinhielt.

Sie hätte am liebsten geschrien, wäre gern weggerannt, verschwunden. Doch sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass der einzige Weg, ihre Angst zu besiegen, die direkte Konfrontation war. Sie nahm die angebotene Hand und ließ sich hochziehen.

Dann ging sie mit einer Ruhe, die sie nicht fühlte, zu dem kleinen Kühlschrank in der Ecke und nahm eine Flasche Wasser heraus.

„Auch eine?“, fragte sie.

„Gern.“

Sie warf ihm eine zu und nahm ihre in die Hand. Nachdem sie die halbe Flasche geleert hatte, legte sie sich das kühle Plastik in den Nacken. Dann ging sie an der langen Seite des Kraftraums auf und ab und versuchte, sich zu beruhigen.

Irrationale Angst ruft eine chemische Reaktion im Körper hervor, rief sie sich ins Gedächtnis. Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion wird aktiviert, und man hat seine Gedanken nicht länger unter Kontrolle.

Es ging ihr gut. Oder besser gesagt: Sie wusste, dass es ihr in ein bis zwei Minuten wieder gut gehen würde.

Dreimal ging sie hin und her, bevor sie einen Blick zu Quinn riskierte. Er beobachtete sie. Obwohl sie wusste, dass er auf keinen Fall wissen konnte, was soeben passiert war, fühlte sie sich trotzdem verletzlich und verängstigt.

Angst. Sie hasste Angst. Angst war Schwäche, und das einzige Gegenmittel war Stärke.

Sie blieb vor ihm stehen. „Und?“ Es klang wie eine Herausforderung.

„Ich werde dich unterrichten“, antwortete er.

Erleichtert sah sie ihn an, aber die Vorstellung beunruhigte sie auch. Sie wollte lernen, aber warum musste er derjenige sein, der sie unterrichtete?

„Super.“ Sie trank das restliche Wasser. „Wie lange bleibst du in der Stadt?“

„Ein paar Wochen.“

Das überraschte sie. „Musst du nicht zurück zu deiner Arbeit oder wie auch immer du das nennst?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin im Urlaub. Freiwillig. Aber ich werde lange genug hier sein, um dir ein paar neue Bewegungsabläufe beizubringen.“

Urlaub? Warum? Aber sie fragte nicht. Es gab eine wichtigere Frage.

„Was willst du dafür?“

Er schraubte den Deckel von der Wasserflasche und trank die Flüssigkeit in mehreren großen, langsamen Schlucken. Ein einzelner Tropfen stahl sich aus seinem Mundwinkel. Sie folgte ihm mit ihrem Blick, wie er seinen Hals hinunterlief und mit dem Schweiß verschmolz, der dort glänzte. Als er fertig war, sah er sie an.

„Mal sehen“, sagte er. „Du hast mir Geld und Sex angeboten. Was hast du noch zu bieten?“

Die unverblümte Frage verblüffte sie. „Du bist derjenige, der den Preis festlegen muss. Ich entscheide, ob ich ihn zahlen will.“

„Stimmt.“ Er sah sie von oben bis unten an. „Okay. Hier ist der Deal. Ich bringe dir bei, was du willst. Im Gegenzug leistest du mir Gesellschaft, solange ich in der Stadt bin.“

Sie entspannte sich augenblicklich. „Du meinst Sex.“

„Ich meine Abendessen.“

„Was?“

„Abendessen. Das ist die Mahlzeit, die nach dem Mittagessen kommt. Ich möchte, dass du heute Abend mit mir zusammen isst.“

Die Worte „nein, verdammt“ lagen ihr auf der Zunge, und sie trat einen Schritt zurück. „Ein Abendessen als Gegenleistung für Unterrichtsstunden, solange du in der Stadt bist?“, fragte sie.

„Wir fangen mit einem Abendessen an. Vielleicht kommt noch mehr hinzu. Möglicherweise möchte ich, dass du auch mit mir zusammen zu Mittag isst.“

Das gefiel ihr überhaupt nicht, und sie hätte gern abgelehnt. Erstens ergab es keinen Sinn. Zweitens hasste sie es, wenn etwas ein offenes Ende hatte. Sie wollte die Regeln im Vorhinein festlegen.

