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Sühne

Als Buch hier erhältlich:

Gejagt, Gefürchtet, im Kampf für die Gerechtigkeit –Jetzt schlägt Jane Hawk zurück und bringt die Arkadier zu Fall

Ex-FBI-Agentin Jane Hawk befindet sich immer noch auf der Flucht. Doch im Kampf gegen die Arkadier ist sie nicht länger allein. Aber auch Janes Gegner werden immer zahlreicher. Nicht mehr nur die Arkadier sind hinter ihr her. Auch ein Mafiaboss aus Vegas hat es auf ihren Sohn abgesehen, um Jane unter seine Kontrolle zu bringen. Doch Jane ist den Bösen gefährlich nah auf der Spur und sie ist bereit sich selbst zu opfern, um sie endgültig zu Fall zu bringen.
Der finale Band der Jane-Hawk-Reihe!


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Aus der Serie: Jane Hawk
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 576
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904594

Leseprobe

Für Gerda,
die meine Jane ist.

Zum Gedenken an Ruth Ebner,

auch als Pepper bekannt,
die nicht nur eine treue Leserin,
sondern auch eine Förderin meiner Arbeit war und von ihren vielen Freunden sehr geliebt wurde.

Die Schaffung eines neuralen
(Gehirn-)Netzes ist die eigentliche
Voraussetzung für eine
Mensch-Maschine-Symbiose.

ELON MUSK

Ist’s nicht seltsam, wie unwissend wir sind,
Wie wir schlechten Rat suchen,
Wie wir finassieren und jonglieren
Und den Wert mit dem Preis verwechseln?

PAUL SIMON,
»So Beautiful or So What?«

TEIL EINS

TIEFSCHLAG

EINS

Die dreifach verglasten bodentiefen Fenster von Hollisters Arbeitszimmer bilden den Rahmen für die nach Westen ansteigende Hochebene, die vorgelagerten Berge und die fernen Rocky Mountains, die, vor langer Zeit in einem Kataklysmus aus der Erde geboren, dunkel und majestätisch vor dem bleigrauen Himmel stehen. Das Wort Kataklysmus ist ein Synonym für Katastrophe oder Umsturz, aber auch für Revolution, und Hollister ist der Anführer der größten Revolution der Geschichte. Der größten und der letzten. Das Ende der Menschheitsgeschichte ist nahe, und im Anschluss wird seine Vision von einer befriedeten Welt auf ewig Bestand haben.

Bis dahin gibt es profane Aufgaben zu erfüllen, Verpflichtungen, denen man nachzukommen hat. Um nur eine Sache zu nennen: Es gibt jemanden, der beseitigt werden muss.

In ein paar Stunden, wenn der spätwinterliche Schneesturm über die Hochebene östlich von Denver hereinbricht, wird die Jagd beginnen, und einer von zwei Männern wird durch die Hand des anderen sterben – eine Tatsache, die Wainwright Warwick Hollister weder erhebend noch beängstigend findet. Für ihn kommt es entscheidend darauf an, die eklatanten Charakterschwächen seines Vaters Orenthal Hollister zu vermeiden und sich stets würdevoller und verantwortungsbewusster als sein Alter zu betragen. Unter anderem bedeutet das, dass man nicht immer einen Auftragskiller losschicken kann, wenn jemand liquidiert werden muss. Schreckt ein Mann davor zurück, gelegentlich Blut an den Händen zu haben, oder fehlt ihm der Mut, sich persönlich in Lebensgefahr zu begeben, kann er nicht beanspruchen, in dieser Welt der Wölfe eine Führungsrolle einzunehmen oder auch nur dem Wolfsrudel anzugehören. Stattdessen ist er nur ein Schaf im Wolfspelz.

Die Jagd wird hier stattfinden, auf der Crystal Creek Ranch, Hollisters fünftausend Hektar großem Besitz, der eine eigene Welt mit Tannenwäldern und sanft hügeligen Weideflächen ist. Die Jagd wird nicht fair sein, weil Hollister nichts von Fairness hält, die weder in der Umwelt noch in der menschlichen Natur existiert. Fairness ist eine Illusion der Schwachen und Unwissenden; sie ist ein unaufrichtiges Versprechen derer, die die Massen zu ihrem eigenen Vorteil manipulieren.

Das Opfer wird jedoch eine Überlebenschance haben. Eine sehr geringe, aber immerhin eine Chance. Obwohl Hollisters Vater Orenthal physisch wie finanziell ein Riese war, hatte er das Herz eines Feiglings gehabt. Wäre er jemals zu dem Schluss gekommen, nicht alle geschäftlich notwendige Gewalt delegieren zu können, hätte er jemals die moralische Notwendigkeit gesehen, dass jeder Fürst auch ein Krieger sein musste, hätte er dem Opfer nicht die geringste Chance gegeben. Die Jagd wäre ein leeres Ritual mit nur einem möglichen Ende gewesen: dem Triumph Orenthals und dem Tod seiner Beute.

Das Sicherheitssystem des Hauses, das immer weiß, wo Hollister sich in seinem viertausend Quadratmeter großen Ranchhaus aufhält, meldet jetzt mit wohlklingender Frauenstimme: »Thomas Buckle ist in der Bibliothek eingetroffen.«

Thomas Buckle ist ein Hausgast aus L. A. Als einziger Passagier von Hollisters Gulfstream V ist er vor zwei Stunden, um 11 Uhr vormittags, auf dem Flugplatz der Crystal Creek Ranch mit seiner zweitausend Meter langen Piste gelandet. Von dort aus wurde er mit einem Rolls-Royce Phantom genau 1,6 Meilen weit zum Haupthaus gefahren und in einer der Gästesuiten im Erdgeschoss einquartiert.

Bei Tagesanbruch wird er sehr wahrscheinlich tot sein.

Das Haus ist ein elegantes, ultramodernes Meisterstück aus Naturstein, Glas und Edelstahl mit Kalksteinböden, auf denen reich mit Ornamenten verzierte antike Orientteppiche wie üppige warme Inseln auf einem kalten bleichen Meer schwimmen.

Die Bibliothek besteht aus fünfundzwanzigtausend Bänden, die Hollister von seinem Vater geerbt hat. Der Alte hat sein Leben lang Romane gelesen, aber sein Sohn kann mit erfundenen Geschichten nichts anfangen. Wainwright Warwick Hollister ist ein Realist von der Epidermis bis ins Knochenmark. Auf seiner ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens hat Orenthal auch viele philosophische Werke gelesen. Sein Sohn hat keine Verwendung für Philosophie, denn er weiß längst, welche Begriffe seinem Leben einen Sinn geben: Geld und Macht. Nur Geld und Macht sind eine Verteidigung gegen das Chaos dieser Welt und ermöglichen ein angenehmes Luxusleben. Alle Menschen, die sich nicht kaufen lassen, kann Hollister vernichten. Menschen sind Werkzeuge, außer sie weigern sich, sich benutzen zu lassen, woraufhin sie zu Hindernissen werden, die rasch niedergerissen und beiseitegeräumt oder ganz eliminiert werden müssen.

Weil er keine Verwendung für die Bücher seines Alten hatte, hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Sammlung einer Wohltätigkeitsorganisation oder Universität zu spenden. Aber dann hatte er sie doch hier bei sich aufgestellt, damit sie ihn an die verhängnisvolle Schwäche des Alten erinnert.

Als Hollister jetzt um 13 Uhr die Bibliothek betritt, wendet Thomas Buckle sich von den Bücherschränken ab und sagt: »Was für eine prachtvolle Sammlung! Erstausgaben von Ray Bradbury bis Thomas Wolfe. Hammett und Hemingway. Stark und Steinbeck. Solch breit gefächerte Interessen.«

Buckle ist sechsundzwanzig und sieht gut genug aus, um ein Filmschauspieler zu sein, obwohl er von einer Karriere als berühmter Filmregisseur träumt. Er hat schon zwei Filme mit kleinem Budget gedreht, die zwar von einigen Kritikern gelobt wurden, aber weiß Gott keine Kassenschlager waren. Er befindet sich an einem entscheidenden Wendepunkt: ein ehrgeiziger junger Mann mit beträchtlichem Talent, dessen Philosophie und Visionen mit dem in Hollywood vorherrschenden Mainstream unvereinbar sind, weil dieser – wie er zu entdecken beginnt – seine Möglichkeiten beschneidet.

Hergekommen ist er auf einen persönlichen Anruf von Wainwright Hollister hin, der seine Bewunderung für die Arbeit des jungen Mannes ausgedrückt und den Wunsch geäußert hat, mit ihm über die Finanzierung von Filmproduktionen zu sprechen. Das war gelogen. Aber da Menschen Werkzeuge sind, sind Lügen nichts anderes als die verschiedenen Griffe, die man anwenden muss, damit sie wie gewünscht funktionieren.

Da Hollister den Regisseur nach seiner Ankunft kurz begrüßt hat, kann er jetzt auf langwierige Formalitäten verzichten. Er braucht nur zu lächeln, als er sagt: »Vielleicht möchten Sie einen noch nie verfilmten Roman heraussuchen und ihn zu unserem ersten gemeinsamen Projekt machen?«

Obwohl Wainwright Hollister gänzlich unsentimental ist und kein Talent für zartere Empfindungen hat, besitzt er ein breites, fast übernatürlich freundliches Gesicht, das auf so viele verschiedene Arten lächeln kann wie die raffinierteste Kurtisane, und er weiß sein Lächeln einzusetzen, um Frauen wie Männer zu bezaubern. Sie sehen Mitgefühl, wenn er sie eisig verächtlich mustert, Barmherzigkeit, wenn sie Grausamkeit sehen sollten, und Demut, wenn er sie herablassend betrachtet. Er gilt allgemein als höchst liebenswürdiger Mann mit der Fähigkeit, leicht Freundschaften zu schließen, obwohl er in seinem Innersten jeden für einen Fremden hält, den man nie genug kennen kann, um sich mit ihm anzufreunden. Er benutzt sein müheloses strahlendes Lächeln wie ein Farmer eine Sämaschine, um jedem, dem er begegnet, eine Saat aus Lüge und Täuschung einzupflanzen.

Thomas Buckle, der höchst luxuriös nach Colorado geflogen und wie der biblische verlorene Sohn empfangen worden ist, nimmt das Angebot ernst, sich irgendein Buch aus der Bibliothek aussuchen zu dürfen, um es zu verfilmen. Er betrachtet staunend die vielen Regalmeter potenziellen Stoffs. »Ach, wissen Sie, ich würde meine Wahl nicht übereilt treffen wollen, Sir. Ich müsste erst eine bessere Vorstellung davon haben, was alles da ist.«

»Sie haben später reichlich Gelegenheit, sich die Sammlung anzusehen«, lügt Hollister. »Ich bin gekommen, um Sie zum Lunch zu holen. Und lassen Sie bitte das ›Sir‹ weg. Ich bin nicht zum Ritter geschlagen worden. Nennen Sie mich einfach Wayne. ›Wainwright‹ klingt hochtrabend, und ›Warwick‹ könnte der Schurke in irgendeinem Superheldenfilm sein.«

Thomas Buckle ist ein ehrlicher junger Mann. Sein Vater, ein gelernter Schneider, arbeitet in einer chemischen Reinigung, seine Mutter ist Näherin in der Gardinenabteilung eines Kaufhauses. Obwohl seine Eltern sich bemüht haben, ihn auf der Filmhochschule zu unterstützen, hat Thomas, der schon in der Highschool nebenbei gejobbt hat, seine Ausbildung weitgehend selbst bezahlt. Bei seinen beiden Filmen hat er sein Honorar als Drehbuchautor und Regisseur so niedrig wie möglich angesetzt, um mehr Geld für Schauspieler und Ausstattung zu haben. Er war zu naiv, um zu merken, dass sein Mitproduzent bei diesen Projekten offenbar Geld aus dem Filmbudget für sich persönlich abzweigte – eine Tatsache, die Hollister, der Buckles Berufs- und Privatleben gründlich hat durchleuchten lassen, sofort aufgefallen ist. Als Kind ehrbarer Eltern, als aufrichtiger Künstler, der in bester amerikanischer Tradition nach Höherem strebt, strotzt der junge Mann vor Ehrgeiz und Hoffnung, aber ihm fehlt es erheblich an Gerissenheit – er müsste noch viel lernen, hat aber keine Zeit mehr dazu.

Auf ihrem Weg zum Lunch kann Tom Buckle nicht anders: Er muss die Pracht des Hauses und den Wert der Kunstwerke an den Wänden loben – Jackson Pollock, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Andy Warhol, Damian Hirst … Er gleicht einem Bettlerjungen, der sich von Hollisters ungeheurem Reichtum verführen lässt wie ein Zauberlehrling, der am ersten Arbeitstag ganz im Bann des großen Mysteriums seines Meisters steht.

