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Die letzte Nacht

Als Buch hier erhältlich:

Diese Nacht verändert alles – ein neuer Fall für Will Trent

Vor fünfzehn Jahren veränderte sich Sara Lintons Leben schlagartig, als nach einem Barbesuch brutal überfallen wurde. Mittlerweile hat sie es geschafft, das Trauma hinter sich zu lassen: Sara ist erfolgreiche Ärztin und mit einem Mann verlobt, den sie liebt.

Doch eines Nachts, während sie in der Notaufnahme arbeitet, verändert sich alles. Eine junge Frau wird nach einem Überfall schwer verletzt eingeliefert, und Sara muss um ihr Leben kämpfen. Je weiter die Ermittlungen unter der Leitung von Will Trent fortschreiten, umso klarer wird es, dass das, was dieser Frau zugestoßen ist, auf grausame Weise mit Saras eigenem Schicksal zusammenhängt.

Sara Linton muss sich ihrer Vergangenheit stellen ...



  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Aus der Serie: Georgia Serie
  • Bandnummer: 11
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905713
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Liz

Denk daran, aus der Narbe zu sprechen,
nicht aus der Wunde.

(Anonym)

PROLOG

Sara Linton presste das Telefon ans Ohr und beobachtete gleichzeitig, wie ein Arzt im Praktikum einen Patienten mit einer klaffenden Wunde am rechten Arm begutachtete. Der frischgebackene Dr. Eldin Franklin hatte nicht seinen besten Tag. Seine Schicht in der Notaufnahme war gerade mal zwei Stunden alt, und schon hatte ein Käfigkämpfer auf Drogen damit gedroht, ihn umzubringen, und die Rektaluntersuchung, die er bei einer obdachlosen Frau durchführte, war entsetzlich aus dem Ruder gelaufen.

»Ist es zu fassen, dass er so etwas zu mir sagt?« Tessas Empörung drang knisternd aus dem Handy, aber Sara wusste, dass ihre Schwester keine Ermunterung brauchte, um sich weiter über ihren neuen Ehemann auszulassen.

Stattdessen behielt sie Eldin im Auge und krümmte sich innerlich, als er Lidocain in eine Spritze aufzog, als wäre er Jonas Salk bei der Erprobung des ersten Impfstoffs gegen Kinderlähmung. Er schenkte der Ampulle mehr Beachtung als seinem Patienten.

»Ich meine«, fuhr Tessa fort, »er ist einfach unglaublich.«

Sara brummte zustimmend und wechselte mit dem Telefon ans andere Ohr. Sie griff nach ihrem Tablet und rief das Krankenblatt für Eldins Patienten auf. Die offene Wunde war das kleinere Problem. Die Triage-Schwester hatte vermerkt, dass der einunddreißigjährige Mann bei einer Körpertemperatur von 38,1 Grad Celsius Herzrasen hatte, in einem akuten Erregungszustand war und unter Verwirrung und Schlaflosigkeit litt.

Sie sah von ihrem Tablet auf. Der Patient kratzte sich ständig am Hals, als krabbelte etwas über seine Haut. Sein linker Fuß zitterte so heftig, dass das ganze Bett bebte. Die Feststellung zu treffen, dass sich der Mann in einem ausgewachsenen Alkoholentzug befand, war, als erklärte man, die Sonne werde im Osten aufgehen.