„Du kennst dich hier aus, du kannst das Restaurant aussuchen“, sagte er. „Aber nichts Billiges. Kein Fast Food, keine Burgerläden. Irgendwas Nettes. Und du musst ein Kleid tragen. Ich will Dekolleté und Bein sehen.“

Für die letzte Bemerkung hätte sie ihm am liebsten eine verpasst. „Ich will kein Date.“

„Das ist kein Date. Es ist geschäftlich.“

Er kam näher. Sie machte sich bereit, einen Angriff abzuwehren, doch er strich nur eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr. Nur zu gern hätte sie sich der zärtlichen Geste hingegeben. Aber natürlich tat sie das nicht.

„Ich war lange Zeit im Ausland“, fuhr er fort. „Ist es so schwer zu glauben, dass ich mit einer schönen Frau zu Abend essen möchte?“

Vor lauter Überraschung hätte sie sich beinahe verschluckt. „Einigermaßen attraktiv“ hätte sie ihm abgekauft, aber „schön“?

„Ich spiele keine Jungs-Mädchen-Spiele“, erwiderte sie. „Die sind alle so, dass die Jungs am Ende mit Sicherheit gewinnen.“

„Ich bin kein Junge.“

Das war eine klare Ansage. Sie kniff die Augen zusammen.

„Abendessen als Gegenleistung für Unterricht. Das ist doch ein guter Deal!“, meinte er grinsend.

Am liebsten hätte sie ihm sein Angebot ins Gesicht geworfen, aber sie konnte nicht sagen, warum. Was war so schlimm daran, mit ihm zu Abend zu essen? Eigentlich war es einfacher, als mit ihm zu schlafen. Außer dass Sex für sie kaum mehr war als eine Körperfunktion. Beim Sex konnte sie den Kopf von ihrem Körper abkoppeln, und dann würde es nichts bedeuten. Aber Abendessen … Abendessen war kompliziert.

„Na schön“, stieß sie durch zusammengebissene Zähne hervor. „Abendessen.“

„Ich hole dich um sieben ab.“

„Nein, ich komme bei dir im Hotel vorbei.“

„Meinetwegen.“

Sie sah auf die Uhr an der Wand. „Du hast doch bestimmt noch einen Termin, oder?“

Er lachte. „Sehr subtil, D. J., wirklich sehr subtil.“ Aber er machte keine Anstalten zu gehen.

„Ich habe zu arbeiten“, sagte sie. „Der Laden muss schließlich laufen.“

„Schon gut. Beantworte mir nur eine Frage.“

Sie wusste bereits, dass ihr nicht gefallen würde, was gleich käme, aber sie war auf alles gefasst. „Was?“

„Warum wirft dich ein Abendessen mit mir mehr aus der Bahn als das, was du mir davor angeboten hast?“

Natürlich wollte er den Grund wissen für ihr Unbehagen. Sie suchte nach einer guten Lüge, aber ihr fiel keine ein. Womit nur die Wahrheit blieb.

„Sex ist einfach, weil er nichts bedeutet.“

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Kann er aber.“

„Hat er das für dich jemals? Nur ein einziges Mal?“

Er zögerte. „Ein paarmal vielleicht.“

„Genau. So ist es für Männer. Warum muss es bei mir anders sein?“

„Muss es doch gar nicht“, meinte er. „Bis heute Abend.“

Und damit verließ er den Raum und ging in Richtung Büro. Als die Eingangstür hinter ihm ins Schloss fiel, stieß D. J. einen Seufzer der Erleichterung aus. Das war vorbei.

Nur, dass es nicht vorbei war.

Obwohl Quinn das Büro verlassen hatte, konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken. Beim Gedanken an das gemeinsame Abendessen verspürte sie eine merkwürdige Kombination aus Sorge und Vorfreude. Verrückt, sagte sie sich. Sie kannte den Mann doch kaum. Er hatte keine Bedeutung für sie, jetzt nicht und in Zukunft auch nicht. Einen Mann an sich heranzulassen war eine todsichere Methode, sich ins Unglück zu stürzen.