Aus seiner Art spricht jedoch kein Neid, keine Besitzgier. Vielmehr ist er als Filmemacher von den visuellen Eindrücken bezaubert. Das Drama des Hauses lockt ihn als Schauplatz, und er denkt sich irgendeine dazu passende private Story aus. Vielleicht stellt er sich einen biografischen Film über sein eigenes Leben vor, in dem diese Szene den Wendepunkt zwischen Erfolglosigkeit und phänomenalem Erfolg bezeichnet.

Hollister genießt es, Fragen nach Kunst und Architektur zu beantworten und Anekdoten über Ankäufe und Bauprobleme zu erzählen. Erst als er spürt, dass Tom Buckle ganz im Bann seines Gastgebers steht, legt Hollister mit großer Berechnung wie ein gütiger Onkel einen Arm um die Schultern des jungen Regisseurs.

Diese Vertraulichkeit wird ohne das geringste Sträuben, auch ohne Überraschung akzeptiert. Ehrliche Männer aus ehrbaren Familien sind in dieser Welt der Lügen im Nachteil. Der arme Dummkopf ist schon so gut wie tot.

ZWEI

Die Weisheit von Jahrtausenden und unzähligen Generationen war in einem Labyrinth aus Regalen gestapelt, zwischen denen schwach beleuchtete Gänge verliefen, in denen niemand auf der Suche nach Weisheit unterwegs war, sodass hier die Stille eines unentdeckten Pharaonengrabs in einer Pyramide unter einer mehr als dreihundert Meter hohen Schicht aus Flugsand herrschte.

An diesem ersten Freitag im April war Jane Hawk im San Fernando Valley nördlich von Los Angeles in einer Bibliothek vergraben, in der sie in einer Nische eine der öffentlichen Computer-Arbeitsstationen nutzte, die jetzt als einzige in Betrieb war. Weil jeder Computer wie jedes Smartphone, jedes Tablet und jeder Laptop über seine GPS-Funktion geortet werden konnte, besaß sie keines dieser Geräte. Obwohl die Behörden, die nach ihr fahndeten, recht gut wussten, dass sie Bibliothekscomputer nutzte, mied sie auch diesmal Webseiten, die voraussichtlich mit ihr in Verbindung gebracht wurden. Deshalb war sie sich relativ sicher, dass keine ihrer Anfragen eine automatische Rückwärtssuche auslösen würde, die zu ihrer exakten Position geführt hätte.

Obwohl es Zehntausende von Wohltätigkeitsorganisationen gab, unter denen sie hätten wählen können, saßen alle Leute, die sie als prominente Verschwörer kannte, in den Verwaltungsräten derselben gemeinnützigen Organisationen. Und der Mann, der am häufigsten mit ihnen in Verbindung gebracht wurde – Wainwright Warwick Hollister, ein für Jane neuer Name –, schien der Reichste unter ihnen zu sein.

In einer so radikalen Verschwörung mit dem Ziel, nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt umzuwandeln, musste der oberste Führer, der selbst ernannte Intellektuelle, der es verstand, sich die Loyalität der anderen zu sichern, nicht unbedingt der Mann mit dem meisten Geld sein. Eine fanatische Leidenschaft fürs Umgestalten und Herrschen konnte auch einen Mann mit bescheidenen finanziellen Mitteln in diese Position bringen.

Der Multimilliardär Hollister hatte jedoch eine großzügig dotierte Stiftung gegründet, und je mehr Jane sich mit ihr beschäftigte, desto seltsamer und verdächtiger erschien sie ihr.

Wainwright Hollisters Stiftung, deren erklärtes Ziel die Förderung der Krebsforschung war, hatte in der Vergangenheit große Beträge für eine gemeinnützige Organisation unter Führung von Dr. Bertold Shenneck gespendet – dem Genie, das die Nanotech-Gehirnimplantate, mit deren Hilfe die Verschwörer nach absoluter Macht strebten, erdacht, weiterentwickelt und verfeinert hatte. Bingo!

Viele Leute, die ständig am PC saßen oder mit dem Smartphone spielten, wurden so abgelenkt, dass sie nicht mehr wahrnahmen, was in der Welt um sie herum passierte. Dem Cooper-Farbcode zufolge befanden sie sich im Status Weiß: »unaufmerksam und unvorbereitet«. Nach sechs Semestern forensischer Psychologie am College, 18-wöchiger Ausbildung an der FBI-Akademie Quantico und mit – bis zu ihrem Abtauchen – sechs Dienstjahren als FBI-Agentin befand sich Jane dauerhaft in der Farbstufe Gelb: »entspannt alarmiert«, keinen unmittelbaren Angriff erwartend, aber sich ihrer Umgebung stets bewusst. Die ständige Kenntnis der eigenen Situation war unerlässlich, damit man nicht überraschend in den Status Rot geriet, in dem ein Kampf unvermeidbar war.

Zwischen Gelb und Rot lag die Farbstufe Orange, in der ein wacher und wachsamer Mensch eine Situation als seltsam oder falsch, als potenziell gefährlich erkannte. In diesem Fall nahm sie am Rand ihres Blickfelds wahr, dass ein Mann, der nach ihr hereingekommen war und sich an einen der anderen Computer gesetzt hatte, weit mehr Zeit damit verbrachte, sie zu beobachten, als auf seinen Bildschirm zu sehen.

Vielleicht starrte er sie nur an, weil ihm ihr Aussehen gefiel. Mit bewundernden Männerblicken hatte Jane viel Erfahrung.

Mit ihren eigenen blonden Haaren unter einer ausgezeichneten aschblonden Perücke mit Pixie-Schnitt, durch Kontaktlinsen grau gefärbten blauen Augen, einem mit Mastix aufgeklebten Leberfleck an der Oberlippe und etwas zu viel Make-up und Lippenstift der Marke Smashbox verkörperte sie ganz und gar ihre Leslie-Anderson-Identität. Weil sie jünger aussah, als sie war, und als Requisit eine knallrote Brille mit null Dioptrien trug, hätte man sie für ein strebsames Collegemädchen halten können. Sie benahm sich nie verstohlen oder nervös, wie man es von der meistgesuchten Verbrecherin Amerikas hätte erwarten können, sondern lenkte auf subtile Weise Aufmerksamkeit auf sich – indem sie gähnte, sich reckte, halblaut mit dem Bildschirm sprach – und schwatzte bereitwillig mit jedem, der sie ansprach. Sie war zuversichtlich, dass kein gewöhnlicher Bürger Leslie Anderson leicht durchschauen und als die – von den Medien als »das schöne Ungeheuer« bezeichnete – Staatsfeindin erkennen würde.

Trotzdem starrte dieser Kerl sie weiter an. Als sie zweimal wie zufällig zu ihm hinübersah, drehte er rasch den Kopf weg und gab vor, die Informationen auf seinem Bildschirm zu studieren.

Seine genetischen Wurzeln lagen auf dem indischen Subkontinent. Karamellbrauner Teint, schwarze Haare, große dunkle Augen. Zehn bis zwölf Kilo Übergewicht. Freundliches rundes Gesicht. Schätzungsweise Mitte zwanzig. Khakihose, schwarzes T-Shirt, gelber Pullover.

Sein Profil passte nicht zu jemandem bei der Polizei oder in den Geheimdiensten. Trotzdem war ihr bei seinem Anblick unbehaglich. Mehr als nur unbehaglich. Jane ignorierte niemals die leise Stimme ihrer Intuition, die ihr schon oft das Leben gerettet hatte.

Also Farbstufe Orange. Zwei Optionen: angreifen oder vermeiden. Die zweite war fast immer besser, weil die erste eher zur Stufe Rot und einer gewalttätigen Auseinandersetzung führen konnte.

Jane verließ die Webseite, die sie erkundet hatte, löschte den Browserverlauf, schaltete das Gerät aus, nahm ihre Sporttasche mit und verließ die kleine Nische mit dem Computerterminal.

Beim Hinausgehen sah sie sich noch einmal um. Der dickliche Kerl stand jetzt, hielt in einer herabhängenden Hand etwas, das sie nicht deutlich erkennen konnte, und beobachtete sie, während er in sein Smartphone sprach.

Als sie die Glastür des Hauptausgangs öffnete, sah sie auf dem Besucherparkplatz einen weiteren Mann neben ihrem metallicgrauen Ford Explorer Sport stehen. Er war groß, schlank, ganz in Schwarz gekleidet, aber zu weit entfernt, als dass sie sein Gesicht hätte erkennen können. Aber an diesem milden sonnigen Tag konnte sein knielanger Regenmantel dazu dienen, eine abgesägte Schrotflinte oder vielleicht einen drahtlosen Taser XREP Kaliber 12 zu tarnen, der ein elektronisches Projektil mit erhöhter Reichweite verschoss, das weniger als dreißig Gramm wog, aber zwanzig Sekunden lang fünfhundert Volt abgab. Er wirkte real wie der Tod und zugleich trügerisch wie ein Assassine, der mit einem geheimnisvollen Auftrag durch einen Riss im kosmischen Gewebe zwischen dieser und einer anderen Welt geschlüpft war.

Der Explorer, ein gestohlenes Fahrzeug, war in Mexiko frisiert worden, hatte einen getunten 8,2-Liter-Chevy-Motor mit siebenhundert PS bekommen und war von einem zuverlässigen Schwarzmarkthändler in Nogales, Arizona, gekauft worden, der keine Unterlagen aufbewahrte. Theoretisch konnte kein Mensch diesen SUV mit ihr in Verbindung bringen.

Statt ins Freie zu treten, schloss sie die Tür wieder, wandte sich nach rechts und verschwand zwischen langen Reihen von Bücherregalen. Für Jane war dieser Bereich kein Labyrinth, weil sie ihn erkundet hatte, bevor sie sich an den Computer gesetzt hatte.

Die Tür unter einem EXIT-Schild führte auf einen Korridor, auf dem es nach frischem Kaffee duftete. Büros. Lagerräume. Eine offene Teeküche mit Kühlschrank und Kaffeemaschine. Der Flur stieß T-förmig auf einen kurzen Gang, an dessen Ende eine weitere Tür auf einen kleinen Personalparkplatz an einer Gasse hinausführte.

Als Jane den Parkplatz erstmals kontrolliert hatte, hatten hier drei Limousinen und ein Chevy Tahoe geparkt.

Außer diesen Fahrzeugen westlich des Hinterausgangs der Bibliothek stand jetzt ein weißer Cadillac Escalade auf dem fünften der sieben ausgewiesenen Parkplätze. Die Frau am Steuer des Caddys hatte den karamellbraunen Teint und die schwarzen Haare des Mannes am Computer. Sie hatte ein Handy am Ohr und telefonierte mit jemandem, was allein keine Komplizenschaft bewies, obwohl ihr Blick Jane fixierte wie ein Scharfschütze sein Ziel.

In jeder kritischen Situation kam es vor allem darauf an, aus dem Fadenkreuz zu kommen, sich zu bewegen, denn entfernte man sich nicht von der Gefahr, kam garantiert jemand mit bösen Absichten auf einen zu.

Jane mied den Escalade und ging rasch nach Osten davon. Die ein-, zwei- und dreistöckigen Gebäude auf der Südseite der Gasse warfen zinnenförmige Schatten auf den Asphalt, und sie blieb in diesem Bereich, der etwas Deckung zu bieten schien, während sie einige Müllcontainer umrundete. Nach Norden hin erstreckte sich ein kleiner Park, an dem ein Kindergarten mit eingezäuntem Spielplatz lag.

Sie befand sich dem Park gegenüber, in dem Dattelpalmen in der leichten Brise raschelten und schwankend ihre Schatten aufs Gras warfen, als der große Mann in dem Regenmantel wie aus dem Nichts auftauchte und sich auf Jane zubewegte: nicht hastig, keineswegs eilig, als sei vorausbestimmt, dass sie ihm gehörte, wann immer er wollte.

In den Häusern rechts von ihr gab es kleine Geschäfte, deren Namen für Lieferanten deutlich lesbar neben den Hintereingängen standen: ein Geschenkeladen, ein Restaurant, ein Schreibwarengeschäft, ein weiteres Restaurant. Die Gebäude dieses Straßenblocks bildeten eine geschlossene Ladenzeile ohne Durchgänge oder Passagen.

Als eine Limousine von Osten in die Gasse einbog und schräg eingeparkt eine Barrikade bildete, machte Jane sich nicht die Mühe, sich umzusehen, weil sie davon überzeugt war, dass der Escalade auf gleiche Weise das westliche Ende der Gasse blockierte.

Beim Weiterlaufen rüttelte sie an allen Türen, und die dritte – KLASSISCHE FOTOPORTRÄTS – war unversperrt. Jane verschwand in dem Raum dahinter, der sich als eine von kleinen Oberlichtern erhellte Kombination aus Empfangsbereich und Lagerraum erwies.

Die Regale waren jedoch leer. Als sie herumwirbelte, um die Tür zu verriegeln, sah sie, dass das Schloss aufgebrochen worden war.