Eldin nahm keines der Anzeichen wahr – was nicht gänzlich unerwartet kam. Das Medizinstudium war so angelegt, dass es einen nicht auf das echte Leben vorbereitete. Man verbrachte das erste Jahr damit, zu lernen, wie die Körpersysteme funktionierten. Studienjahr zwei widmete sich dem Verständnis dafür, wie diese Systeme aus der Bahn geraten konnten. Im dritten Jahr bekam man dann Patienten zu sehen, aber nur unter strenger und häufig unnötig sadistischer Aufsicht. Im vierten Studienjahr war schließlich das Matching Program angesagt, das wie der schlimmste Schönheitswettbewerb aller Zeiten war und wo man gespannt darauf wartete, ob man seine Assistenzarztzeit in einer prestigeträchtigen, großen Einrichtung oder im Äquivalent einer Tierklinik in einer abgeschiedenen ländlichen Gegend absolvieren würde. Eldin war es gelungen, als Assistenzarzt am Grady Memorial Hospital unterzukommen, Atlantas einzigem öffentlichen Krankenhaus und einem der geschäftigsten Level-1-Traumazentren des Landes. Er lief unter »Praktikant«, weil er noch im ersten Jahr seiner Assistenzzeit war. Bedauerlicherweise hielt ihn das nicht davon ab, zu glauben, er wüsste schon alles. Sara sah ihm an, dass er gedanklich bereits abgedriftet war, als er sich über den Arm des Patienten beugte und die Umgebung der Wunde zu betäuben begann. Eldin dachte wahrscheinlich an das Abendessen oder an ein Mädchen, das er anrufen wollte, oder vielleicht berechnete er die Zinsen für seine vielen Studiendarlehen, die ungefähr dem Wert eines Einfamilienhauses entsprachen.

Sara fing den Blick der Oberschwester auf. Johna beobachtete Eldin ebenfalls, aber wie alle Schwestern zu allen Zeiten würde sie es den Nachwuchsdoktor auf die harte Tour lernen lassen. Es dauerte nicht lange.

Der Patient beugte sich ruckartig vor und öffnete den Mund.

»Eldin!«, rief Sara, aber es war zu spät.

Erbrochenes spritzte wie aus einem Feuerwehrschlauch über Eldins Rücken.

Er taumelte und war einen Moment wie schockstarr, ehe er trocken zu würgen begann.

Sara blieb auf ihrem Sessel in der Schwesternstation sitzen, während der Patient mit einem Ausdruck vorübergehender Erleichterung auf das Bett zurücksank. Johna zog Eldin beiseite und hielt ihm eine Standpauke, als wäre er ein kleiner Junge. Seine gequälte Miene war Sara vertraut. Sie hatte ebenfalls ihre Assistenzzeit im Grady verbracht und ähnliche Standpauken über sich ergehen lassen müssen. Niemand warnte einen im Medizinstudium vor, dass man genau so lernte, ein richtiger Arzt zu werden – durch Demütigung und Kotze.

»Sara?«, sagte Tessa. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja. Tut mir leid.« Sara konzentrierte sich wieder auf ihre Schwester. »Was sagtest du gerade?«

»Ich sagte, wie schwer kann es sein, zu bemerken, dass der verdammte Mülleimer voll ist?« Tessa hielt kaum inne, um Luft zu holen. »Ich arbeite ja auch den ganzen Tag, aber ich soll diejenige sein, die sauber machen, sich um die Wäsche kümmern, kochen und den Müll raustragen darf, wenn sie nach Hause kommt?«

Sara hielt den Mund. Tessas Klagen waren allesamt nicht neu oder überraschend. Lemuel Ward war eines der ichbezogensten Arschlöcher, denen Sara je begegnet war, und das wollte etwas heißen, nachdem sie ihr ganzes Arbeitsleben unter Medizinern verbracht hatte.

»Ich komme mir vor, als hätte man mich heimlich für eine Rolle in Der Report der Magd verpflichtet.«

»Stammt das aus dem Stück oder dem Buch?« Sara bemühte sich, die Schärfe aus ihrem Tonfall zu nehmen. »Ich kann mich an keine Szene erinnern, in der es darum ging, wer den Müll rausbringt.«

»Du kannst mir nicht erzählen, dass es nicht genau damit anfing.«

»Dr. Linton?« Kiki, eine der Hilfskräfte auf der Station, klopfte auf den Tisch. »Vorhang drei wird gerade vom Röntgen nach oben gebracht.«