Als sie an den Flashback dachte, bei dem sie ihren Vater gesehen hatte, bekam sie eine Gänsehaut, und ihr wurde eiskalt. Doch sie achtete nicht darauf. Er war schon lange tot, und sie hatte ihn nicht einen einzigen Tag betrauert. Und auch jetzt weigerte sie sich, noch mehr Zeit und Gedanken an ihn zu verschwenden.

D. J. kam sich idiotisch vor … vermutlich, weil sie idiotisch aussah.

Sie saß vor dem Spiegel und befühlte die Locken in ihren Haaren. Rebecca gab ihr einen leichten Klaps auf die Hand.

„Jetzt ruinier nicht deine Frisur. Probier mal dunkleren Lippenstift aus.“

Pflichtbewusst nahm D. J. den Lippenstift, den Rebecca ihr reichte, und trug die Farbe über dem Mittelpink auf, das sie bereits aufgelegt hatte. Als sie fertig war, sah sie ihre Freundin gespannt an.

Rebecca legte den Kopf schief und rümpfte die Nase. „Besser, aber nicht perfekt.“

„Es ist doch nur ein Lippenstift! Der muss doch gar nicht perfekt sein.“

Rebecca murmelte irgendetwas in sich hinein und suchte in der Tasche, die sie angeschleppt hatte, nach einem anderen Lippenstift. Während sie nach dem richtigen Farbton suchte, betrachtete D. J. ihr Spiegelbild und fragte sich – zum siebenhundertzweiundfünfzigsten Mal –, warum sie in das Date eingewilligt hatte.

Kein Date, rief sie sich in Erinnerung. Bezahlung. Fühlte sich aber auch nicht besser an. Smokey Eyes, Schmuck und High Heels waren typisch weibliche Waffen, die sie eigentlich nie einsetzte. Sie hatte ihre Gründe dafür.

Und heute Abend fühlte sie sich eher behindert von ihrer Aufmachung, als dass sie ihr geholfen hätte. Schlichte Diamantstecker – eine Leihgabe von Rebecca – funkelten an ihren Ohren. Auf Quinns Anweisung hin trug sie ein Kleid. Auf Rebeccas Beharren hin trug sie High Heels. Außerdem waren die Haare auf große, dicke Lockenwickler gedreht. Sie kam sich vor wie eine Kandidatin bei einem einfachen Schönheitswettbewerb.

„Probier mal den hier“, sagte Rebecca und reichte ihr einen weiteren Lippenstift.

D. J. säuberte den Pinsel und trug die Farbe sorgfältig auf. Dieses Mal wirkten ihre Lippen voll und üppig. Überrascht lehnte sie sich zurück, um den Effekt zu beurteilen.

„Siehst du?“ Rebecca klang triumphierend. „Es kann doch perfekt sein. Jetzt tupf dir noch ein bisschen Gloss in die Mitte der Unterlippe. Das macht einen schönen Schmollmund.“

D. J. verdrehte die Augen. „Ich bin nicht der Schmollmund-Typ.“

„Heute Abend schon. Du sollst hinreißend sein.“

„Ich enttäusche dich wirklich nur höchst ungern, aber wir werden unsere Klamotten beide anbehalten.“

Ihre Freundin grinste. „Das sagst du jetzt. Aber das kann sich noch ändern. Manches passiert einfach.“

Unwahrscheinlich. Quinn hatte Sex als Bezahlung abgelehnt, deswegen würde er ihn auch auf andere Art nicht bekommen. Ihr Interesse an dem Mann war rein geschäftlich.

„Du bist viel zu aufgekratzt“, murmelte D. J., als Rebecca begann, ihr die Wickler aus den Haaren zu ziehen.

„Ich kann nichts dafür. Du hast ein Date mit einem süßen Single-Mann. Du trägst sogar ein Kleid. Am Ende ist er vielleicht sogar der Richtige!“

D. J. hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr nicht erklärt hatte, dass sie das Kleid nicht trug, um ihr Date zu beeindrucken. Aber es war auch nicht infrage gekommen, Rebecca von ihrer Abmachung mit Quinn zu erzählen.

„Ich bin nicht auf der Suche nach dem ‚Richtigen‘“, sagte sie.