Sie hatten sie geschickt in die Enge getrieben. Der Fotograf hatte sein Atelier längst geräumt. Sie war in eine Falle getappt.

DREI

Der elegante Speisesaal mit seinen zwanzig Plätzen ist nicht intim genug für das Gespräch, das Wainwright Hollister mit Thomas Buckle führen will. Deshalb wird der Lunch im Frühstückszimmer serviert, der durch einen Anrichteraum von der riesigen Küche getrennt ist.

Ein großes Gemälde von Francis Bacon mit Klecksen, Kringeln und gezackten Linien ist der einzige Wandschmuck in diesem fünfzig Quadratmeter großen Raum: ein Werk in beunruhigend schrillen Farben, das in auffälligem Gegensatz zu der Natur – Tannenwälder und hügeliges Grasland – vor den wandhohen Fenstertüren steht.

Sie sitzen an dem Tisch aus Edelstahl und Gussglas. Buckle mit Blick ins Freie, damit die einsame Lage der Ranch sich ihm bis zu dem Augenblick einprägen kann, in dem er erfährt, dass er in dieser kalten Wüste bis zum Tod gejagt werden soll. Hollister sitzt dem jungen Regisseur und dem Gemälde hinter ihm gegenüber, denn Francis Bacons Kunst spiegelt seine Überzeugung wider, dass die Menschheit chaotisch ist, sodass Ordnung durch brutale Machtausübung und extreme Gewalt durchgesetzt werden muss.

André, der Küchenchef, ist am Herd beschäftigt. Die schöne Mai-Mai serviert den Lunch, der mit einem sehr kalten Pinot Grigio und kleinen Schalen mit Andrés Parmesan-Chips beginnt. Ihr Verbenenduft ist zart wie die bloße Erinnerung an ein Parfüm.

Tom Buckle ist von der Schönheit und Eleganz der jungen Frau sichtlich bezaubert. Aber die fast komische Unbeholfenheit, mit der er versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, während sie ihre Arbeit tut, hat weniger mit sexueller Attraktion als mit der Tatsache zu tun, dass er sich als Sohn eines Schneiders und einer Näherin fehl am Platz fühlt, weil der Luxus, der ihn auf allen Seiten umgibt, ihn einschüchtert, und er nicht recht weiß, wie er mit dem Personal eines so großen Hauses umgehen soll. Er schwatzt mit Mai-Mai wie mit einer Bedienung in einem Restaurant.

Weil Mai-Mai dank guter Ausbildung das Ideal eines Dienstmädchens ist, antwortet sie höflich, aber nicht vertraulich, lächelt ständig und bleibt doch distanziert.

Als die beiden Männer wieder allein sind, hebt Hollister sein Glas zu einem Trinkspruch. »Auf ein großartiges gemeinsames Abenteuer!«

Er beobachtet amüsiert, wie Buckle sich eine Handbreit von seinem Stuhl erhebt, weil er sich über den Tisch beugen und mit seinem Glas mit dem Gastgeber anstoßen will. Der Regisseur merkt jedoch rasch, dass der Tisch dafür viel zu breit ist und er Hollisters Beispiel folgend Platz behalten sollte. Also tut er so, als habe er sich nur bequemer auf dem Stuhl zurechtgerückt, als er erwidert: »Auf ein großartiges Abenteuer!«

Nachdem sie den ausgezeichneten Wein gekostet haben, sagt Wainwright Hollister: »Ich bin bereit, sechshundert Millionen in eine Filmreihe zu investieren, aber nicht in einer Partnerschaft mit einem traditionellen Studio, das mit Buchhaltungstricks dafür sorgen würde, dass mein Ertrag weit unter einem Prozent läge – wenn es überhaupt einen gäbe.« Er lügt, aber mit seinem einzigartigen Lächeln könnte er Eskimos Eis oder dem Papst Apostasie verkaufen.

Obwohl Buckle natürlich weiß, dass er mit einem Mann zusammen ist, der groß denkt und über zwanzig Milliarden Dollar besitzt, verschlägt der von seinem Gegenüber genannte Betrag ihm fast die Sprache. »Nun … das ist … Sie könnten … Mit so viel Geld ließe sich eine sehr wertvolle Filmreihe schaffen.«

Hollister nickt zustimmend. »Genau – wenn wir die überzogenen Budgets der geistlosen Special-Effects-Streifen vermeiden, die Hollywood heutzutage produziert. Woran ich denke, Tom, sind aufregende und intensive und bedeutungsvolle Filme, wie Sie sie machen, mit Budgets zwischen zwanzig und sechzig Millionen pro Film. Zeitlose Geschichten, die ihr Publikum noch in fünfzig Jahren ebenso in ihren Bann schlagen werden wie bei der Premiere.«

Hollister erhebt nochmals sein Glas, um den zuvor ausgebrachten Trinkspruch zu bekräftigen. Buckle folgt seinem Beispiel und trinkt dem Gastgeber zu, während eine Vision von cineastischem Ruhm seine Augen glitzern lässt.

Leicht über den Tisch gebeugt und mit der warmen Herzlichkeit, die ihm auf Abruf zur Verfügung steht, sagt Hollister: »Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, Tom, die meiner Meinung nach ein wunderbarer Filmstoff wäre?«

»Gewiss. Ja, die würde ich sehr gern hören.«

»Aber wenn Sie sie kitschig oder zu trocken finden, müssen Sie’s mir ehrlich sagen. Ehrlichkeit unter Partnern ist unerlässlich.«

Das Wort Partner muntert Buckle sichtlich auf. »Bin völlig Ihrer Meinung, Wayne. Aber bevor ich mich dazu äußere, möchte ich Ihre Geschichte ganz hören. Ich muss verstehen, wie abgerundet das Konzept ist.«

»Sie wissen natürlich, wer Jane Hawk ist.«

»Das weiß jeder – schließlich macht sie seit Wochen Schlagzeilen.«

»Angeklagt wegen Spionage, Landesverrats und Mordes«, fasst Hollister zusammen.

Der Regisseur nickt. »Jetzt heißt es sogar, sie habe auch ihren Ehemann, den heldenhaften Marine, ermordet, der gar keinen Selbstmord verübt habe.«

Hollister beugt sich noch etwas weiter vor, legt den Kopf schief und fragt wie auf der Bühne flüsternd: »Wenn nun alles gelogen wäre?«

Buckle wirkt leicht verwirrt. »Wie kann das alles gelogen sein? Ich meine …«

Hollister unterbricht den jungen Mann, indem er eine Hand hebt und sagt: »Warten Sie die Abgerundetheit des Konzepts ab.«

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, um einen Parmesan-Chip zu genießen.

Auch Buckle versucht einen. »Ah, köstlich! So gute habe ich noch nie gegessen. Perfekt zu diesem Wein.«

»André, mein Küchenchef«, sagt Hollister, »ist eine angepasste Person. Er ist vom Kochen besessen. Er lebt nur fürs Kochen.«

Falls Buckle den Ausdruck angepasste Person seltsam findet, lässt er sich nichts anmerken.

Nach einem Schluck Wein fährt Hollister fort: »Wie Freunde von ihr berichten, war Jane von der Idee besessen, der Welt zu beweisen, ihr Ehemann Nick habe keinen Selbstmord begangen, sondern sei ermordet worden. Deshalb hat sie sich vom FBI beurlauben lassen, um die genauen Umstände von Nicks Tod aufzuklären. Andererseits sagen die Behörden und die Medien, das sei lediglich ein geschicktes Ablenkungsmanöver gewesen, damit sie wegen ihrer Rolle bei seinem Tod nicht selbst verdächtigt wird. Uns erzählt man, sie habe ihn betäubt, in die Badewanne gelegt und ihm die Kehle mit seinem Ka-Bar-Kampfmesser von den Marines durchgeschnitten, sodass der Coroner an Selbstmord glauben musste. Aber wenn nun alles gelogen wäre?«

Buckle ist fasziniert. »›Was wäre, wenn …‹ ist die Essenz aller Erzählkunst. Wenn nun alles gelogen wäre?«

Hollister spricht engagiert weiter. »Jane hat Freunden erzählt, ihre Recherchen hätten eine fünfzehnprozentige Zunahme von Selbstmorden binnen weniger Jahre ergeben – ausschließlich angesehene, beliebte, emotional stabile Menschen, die beruflich Erfolg hatten, glücklich mit ihren Partnern zusammenlebten und nie Depressionen gehabt hätten. Leute wie ihr Ehemann.«

»Erst neulich Abend«, sagt Tom Buckle, »hat die Sendung Sunday Magazine eine ganze Stunde über Jane Hawk gebracht. Darin sind Experten zu Wort gekommen, nach deren Aussage die Suizidrate niemals konstant ist. Sie steigt und fällt. Und die Behauptung, lauter glückliche Menschen brächten sich um, ist ebenso wenig haltbar.«

»Denken Sie an mein ›Was wäre, wenn …‹, Tom. Was wäre, wenn alles gelogen wäre und ein Teil der Medien mitspielen würde? Was wäre, wenn Jane Hawk Verbrechern auf der Spur wäre, die sie mit falschen Anklagen dämonisieren müssen, um sie zum Schweigen zu bringen?«

»Sie sehen das als Verschwörungsstory?«

»Genau.«

»Nun, dann müsste es sich bestimmt um eine Verschwörung nie dagewesenen Ausmaßes handeln.«

»Nie dagewesen«, bestätigt Hollister. »Heroisch. Mit Tausenden von mächtigen Mitverschwörern in Politik und Wirtschaft. Nehmen wir einmal an, diese Leute bezeichneten sich selbst als … Techno-Arkadier.«

»Arkadien. Aus dem Altgriechischen. Ein Ort des Friedens, der Unschuld, des Wohlstands. Im Prinzip Utopia.«

Hollister strahlt und klatscht zweimal in die Hände. »Ich hab’s gewusst! Sie sind genau der richtige junge Mann, der meine Geschichte versteht.«

»Aber wieso ›Techno‹?«

»Wissen Sie, was man unter Nanotechnologie versteht, Tom?«

»Das sind winzige Maschinen, die nur aus einer Handvoll Moleküle oder Atome bestehen. Weil es unbegrenzt viele medizinische und industrielle Verwendungszwecke gibt, dürfte ihnen die Zukunft gehören.«

»Sie sind wirklich auf dem neuesten Stand«, erklärt Hollister und drückt auf einen Klingelknopf am Tischbein. »Als ich Ihre Filme gesehen habe, hab ich mir gesagt: ›Dieser Kerl weiß, wo’s langgeht!‹ Jetzt bin ich entzückt, dass ich recht hatte.«

Auf sein Klingeln hin erscheint Mai-Mai, um ihnen Wein nachzuschenken und die leeren Chips-Schalen abzutragen.

Thomas Buckle bedankt sich lächelnd bei ihr, aber er scheint intuitiv verstanden zu haben, dass es angezeigt ist, sie nicht wie eine Bedienung im Olive Garden, sondern reserviert zu behandeln.

Das Filmgeschäft hat ihn noch nicht verdorben, denn obwohl Mai-Mai ihn fasziniert und lockt, beobachtet er sie nicht sexuell taxierend, sondern mit fast jugendlicher Wehmut und Sehnsucht.

Als die beiden Männer wieder allein sind, fährt Hollister fort: »Nehmen wir mal an, diese Verschwörer, diese Techno-Arkadier, hätten eine Nanomaschine als Gehirnimplantat entwickelt – einen Kontrollmechanismus, der alle Menschen, in denen er installiert ist, zu absoluten Marionetten macht. Und die Marionetten wissen nicht, was man ihnen angetan hat, wissen nicht, dass sie jetzt … Eigentum sind.«

Der Regisseur blinzelt, blinzelt noch mal und beginnt eine gewisse stille Erregung zu spüren, die nichts mit sechshundert Millionen Dollar, aber viel mit seiner Leidenschaft fürs Filmemachen zu tun hat.

»Ah … das zentrale Motiv wäre also die Frage des freien Willens. Eine Verschwörung mit dem Ziel, die gesamte Menschheit zu unterjochen, der Tod der Freiheit, eine Art technologisch durchgesetzter Sklaverei.«

Hollister grinst wie ein Amateurautor, der entzückt ist, weil ein richtiger Schriftsteller seine Idee für ein Drehbuch gut findet. »Gefällt’s Ihnen bisher?«

»Sogar verdammt gut! Von Minute zu Minute mehr. Obwohl die Idee von Jane Hawk stammt, dürfen wir nicht sagen, dies sei ihre Story, sondern müssen aus ihr eine CIA-Agentin oder dergleichen machen, die etwas älter ist. Vielleicht erfinden wir sogar eine männliche Hauptrolle dazu. Ich sehe nur eine Schwierigkeit … Wieso sollte irgendjemand zu einer Operation bereit sein, bei der dieses Gehirnimplantat eingepflanzt wird?«

Hollister beugt sich wieder nach vorn, unterstreicht seine Enthüllung mit einem Augenzwinkern und erklärt wie auf der Bühne flüsternd: »Keine Operation nötig. Man betäubt oder überwältigt sie sonst wie, wenn sie allein sind, und spritzt ihnen das Implantat ein.«

VIER

Jane Hawk verließ fluchtartig den Lagerraum. Milchiges Tageslicht erhellte einen größeren Verkaufsraum und wurde in dem abzweigenden Flur zu Grautönen. Auf beiden Seiten des kurzen Ganges standen je zwei Türen offen, die in eine düstere Toilette und dunkle Büros führten.

