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Tramhalte Beethovenstraat

Als Buch hier erhältlich:

»Es gab nur noch die eine Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit. Vergessen tötet die Toten noch einmal. Vergessen durfte nicht sein. Und so schrieb ich weiter. Und immer häufiger wurde ich gelesen, und das war ein schwacher Abglanz von Glück.« Grete Weil

Es ist eine Ehe mit komplizierter Konstellation: Susanne ist reich, ihr Mann Andreas ist ein mittelloser deutscher Schriftsteller ohne Werk. Sie leben im Land der Mörder ihrer Eltern, weil sie meint, ein deutscher Dichter müsse in deutscher Umgebung leben. Noch komplizierter ist, wie sie sich kennenlernten: in Amsterdam, im Jahr 1941. Damals wird Andreas als Berichterstatter einer Münchner Zeitung ins besetzte Holland geschickt. In der Beethovenstraat in Amsterdam lebt er zur Untermiete und wird vom Fenster aus Zeuge, wie Nacht für Nacht Juden in Sonderzügen der Tram abtransportiert werden. Er versucht zaghaft zu helfen, verstrickt sich mehr und mehr in jüdische Schicksale – und kann doch nichts verhindern. Susanne lebt als verfolgte Jüdin in Amsterdam – und konnte nur überleben, weil auch sie sich in Schuld verstrickte.

Grete Weils »Tramhalte Beethovenstraat« war der erste deutschsprachige Roman einer Überlebenden über Exil, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Sie verarbeitet persönliche Erfahrungen (in der Beethovenstraat hatte sie selbst von 1938-1943 gelebt) und schreibt nicht nur über die dramatische Zeit während des Krieges, sondern auch über das diffizile Leben im Deutschland der Nachkriegszeit – mit einer Offenheit und schonungslosen Ehrlichkeit, die auch heute noch erstaunt.


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013302

Leseprobe

Susanne kam herein, ohne anzuklopfen, den Bauch ein wenig vorgeschoben, ein archaisches Lächeln um den Mund. Aber sie lächelte nicht. Mit großen runden, bernsteingelben Augen deutete sie auf den Schreibtisch und sagte, die Antwort auf ihre Frage vorwegnehmend: »Nein.«

Er klappte hastig das Heft zu, das vor ihm lag. Ein ertappter Schuljunge. Sie ging zum Bücherschrank, nahm die drei Bände heraus, seine Werke, die sie für ihr geheiligtes Besitztum hielt, drückte sie zärtlich an die Brust und sagte noch einmal: »Nein.«

Sie sagte seit Jahren nichts anderes. Wie immer reagierte er mit Hass. Ungerechtem Hass, denn sie konnte nichts dafür, dass sie nicht mehr wie ein Araberknabe aussah, abgerissen, halb verhungert, mit dem gierigen Blick der im Lager Getretenen. Sie hatte sich herausgefuttert und es zu dem gebracht, was die Männer an den Stränden »eine tolle Figur« nannten. Keine schwamm wie sie über den ganzen See oder die ganze Meeresbucht, in großen Zügen, ohne jede Anstrengung. Strahlend stieg sie ans Ufer und zog die Badekappe vom schwarzen Haar. Sieg auf der ganzen Linie. Niederlage nur, wenn er mit im Spiele war. Sie hatte einen Dichter geheiratet. »Mon poete.« Den Verfasser zweier Gedichtbände und einer Novelle. Im neuen Brockhaus stand er als »junger, vielversprechender Vorkriegslyriker«.

Susanne konnte es sich leisten, ihm die materielle Sicherheit zu geben, die ihrer Ansicht nach ein Künstler brauchte. Das Vermögen ihrer vergasten Eltern war enorm und sie die einzige Erbin. Sie brachte ihm das Opfer, nach München zu ziehen, in das verhasste Land, weil sie fand, dass ein deutscher Dichter in deutscher Umgebung leben muss. Baute ein Haus in Grünwald und setzte ihn in ein Zimmer mit schalldichten Wänden.

Aber er schrieb nicht. Das ging über ihren Verstand. Sie hielt es für eine Beleidigung, die er ihr absichtlich zufügte.

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Trat vor das Bild von Klee – gelbe Vögel und orangene Mondsichel –, das zwar von ihrer Familie stammte, doch ihm gehörte. Sein einziger Besitz. Es war ungerahmt, an den Rändern zerfetzt, von einer Ecke zur anderen ging ein Riss. »Man hängt kein kaputtes Bild auf«, hatte sie gesagt, als er es zu einer Zeit, in der sie noch miteinander sprachen, mit Reißnägeln an die Wand pickte.

Er holte sich bei den teils geköpften, teils schwanzlosen Vögeln Mut, bevor er sich umwandte.