„Das sagst du immer, aber ich weigere mich, dir zu glauben. Du brauchst die Liebe eines guten Mannes.“

„Träum weiter. Ich bin stark und unabhängig. Dass man nur als Paar ein vollwertiger Mensch ist, ist nichts anderes als soziale Konditionierung.“

Rebecca zog den letzten Lockenwickler heraus und griff nach ihrer Bürste. „Du hast das Ganze komplett falsch verstanden“, erwiderte sie, während sie die Locken auflockerte. „Natürlich ist es schön, jemanden zu haben, der einen liebt. Aber viel wichtiger ist es, einen Mann zu lieben. Halt dir die Augen zu.“

Eigentlich wollte D.J. diese Unterhaltung überhaupt nicht führen. Deshalb hielt sie sich pflichtbewusst die Hände vors Gesicht und hielt die Luft an, während ihre Freundin sie mit einer halben Flasche Haarspray einnebelte. Sie spürte ein kleines Zupfen hier und dort. Dann wurde sie zum zweiten Mal mit dem feinen, klebrigen Nebel eingesprüht.

„Aufmachen“, sagte Rebecca.

D. J. lugte durch ihre Finger. Sie ließ die Hände in den Schoß fallen und stöhnte. „Ich sehe wie ein Pornostar aus.“

Rebecca kniff missbilligend die Lippen zusammen. „Wir suchen dir was zum Anziehen raus.“

D. J. zupfte an ihrem Bademantel. „Ich meinte meine Haare.“

„Was stört dich daran?“

D. J. machte wilde Gesten mit ihren Händen, konnte aber nicht erklären, wie sie sich mit diesen Locken fühlte, die auf ihren Rücken und über ihre Schultern fielen. Der Pony lag fluffig auf ihren Augenbrauen. Sie kam sich girlyhaft und albern vor.

„Du siehst toll aus“, sagte Rebecca nur. „Jetzt zum Kleid.“

Sie verschwand im Kleiderschrank, in dem die Auswahl, wie D. J. genau wusste, sehr spärlich war. Sie hätte den Anzug wählen können, den sie oft bei geschäftlichen Präsentationen trug – allerdings erfüllte der das von Quinn beschriebene Outfit nicht so ganz. Die meisten ihrer Kleider waren ziemlich konservativ und …

Rebecca kam zurück. In jeder Hand hielt sie einen Karton. Mit dem Schuhkarton hatte sie gerechnet, aber beim Anblick der anderen Schachtel sprang sie aufgebracht auf.

„Auf keinen Fall“, sagte sie.

Rebecca stellte den Schuhkarton auf dem Bett ab und lüftete den Deckel des anderen. „Du musst.“

„Vergiss es.“

Ihre Freundin nahm ein schwarzes Spitzenkleid heraus, das D. J. spontan in einem Katalog bestellt und nie getragen hatte.

„Es ist wunderschön.“ Rebecca schüttelte das Kleid auf. Es war aus schwarzer Spitze, hatte einen tiefen Ausschnitt, und der Saum bedeckte gerade eben ihre Oberschenkel. Die langen Ärmel waren nicht gesäumt, und der Rückenausschnitt reichte fast bis zu ihrem Po. Die Schulterpartie wurde einzig von etwas elastischem Stoff und viel Glück gehalten.

„Nie im Leben“, stieß sie hervor.

„Du willst bei deinem Date doch gut aussehen, oder etwa nicht?“

„Es ist kein Date.“

„Du musst.“

„Nein.“

„Für mich?“ Rebecca sah sie flehend an. „Bitte?“

Das Klopfen kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Quinn ging zur Tür und öffnete sie. Er hatte ein Lächeln vorbereitet und ein paar unverfängliche Kommentare. Aber beim Anblick von D. J. hatte er plötzlich alles vergessen.

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und hätte sich beinahe die Augen gerieben, weil er glaubte zu halluzinieren. Ja, er hatte nach einem Kleid verlangt, das Dekolleté und Bein zeigte, aber er hätte niemals gedacht, dass sie seinem Wunsch nachkommen würde. Er hatte erwartet, dass sie ihn herausfordern würde, aber nicht, dass ihr Anblick ihn so umhauen könnte.