In die Vorderfront des Ateliers waren zwei schaufenstergroße Milchglasscheiben eingelassen, die beide in Schreibschrift die Worte KLASSISCHE FOTOPORTRÄTS trugen – aus Janes Blickwinkel natürlich spiegelverkehrt. Zwischen den Fenstern befand sich eine Tür, ebenfalls mit Milchglasscheibe, auf der sich plötzlich eine Männersilhouette wie ein Stalker aus einem Albtraum abzeichnete.

Er musste einer von ihnen sein. Um die Straße zu erreichen und flüchten zu können, musste sie ihn ausschalten, aber selbst wenn er tödlich gefährlich war, durfte sie auf keinen Fall schießen, weil auf dem Gehsteig bestimmt Passanten unterwegs waren.

Der große Mann im Regenmantel kam vielleicht schon jetzt durch den Hintereingang herein.

Janes Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Tür rechts von ihr: eine Holztür mit vier Paneelen und ohne Glaseinsatz. Lag dahinter nur ein Einbauschrank, saß sie endgültig in der Falle.

Stattdessen führte dahinter eine schmale Treppe in die Dunkelheit hinauf. Jane hielt sich am Geländer fest, bis sie den ersten Treppenabsatz erreichte. Dort wechselte die Treppe ihre Richtung und führte zu einem weiteren Absatz hinauf, der durch einen Lichtschein aus einer offenen Tür schwach erhellt wurde.

Vielleicht hatte der Fotograf, der früher dieses Atelier betrieben hatte, über dem Laden gewohnt.

Weil die Leute, die jetzt von allen Seiten auf sie zukamen, sie in dieses Gebäude getrieben hatten, musste Jane damit rechnen, dass dort im ersten Stock jemand lauerte.

Ihr Herz hämmerte, ohne jedoch zu rasen, denn sie empfand Angst, aber noch keine Todesfurcht. Falls diese Leute Arkadier waren – und wer sollten sie sonst sein? –, würden sie sie nicht gleich umbringen. Sie würden sie in die Enge treiben, mit einem Taser lähmen, mit Chloroform betäuben und an einen sicheren Ort verschleppen, an dem sie sich heiser schreien konnte, ohne von einer mitfühlenden Seele gehört zu werden.

Letzten Endes würden sie ihr das Neuralnetz injizieren, das ihr Gehirn durchdringen und sie versklaven würde. Dann würden sie ihr Namen aller Unterstützer entlocken, die ihr bei ihrem Kreuzzug geholfen hatten, und darauf bestehen, dass sie den Aufenthaltsort ihres fünfjährigen Sohns Travis preisgab. Und wenn sie dann keine Verwendung mehr für sie hatten, würden sie ihrer willfährigen Marionette befehlen, Selbstmord zu verüben.

Aber nicht nur ihr. Sie kannte diese elitären Widerlinge. Sie kannte die Eiseskälte ihres Intellekts, die Schwärze ihrer Herzen, die reine Verachtung, mit der sie jeden betrachteten, der ihren Menschenhass nicht teilte und ihren Narzissmus nicht billigte. Sie würden grausame Rache für die Schwierigkeiten nehmen, die sie ihnen bereitet hatte, und für die Arkadier, die versucht hatten, Jane zu liquidieren, und dabei selbst getötet worden waren. Sie würden sie anweisen, ihren eigenen Sohn zu foltern und abzuschlachten; erst wenn er verstümmelt und tot dalag, würden sie ihr befehlen, sich selbst zu töten. In dem Nanotech gefangen, das ihr Gehirn durchdrang, würde sie selbst die schrecklichsten Befehle nicht verweigern können.

Im Vergleich zu einer Injektion wäre ein schneller Tod eine Gnade.

Sie stellte ihre Tasche neben der offenen Tür ab. Zog die Compact .45 von Heckler & Koch aus dem Holster unter ihrer Sportjacke. Sie hasste es, in solchen Situationen Räume betreten zu müssen, aber sie durfte keine Zeit verlieren.

Mit der Pistole in beidhändigem Griff, Kopf und Waffe voraus, trat sie rasch über die Schwelle, drückte sich sofort an die Wand rechts neben der Tür und suchte den Raum mit einem Schwenk übers Visier der H&K hinweg ab.

Drei Fenster zur Straße hinaus. Keine Jalousien, keine Vorhänge. Bogenförmige Markisen als Sonnenschutz. Keine Möbel. Keine Teppiche auf dem Holzboden. Nirgends eine Bewegung bis auf das Zittern einiger Wollmäuse in dem von ihr verursachten leichten Luftzug.

Durch einen Bogen gelangte man aus diesem Zimmer in weitere im Halbdunkel liegende Räume. Nebenan stand eine nach rechts führende Tür offen.

Sie hielt den Atem an und hörte nur Stille. Ausbildung und Intuition sagten ihr, dass jemand, der ihr aufgelauert hätte, sie längst angegriffen hätte.

In der Stille war von unten ein Geräusch zu hören, vielleicht von jemandem, der die Treppe heraufkam.

Jane ging zur Wohnungstür zurück, um ihre Tasche zu holen. Unter anderem enthielt sie 90.000 Dollar, die sie – und noch viel mehr – von reichen Arkadiern erbeutet hatte, die ohne Erfolg versucht hatten, sie auszuschalten. Sie konnte es sich nicht leisten, dieses Geld zu verlieren, denn sie führte einen Krieg, der zwar im Geheimen ablief, aber wie alle Kriege Geld kostete.

Das Haus war alt, und die Treppe knarzte unter dem Gewicht eines oder einer Unbekannten.

Sie schloss die Tür. Das Sicherheitsschloss war intakt. Sie ließ es einrasten.

FÜNF

Mai-Mai serviert kleine Teller mit gemischtem Salat, der mit Pinienkernen und Krümeln von Fetakäse bestreut ist.

Tom Buckle lächelt und bedankt sich und sieht ihr bewundernd nach, als ihre biegsame Gestalt in der Küche verschwindet.

Als die junge Frau gegangen ist, sagt Wainwright Hollister: »Ich muss Ihnen noch erklären, wie ein Gehirnimplantat als Injektion funktionieren könnte, Tom. Ich möchte nicht, dass Sie sich einen Science-Fiction-Film vorstellen. Dies ist ein ganz in der Gegenwart spielender Thriller.«

»Ich verstehe ein bisschen von Nanotechnologie, Wayne – gerade genug, um mir das vorstellen zu können.«

»Gut. Sehr gut. Nehmen wir also an, Hunderttausende dieser mikroskopisch kleinen Gebilde ließen sich bei Temperaturen zwischen zwei und zehn Grad Celsius in Ampullen lagern. Nach der Injektion werden sie durch die Körperwärme aktiviert. Sie sind Gehirn-affin. Sie gelangen mit dem Blut ins Herz und durch Halsschlagader und Wirbelarterie ins Gehirn. Wissen Sie, was die Blut-Hirn-Schranke ist, Tom?«

Buckle, dem der Salat sehr zu schmecken scheint, isst noch eine Gabel voll, bevor er antwortet: »Gehört habe ich schon davon, aber was Medizin betrifft, bin ich keine große Leuchte.«

»Das ist auch nicht nötig. Sie sind ein Künstler, noch dazu ein verdammt guter. Die Grundlagen Ihrer Arbeit sind Ideen und Emotionen … Die Blut-Hirn-Schranke ist ein komplexer biologischer Mechanismus, der lebenswichtigen Substanzen im Blut gestattet, in die unzähligen Gehirnkapillaren zu gelangen, aber Schadstoffe wie bestimmte Drogen blockiert. Stellen wir uns also vor, diese erstaunlich winzigen Nanokonstrukte seien dafür entworfen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, worauf sie im Gehirn einen Kontrollmechanismus bilden.«

»Könnten sie sich wirklich selbst zusammensetzen? Ich meine … viele, viele Tausende von ihnen?«

»Sehr gute Frage, Tom. Wüsste ich darauf keine Antwort, hätten wir keine brauchbare Story.« Hollister macht eine Pause, um den Salat zu kosten.

»Es schneit!« Thomas Buckle deutet auf das Fenster hinter seinem Gastgeber.

Hollister dreht sich auf seinem Stuhl um und beobachtet die ersten Schneeflocken von der Größe von Halbdollarstücken, die aus den tiefen Wolken herabgesegelt kommen wie ein Jackpot aus einem himmlischen Spielautomaten.

Dann konzentriert er sich wieder auf seinen Gast und sagt: »Vorhergesagt sind dreißig Zentimeter. Bis zum Abend soll die Temperatur auf fünf Grad unter null sinken. Der Wind ist noch schwach, aber er frischt bestimmt bald auf. In diesem Gebiet hält der Winter sich lange. Haben Sie schon mal einen Schneesturm dieser Art erlebt?«

»Ich bin ein echter Kalifornier. Schnee kenne ich nur aus Filmen und dem Fernsehen.«

Sein Gastgeber nickt. »Wäre ein Mann in einer Nacht wie der bevorstehenden auf der Flucht vor einem Mörder, sollte dieser Möchtegernkiller seine kleinste Sorge sein. Das Wetter selbst wäre ein weit gefährlicherer Feind.« Bevor Buckle sich über diese seltsame Feststellung wundern kann, bedenkt Hollister ihn mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Wissen Sie, ich habe eine Story für einen Film mit diesem Thema im Kopf. Aber bevor ich Sie mit einem zweiten Drehbuch langweile, wollen wir versuchen, meine Nano-Story zu einem überzeugenden Ende zu bringen. Sie haben gefragt, wie diese Konstrukte dazu gebracht werden könnten, sich im Gehirn selbst zusammenzusetzen. Wissen Sie, was man unter der Brownschen Bewegung versteht?«

SECHS

Vorläufig war Jane hinter der abgesperrten Tür der Wohnung im ersten Stock sicher, aber nicht sehr lange.

Wie alle Häuser an dieser Straße – unabhängig davon, ob sie ein-, zwei- oder dreistöckig waren – hatte das zweigeschossige Haus ein Flachdach mit niedriger Brüstung. In einem der Räume würde es eine Treppe aufs Dach geben, vermutlich eine eiserne Wendeltreppe in einer Besenkammer oder einem Einbauschrank.

Aber Jane wollte nicht aufs Dach. Stieg sie durch eine Falltür oder eine Treppe auf das Flachdach, würde sie vielleicht entdecken, dass die anderen das vorausgesehen und jemanden dort oben postiert hatten. Dann wäre ihr der letzte Ausweg versperrt.

Selbst wenn dort oben kein Dreckskerl mit einem Taser XREP lauerte, hatte Jane keine Lust auf eine wilde Flucht über die Dächer wie in einem James-Bond-Film. Obwohl die Gebäude unterschiedlich hoch waren, gingen sie ineinander über, sodass es für Kaminkehrer, Dachdecker und Elektriker fest montierte Leitern von Haus zu Haus geben würde. Aber sie hatte schon fünf Agenten gezählt, die an diesem Unternehmen beteiligt waren, und es konnten noch mehr sein. Und wenn sie solchen Aufwand treiben konnten, verfügten sie wahrscheinlich auch über eine Drohne.

Erst vor Kurzem hatte sie in einem Park in San Diego einen Angriff zweier bewaffneter Drohnen – vermutlich DJI Inspire 1 Pro mit kardanisch aufgehängter Kamera – überlebt. Eine vier bis fünf Kilo schwere Drohne konnte nicht einmal mit einer Waffe Kaliber .22 ausgerüstet werden, weil der Rückstoß sie aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Aber die in San Diego eingesetzten hatten mit Druckluft fast rückstoßfrei nadelspitze Bolzen verschossen, die vermutlich ein Betäubungsmittel enthalten hatten.

Die Leute, die sie jetzt einzukreisen versuchten, würden nicht riskieren, eine Drohne dieser Art auf einer belebten Straße in einem Geschäftsviertel einzusetzen. Aber sie konnten eine dicht über den Dächern schweben lassen, um Jane zu betäuben, sobald sie sich zeigte, ohne ein allzu großes Risiko einzugehen, dass der Angriff von der Straße aus bemerkt wurde.