»Kann ich den Wagen für ein paar Tage haben?«

»Nein.«

»Gib mir den Schlüssel.«

»Nein.«

Da ging er, was er noch nie getan hatte, zur Aggression über. Sie trug den Schlüssel zu ihrem Wagen, den sie nach seinen Büchern am meisten liebte, immer bei sich. Die Überrumpelung gelang, sie konnte sich nicht wehren, die Bücher behinderten sie. Er zog ihr den Schlüssel aus der Rocktasche.

»Nein!« Das zornige Kreischen eines Pfaus. Und noch einmal, wild aufschluchzend: »Nein!«

Die Tür knallte zu, er lief in sein Schlafzimmer, nahm den schon vorher gepackten Koffer und trug ihn zur Garage.

Der Gärtner öffnete ihm das Tor, als er mit dem roten Porsche rückwärts herausfuhr.

»Der Herr fahren ohne die gnädige Frau?« Er gab keine Antwort. Diese Anrede in der dritten Person. Mit dem rechten hinteren Kotflügel stieß er gegen den Torpfosten. Statt sich vorsichtig hinauszumanövrieren, gab er Gas. Der Pfosten kratzte über die ganze Seite, und wenn schon. Nichts interessierte ihn als die Straße, die von Susannes Haus wegführte. Straße der reichen Kaufleute und der Filmschauspieler. Er war nicht so vermessen, zu denken: in die Freiheit. Er dachte: fort. Nichts anderes. Schon lange gewohnt, dass seine Handlungen keine Konsequenzen nach sich zogen.

Das Beste am Auto war, dass es das Rollen der Trambahnen übertönte. Aber an einer Ampel, die von Rot auf Grün wechselte, hörte er es doch, Entsetzen kroch das Rückgrat entlang, er vergaß anzufahren, hinter ihm wurde gehupt, sein Wagen ruckte nach vorn, ein Mann sprang zur Seite und tippte sich gegen die Stirn.

Es war gut, zu fahren. Konzentration verdrängt Sensibilität. Man denkt wie die andern, unkompliziert, egoistisch, rücksichtslos. Die Porschefahrer grüßten sich mit aufleuchtenden Scheinwerfern, eine verschworene Truppe der Schnellsten. Beim ersten Mal vergaß er, den Gruß zu erwidern, beim zweiten Mal dankte er, beim dritten Mal war er der Erste, der blinkte.

Er fuhr am Museum vorbei. Den Neunjährigen hatte der Vater im professoralen Schlapphut geführt und mit erhobener Stimme doziert, als spräche er im Hörsaal zu seinen Studenten, über gotische Madonnen, leicht eingeknickte, überschlanke; eine sah aus wie die andere, hölzern vor weiß getünchter Wand, fade lächelnd in ewiger Mutterschaft. Grässliche Langeweile. Schläfrig nickte er zu des Vaters Worten und ließ die Murmeln in der Hosentasche gegeneinanderstoßen. Dann kamen sie um eine Ecke, hinter der ritt der Tod, schwarz schimmernd, mit bleckenden Zähnen, Sense und Stundenglas in der Hand. Er sah ihn zum ersten Mal, die Begegnung war stürmisch, brannte die Wunde ins Fleisch, die sich nie mehr schloss, und beendete mit einem Schlag die Zeit der Geborgenheit.

»Ein mittelmäßiges Werk, komm weiter, Andreas.« Aber er kam nicht, konnte gar nicht kommen, seine Beine waren zu schwach, er streckte die Hand aus, fasste den Klepper an, kalt und hart, Unberührbares, Verbotenes, die Hand fuhr zurück, er schlich dem Vater nach, der ungeduldig wartete: »Man kann dich nicht mitnehmen, du bist noch zu dumm.«

Doch nach wenigen Tagen verwandelte sich der Tadel in Lob. Er ging ins Museum, unaufgefordert, allein, sooft er nur konnte, die Mutter erzählte es bei einem Tee den Damen, die ob dieser Frühreife bewundernd und besorgt die Köpfe schüttelten. »Nicht etwa zu den Krippen, nein, zu den gotischen Madonnen. Nicht wahr, mein Kleiner, du bist glücklich in Gegenwart dieser wunderschönen Frauen?« Er nickte, zu jeder Lüge bereit, um sein Geheimnis zu wahren, »Épatant, il a seulement neuf ans«, sagte die Kommerzienrätin und schien es für unmöglich zu halten, dass ein Kind Französisch verstand.