Von den dicken, lockigen Haaren bis zu den schwarzen Pumps mit den spitzen Absätzen war sie die erotische Versuchung in Person. Make-up betonte ihre perfekten Gesichtszüge. Das Kleid – ein gerade noch legales Teil aus schwarzer Spitze – war so weit ausgeschnitten, dass es freien Blick auf die Stelle zwischen ihren Brüsten bot und die verhüllten Kurven mehr als nur angedeutet wurden. Und ihre langen, langen Beine warfen in ihm die Frage auf, wie es wohl wäre, wenn sie sich um ihn schlingen und ihn dicht heranziehen würden.

Ein unbändiges Verlangen ergriff Besitz von ihm. Und dazu gesellte sich eine ordentliche Portion Überraschung. Sie hatte ihn voll erwischt.

Aber er konnte nicht riskieren, ihr ein Kompliment zu machen. Nicht, wenn sie genau damit rechnete.

„Du bist pünktlich“, sagte er.

„Klar bin ich pünktlich. Und dass das klar ist: Das hier ist immer noch kein Date.“

„Natürlich nicht.“

Sein Sakko hing über dem Stuhl neben der Tür. Er schnappte es sich, genau wie seinen Zimmerschlüssel, und ging in den Flur hinaus.

„Dürfen wir uns trotzdem amüsieren?“, fragte er, als sie in Richtung Treppe gingen.

„Natürlich.“

Er hörte die Anspannung in ihrer Stimme und lachte in sich hinein.

Als sie auf den Parkplatz hinaustraten, wandte sie sich einem schwarzen SUV zu. Die Lady wollte also, dass sie ihren Wagen nahmen. Quinn blickte von dem erhöhten Einstieg zu ihrem kurzen Kleid und konnte es kaum erwarten, sie hineinklettern zu sehen.

„Soll ich fahren?“, fragte er.

Sie zögerte, reichte ihm dann aber den Schlüssel. „Okay.“

Er drückte auf die Entriegelungstaste und öffnete die Tür. Sie ignorierte die Hand, die er ihr hinhielt, und kletterte auf den Sitz. Ihr Kleid rutschte bis knapp unter ihren Po hoch, sodass er freie Sicht auf weibliche Vollkommenheit hatte. Sofort spürte er eine intensive Hitze in seinen Lenden, die schwer zu ignorieren war.

Das wird ein verdammt guter Abend werden, dachte er, als er die Tür schloss und zur Fahrerseite hinüberging. Dass D. J. ihn gefangen genommen hatte, war das Beste, was ihm seit Jahren passiert war.

6. Kapitel

Sie wurden sofort zu einem Tisch in einer ruhigen Ecke geführt. D. J. war aus verschiedenen Gründen froh, nicht in Sichtweite der Eingangstür zu sitzen. Erstens wollte sie niemandem begegnen, den sie kannte. Zweitens wäre sie weniger versucht, zur Tür hinauszurennen, wenn sie den Eingang nicht im Blick hatte.

Sie setzte sich auf die mit weichem Leder bezogene Bank und legte ihre kleine Handtasche neben sich. Das Steak House war dezent beleuchtet und elegant, und unter der Woche war nur die Hälfte der Tische besetzt.

Quinn blickte sich um. „Ist nett hier“, sagte er. „Kommst du oft her?“

D. J. dachte an ihr nicht existentes Sozialleben. Ausgehen bedeutete für sie, mit Rebecca und ihrer Familie eine Pizza essen zu gehen. „Ich war ein paarmal hier. Das Essen ist gut.“

Der Kellner kam und reichte ihnen die Speisekarten sowie eine Weinkarte. Während er die Specials aufzählte, ging Quinn die Weinkarte durch.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, fragte der Kellner.

Quinn sah sie an. „Trinkst du Wein?“

„Ja.“

Er bestellte eine Flasche Cabernet Sauvignon.

Sie hatte eher an ein halbes Glas gedacht. Aber sie würde so viel oder so wenig trinken, wie sie wollte, das brauchte sie nicht zu beunruhigen. Oder?

Als der Kellner weg war, schlug sie die Speisekarte auf und versuchte, sich auf die Gerichte zu konzentrieren. Aber sie war zu nervös. Ihre Aufmerksamkeit wanderte immer wieder zu dem Mann, der ihr gegenübersaß.