Sara dankte ihr und schaute auf ihrem Tablet nach den Bildern. Der Patient von Vorhang drei war ein neununddreißig Jahre alter Schizophrener, der sich als Deacon Sledgehammer angemeldet und mit einer golfballgroßen Schwellung am Hals, einer Temperatur von 38,2 Grad Celsius und unkontrollierbarem Schüttelfrost eingefunden hatte. Er hatte sich freimütig zu einer fast lebenslangen Heroinabhängigkeit bekannt. Nachdem die Venen in seinen Armen, Beinen und Füßen sowie in der Brust und am Bauch unbrauchbar geworden waren, hatte er begonnen, sich subkutan zu spritzen. Dann war er dazu übergegangen, direkt in die Halsschlagadern zu spritzen. Die Röntgenaufnahmen bestätigten Saras Vermutung, aber sie konnte sich nicht darüber freuen, dass sie recht gehabt hatte.

»Meine Zeit ist genauso viel wert wie seine«, sagte Tessa. »Es ist verdammt noch mal lachhaft.«

Sara gab ihr recht, sagte aber nichts dazu, während sie die Notaufnahme durchquerte. Normalerweise hatten sie zu dieser Nachtstunde alle Hände voll mit Schuss- und Stichwunden, Autounfällen, Überdosen und einem gerüttelt Maß an Herzinfarkten zu tun. Vielleicht lag es am Regen oder daran, dass die Braves gegen Tampa Bay spielten, aber es war wohltuend ruhig in der Notaufnahme. Die meisten Betten waren frei, das Surren und Piepsen von Apparaten übertönte hier und dort ein Gespräch. Sara war theoretisch die Kinderärztin vom Dienst, aber sie war freiwillig für einen anderen Arzt eingesprungen, damit dieser dabei sein konnte, wenn seine Tochter in der Schule ihr Forschungsprojekt vorstellte. Nach acht Stunden ihrer zwölfstündigen Schicht hatte sie noch nichts Schlimmeres gesehen, als dass Eldin vollgekotzt wurde.

Und das war zum Brüllen komisch gewesen, wenn sie ehrlich war.

»Natürlich war Mom keine Hilfe«, fuhr Tessa fort. »Sie sagte nur: ›Auch eine schlechte Ehe ist immer noch eine Ehe.‹ Was soll das überhaupt bedeuten?«

Sara ignorierte die Frage und drückte auf den Knopf zum Öffnen der Tür. »Tessie, du bist seit einem halben Jahr verheiratet. Wenn du nicht glücklich mit ihm bist …«

»Ich sage ja nicht, dass ich nicht glücklich bin«, beteuerte Tessa, auch wenn jedes Wort aus ihrem Mund auf etwas anderes schließen ließ. »Ich bin nur frustriert.«

»Willkommen im Eheleben.« Sara ging in Richtung der Aufzüge. »Du wirst zehn Minuten lang darauf beharren, dass du ihm eine bestimmte Sache bereits gesagt hast, statt sie ihm einfach noch mal zu sagen.«

»Das ist dein Rat?«

»Ich vermeide es sorgfältig, einen anzubieten«, sagte Sara. »Hör zu, das klingt jetzt vielleicht beschissen, aber entweder du findest eine Lösung dafür, oder du findest keine.«

»Du hast bei Jeffrey eine gefunden.«

Sara legte reflexartig die Hand aufs Herz, aber die Zeit hatte den schmerzhaften Stich abgeschwächt, der normalerweise jede Erinnerung an ihre Witwenschaft begleitete. »Du vergisst wohl, dass ich mich von ihm habe scheiden lassen.«

»Und du vergisst, dass ich dabei war, als es passiert ist.« Tessa holte rasch Luft. »Du hast eine Lösung gefunden. Du hast ihn noch einmal geheiratet. Du warst glücklich.«

»Ja«, stimmte Sara zu, aber Tessas Problem war keine Affäre ihres Mannes und nicht einmal ein überquellender Mülleimer. Es bestand darin, dass sie mit einem Mann verheiratet war, der sie nicht respektierte. »Es ist nicht so, dass ich dich hinhalte. Es gibt keine allgemeingültige Lösung. Jede Ehe ist anders.«

»Sicher, aber …«

Tessas Stimme wurde ausgeblendet, als die Aufzugtür aufging. Das Surren und Piepsen der Apparate im Hintergrund verstummte. Die Luft war elektrisch geladen.