Die Madonnen säumten den Weg wie die dunklen Zypressen, die zu den Friedhöfen führen; hoch über ihm lächelten sie, wenn er, ohne sie anzusehen, vorbeilief, mit klopfendem Herzen, das immer schneller schlug, je näher er der Ecke kam. Dort blieb er stehen, zusammengekrümmt, kraftlos, zitternd vor Entsetzen und Lust, und kostete die Qual des Wartens aus. Manchmal konnte er es nur einen Augenblick aushalten, aber er brachte es auch fertig, die Folter endlos zu dehnen. Noch nicht, noch nicht, noch nicht, jetzt bald, jetzt gleich, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – jetzt! Dann rannte er los, warf einen gehetzten Blick auf die dunkle Figur und floh.

Immer dasselbe Spiel, monatelang, jahrelang, bis er anfing, die ersten Gedichte zu schreiben. Hymnen an den Tod, in freiem Versmaß, Novalis und Mombert waren die Vorbilder.

Er hielt vor dem Haus, das seinen Eltern gehört hatte, im Herzogpark, um die Ecke bei Thomas Mann. Ausgebrannt, war es vom Vater noch vor der Währungsreform für beinahe nichts verkauft worden. Der neue Besitzer hatte es modernisiert, es war nicht schöner geworden, man sah ihm trotz allen Bemühungen, es zu vertuschen, die Jugendstilherkunft an.

Eine Weile blieb er im Wagen sitzen, dann stieg er aus, trat ans Gitter und schaute in den Garten, der nicht mehr die schöne Wildnis von früher war, sondern die affektierte Nachahmung eines Parks auf viel zu kleinem Raum. Ein japanischer Kirschbaum stand in voller Blüte, Fliederbüsche, aber die hatte es auch zu seiner Zeit gegeben, ein paar exotische Kiefern mit weichen, hängenden Nadeln, Rhododendren und Azaleen; auf dem kurz geschnittenen Rasen spielten zwei Kinder mit bunten Reifen.

Das kleine, etwa achtjährige Mädchen und der etwas ältere Junge warfen ihm misstrauische Blicke zu, einen Moment lang sah es so aus, als wolle der Junge zum Gitter kommen, um ihn wegzuweisen, dann aber machte er eine herrische Handbewegung, die das Mädchen zum Weiterspielen zwang. Andreas hätte sich im gleichen Alter über jeden Fremden gefreut, jeder, der kam, war das große Abenteuer, jeder ein Bote der Götter, empfangen mit der ungeheuren Bereitschaft, sich verzaubern zu lassen.

Der Junge hier hatte entschieden, dass ein Mann, der durch Gitter in andere Gärten schaut, nicht beachtenswert ist. Konzentriert spielte er weiter, tyrannisierte das Mädchen und nahm geschickt den kleinsten Vorteil wahr. Wie gut wäre es gewesen, wenn er gemogelt hätte. Aber er mogelte nicht, das hatte er nicht nötig, wohlkalkuliert erreichte er, was er wollte. Diese offen zur Schau gestellte Überlegenheit war unfair und brutal. Er gebrauchte die kleine Schwester, um sich in der Fertigkeit zu üben, oben zu sein. Sie war eine Art Punchingball, auf den er einhieb, um seine Muskeln zu kräftigen. Ein nützlicher Gegenstand, nichts zum Lieben.

Eine fremde Generation. Ebenso fremd wie die der Eltern. Dazwischen verloren man selbst.

Des Vaters pathetisch schluchzende Stimme, wenn er vom Menschen sprach. Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität. Wagnerkenner, Wagneranbeter, hojotoho, Schiller durfte auch noch bestehen. Lateinisch strömte wie Deutsch, Griechisch war zur Rezitation geeignet. Ein wenig Französisch, kein Englisch. Ohne Interesse für andere Völker, soweit es nicht ihr Mittelalter betraf. Ein Spießer, der sich als aufrechten Demokraten bezeichnete und alle anderen als Spießer, rachsüchtig, fortschrittsgläubig und überzeugt, dass die Deutschen und vor allem die Bayern die Krone der Schöpfung seien. Der Mutter, Tochter eines reichen schlesischen Mühlenbesitzers, war die Demokratie egal, sie hatte einen Hang zum Hochadel. Zwei Wittelsbacher Prinzen gehörten zum engeren Freundeskreis. Auch einige Juden – man war tolerant. Den Hitler konnte man nicht leiden, machte sich über ihn lustig, erst öffentlich und später im Geheimen, »attention les doméstiques«. Bei offiziellen Anlässen hob man die Hand zum deutschen Gruß, auch zahlte man seinen Beitrag zur Winterhilfe und konnte nicht umhin, die Autobahnen für eine große Sache zu halten. Heulte mit den Wölfen. Und begehrte nicht auf, solange es nicht an die eigene Haut ging.