In der Militärkluft hatte er gut ausgesehen. In Jeans und Shirt durchaus verlockend. Im Anzug wirkte er wie ein erfolgreicher Geschäftsführer, der an einer Vorstandssitzung teilnahm. Der dunkle Stoff seines Jacketts in Kombination mit dem weißen Hemd betonte seine schwarzen Augen. Seine Seidenkrawatte hatte den gleichen Farbton wie gebürstetes Silber.

Sie bewegte sich leicht und blickte ihm ins Gesicht. Er beobachtete sie. Was dachte er? Wusste er, dass er sie nervös machte? Hatte er schon herausgefunden, wie wenig sie es ausstehen konnte, dass er sie nervös machte?

Bevor sie sich entscheiden konnte, erschien der Kellner mit der Weinflasche. Er öffnete sie fachmännisch und goss eine kleine Menge Wein in Quinns Glas. Quinn schwenkte es leicht, roch an dem Wein und probierte einen Schluck.

„Gut“, sagte er nickend.

Nachdem der Kellner ihnen beiden eingeschenkt hatte und wieder verschwunden war, erhob Quinn das Glas in ihre Richtung. „Auf das, was jeder von uns lernen wird“, sagte er.

Sie war sich nicht sicher, ob ihr der Toast gefiel. Aber da ihr kein eigener einfiel, stieß sie mit ihm an und nahm einen Schluck von dem Wein.

Er schmeckte überraschend weich und aromatisch, nicht zu trocken. Sie trank eigentlich lieber Weißwein, aber der hier war nicht schlecht.

„Sehr lecker“, sagte sie und stellte ihr Glas auf den Tisch.

„Freut mich, dass er dir schmeckt.“ Er sah auf ihre Speisekarte. „Weißt du schon, was du nimmst?“

Sie klappte die Karte zu und entschied sich für etwas Unkompliziertes. „Salat, Steak und Ofenkartoffel.“

Er nickte und gab dem Kellner ein Zeichen. Nachdem er für sie – warum klang die Formulierung „die Dame nimmt“ eigentlich so elegant? – und sich selbst bestellt hatte, wartete er, bis der Kellner wieder weg war, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte.

„Du hast gesagt, du bist nicht in Glenwood aufgewachsen“, sagte er. „Aus welchem Teil des Landes kommst du?“

D. J. konnte sich nicht daran erinnern, irgendetwas aus ihrer Vergangenheit erwähnt zu haben, aber vielleicht hatte sie es tatsächlich getan. Während des Zehn-Kilometer-Laufs hatten sie sich unterhalten. Zumindest hatte er geredet, und sie hatte sich durch eine mühsame Unterhaltung gehechelt. Gut möglich, dass sie ein paar unbedeutende Fakten ausgespuckt hatte, während ihre Lunge nach Luft geschrien hatte.

„Ich bin in Südkalifornien groß geworden“, erzählte sie. „In Los Angeles.“

„Da muss Glenwood eine ziemliche Umstellung gewesen sein.“

„Ist mir leichtgefallen.“

Er zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Das gute Leben in Amerikas Kleinstädten?“

„So ungefähr.“

Sie nahm ihr Weinglas in die Hand. Sie wollte nicht über sich sprechen, sondern mehr über ihn erfahren. Was genau machte er für die Regierung? Wie lange war er in der Ausbildung gewesen und wo? War die Klinge, die er in seinem Hemdkragen versteckt hatte, die einzige Waffe, die sie bei ihrer Leibesvisitation übersehen hatte, oder gab es noch weitere?

Alles wichtige Fragen, aber sie wusste nicht genau, wie sie den Übergang vom belanglosen Geplauder zu einem richtigen Gespräch schaffen sollte. Sie ging nicht oft aus und war noch nie gut darin gewesen.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich in einer texanischen Kleinstadt aufgewachsen bin“, fuhr er fort. „So ähnlich wie Glenwood. Jeder kannte jeden. Meinen Bruder Gage hast du ja schon kennengelernt.“

Sie nickte. „Nash und Kevin Harmon auch. Alles Jungs aus Texas.“

„Nicht nur das.“ Quinn legte die Fingerspitzen auf den unteren Teil seines Weinglases. „Ist alles ziemlich kompliziert.“ Er sah sie an und lächelte. „Familienkram.“