Special Agent Will Trent stand im Aufzug. Er schaute auf sein Handy, was Sara den Luxus erlaubte, sich in seinen Anblick vertiefen zu können. Groß und schlank. Breite Schultern. Der anthrazitfarbene dreiteilige Anzug konnte Wills Läuferfigur nicht kaschieren. Das sandblonde Haar war nass vom Regen. Eine Narbe lief im Zickzack in seine linke Augenbraue. Eine zweite Narbe zog sich von seinem Mund nach oben. Sara gestattete sich die köstliche Vorstellung, wie sich die Narbe wohl anfühlte, wenn sie ihre Lippen darauf drückte.

Will blickte auf und lächelte Sara an.

Sie lächelte zurück.

»Hallo?«, sagte Tessa. »Hast du gehört, was ich …«

Sara beendete das Gespräch und steckte das Handy in die Tasche.

Als Will aus dem Aufzug trat, listete sie im Stillen auf, was sie alles hätte unternehmen können, um sich bei dieser zufälligen Begegnung vorzeigbarer zu präsentieren, angefangen damit, dass sie ihr langes Haar nicht ausgerechnet zu einem Großmutterdutt hätte hochstecken müssen, und endend damit, dass sie sich mehr Mühe mit der Beseitigung des Ketchupflecks auf ihrem Arztkittel hätte geben können.

Will visierte den Fleck an. »Sieht aus, als hätten Sie etwas …«

»Blut«, sagte Sara. »Es ist Blut.«

»Sind Sie sicher, dass es kein Ketchup ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin Ärztin, also …«

»Und ich bin Detective, also …«

Beide grinsten, und erst jetzt bemerkte Sara, dass Faith Mitchell, Wills Partnerin, nicht nur mit im Aufzug war, sondern keinen Meter entfernt stand.

Faith seufzte schwer, bevor sie zu Will sagte: »Ich geh schon mal vor und fange mit diesem Dingsbums an.«

Wills Hände verschwanden in den Taschen, während Faith in Richtung der Patientenzimmer ging. Er blickte zu Boden, dann wieder zu Sara, dann den Flur entlang. Das Schweigen zog sich unangenehm lange hin, was Wills besonderes Talent war. Er war schrecklich unbeholfen. Dass Sara in seiner Nähe untypischerweise den Mund nicht aufbrachte, machte die Sache nicht besser.

Sie zwang sich, etwas zu sagen. »Ist eine Weile her.«

»Zwei Monate.«

Sara war geradezu lächerlich erfreut, weil er wusste, wie viel Zeit vergangen war. Sie wartete darauf, dass er noch mehr sagte, aber das tat er natürlich nicht.

»Was führt Sie hierher?«, fragte sie. »Arbeiten Sie an einem Fall?«

»Ja.« Er wirkte erleichtert, weil er sich wieder auf vertrautem Terrain befand. »Ein Typ hat seinem Nachbarn im Streit wegen eines Rasenmähers die Finger abgehackt. Die Cops sind angerückt. Er sprang in seinen Wagen und fuhr schnurstracks gegen einen Telefonmast.«

»Ein echtes kriminelles Superhirn.«

Bei seinem spontanen Auflachen machte Saras Herz einen komischen Hüpfer. Sie versuchte das Gespräch mit ihm am Laufen zu halten. »Das klingt nach einem Problem für die Polizei von Atlanta, nicht nach einem Fall für das Georgia Bureau of Investigation.«

»Der Fingerabhacker arbeitet für einen Drogendealer, hinter dem wir her sind. Wir hoffen, ihn zum Reden zu bringen.«

»Sie können etwas von seiner Strafe abhacken, wenn er aussagt.«

Diesmal gab es kein lautes Lachen. Der Witz ging unter wie ein Stein.