Die Vorstellung, von einer Maschine angegriffen zu werden, war beängstigender als der Gedanke an einen Kerl mit einem Taser XREP Kaliber 12 – nicht unbedingt aus guten Gründen, sondern weil sie eine neue Welt anzukündigen schien, in der alle Menschen, die nicht durch Nanotechnologie versklavt waren, von Robotern, die weder Empathie noch Erbarmen kannten, überwacht und für jedes Vergehen bestraft wurden.

Sie lief zu den Wohnzimmerfenstern, die auf die Straße hinausführten und ihr die beste – die einzige – Möglichkeit zur Flucht boten.

SIEBEN

Hollister sitzt mit dem Rücken zu den Fenstertüren und ist so auf den Augenblick fixiert, wartet so gespannt auf den Moment, in dem Tom Buckle plötzlich seine verzweifelte Lage erkennen wird, und ist von der bevorstehenden Jagd so begeistert, dass er mit übernatürlich geschärften Sinnen fast hören kann, wie die großen Flocken aus Schneekristallen herabschweben. Und dass er fast das Blut riechen kann, das Muster bilden wird, die in brillantem Kontrast zu der reinweißen Schneedecke stehen.

»Die Brownsche Bewegung«, erläutert er, »bezeichnet die unregelmäßige und ruckartige Wärmebewegung kleiner Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen. Sie gehört zu den primären Naturmechanismen, Tom. Am einfachsten zu erklären ist sie am Beispiel der Ribosomen, kleine, aus Proteinen und rRNA bestehende, zelluläre Partikel, die die Proteinbiosynthese der Zellen katalysieren.«

Als sein Gastgeber eine kurze Pause macht, um einen Schluck Wein zu trinken, wirkt Buckle leicht benommen, als er sagt: »Mann, Sie haben diese Story wirklich im Detail ausgearbeitet.«

Hollister kann fast spüren, wie seine blauen Augen fröhlich blitzen, und weiß, dass sein charmantes Lächeln ihm nie bessere Dienste geleistet hat als jetzt. »Nur weil mir sehr viel daran liegt, Sie mit ins Boot zu holen, Sie für dieses Abenteuer mit mir zu begeistern. Nun zurück zu Ribosomen, die aus über fünfzig verschiedenen Komponenten bestehen. Zerlegt man Tausende von Ribosomen in ihre Bestandteile und vermischt sie in der Trägerflüssigkeit gründlich, prallen sie voneinander und den Molekülen der Flüssigkeit ab, bis die jeweils über fünfzig Komponenten sich erstaunlicherweise wie Puzzleteile zu ganzen Ribosomen zusammenfügen. Das ist die Brownsche Bewegung. Sie funktioniert auch bei Bertold Shennecks Kontrollmechanismus, weil alle Komponenten so gestaltet sind, dass sie nur an eine Stelle passen, damit das Puzzle sich nie falsch zusammensetzen kann.«

»Shenneck?«, fragt Buckle.

Hollister hätte Shenneck, den Entwickler der Nanotech-Implantate, nicht erwähnen sollen. Jetzt beeilt er sich, seinen Versprecher zu übertünchen. »Bei der Ausarbeitung der Story brauchte ich Namen für einige der Protagonisten. Das ist bloß der Name, den ich dem Wissenschaftler, der die Nanonetz-Implantate entwickelt hat, gegeben habe.«

»Das ist ein guter Name für diese Figur, aber …« Der Regisseur runzelt die Stirn. »Er klingt irgendwie bekannt, finde ich. Wir sollten ihn prüfen, uns vergewissern, dass es nicht irgendwo einen prominenten Bertold Shenneck gibt.«

Hollister schließt das Thema mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich bin nicht auf diesen Namen fixiert. Keineswegs. Von solchen Sachen verstehen Sie mehr als ich.«

Nachdem der Regisseur seinen Salat aufgegessen hat, tupft er sich die Lippen mit einer Serviette ab und fragt: »Wie lange braucht dieses Gehirnimplantat denn, um nach der Injektion zusammenzuwachsen?«

»Bei Implantaten der ersten Generation waren es noch acht bis zehn Stunden, aber das Verfahren dürfte so verbessert werden, dass ungefähr vier Stunden genügen. Der oder die Betreffende hat keine Erinnerung daran, gefesselt gewesen zu sein, um eine Injektion bekommen zu haben. Ist der Kontrollmechanismus installiert, kann er durch einen Schlüsselsatz wie ›Spiel Mandschurisch mit mir‹ aktiviert werden. Ist der Betreffende erst einmal angepasst, tut er alles, was ihm befohlen wird – und glaubt dabei sogar, aus eigenem Antrieb zu handeln.«

Der Schlüsselsatz begeistert Buckle. »The Manchurian Candidate, das große Kalter-Krieg-Epos über Gehirnwäsche. Regie: John Frankenheimer. Nach einem Roman von Richard Condon. Sinatra und Lawrence Harvey. Angela Lansbury als Harveys machtbesessene Mutter. Um 1962, glaube ich.«

»Shenneck mochte solche kleinen Scherze. Der Wissenschaftler, meine ich. Aber vielleicht bekommt er ja auch einen anderen Namen.«

»Ich weiß fast nicht mehr, wo mir der Kopf steht, Wayne, aber auf gute Weise. Die ganze Idee gefällt mir immer mehr. Nur wie hängt das alles mit Jane Hawk zusammen, mit der wir begonnen haben?«

Auf ein Klingelzeichen hin kommt Mai-Mai zurück, um die Salatteller abzutragen.

Hollister antwortet: »Sie müssen sich vorstellen, Tom, dass diese Techno-Arkadier sich nicht nur vorgenommen haben, die undisziplinierten Massen zu unterdrücken, indem ausgewählte Führer aus der Politik, den Kirchen, der Wirtschaft und dem Kunstsektor durch Injektionen unter Kontrolle gebracht werden. Sie wollen auch verhindern, dass charismatische Persönlichkeiten die Kultur mit den falschen Ideen beeinflussen.«

Tom lächelt Mai-Mai zu, bevor er seinen Gastgeber fragt: »Welche falschen Ideen?«

»Alle Ideen, die der arkadischen Philosophie zuwiderlaufen. Nehmen wir mal an, die Entscheidung wäre gefallen, dass es nicht genügt, diese charismatischen Typen zu kontrollieren. Dass es nötig sei, ihre einzigartigen Genome aus der Gesellschaft zu entfernen, um die Verbreitung ihrer Ideen zu unterbinden. Also bekommen sie ein Gehirnimplantat und werden später angewiesen, Selbstmord zu verüben.«

Tom Buckle nickt. »Wie Jane Hawks Ehemann. Aber wie würden die zu eliminierenden Menschen ausgewählt?«

»Ein Computermodell identifiziert sie anhand ihrer öffentlichen Äußerungen, Überzeugungen, Leistungen. Sie kommen auf die Hamlet-Liste.«

»›Hamlet‹? Wieso Hamlet?«

»Es existiert eine Theorie, die lautet: Hätte jemand Hamlet im ersten Akt umgebracht, wären am Schluss des Stücks sehr viele Leute noch am Leben.«

Buckle sagt stirnrunzelnd: »Im Film würden wir vermutlich einen anderen Namen für die Hamlet-Liste finden müssen. Wie viele Personen würden übrigens auf ihr stehen?«

»Stellen wir uns einmal vor, laut Computermodell müssten in einem Land von der Größe Amerikas pro Generation zweihundertzehntausend der charismatischsten Persönlichkeiten eliminiert werden, was rund achttausendvierhundert pro Jahr wären.«

»Massenmord. Das wird ein sehr düsterer Film, Wayne.«

»Für die Arkadier sind das keine Morde. Ihrer Ansicht nach ist es notwendig, Individuen mit gefährlichem Potenzial in der Herde zu keulen, um weiterhin Frieden und Stabilität zu garantieren.«

Mai-Mai serviert die Vorspeise: Loup de mer, Spargel und kleine Ravioli, die mit Mascarpone und roter Paprika gefüllt sind.

Als die beiden sich dem Hauptgericht widmen, sprechen sie über Veränderungen der Hauptfigur und verschiedener Aspekte des Drehbuchs, um die Story spannender zu machen. Hollister erwähnt den »Flüsterraum«, ein Element der Gehirnimplantate, das es angepassten Menschen ermöglicht, im Mikrowellenbereich von Gehirn zu Gehirn zu kommunizieren, wie es Elon Musk, der durch Tesla und Space-X berühmt gewordene Milliardär, für zukünftig möglich hält. Dadurch erscheint eine wirkliche Schwarmintelligenz möglich. Diese Vorstellung entzückt Buckle. Hollister genießt dieses Brainstorming ohne Limit weit mehr, als wenn er tatsächlich vorgehabt hätte, einen Film zu finanzieren.

Für Investoren sind Filme ein Albtraum. Höchstens dreißig Prozent spielen mehr als ihre Kosten ein. Und die Filmverleiher haben zahllose Möglichkeiten, die Besucherzahlen zu manipulieren und die Kosten so in die Höhe zu treiben, dass etwaige Gewinne nur zum Teil ausgeschüttet werden.

Tom ist jedoch lebhaft und enthusiastisch. Diesen Film mit ihm zu entwerfen ist ein Vergnügen. Je länger der junge Mann redet, desto klarer wird, dass das Computermodell ihn zurecht auf die Hamlet-Liste gesetzt hat. Nur gut, dass er diese Nacht nicht überleben wird.

Als Mai-Mai zurückkommt, um ihre Teller abzuräumen, erklärt Hollister ihr: »Nun wird es Zeit, dass du tust, was wir besprochen haben.«

Sie erwidert seinen Blick, und obwohl sie devot bleibt, ist sie auch ängstlich. Sie öffnet den Mund, wie um zu sprechen, aber ihre vollen Lippen zittern nur lautlos.

Als sie neben dem Stuhl ihres Herrn steht, nimmt Hollister ihre rechte Hand in beide Hände und lächelt beruhigend. Er spricht mit ihr wie mit einer Tochter: »Das ist in Ordnung, Kind. Es ist nur eine künstlerische Performance. Du warst schon immer eine ausgezeichnete Künstlerin. Hierfür wurdest du geboren.«

Ihre Angst schwindet. Das Zittern lässt nach. Sie reagiert auf sein Lächeln, indem sie ihrerseits liebevoll lächelt. Sie beugt sich hinunter, um seine Wange zu küssen.

Tom Buckle beobachtet das alles sichtlich verwirrt. Als Mai-Mai die Teller wegräumt, ist der Filmemacher um Worte verlegen und tarnt seine Unsicherheit, indem er genießerisch einen Schluck Wein nimmt.

»Wie ich sehe, sind Sie neugierig in Bezug auf Mai-Mai«, sagt Hollister.

»Nein, keineswegs«, beteuert Buckle. »Sie geht mich nichts an.«

»In Wirklichkeit, Tom, ist das die Essenz Ihres Besuchs bei mir. Mai-Mai ist siebenundzwanzig, ein Jahr älter als Sie, eine außergewöhnliche Frau.«

Tom sieht zu der Schwingtür hinüber, durch die Mai-Mai verschwunden ist. »Sie ist sehr schön.«

»Richtig«, bestätigt Hollister. »Und überragend begabt. Ihre Gemälde definieren den Realismus neu. Sie sind umwerfend. Mit zweiundzwanzig hatte sie bereits zahllose Kunstpreise gewonnen. Mit vierundzwanzig hat sie in den führenden Galerien weltweit ausgestellt. Sie hat künstlerisches Neuland betreten, als sie mehrere ihrer Gemälde mit einzigartigen Performances kombiniert hat, die ein begeistertes Publikum angelockt haben.«

»Malt sie noch immer?«

»O ja. Besser als je zuvor. Prachtvolle Bilder, wunderbare Kompositionen.«

»Aber wieso …«

»Wieso serviert sie uns dann hier unseren Lunch?«

»Diese Frage drängt sich auf.«

»Sie malt Bilder, aber sie verkauft keine mehr.«

»Sie verstehen es wirklich, einen auf die Folter zu spannen, Wayne.«

Hollister lächelt. »Ich habe Sie neugierig gemacht, nicht wahr?«

»Und wie! Ich würde diese Gemälde sehr gern sehen.«

»Das können Sie nicht. Sie vernichtet jedes Bild, sobald sie es gemalt hat.«

Tom Buckle runzelt verwundert die Stirn. »Um Himmels willen, wie kommt sie bloß auf diese Idee?«

»Weil sie eine angepasste Frau ist. Sie hat es auf die Liste geschafft.«

Dieser Vorfall mit Mai-Mai hat Tom genug verwirrt, dass das Wort »Liste« ihm nicht sofort etwas sagt.

»Die Hamlet-Liste«, fügt Hollister erklärend hinzu.

Aus Toms Verwirrung wird ein Missverständnis, das ihn lächeln lässt. »Sie verstehen es wirklich, Ihre Ideen zu pushen, Wayne. Und sie ist eine klasse Schauspielerin.«

»Sie ist keine Schauspielerin«, versichert Hollister ihm. »Sie ist nur eine fügsame kleine Bitch. Sie vernichtet sie, weil ich es ihr befohlen habe.«

Im nächsten Augenblick fällt Tom Buckles Blick auf etwas vor der Glaswand hinter seinem Gastgeber. »Großer Gott, was …?« Tom steht ruckartig auf.