Als es dann wirklich an die eigene Haut ging, war es zum Aufbegehren zu spät. Die Mutter wurde kurz vor Kriegsende von einem Bombensplitter getötet.

»Eine verirrte Bombe«, sagte der Vater, als müsse er Andreas beteuern, dass die Alliierten nicht ausdrücklich die schlesische Müllerstochter mit diesem Abwurf gemeint hatten.

Der Vater starb wenige Jahre später an Krebs. Er weinte viel in seinen letzten Tagen, sprach auch zum ersten Mal oft von Gott und war im Übrigen unleidlich zu seiner Umgebung, vor allem zu den Krankenschwestern, die er mit gut gezielten Bosheiten kränkte und mit nie endenden Wünschen schikanierte. Nur Susanne, der reichen, schönen jüdischen Schwiegertochter, lächelte er zu. »Du bist gut, mein Kind, du wirst für Andreas sorgen.« »Für euch beide.« »Für mich braucht keiner mehr …« Keuchend hervorgestoßen, gierigen Lebenswillen in den brechenden Augen. Widersprach ihm keiner? »Für Andreas. Der braucht dich. Untauglich fürs Leben.« Ein triumphierender Blick, das Urteil war endgültig.

Ein langer und schrecklicher Todeskampf. Die halbe Nacht röchelte er, gegen Morgen wurde der Atem flach, und schließlich lag er mit offenem Mund unbeweglich da.

»Er hat es überstanden«, flüsterte Susanne weinend und drückte dem Toten die Augen zu. »Willst du kein Vaterunser oder so etwas sprechen? Ich kenne eure Gebete nicht.«

Andreas wollte nicht.

»Du bist herzlos. Immerhin war er dein Vater.«

Er lachte über das immerhin. Sie sah ihn erschrocken an. »Wie kannst du? Im Angesicht des Todes.«

Von seinem Schweigen gereizt, sagte sie unvorsichtig: »Du hast nie etwas mit dem Tod zu tun gehabt. Uns im Lager ist das Lachen vergangen. Berge voll Leichen.«

»Die vierundzwanzig mitgerechnet, die du auf dem Gewissen hast?«

Er hatte es nie erwähnt. Wahrscheinlich war sie der Ansicht gewesen, dass er die Geschichte nicht kenne. Sie wurde blass, bis auf die vom Weinen gerötete Nase.

»Was soll das? Ich finde es geschmacklos von dir, gerade jetzt damit anzufangen. Du kannst doch nicht im Ernst meinen, dass ich Schuld an ihrem Tod habe.«

»Du hast sie verraten.«

»Lächerlich. Wie konnte ich annehmen, dass die Mulders so idiotisch sein würden, eine Liste mit Adressen von Untergrundleuten in ihrem Schreibtisch aufzuheben?«

»Das ist keine Entschuldigung für dich.«

»Ich war siebzehn.«

Er packte ihre Hand. »Und wenn du zehn gewesen wärest. Hast du dem SD-Mann geglaubt, als er sagte, er wolle nur deinen Koffer holen? Sag mir, ob du ihm geglaubt hast?«

»Au. Du tust mir weh. Sei nicht so grob. Natürlich habe ich ihm geglaubt.«

»Du hast die Adresse hergegeben. Und wusstest doch, was für ein Schwein der schöne Ede war.«

»Nein. Ich wusste es nicht. Hatte nie seinen Namen gehört.«

Sie log. Jedes Kind in Amsterdam kannte den Namen. Eine steile Falte stand zwischen ihren Brauen. Ungerührte Bernsteinaugen. Augen der Göttin, die sich gefühllos von den Männern bespringen lässt.

»Hat er dich angerührt?«

»Er hat mich geküsst, wenn du das meinst. Selbstverständlich hat er mich geküsst. Oder glaubst du, dass er für nichts nach meinen Sachen gelaufen ist?«

»Du hast ihm gesagt, wo die Mulders wohnen. Menschen, die dich unter Lebensgefahr versteckt hielten.«

»Er versprach mir, dass ihnen nichts geschehen würde. Ich kann nichts dafür, dass er sein Wort nicht gehalten hat. Schließlich ging es um mein Leben. Ich hatte nicht einmal einen Mantel bei mir, als er mich mitnahm, kein Kleid zum Wechseln, keine Seife, nichts. Einen Taschenkamm und einen winzigen Stumpen von Lippenstift. Er sagte, dass meine Chancen durchzukommen viel größer wären, wenn ich mich ein bisschen hübsch machen könne. Womit er ja recht hatte.«

»Und warum bist du nicht zu Hause geblieben?«

»Als ob man das aushalten könnte mit siebzehn. In einem muffigen Kleinbürgerzimmer herumzusitzen, ohne einen Menschen zu sehen. Übrigens haben es andere Leute ja auch nicht ausgehalten.«

Er hatte Lust, sie zu schlagen. Aber er schlug sie nicht. Sie lächelte überlegen, nahm ihn sanft an der Hand und führte ihn hinaus.