Will zuckte mit den Achseln. »Das ist der Plan.«

Sara spürte, wie sie rot anlief. Sie bemühte sich verzweifelt, das Gespräch wieder in sicherere Bahnen zu lenken. »Ich warte auf einen Patienten, der vom Röntgen nach oben kommt. Normalerweise lungere ich nicht vor den Aufzügen herum.«

Er nickte, aber das war alles, was von ihm kam, bevor sich wieder Verlegenheit breitmachte. Er rieb sich das Kinn, seine Finger fuhren über die verblasste Narbe, die an dem scharf geschnittenen Kiefer entlanglief und in seinem Hemdkragen verschwand. Sein Ehering blitzte auf wie ein Warnlicht. Will bemerkte, dass sie den Ring bemerkte. Seine Hand schlüpfte wieder in die Tasche.

»Wie auch immer.« Sara musste der Sache ein Ende machen, bevor ihr Gesicht in Flammen aufging. »Faith wartet sicher schon auf Sie. Es war schön, Sie wiederzusehen, Agent Trent.«

»Dr. Linton.« Will nickte knapp, ehe er sich entfernte.

Sara holte ihr Handy hervor und schrieb eine Entschuldigung an ihre Schwester wegen des abrupten Gesprächsabbruchs, nur damit sie ihm nicht sehnsüchtig hinterherstarrte.

Zwei Monate.

Will wusste, wie er sie erreichen konnte, aber er hatte es nicht getan.

Andererseits wusste auch Sara, wie sie Will erreichen konnte, aber sie hatte es ebenfalls nicht getan.

Sie ging ihre Unterhaltung von soeben in Gedanken noch einmal durch, wobei sie den missglückten Witz ausließ, um nicht schon wieder rot anzulaufen. Sie hätte nicht sagen können, ob Will mit ihr flirtete, ob er nur höflich war oder ob sie sich idiotisch benahm und bereits der Verzweiflung anheimgefallen war. Eines wusste sie allerdings: dass Will Trent mit einer ehemaligen Polizistin aus Atlanta verheiratet war, die in dem Ruf stand, ein durchgeknalltes Miststück zu sein, und regelmäßig für längere Zeit abtauchte. Und dass er trotzdem noch seinen Ehering trug.

Wie Saras Mutter sagen würde: Auch eine schlechte Ehe ist immer noch eine Ehe.

Zum Glück öffnete sich die Aufzugtür, bevor Sara tiefer in diesen Kaninchenbau stürzen konnte.

»Hallo, Doc.« Deacon Sledgehammer saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, aber er versuchte Sara zuliebe, sich aufzurichten. Er trug ein Krankenhaushemd und schwarze Wollsocken. Seine linke Halsseite sah schmerzhaft rot und geschwollen aus. Seine Haut war von den subkutanen Spritzen mit kreisförmigen Narben übersät. »Haben Sie rausgefunden, was mit mir los ist?«

»Ja.« Sara löste den Pfleger ab und schob Deacon den Flur entlang, wobei sie dem Drang widerstand, sich wie Lots Frau nach Will umzudrehen. »Sie haben ein Dutzend Nadeln in Ihrem Hals abgebrochen. Mehrere davon haben zu Abszessen geführt. Deshalb ist Ihr Hals geschwollen und das Schlucken fällt Ihnen so schwer. Sie haben eine sehr ernsthafte Infektion.«

»Verdammt.« Deacon atmete rasselnd aus. »Hört sich an, als könnt’ es mich umbringen.«

»Das könnte es.« Sara hatte nicht vor, ihn zu belügen. »Um die Nadeln zu entfernen, wird eine Operation nötig sein, danach müssen Sie mindestens eine Woche hierbleiben und Infusionen mit Antibiotika bekommen. Man wird Ihren Entzug in den Griff bekommen müssen, aber das alles wird nicht einfach werden.«

»Scheiße«, murmelte er. »Kommen Sie mich besuchen?«

»Auf jeden Fall. Morgen habe ich frei, aber ich bin den ganzen Sonntag hier.« Sara hielt ihren Ausweis vor den Scanner, um die Tür zu öffnen. Sie gestattete sich endlich, sich nach Will umzuschauen, der mittlerweile das andere Ende des Flurs erreicht hatte. Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke bog.