Sie gab sich alle Mühe, das Lächeln genauso zu ignorieren wie das krampfige Gefühl in ihrem Magen, das nur mit diesem Lächeln zu tun haben konnte. „Inwiefern kompliziert?“

„Nash und Kevin sind ohne Vater aufgewachsen. Der Typ, der ihre Mutter geschwängert hat, wollte nie etwas mit ihr oder den beiden zu tun haben.“

D. J. überlegte kurz, ob sie darauf hinweisen sollte, dass es so für alle Beteiligten vielleicht am besten gewesen war, doch sie wollte ihn nicht ablenken.

„Wie sich herausgestellt hat, ist ihr Vater derselbe Typ, der Gage und mich gezeugt hat. Wir sind alle Halbbrüder der Haynes-Brüder.“

D. J. starrte ihn überrascht an. „Ich habe schon gehört, dass der alte Earl Haynes ein richtiger Frauenheld war, aber ich hatte keine Ahnung, wie viel Großtaten er wirklich vollbracht hat. Wann hast du das alles herausgefunden?“

„Gage hat die ganze Wahrheit als Erster erfahren, vor ein paar Monaten. Kevin und Nash waren die Nächsten. Deswegen bin ich hier, um mich mit ihnen zu treffen.“

Sie war nicht gerade ein Fan von Großfamilien, aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden. „Jetzt hast du also nicht mehr nur einen Bruder, sondern lauter Halbbrüder plus eine Halbschwester. Das bedeutet, dass du wesentlich mehr Weihnachtskarten schreiben musst.“

Er lachte. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.“

Der Kellner brachte die Salate. Nachdem er weg war, sprach Quinn weiter.

„Du kennst die Haynes-Brüder, nicht wahr?“

„Travis und Kyle kenne ich am besten. Ein Großteil meiner Arbeit wird vom Sheriff koordiniert. Jordan lebt zwar hier in der Stadt, aber weil er bei der Feuerwehr arbeitet, haben wir nicht besonders viel Kontakt. Craig habe ich ein paarmal getroffen, und Hannah ist toll.“

„Sie arbeiten alle in der Strafverfolgung. Außer Jordan, und der ist auch nah dran.“

Sie nahm ihre Gabel in die Hand und lächelte. „Da wären sie anderer Meinung. Die machen Jordan das Leben ziemlich schwer, nur weil er ein Feuerwehrmann ist.“

„Mein Bruder ist Sheriff. Kevin ist U.S. Marshall, Nash arbeitet für das FBI und ich …“ Er brach mitten im Satz ab und zuckte mit den Schultern. „Schon seltsam.“

„Nicht unbedingt. Brüder suchen sich doch oft ähnliche Berufe aus. Ist doch super, plötzlich eine Familie zu haben mit allem Drum und Dran.“

„Die sind ganz groß dabei, mit Frauen und Kindern.“

„Ich glaube, nur eine Frau pro Mann, aber viele Kinder.“ Sie aß etwas Salat. „Bist du verheiratet?“

Sie rechnete damit, dass er sie aufziehen oder einen Witz machen würde, doch er schüttelte nur den Kopf. „Nicht mein Stil.“

„Wegen der Arbeit?“

„Zum Teil.“

Und welches waren die anderen Teile?

„Erzähl mir lieber, wofür D. J. steht“, sagte er.

„Für nichts Interessantes.“

„Das glaube ich nicht.“ Er aß von seinem Salat. Als er fertig gekaut und geschluckt hatte, sagte er: „Debbi Jo.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Darling Jenny?“

Sie trank noch einen Schluck Wein.

„Düsende Joyce?“

„Darauf antworte ich gar nicht.“

„Darlene Joy?“

Sie brach ein Stück Brot ab und biss hinein.

„So schlimm kann es gar nicht sein“, sagte er. „Gib mir einen Tipp.“

D. J. wusste genau, dass es schlimm war. „Ich gebe keine Tipps.“

Er seufzte theatralisch. „Dann muss ich wohl oder übel in der Stadt rumfragen.“

„Nur zu. Niemand kennt die Wahrheit.“

„Wirklich nicht?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe so meine Geheimnisse.“

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