Es war höchste Zeit. Sauerstoffmangel, ein süßlicher Schweißgeruch, die eingefallene Puppe im Bett. Würgen im Hals.

Soviel Erfahrung er mit dem Tod hatte, so wenig mit Leichen. Die erste war von ihm, heimlich bei Nacht, mit Steinen beschwert, in eine Gracht geworfen worden. Der Vater war die zweite, die er sah.

Sie machte bedeutend mehr Scherereien. Susanne zwang ihn, eine schwarze Krawatte umzubinden und zum Standesamt, Friedhof, Bestattungsinstitut, zur Gärtnerei und Zeitung zu gehen. »Du musst das lernen«, sagte sie auf seinen Protest, »es geht nicht, dass ein erwachsener Mensch sich so anstellt.«

Auf dem Standesamt und dem Friedhof war es nicht schwer. Zwei Schalter für Todesfälle, an dem einen stand A–L, an dem anderen M–Z. Das Grab war vorhanden, die Mutter lag schon darin. Den Sarg auszusuchen erforderte Nachdenken. Er ging zwischen einfachen Kisten und prunkvoll mit Silber ausgeschlagenen Ungetümen hin und her. Konnte sich nicht entschließen. Braucht man überhaupt einen? Wie einfach ist die Gracht.

»Feuerbestattung?«, fragte der Besitzer des Institutes, ein noch junger Mann, der dunklen Anzug und trauriges Gesicht als Berufskleidung trug. »Dann würde ein Leihsarg genügen.«

»Nein. Kein Feuer.« Die nicht loszuwerdende Vorstellung, dass Feuer wehtut. »Den da.«

»Das ist unser Einfachster. Der Verblichene war akademischen Ranges.«

So gewählt mit Genitiv.

»Die Juden legen ihre Toten in einfache Holzkisten.«

»Ich wusste nicht … Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden.«

Susanne rief später an und bestellte einen anderen. Die Todesanzeige konnte sie nicht mehr ändern. In der schwarzen Umrahmung stand der Name des Vaters. Sonst nichts.

»Du bist schrecklich«, sagte Susanne, »ganz unmöglich. Einem Dichter müsste doch etwas einfallen.«

»Ich bin kein Dichter von Todesanzeigen.«

Aber des Todes. Nie endender Gesang der Trauer.

Die Worte gehen verloren auf dem Weg vom Kopf zum Papier.

Der Junge hatte jetzt beide Reifen. Wirbelte sie geschickt um seinen Körper. Das Mädchen sah zu, einen Finger im Mund, die Augen voll Tränen. Plötzlich schaute sie Andreas an, vorwurfsvoll, als habe er ihr den Reifen weggenommen.

Er wich diesem Vorwurf aus, der ihn trotz seiner Ungerechtigkeit verletzte, und ging zum Wagen. Jetzt musste er sich entscheiden, wohin er wollte. Die Feme lockte nicht mehr. Noch unmöglicher war es, hierzubleiben. Langsam fuhr er an. Nach rechts, nach links? Zu Unbekanntem? Nein. Zu dem Allerbekanntesten, dorthin zurück, wo Anfang und Ende war: nach Amsterdam.

Im Aushängekasten neben der Haustür das Bild eines Babys. Blond, helläugig, lachend. Darüber in Goldbuchstaben noch immer der monströse Satz: Moderne Kunstfotos Sabine Lisser.

Hinaufgehen? Nicht hinaufgehen? Nicht hinaufgehen. Sabines schrille Stimme war unerträglich. Eine Feile auf Glas. (Der Vergleich stammte von Daniel.) Wohin sonst gehen?

Einmal um den Block. Durch die Euterpestraat, die jetzt Gerrit van der Veenstraat hieß, kein Holländer wollte mehr den zum Gestaposymbol entwürdigten Namen der Muse hören, (»Ich bin auf die Euterpestraat bestellt«, ein Grund, unterzutauchen oder sich das Leben zu nehmen); die Albrecht Dürerstraat, Cliostraat, zur Beethovenstraat zurück. Wieder vor Sabines Kasten. Als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war auch ein Babyfoto darin gewesen. (»Babys sind süß«, sagte Sabine, »und machen den Leuten, die vorbeikommen, Lust, sich fotografieren zu lassen, auch von Werbung muss man etwas verstehen, wenn man ein Künstler ist.«) Kein blondes, blauäugiges, sondern ein dunkles, mit schweren Lidern. Aber gelacht hatte es auch. Alle Babys in Sabines Kasten lachten. Das von damals musste jetzt über zwanzig sein. Hätte sein müssen. Eins zu sechs Millionen die Chance, dass es noch lebte.