Auch Wainwright Hollister erhebt sich, wendet sich den Fenstertüren zu.

Im dichten Schneetreiben steht Mai-Mai nackt auf der Terrasse, ihnen zugewandt, heiter lächelnd und mehr mystisch wirkend als real.

»Ihr Körper ist so perfekt wie ihr Gesicht«, sagt Hollister, »aber man kann selbst solcher Perfektion überdrüssig werden. Ich habe genug von ihr.«

Um Mai-Mais rechte Hand ist ein hellroter Seidenschal gewickelt. Als er in den Schnee auf der Terrasse gleitet, wird eine Pistole sichtbar.

Eine Performance, sagt Tom Buckle sich, der verwirrt ist und zugleich nicht wahrhaben will, was er sieht.

Der Schnee fällt und fällt weiter in lautlosen Kaskaden von weißen Blütenblättern, als Mai-Mai den Pistolenlauf in den Mund steckt, den feurigen Drachenodem des Mündungsfeuers auszuatmen scheint und im Zeitlupentempo auf der Terrasse zusammensinkt, wo der Blütenfall jetzt lautlos ihren stillen Leichnam bedeckt.

ACHT

Jane schob die untere Hälfte eines zweigeteilten Schiebefensters hoch.

Einen halben Meter unter der Fensterbank ragte auf fast gesamter Hausbreite eine eineinhalb Meter tiefe Markise mit Werbung für das ehemalige Fotoatelier über den Gehsteig hinaus.

Sie ließ ihre Sporttasche auf die Markise fallen und kletterte durchs Fenster hinterher.

Der gesamte Straßenblock stammte aus der Art-déco-Periode, und jedes Gebäude in dieser Häuserzeile hatte eine individuell gestaltete Markise, zwischen denen eine Lücke von fast einem halben Meter klaffte. Jane hastete nach Osten davon und sprang von der ersten Markise auf die zweite, von der zweiten auf die dritte.

Mit ihrer Tasche über der Schulter kniete sie dem Haus zugewandt auf der dritten Markise nieder, hielt sich am Steinsims unter einem Fenster fest und rutschte rückwärts ins Leere. So blieb sie einen Augenblick hängen, bevor sie sich auf den Gehsteig fallen ließ.

Dabei erschreckte sie einen alten Knaben mit Schottenmütze, der mit seinem Rollator unterwegs war. »Es regnet hübsche Mädchen!«, rief er begeistert aus. »Das nenne ich Zeichen und Wunder!«

Bei der Landung war ihr die Tasche vom Arm geglitten. Jetzt bückte sie sich danach.

»Wäre ich nur fünfzig Jahre jünger«, sagte er.

Jane sagte: »Wäre ich nur fünfzig Jahre älter«, küsste ihn auf die Wange, trat zwischen zwei geparkten Autos hindurch und überquerte Haken schlagend die dreispurige Straße.

Als sie sich von der anderen Straßenseite aus umsah, stand der Mann in dem langen Regenmantel an dem offenen Fenster, durch das sie entkommen war, während unter ihm ein weiterer Mann aus dem Eingangsbereich des ehemaligen Fotoateliers trat. Beide hatten sie schon entdeckt.

An der Straßenecke wandte sie sich nach Norden, um außer Sicht zu kommen. Vor ihr war ein Kerl um die dreißig dabei, auf eine voll verchromte Harley Road King Cruiser zu steigen. Auf seinem Sturzhelm ohne Visier klebte eine amerikanische Flagge. Jane konnte nur hoffen, dass sie ihm etwas bedeutete.

Außer Atem fragte sie: »Nehmen Sie mich ein Stück weit mit?«

Er musterte sie nicht von oben bis unten, wie es die meisten Männer taten, sondern sah ihr nur ins Gesicht. »Wohin wollen Sie denn?«

»Nur weg von hier. Und möglichst schnell.«

»Cops oder keine Cops?«

Jane musste ihm etwas erzählen, um sich seine Unterstützung zu sichern. »Falls sie Polizeiausweise haben, sind sie gefälscht.«

Als er sich auf den Sattel schwang, sagte er: »Aufsteigen und festhalten.«

Sie saß knapp vor den Satteltaschen, hatte ihre Sporttasche über der Schulter und schlang die Arme um ihn.

Der getunte Motor röhrte mit dem unverwechselbaren Sound von Screamin’-Eagle-Kolben und – zylindern.

Jane sah über ihre Schulter. Gerade bog einer ihrer Verfolger um die Ecke.

Die Road King schoss davon.

NEUN

Der Himmel ist unsichtbar über den großen weißen Flocken, mit denen er die Welt zudeckt, und auf der Terrasse liegt Mai-Mais ehemals makelloser Körper, erstarrend unter einer Decke aus Schneekristallen …

Diesseits der Glaswand wiederholt Tom Buckle: »Eine Performance«, obwohl die Künstlerin nicht blutig und gehirnlos aufstehen wird, um den Applaus entgegenzunehmen.

Adam, Brad und Carl, die drei ranghöchsten Männer des 18-köpfigen Sicherheitspersonals der Ranch, die einst andere Namen und Persönlichkeiten und reale Leben hatten, betreten den Frühstücksraum. Sie sind ganz in Schwarz gekleidet und tragen das gestickte Wappen der Crystal Creek Ranch in Weiß auf der Brusttasche ihrer Hemden.

Obwohl Tom Buckle von Mai-Mais Selbstmord noch immer ungläubig gelähmt ist, reagiert er auf diese drei Männer sofort ängstlich besorgt, wozu er allen Grund hat. Sie verströmen die Intensität von Wölfen auf der Jagd, und obwohl ihre Blicke scharf wie Filetiermesser sind, liegt in ihren Augen ein seltsam toter Ausdruck, der zurecht vermuten lässt, sie seien kaltherzig wie Roboter.

»Tom«, sagt Hollister in einem Tonfall, als sei hier nichts Ungewöhnliches passiert, »erinnern Sie sich zufällig an den Namen des einer Gehirnwäsche unterzogenen Auftragskillers in The Manchurian Candidate?«

Buckle weicht ein paar Schritte vor den Neuankömmlingen zurück. »Was soll das? Was, zum Teufel, geht hier vor?«

Hollister beantwortet seine Frage selbst, indem er sagt: »Sein Name war Raymond Shaw. Wesen wie diese …« Er zeigt auf seine Sicherheitsleute. »… bezeichnen wir als Rayshaws. In einem Wort geschrieben. Sie sind angepasste Leute, denen man einen Kontrollmechanismus injiziert hat. Aber dieses Nanotech unterscheidet sich von dem, das Mai-Mai und Nick Hawk und andere auf der Hamlet-Liste bekommen haben. Diese Version löscht alle ihre Erinnerungen, dekonstruiert ihre Persönlichkeit und programmiert sie zu Leibwächtern, die sich jederzeit ohne das geringste Zögern für ihren Herren opfern würden. Ich bin ihr Herr, Tom, und wenn ich ihnen befehlen würde, Sie zu töten, würden sie das äußerst bereitwillig tun.«

Der Regisseur weicht weiter vor den Rayshaws zurück, bis er gegen ein Sideboard stößt. Körperlich wirkt er wie erstarrt, aber dass er mental und emotional taumelt, steht außer Zweifel.

»Ihre Arbeit hat Ihnen einen Platz auf der Hamlet-Liste eingebracht, Tom, und folglich ein Todesurteil.«

Der Filmemacher wagt es, die Rayshaws kurz aus den Augen zu lassen, um den Blick seines Gastgebers zu erwidern. Obwohl er auch Drehbücher schreibt, fehlen ihm die Worte, auch wenn er sich verzweifelt bemüht, diese bizarre Wendung zu verarbeiten und in eine Dramaturgie einzubauen, die ihm letztlich einen Triumph verspricht.

»Ich könnte diesen Männern befehlen, Sie zu überwältigen und Ihnen ein Gehirnimplantat zu injizieren, bevor ich Sie nach Kalifornien zurückschicke, ohne dass Sie die geringste Erinnerung an die heutigen Ereignisse hätten.«

Wainwright Hollister kommt um den Tisch herum auf Tom Buckle zu.

»Kennen Sie Roger und Jennifer Boseman?«

Tom fragt wie vor den Kopf geschlagen: »Was?«

»Roger und Jennifer Boseman?«

»Die wohnen neben mir, Nachbarn, gleich nebenan.«

»Ihre Tochter Kaylee, zehn Jahre. Die Kleine ist wirklich eine Schönheit. Wenn Sie nach der Injektion angepasst und wieder zu Hause sind, rufe ich Sie in ein paar Wochen an und befehle Ihnen, Kaylee zu entführen, zu vergewaltigen, zu foltern und zu töten, bevor Sie sich selbst umbringen … Und Sie werden gehorchen.«

Er baut sich dicht vor seinem Gast auf.

»Nach dieser empörenden Tat gelten die beiden zuvor hochgelobten Filme, die Sie gemacht haben, als Werke eines Ungeheuers, werden aus dem Verkehr gezogen und nie mehr gezeigt. Damit wäre der kleine Effekt, den Sie vielleicht auf die Kultur gehabt haben, endgültig verpufft.«

Der Regisseur akzeptiert endlich, was er bisher verzweifelt zu leugnen versucht hat. »O Gott, das ist alles echt! Die Injektionen, die Gehirnimplantate, die Versklavung.«

»Ja. Aber ›Versklavung‹ ist das falsche Wort, Tom. Die meisten Menschen sind unbeherrscht, unklug und unwissend, neigen zu Aberglauben und anderem irrationalen Verhalten. Sie sind schlecht angepasst. Zu ihrem eigenen Besten und um diesen fragilen Planeten zu retten, wollen wir ihnen helfen, angepasst zu werden.«

»Sie sind verrückt!«

»Nein, Tom. Ich bin der vernünftigste Mensch, dem Sie je begegnet sind. Ich hege keine Illusionen über den Sinn des Lebens.«

Hollister bedenkt den jüngeren Mann mit einem Lächeln, das einem Landarzt auf einem Gemälde von Norman Rockwell gut zu Gesicht stehen würde.

»Außerdem bin ich ein Mann mit festen Überzeugungen. Daher überlasse ich die Schmutzarbeit nicht immer anderen. Von Zeit zu Zeit führe ich die Anpassung selbst durch. Die Anpassung oder – wie in Ihrem Fall – die Exekution. Aber ich bin auch fair, Tom. In dem bevorstehenden Kampf haben Sie eine Chance, mit dem Leben davonzukommen.«

Wie durch tausend heldenhafte Filmszenen befeuert, schlägt Tom Buckle eine Gerade – aber so unbeholfen wie ein Komparse, der einen Trottel spielen muss. Hollister fängt seinen Schlag mit dem Unterarm ab, packt Buckles Handgelenk, dreht ihm blitzschnell den Arm auf den Rücken und versetzt ihm einen kräftigen Stoß. Der Regisseur torkelt gegen die Fensterwand und klatscht eine Hand ans Glas, um nicht durch die Scheibe zu stürzen.

Zu den Rayshaws sagt Hollister: »Mr. Buckle braucht eine Ausrüstung und muss über die Spielregeln unterrichtet werden.«

In diesem Augenblick trifft der erste Windstoß des Sturms die Terrasse, und der hellrote Seidenschal, unter dem Mai-Mais Pistole versteckt war, wird von den verschneiten Natursteinplatten hochgewirbelt. Er schwebt in wellenförmiger Bewegung eineinhalb bis zwei Meter über ihrem Leichnam, als sei er die Seele, die aus ihrem stillstehenden, schon abkühlenden Herzen aufsteigt.

ZEHN

Der Motor mit zwei Nockenwellen, vermutlich 1550 Kubikzentimeter, machte die Harley zu einer echten Rakete. Der Fahrer schaltete gekonnt durch die fünf Gänge hinauf und hinunter und nahm auch enge Kurven mit dem Selbstvertrauen einer Figur aus Star Wars, die einen Podracer lenkt.

Nach fast zwanzig Minuten Fahrt wurde er langsamer, als sie ein Wohngebiet in einem Teil des Valleys erreichten, das so weit nördlich lag, dass es nicht mehr ganz als Vorort von Los Angeles gelten konnte. Die Häuser waren alt, die Grundstücke groß, die Bäume hoch und zahlreich: Virginia-Eiche und Eukalyptus und verschiedene Palmen, manche davon mit trockenen, vernachlässigt wirkenden Wedeln.

Er bog in eine Einfahrt ab, die zu einem tadellos gepflegten weißen Bungalow mit liebevoll handwerklichen Details führte. Beschattet wurde er von riesigen, gut gepflegten Dattelpalmen.