Damals, das war 1942. Bis zu dieser Zeit hatte er fast ungestört zu Hause arbeiten können. Obwohl er schon bei der Musterung an einen Stabsarzt geraten war, der Intellektuelle ebenso wie nervöse Herzen ablehnte und ihn k. v. schrieb. Doch wollte er nicht Soldat werden. Noch nie hatte er mit solcher Heftigkeit etwas nicht gewollt. Ungeheure Konzentration auf das Nicht-Wollen. An der Tür des Ordinationszimmers brach er zusammen.

Unter der Anleitung eines befreundeten Arztes gelang es ihm auch weiterhin, seine Untauglichkeit zu beweisen, und er brauchte keine Uniform anzuziehen. Einflussreiche Freunde brachten ihn bei einer Zeitung unter, die sich mit gelegentlichen literarischen Beiträgen zufriedengab, ihn aber als Feuilletonredakteur führte und seine U.k.-Stellung erreichte. Erst nach einem Wechsel in der Leitung erklärte man ihm, dass man ihn nur noch vollbeschäftigt behalten könne, und schickte ihn als Berichterstatter nach Amsterdam.

An einem herbstlich verhangenen Tag im August kam er an und bezog ein schon vorher gemietetes Zimmer bei einem pensionierten Kolonialbeamten in der Beethovenstraat.

Auf der Treppe begegnete ihm eine Frau mit dem gelben Judenstern auf der Brust. Als er höflich Guten Tag sagte, drehte sie den Kopf zur Seite.

Mussten sie das tun? Er hielt alles für möglich. (Was er sich an diesem Tag noch unter »alles« vorstellte.) Jedenfalls nahm er sich vor, sie das nächste Mal anzusprechen, um ihr zu zeigen, wie er dachte.

Eine Minute später hatte er sie vergessen. Das Zimmer, in das ihn die Haushälterin führte (Mejuffrouw van Lier, über die Nickelbrille schielend, mit riesigem Busen), war voll Südseeramsch.

»Darf ich die Sachen wegstellen?«

»Das würde Mijnheer nicht wollen.« In fast fehlerfreiem, wenn auch akzentreichem Deutsch.

»Ich möchte Mijnheer selbst fragen.«

»Das geht nicht. Mijnheer ist krank.«

Ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus.

Leben mit Bastkörben, gewobenen Tüchern, auch noch mit Pfeilen und Speeren mochte angehen, leben mit zwei grinsenden Masken, Touristensouvenirs aus Indonesien, war unmöglich. Er nahm sie von der Wand und legte sie, Gesicht nach unten, in einen der Körbe. Packte den Koffer aus. Stellte die Schreibmaschine auf das runde Tischchen, schob ein Stück Karton unter ein Tischbein und fing an zu arbeiten. Jede Stunde ohne Arbeit schien verloren. Sterben lag in der Luft, keine Zeit verlieren, morgen kann man selbst an der Reihe sein, es ist noch so viel zu sagen, der Roman erst zur Hälfte fertig. Schubladenroman, weder stilistisch noch gesinnungsmäßig erwünscht. Doch einmal muss der Krieg zu Ende gehen, man wird wieder mitreden können, wieder Stimme sein, bis dahin weitermachen, die Geschichte Sebastian L.s erzählen, des Malers, des Fälschers, der seinen eigenen Stil verliert, weil er in den der anderen schlüpft, aus Gier nach Geld, nach Leben.

Erst am späten Abend ging er noch einmal aus. Im Mondschein bemerkte er jetzt, was ihm vorher entgangen war: einen Fotokasten unten am Haus. Ein dickes, gesundheitstrotzendes Baby mit den schweren Augenlidern der semitischen Rasse, die auch die ausgelassenste Heiterkeit melancholisch überschatten, lachte fröhlich in eine Welt, die ihm nicht wohlwollte. Als er an den Judenstern der Frau auf der Treppe dachte, spürte er ein Kratzen im Hals.

Salziger Wind strich ihm übers Gesicht, er roch Tang und hörte die Wellen gegen den Schiffsrumpf schlagen. Am Bug schwebte die Nike, die Siegesgöttin ohne Kopf und Arme, nur Körper, und flog der Insel entgegen, die vor ihnen lag in dunkler Bläue. Jeden Tag fuhr er herüber von Mykonos zu dem roten Mohn, den schlanken Löwen, dem ausgetrockneten Rund des heiligen Sees, wo Apoll zur Welt gekommen war. Delos, Ort ohne Tod. Niemand durfte hier sterben, niemand in Nachfolge der göttlichen Zwillinge geboren werden. Zufluchtstätte vor dem reitenden Tod; wenn er auf den Stufen des Theaters saß und über Meer und Inseln schaute, war er ohne Furcht und seines Anteils an der Welt gewiss.