Im rückwärtigen Teil des Grundstücks stand eine einzelne Garage mit drei Stellplätzen, jeder mit einem eigenen überbreiten Tor, von denen eines nach oben fuhr, als die Harley näher kam. Der Biker rollte darunter hindurch in die Garage, stellte den Motor ab und klappte den Seitenständer nach unten.

Jane hatte damit gerechnet, dass er sie mehrere Meilen von ihrem Ausgangsort entfernt absetzen würde – aber an einem öffentlichen Ort. Anscheinend hatte er sie stattdessen mit zu sich genommen. Die drei Stellplätze in der Garage bildeten einen einzelnen großen Raum, der eine gut eingerichtete Werkstatt und mehrere Motorräder beherbergte.

Misstrauisch, aber nicht so sehr, weil er sie ausgerechnet hierher mitgenommen hatte, sondern weil die Welt mit ihren finsteren Machenschaften ihr Misstrauen eingeimpft hatte, war sie beim Absteigen auf alles gefasst.

Er nahm seinen Helm ab, legte ihn auf den Sitz, zog seine Lederhandschuhe aus und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes Haar. Weit auseinanderstehende malachitgrüne Augen. Kantige, energische Gesichtszüge. Dazu die Andeutung eines Lächelns.

Sie sagte: »Danke fürs Mitnehmen.«

Er legte den Kopf leicht schief, während er sie genauer betrachtete.

»Aber wo sind wir hier – und wie weit ist es bis zum nächsten Bus?«

Ein tiefes Knurren erweckte Janes Aufmerksamkeit. In dem offenen Garagentor stand ein riesiger Hund. Eine Englische Dogge mit lohfarbenem Fell, schwarzem Gesicht und dunklen Ohren.

Doggen standen in dem Ruf, aggressiv zu sein, was sie nicht waren – außer sie waren dafür ausgebildet.

Ihr Retter sprach endlich: »Sie haben sich mit in die Kurven gelegt, waren bei keiner Schräglage nervös angespannt.«

»Ich bin schon früher Motorrad gefahren.«

»Gefahren oder mitgefahren?«

»Beides.«

Mit einer Handbewegung zu dem wachsamen Hund hinüber sagte sein Besitzer: »Sparky ist harmlos. Er bellt nicht und beißt nicht.«

»Er wedelt auch nicht mit dem Schwanz.«

»Lassen Sie ihm Zeit. Vielleicht weiß der alte Sparky, dass Sie eine verdeckte Waffe tragen.«

»Woher könnte er das wissen?«

»Vielleicht aus dem Schnitt Ihrer Sportjacke.«

»Ihr Hund kennt sich aus.«

»Und als Sie sich an mir festgehalten haben, habe ich sie am Rücken gespürt.«

Jane zuckte mit den Schultern. »Wir leben in einer gefährlichen Welt. Als Frau muss man sich selbst verteidigen können.«

»Wie wahr! Jedenfalls hab ich ein solides Bike für Sie.«

»Ich wusste nicht, dass ich eines brauche.«

»Sie waren zu Fuß, also müssen sie Ihren Wagen identifiziert haben.«

»›Sie‹?«

»Die Kerle mit den gefälschten Ausweisen.«

»Sie haben mich hierher mitgenommen, um mir ein Bike zu verkaufen?«

»Von verkaufen habe ich nichts gesagt.«

»Arbeiten werde ich nicht dafür.«

»Keine Panik. Ich bin glücklich verheiratet. Meine Frau ist jetzt im Haus. Sie hat uns kommen sehen. Außer ihr brauche ich niemanden.«

Jane stellte ihre Tasche ab, um beide Hände frei zu haben. Sie sah zum Haus hinüber. Vielleicht existierte die Ehefrau, vielleicht auch nicht. Existierte sie, konnte sie Schutz vor unerwünschten Annäherungsversuchen bieten – außer sie hatte nichts gegen eine Vergewaltigung und würde sich sogar daran beteiligen. Jane hatte einmal einen Serienmörder gefasst, dessen Frau von ihm ausgesuchte Opfer in Sicherheit gewiegt hatte, damit er sie leichter entführen konnte. In den Wochen, in denen ihr Mann sie missbrauchte, hatte sie Schlemmermahlzeiten für die Mädchen gekocht, ihnen frische Blumen in ihr fensterloses Kellerverlies gestellt und bei der Beseitigung ihrer verstümmelten Leichen geholfen, wenn ihr Ehemann mit ihnen fertig war. Das habe sie aus Liebe zu ihm getan, sagte sie.

»Ich heiße Garret. Garret Nolan.«

»Ich bin Leslie Anderson«, log sie.

Auf dem Gesicht des Bikers erschien endlich das lange zurückgehaltene Lächeln. Es wirkte wissend, was Jane beunruhigte.

Die Dogge kam in die Garage getapst. Sie beschnüffelte gründlich ihre Schuhe, als versuche sie zu ergründen, auf welcher Route sie hergekommen war.

Garret Nolan betätigte einen Schalter neben dem Tor, um die drei Garagenabteile zu beleuchten. »Racer, Cruiser, Tourer. Ich zerlege sie, baue sie besser wieder auf, verfeinere sie individuell. Wenn Sie bis zur kanadischen Grenze raufwollen, brauchen Sie einen Bagger.«

Aus dem Hinweis auf die kanadische Grenze schloss sie, dass er ihren Status als Flüchtling für faktischer hielt, als er aufgrund ihrer Äußerungen hätte vermuten dürfen. Sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich sträubten.

»Ich habe zwei Road Kings, beide neuwertig«, fuhr er fort, »aber in die habe ich zu viel reingesteckt, um sie einfach verschenken zu können. Was ich Ihnen geben kann, ist ein Big Dog Bulldog Bagger, Baujahr 2012, den ich demnächst zerlegen wollte. Ein ehrliches Bike.«

»Sie brauchen mir nichts zu schenken. Ich habe Geld. Ich kann bezahlen.«

»Von Ihnen will ich kein Geld. Der Big Dog hat viele Meilen auf dem Tacho, aber er fährt klasse. Ich habe ihn selbst schon gefahren. Sie brauchen keinen aufgemotzten Racer mit Performance-Machine-Felgen, Kuryakyn-Auspuffanlage und sonstigem Krempel. Er ist ein zuverlässiges Lasttier, das keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregt. Machen Sie eine Probefahrt durch die Nachbarschaft. Gefällt er Ihnen, können Sie ihn behalten. Kennzeichen hat er keins, aber Sie können ein paar tausend Meilen fahren, denke ich, bevor das einem Cop auffällt.«

Sie starrte ihn schweigend an, bis sein schwaches Lächeln verblasste. Dann sagte sie: »Ich bitte Sie, mir aus der Patsche zu helfen, indem Sie mich mitnehmen, und Sie wollen mir ein Bike schenken. Was steckt dahinter, Mr. Nolan?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube Ihnen. Ich möchte Ihnen helfen.«

»Was glauben Sie mir?«

»Dass Sie unschuldig sind.«

»Ich habe nie behauptet, unschuldig zu sein. Und außerdem … in welcher Beziehung unschuldig?«

Er war ein Hüne, fast einen Meter neunzig groß, mit der Ausstrahlung eines Mannes, der Erfahrung mit roher Gewalt hatte, und trotzdem wirkte er plötzlich verlegen wie ein kleiner Junge und starrte seine Stiefel an, um Janes Blick nicht erwidern zu müssen.

»In welcher Beziehung unschuldig?«, wiederholte sie.

Er starrte durchs offene Tor zu dem Bungalow im Schatten von Dattelpalmen hinüber, betrachtete die an diesem windstillen Tag unbeweglich herabhängenden Palmenwedel.

Sie wartete, und als er sie wieder ansah, sagte er: »Das ist eine klasse Verkleidung, aber Verkleidungen zu durchschauen hat früher zu meinem Job gehört. Sie sind sie. Sie sind Jane Hawk.«

ELF

Sparky, die Dogge, beschnüffelte den Reißverschluss der Sporttasche, als sei er dafür ausgebildet, die gebündelten Hunderter zu erschnüffeln, die sie unter anderem enthielt.

»Wäre ich Jane Hawk«, sagte Jane, »wäre es vielleicht keine gute Idee, mir das auf den Kopf zuzusagen. Wenn die halbe Welt sie jagt, muss sie eine verrückte, verzweifelte Bitch sein.«

Garret Nolan lächelte erneut. »Ich sage Ihnen nicht, bei welchem Dienst ich war. Wir waren auf verdeckte Einsätze in Mexiko und Mittelamerika spezialisiert, ohne Uniform, wir haben im Land gelebt. Wir waren im Einsatz gegen die MS-13 und weitere Banden mit Verbindungen zu iranischen Zellen in Venezuela, Argentinien und Nicaragua.«

Er wandte sich ab, ging zu dem Schlüsselbrett an der Wand neben der Werkbank und nahm einen Schlüssel von einem der Haken.

»Wir wussten, wen wir suchten – Namen, Gesichter –, aber viele von ihnen hatten ihr Aussehen verändert. Aber wenn man längere Zeit mit Software zur Gesichtserkennung arbeitet, um Verkleidungen zu durchschauen, passiert etwas Merkwürdiges. Als ob das Gehirn sich einen Teil der Software heruntergeladen hätte, bekommt man einen Blick für Verkleidungen, selbst wenn sie noch so gut sind.«

Als er zu Jane zurückkam, hielt er ihr den Schlüssel hin, ohne dass sie danach griff.

»Ein weiteres Problem ergibt sich natürlich daraus, dass Sie eine verdammt hübsche Frau sind.«

»Was sollte ich tun, wenn ich Jane Hawk wäre – mein Gesicht durch Narben entstellen?«

»Frauen, die so blendend aussehen, benutzen selten so viel Make-up und Lidschatten, so auffälligen Lippenstift. Können sie ein Gesicht nicht verbessern, wollen sie es vielleicht tarnen.«

»Ist das alles, was Sie haben?«

»Der Leberfleck auf der Oberlippe … Wieso haben Sie den nicht wegoperieren lassen?«

»Ich bin ängstlich, was Ärzte und Skalpelle betrifft.«

»Falsche Leberflecken, falsche Muttermale, falsche Tätowierungen – lauter häufige Tarnungen. Ich bräuchte kein Skalpell. Ihren Leberfleck könnte ich mit etwas Gummilösung entfernen.«

»Ich bin Leslie Anderson«, behauptete Jane. »In Portland geboren, zuletzt wohnhaft in Las Vegas. Ich bin auf der Flucht, seit ich fünftausend Kreditkartennummern gestohlen habe, die mein Hacker-Boss entwendet hatte, und mich selbstständig gemacht habe. Ich habe damit Waren bestellt und weiterverkauft, bis sie mich aufgespürt haben.«

Nolan hielt ihr weiter den Schlüssel hin. »Die getönte Kontaktlinse in Ihrem linken Auge sitzt nicht richtig. Über dem Grau ist ein schmaler blauer Halbmond sichtbar. Jane Hawk hat blaue Augen.«

Sie erinnerte sich daran, wie er sie bei der ersten Begegnung nicht von oben bis unten gemustert hatte, sondern ihr in die Augen gestarrt hatte.

»Ihre aschblonde Perücke sitzt gut, ist erstklassig gearbeitet«, sagte er. »Aber wäre das Ihre natürliche Haarfarbe, wäre Ihre Haut vermutlich etwas heller. Zu Ihrem Teint passt eher honigblondes Haar – wie das von Jane Hawk.«

Sie nahm den hingehaltenen Schlüssel. »Ich muss nicht Jane Hawk sein, um ein Motorrad zu brauchen. Aber wenn Sie heiß darauf sind, es Leslie Anderson zu schenken …«

»… in Portland geboren, zuletzt wohnhaft in Las Vegas«, sagte er. »Ein weiteres Merkmal ist übrigens Ihre Art, sich zu bewegen. Rücken gerade, Schultern zurückgenommen, sportlich, straff und selbstbewusst. So bewegt sie sich in dem Film, den sie von ihr haben.«

»Mama Anderson hat ihre Tochter immer ermahnt, gute Haltung zu bewahren.«

»Tatsache ist übrigens, dass die Medien berichten, Jane Hawk sei vor drei Tagen in Borrego Springs an einem Terroranschlag mit über hundertfünfzig Toten beteiligt gewesen. Angeblich hält sie sich weiter irgendwo in Südkalifornien auf.«

»An ihrer Stelle«, sagte Jane, »wäre ich längst raus aus Kalifornien.«

Um die Chance gebracht, den Tascheninhalt zu erforschen, knurrte die Dogge enttäuscht, als Jane nach ihrer Sporttasche griff.

»Ich kann wirklich dafür bezahlen«, sagte sie.