Er legte den Kopf zurück und betrachtete die Sterne. Dass man sie sehen konnte, mitten in einer großen Stadt, war der Verdunklung zu danken. Pour quelque chose malheur est bon, sagen die Franzosen. Den Großen Bären kannte er, zog eine Linie zum Polarstern, fand auch das W der Kassiopeia. Man sollte sich mit Astronomie beschäftigen. Man sollte so viel.

Erst im Weitergehen fiel ihm auf, dass er allein auf der Straße war. Eine Großstadt am warmen Sommerabend, wenig nach zehn vom soliden Leben der Holländer gehört, doch dies ging entschieden zu weit. Man müsste sie aus den Häusern trommeln; unbändige Lust, zu grölen, zu randalieren, Frauen zu erschrecken, den Kopf in weißhäutige Brüste zu wühlen, in den scharfen Geruch der Schamhaare, Saskia, Hendrickje, Helene, dunkle Augen und heile Haare, hinter den schwarzen Fenstern lagen sie mit Männern und trieben es.

Das Herz klopfte im Halse. Vielleicht trieben sie es gar nicht, vielleicht standen sie lauernd mit angeschlagenem Gewehr, Jäger auf dem Hochstand, Killer aus patriotischer Leidenschaft.

Er fing an zu laufen, auf Zehenspitzen, um nicht durch Lärm die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber noch das leise Tappen klang ihm in den Ohren wie lautes Getrampel.

Von einem Haus lösten sich zwei Schatten, er sah sie zu spät, rannte gegen sie an, roch Leder, zwei blaue Taschenlampen blendeten ihn.

»Ihren Ausweis.«

Er holte den Pass hervor, die Pressekarte.

»Seit wann sind’S denn hier?« Eine bayerische gemütliche Stimme.

»Seit heute.«

»Drum.« Der andere fügte auf Norddeutsch hinzu: »Jetzt machen Sie aber schleunigst, dass Sie nach Hause kommen. Wir haben keine Lust, morgen früh wieder einen Deutschen aus der Gracht zu fischen.«

Er war nicht gewohnt, Befehlen zu folgen, wollte protestieren, verschluckte sich, hustete, es tat weh in der Lunge, dieses Klima, Meereshöhe, ein zu schwerer Druck, verglichen mit München.

Der Bayer klopfte ihm den Rücken und riet väterlich, er solle sich doch mit dieser Erkältung ins Bett legen.

Er murmelte »Danke«, machte kehrt und ging nach Hause, auf dem kürzesten Weg oder doch auf dem, den er für den kürzesten hielt, denn er merkte schon bald, dass er die Richtung verloren hatte. Geruch von stehendem Wasser, es glänzte dunkel, er war ziemlich sicher, hier vorher nicht vorbeigekommen zu sein.

Sie werden mich hineinwerfen, morgen früh ist wieder ein Deutscher fällig. Ein Feind, ich bin ein Feind, gehöre dazu, mehr als in München, bin ein Mitglied der Besatzungsmacht, ganz gleich, ob ich besetzen will oder nicht, niemand wird mich nach meiner Gesinnung fragen, vor dem Stoß in die Gracht.

Es war jetzt ganz dunkel, Wolken verdeckten den Mond, ein paar Scheinwerfer suchten den Himmel ab.

Und die Stille. So still darf es nur draußen sein in Wäldern und Wiesen, in der Stadt ist es gespenstisch, Symptom von Krankheit. Er war nun mit Absicht laut, stampfte und brummelte vor sich hin, aber sobald er stehen blieb, um sich zu orientieren, war die Stille von Neuem da und machte den Irrgarten, aus dem er nie mehr herausfinden würde, noch verworrener.

Dann kam der Mond wieder hinter den Wolken hervor, es war leichter zu gehen, er bog in eine Straße ein, in der er Trambahnschienen erkennen konnte.

Durch die Beethovenstraat fuhr eine Tram. Aber es war nicht hell genug, um die Straßenschilder lesen zu können.

Schließlich hörte er Schritte, ein Mann tauchte auf, es war ein deutscher Soldat, der zusammenzuckte, als er ihn ansprach, wahrscheinlich hatte auch er Angst vor der Gracht, gab aber höflich Auskunft, dass man sich in der Beethovenstraat befände, und ging nach einem Gutenachtgruß weiter.