»Womit könnte ich dann angeben, wenn Sie eines Tages vollständig rehabilitiert dastehen?«

Sie verstaute ihre Tasche in einer der Satteltaschen des Bikes. »Nehmen wir mal an, ich wäre Jane Hawk. Warum täten Sie es dann?«

»Aus meiner Zeit im … Dienst weiß ich, wie stark die Feinde der Freiheit die Institutionen dieses Landes, das öffentliche und private Leben unterwandert haben. Wie diese Leute Sie mit wilder Rachsucht dämonisieren, zeigt mir, dass Sie recht haben, was die zunehmende Zahl von Selbstmorden betrifft, die anscheinend von irgendjemandem … veranlasst werden.«

»Ich habe Jane Hawk noch nie sagen gehört, sie würden veranlasst.«

»Vielleicht nicht, weil niemand ihr die Chance dazu gegeben hat. Digitale Technologie und Biotechnologie – irgendwie müssen sie dabei eine Rolle spielen.«

»Davon verstehe ich nichts.«

Er sagte: »Die Leute lassen sich von Hightech-Entwicklungen blenden, die aber eine dunkle Seite haben, die immer dunkler wird. Ist ein Horror heute noch nicht möglich … morgen ist er’s bestimmt.«

»Oder vielleicht ist er doch schon heute möglich«, sagte sie.

ZWÖLF

Die drei Rayshaws waren vom Typ her identisch: große Kerle mit Stiernacken, breiten Schultern und gewaltigen Pranken, mit kalten Augen, deren unpersönliches Starren an Kameraobjektive erinnerte. Sie wirkten nicht wie gewöhnliche Menschen, sondern wie unsterbliche Verkörperungen von Gewalt, die vor Jahrtausenden aus irgendeinem höllischen Reich entkommen waren und die Jahrhunderte mit ihrer Mission von Barbarei, Grausamkeit und Mord überdauert hatten.

Sie eskortierten Tom Buckle zu der Gästesuite, in der er sein Gepäck zurückgelassen hatte. Nichts, was er sagte, rief irgendeine Reaktion hervor. Sie sprachen nur mit ihm, um ihm irgendwelche Anweisungen zu geben. Auch wenn sie ihm nicht mit Worten drohten, sprach aus jedem Blick und jeder Bewegung tödliche Gefahr.

Dinge, die nicht ihm gehörten, waren aufs Bett gelegt worden: lange Unterwäsche, ein Flanellhemd, ein Schneeanzug aus Gore-Tex und Thermolite von Hard Corps, zwei Paar Socken in unterschiedlichen Größen und warme, geschmeidige Handschuhe. Vor dem Bett stand ein Paar Winterstiefel.

»Nackt ausziehen«, befahl ihm einer der Männer. »Diese Sachen anziehen.«

Tom war bewusst, dass es keinen Zweck hatte, an die allgemeine Menschlichkeit dieser Kreaturen zu appellieren, denn sie hatten außer ihrer Gestalt nichts Menschliches an sich. Ihre Gesichter waren unterschiedlich, aber ihr Ausdruck war auf unheimliche Weise derselbe: maskenartig leer wie der von Schaufensterpuppen. Ihren Gesichtern fehlte jeglicher Hinweis auf Persönlichkeit; beide wirkten so distanziert und gespenstisch wie das blasse Licht des Mondes bei Tag.

Wainwright Hollisters Drehbuch war tatsächlich real, und Tom Buckle war der zum Tod verurteilte Hauptdarsteller in einem Film noir, dessen Thema die Hoffnungslosigkeit des Hoffens sein würde. Er war Edmond O’Brien in Bei Ankunft Mord, Robert Mitchum in Goldenes Gift.

Die drei Männer sahen schweigend zu, als er sich auszog.

Tom gehorchte ihnen. Er konnte nichts anderes tun, als zu gehorchen. Er glaubte Hollisters Aussage, sie seien Killermaschinen.

Sechsundzwanzig Jahre lang hat er ein verhältnismäßig behütetes Leben geführt auf einem Gleitpfad zu seinem Traumberuf: Filmregisseur. Wirkliches Entsetzen hatte er noch nie verspürt. Jetzt fürchtete er nicht nur Hollister und diese Kreaturen, sondern hatte auch Angst vor dem Gefühl, in seiner Psyche könnte sich plötzlich ein finsterer Abgrund auftun, ein schwarzer Mahlstrom, aus dem es kein Entrinnen geben würde.

Während Tom in den Schneeanzug schlüpfte, stand ihm Mai-Mais Selbstmord so deutlich vor Augen, dass der Raum um ihn herum sich zu verdunkeln schien wie ein Kino, in dem alles Licht auf die Leinwand konzentriert ist: ihr exquisites schmales Gesicht, ihr makellos schöner Körper, ein Symbol mythischer Macht, als sei sie wie eine Göttin aus einem bis dahin unbekannten Pantheon herabgestiegen … Die Szene in schwarz-weißem Grau wirkt, als stamme sie aus einem in den dreißiger Jahren gedrehten Film – bis auf den leuchtend roten Seidenschal, der von ihrer Hand glitt, und das Mündungsfeuer der Pistole, als sie erschreckend graziös zusammenbrach, was ihre scheinbare Macht als Illusion enttarnte, die so nachlässig aus dieser Welt entfernt worden war, wie Hollister eine Kakerlake weggewischt hätte, bevor er sie zertrat.

In der Suite war es warm, aber Tom fror wie draußen in der schneebedeckten Landschaft vor den Fenstern. Sein Herz hämmerte angstvoll, aber er empfand auch Zorn, eine eisige Wut, die ihn erschreckte. Er war sein Leben lang kein zorniger Mann gewesen. Jetzt war er in Sorge, sein Zorn könnte ihn dazu bringen, etwas zu tun, das seine ohnehin geringen Überlebenschancen weiter verringern konnte.

Als er in Stiefeln und im Schneeanzug mit aufgesetzter Kapuze dastand, führten die drei Männer ihn in die riesige Garage, in der Hollisters Sammlung teurer, exotischer Fahrzeuge stand: ein Lamborghini Huracán, ein Rolls-Royce Phantom, ein Bugatti Chiron, ein gepanzerter Gurkha von Terradyne und etwa zwanzig weitere Fahrzeuge. Der Fußboden war wie in einem Verkaufsraum gefliest. Punktscheinwerfer beleuchteten alle Autofelgen.

Sie brachten ihn zu einem Hennessey VelociRaptor 6x6, eine Sonderanfertigung auf der Basis eines Fords 150 Raptor: ein höhergelegter Dreiachser mit Doppelkabine und zahlreichen teuren Extras. Der Fahrer saß vorn allein. Die beiden anderen Rayshaws nahmen ihren Gefangenen auf dem Rücksitz zwischen sich, sodass Tom sich wie in einem Schraubstock eingeklemmt fühlte.

Als sie ins graue Licht und die wirbelnden Schneeschauer des Spätnachmittags hinausfuhren, erläuterte der Hüne rechts neben Tom ihm die einfachen Regeln, nach denen die Jagd ablaufen würde. Der Gejagte bekam zwei Stunden Vorsprung. Zu Fuß durfte Tom in jede beliebige Richtung flüchten – aber er durfte nicht versuchen, ins Haus zurückzukehren. Die Sensoren der Alarmanlage würden ihn lange vorher entdecken, und das Sicherheitspersonal der Crystal Creek Ranch würde ihn mit Uzis durchsieben.

»Angepasste Menschen«, sagte Tom, der weiterhin Mühe hatte, alles zu glauben, was ihm hier so handgreiflich vorgeführt wurde.

Der Gesichtsausdruck des Erklärers blieb wie in Stein gehauen, sein Blick scharf, aber flach. »Der Gejagte bekommt eine 9-mm-Glock mit zehn Schuss im Magazin.« Weder er noch die beiden anderen Kerle hatten Tom jemals mit seinem Namen angesprochen oder ihn überhaupt direkt angesprochen.

Der Rayshwaw zog die ungeladene Waffe aus der Tasche und erklärte flüchtig ihre Funktionen.

Tom besaß eine Pistole, mit der er jedoch höchstens einmal im Jahr auf dem Schießstand übte. An den restlichen 364 Tagen des Jahres lag sie unbenutzt hinten in seiner Nachttischschublade. Er bildete sich nicht ein, ein guter Schütze zu sein.

Der Erklärer übergab ihm die Glock. »Das Magazin und die Munition werden am Ausgangspunkt der Jagd ausgehändigt. Außerdem erhält der Gejagte sechs PowerBars, damit er bei Kräften bleibt, und eine Stablampe.«

»Eine Karte«, sagte Tom. »Eine Karte und einen Kompass.«

Keiner der drei Männer antwortete.

Der Schneefall war noch dichter geworden, überzog das Land in der allmählich herabsinkenden Abenddämmerung mit einer jungfräulichen weißen Decke.

»Hollister hat gesagt, ich bekäme eine faire Chance.« Die drei ließen nicht erkennen, ob sie ihn gehört hatten. »Was ist an dieser Sache fair? Nichts! Gar nichts!« Seine eigene Stimme war ihm peinlich; sie klang wie das Greinen eines verzogenen Kindes. Er verstummte verlegen.

Der VelociRaptor brummte gegen den zunehmenden Sturm an, dessen Flockenwirbel im Scheinwerferlicht einem aufgeregten Schwarm kleiner Falter glich. Sie waren von der asphaltierten Verbindungsstraße zwischen dem Ranchhaus und dem entfernten Hangar mit der Gulfstream V abgebogen und schienen auf einer unbefestigten Straße zu fahren, die unter der anwachsenden Schneedecke schwer zu erkennen war.

Fünfzehn oder zwanzig Autominuten vom Haus entfernt hielt der Truck an. Die Kerle, zwischen denen Tom saß, öffneten ihre Türen und stiegen aus.

Als er ihnen nicht gleich folgte, sagte einer von ihnen: »Sofort!« Das klang so drohend, dass er augenblicklich gehorchte.

DREIZEHN

In Garret Nolans Garage schwang Jane sich in den Sattel des Bikes, umfasste die Griffe mit den Händen, sah sich alles an – Tacho, Drehzahlmesser, Kupplungshebel, Bremshebel, Gasdrehgriff, Fußschaltung – und machte sich mit der Maschine vertraut, bevor sie den Seitenständer hochklappte.

Nolan sagte: »Übrigens noch etwas, das Sie wissen sollten. Allgemein heißt es, dass Jane Hawk Busbahnhöfe, Bahnhöfe und Flughäfen meidet, weil dort Gesichtserkennungsprogramme die Reisenden nach Terroristen und zur Fahndung ausgeschriebenen Verbrechern absuchen. Aber das genügt nicht mehr.«

Jane war neugierig, aber Leslie Anderson war nur auf der Flucht vor ihrem Boss, nicht vor den Feds, daher ließ keine der beiden Interesse an Nolans Mitteilung erkennen.

»Vor ungefähr einem Jahr«, fuhr er fort, »haben die Chinesen damit begonnen, ihre Polizeien mit an Sonnenbrillen getragenen Minikameras auszurüsten, die mit Gesichtserkennungssoftware arbeiten. Vor Kurzem haben auch einige meiner alten Kumpel bei den Special Forces solche Geräte bekommen.«

Noch vor einem halben Jahr hätte Jane diese Behauptung mit dem Inhalt eines ganzen Salzstreuers genossen. Überwachungskameras dieser Art standen mit in der Cloud gespeicherten Gesichtsdatenbanken in Verbindung, die so riesig waren, dass sie – mit den dazugehörigen KI-Analysefähigkeiten – nicht für eine tragbare Kamera komprimiert werden konnten. Aber der technische Fortschritt war ungeheuer rasant, vor allem auf Sektoren, die dazu dienen konnten, die Bevölkerung zu überwachen und zu unterdrücken.

»Diese Sonnenbrillen sind mit einem Datenspeicher verbunden, der offline bis zu zehntausend Gesichter enthält«, erklärte Nolan. »Die KI ist so gut, dass sie nur sechshundert Millisekunden braucht, um das Gesicht eines Verdächtigen mit den gespeicherten Daten zu vergleichen. Fest installierte Kameras haben tote Winkel, aber wer eine an der Sonnenbrille trägt, kann überall hinsehen.«

»Scheiße«, murmelte Jane unwillkürlich.

Nolan fuhr fort: »Wenn das Militär einige dieser Geräte bekommen hat, können Sie Gift darauf nehmen, dass auch die zivilen Sicherheitsbehörden welche haben. Sollten Sie irgendwann zufällig Jane Hawk begegnen, müssen Sie sie warnen, dass in allen diesen Geräten todsicher ihr Gesicht gespeichert ist. Also ist sie nirgends sicher.«

»War sie das jemals?«

Er nahm einen perlweißen Sturzhelm Shoei X-9 Air mit dunkelgrauem Visier vom Sitz der neben ihm stehenden Harley. »Nur schade, dass Sie den nicht überall tragen können.«

Als Jane danach griff, fragte sie: »Was ist, wenn sie mich schnappen und das Bike zu Ihnen zurückverfolgen?«

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