Jetzt war es nicht mehr schwer, das Haus zu finden, an dem der Fotokasten hing. Er fror, fühlte sich fiebrig, tastete sich durch das dunkle Treppenhaus, schloss die Wohnungstür auf, tastete sich weiter durch den dunklen Gang, wusste nicht, welche Tür die richtige war, entschloss sich endlich, eine zu öffnen, und stand in seinem Zimmer.

Er wollte eine Lampe kaufen, morgen, als Erstes. Zähneklappernd zog er sich aus, fiel erschöpft ins Bett und schlief sofort ein.

Träumte Geräusche. Kurze, schnelle Kommandos, Hundegebell, gedämpftes Summen vieler Stimmen, das heftige Weinen einer Frau, ein lang gezogener Schrei, der aus einem einzigen Ton bestand und am Ende in Wimmern überging, das Anfahren von Trambahnen, ihr holperndes, verhallendes Rollen.

Er erwachte schwer, mit dem Gefühl, das Geträumte erlebt zu haben. Mejuffrouw van Lier brachte das Frühstück, auf silbernem Tablett mit weißem Spitzendeckchen, blickte ihn, über die Nickelbrille schielend, spöttisch an und fragte, ob er gut geschlafen habe.

»Danke. Sehr gut.«

»Das freut mich.«

Offener Hohn. Als sie gehen wollte, fragte er schnell: »Warum sind abends keine Menschen auf der Straße?«

»Es ist uns bis auf Weiteres verboten, nach acht Uhr auszugehen. Sie als Deutscher können es natürlich tun. Sie wissen ja ohnehin, was gespielt wird.«

Er wusste es nicht, hatte keine Ahnung, was sie meinte. Wer spielte mit wem? Was für ein Spiel sollten die Holländer nicht sehen? Dass man Deutsche in die Gracht warf?

Bevor er sie fragen konnte, war sie schon, mit für ihre Schwere erstaunlicher Behändigkeit, aus dem Zimmer.

Er redete sich ein, dass ihm ihre Unfreundlichkeit gleichgültig sei. Nach dem Frühstück fing er an zu schreiben. Arbeitete mit einer kurzen Unterbrechung, während der er in einem benachbarten Restaurant zu Mittag aß, den ganzen Tag. Schreiben war das Wichtigste, wichtiger als der Krieg, der ihm nie voll zu Bewusstsein kam. Auf die Frage, was Krieg sei, hätte er nichts anderes zu entgegnen gewusst als ungeheure graue Öde, in der das Leben in Unordnung gerät. Er aber brauchte ein geordnetes Leben, Leben und Schreiben waren identisch. Es kam auf den Ort nicht an, solange er allein sein konnte, nicht einmal der Südseeramsch störte. Das spöttische Lächeln der van Lier sank zur Lästigkeit einer summenden Fliege herab. Träume tauchten ins Nichts zurück, aus dem sie gekommen.

Spät hörte er auf. Da er keine Lust hatte, die menschenleeren Straßen noch einmal zu durchwandern, trat er ans Fenster, schöpfte tief Luft, ein starker Wind wehte, die Bäume rauschten, wieder spürte er das Meer, die Weite, und mit dem Vorsatz, so bald wie möglich an den Strand zu fahren, schloss er das Fenster. Die Vorhänge waren klamm. Ein schwieriges Klima, ermüdend; benommen, mit schweren Beinen legte er sich ins Bett, um, wie er es gewohnt war, noch zwei oder drei Stunden zu lesen. Ein Freund hatte ihm zum Abschied »Lotte in Weimar« zugesteckt, getarnt mit dem Umschlag eines Blunckschen Romans. Er las fasziniert, doch bereits nach wenigen Seiten legte er es mitten im Satz weg und konnte, schon hinüberdämmernd, noch gerade genug Energie aufbringen, um das Licht zu löschen.

Mitten in der Nacht fuhr er schreiend hoch. Da waren sie wieder, die Geräusche, die kurzen, schnellen Kommandos, das Hundegebell, das gedämpfte Summen der Stimmen. Nur kein Weinen, kein Schrei.

Er wollte zum Fenster, konnte nicht, blieb wie gelähmt liegen, das Pyjama klebte an seiner Haut. Die Trambahnen fuhren an, das Rollen verhallte, Schritte entfernten sich, dann war es still.

Er sah auf die Uhr, es war Viertel nach zwei; er versuchte, zu lesen, sich nach Weimar zu flüchten, in das ironisch Bewundernde, doch die Ironie ging unter im Rollen der Trambahnen, das Buch fiel zu Boden, im Halbschlaf blieb er liegen, bis die van Lier mit dem Frühstück kam und spöttisch fragte: »Haben Sie gut geschlafen?«

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