»Er hat mir seine Socken geschenkt.«

Sara drehte sich wieder zu Deacon um.

»Letzte Woche, als ich drüben beim Capitol war.« Deacon zeigte auf die dicken Socken, die er trug. »Es war saukalt. Der Typ hat seine Socken ausgezogen und sie mir gegeben.«

Saras Herz machte wieder diesen komischen kleinen Purzelbaum. »Das war nett von ihm.«

»Der scheiß Cop hat sie wahrscheinlich verwanzt.« Deacon drückte den Zeigefinger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Passen Sie auf, was Sie sagen.«

»Verstehe.« Sara würde keinem Schizophrenen widersprechen, der unter einer lebensgefährlichen Infektion litt. Die Tatsache, dass sie kastanienrotes Haar hatte und Linkshänderin war, hatte bereits zu einer längeren Diskussion geführt.

Sie steuerte den Rollstuhl zu Vorhang drei, dann half sie dabei, Deacon ins Bett zu verfrachten. Seine Arme waren nur Haut und Knochen, dünn wie Zündhölzer. Er war schlecht ernährt. Sein Haar war von Ruß und Dreck verklebt. Mehrere Zähne fehlten. Er war noch nicht mal vierzig, aber er sah aus wie sechzig und bewegte sich wie ein Achtzigjähriger. Sara war sich nicht sicher, ob er einen weiteren Winter überlebte. Das Heroin, die Kälte oder eine weitere schlimme Infektion würden ihn erledigen.

»Ich weiß, was Sie denken.« Deacon sank stöhnend wie ein alter Mann ins Bett zurück. »Sie wollen meine Familie anrufen.«

»Wollen Sie denn, dass ich Ihre Familie anrufe?«

»Nein. Und rufen Sie auch keine Sozialdienste an.« Deacon kratzte sich am Arm, seine Fingernägel bohrten sich in eine kreisförmige Narbe. »Hey, ich bin ein Stück Scheiße, okay?«

»So habe ich es nicht empfunden.«

»Ja, okay, Sie haben mich an einem guten Tag erwischt.« Seine Stimme stockte am Ende des Satzes. Ihm dämmerte, dass er den morgigen Tag vielleicht nicht mehr erleben würde. »So wie es um meine geistige Gesundheit steht. Und mit meiner Sucht. Scheiße, ich liebe den Stoff, aber ich mache es den Leuten nicht einfach.«

»Sie haben ein schlechtes Blatt bekommen.« Sara wahrte einen gemessenen Ton. »Das macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen.«

»Sicher, aber was meine Familie wegen mir durchgemacht hat – im Juni werden es zehn Jahre, dass sie mich verstoßen hat, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich habe ihnen jede Menge Gründe geliefert. Hab gelogen, gestohlen, betrogen, war gewalttätig. Wie gesagt – ein echtes Stück Scheiße.«

Sara stützte die Ellbogen auf das Bettgeländer. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wenn ich es nicht schaffe, rufen Sie dann meine Mom an und sagen ihr Bescheid? Nicht, dass sie sich schlecht fühlt oder so. Ehrlich gesagt, ich glaub, sie wird erleichtert sein.«

Sara holte einen Kugelschreiber und einen Schreibblock aus der Tasche. »Schreiben Sie mir ihren Namen und ihre Nummer auf.«

»Sagen Sie ihr, ich hab keine Angst gehabt.« Er drückte mit dem Stift so fest aufs Papier, dass Sara es kratzen hörte. Tränen liefen ihm aus den Augen. »Sagen Sie ihr, ich hab ihr keinen Vorwurf gemacht. Und dass … Sagen Sie ihr, dass ich sie geliebt hab.«

»Ich hoffe, es kommt nicht dazu, aber falls doch, verspreche ich Ihnen, dass ich anrufe.«

»Aber nicht vorher, okay? Sie braucht nämlich nicht zu wissen, dass ich noch lebe. Nur wenn ich …« Er sprach nicht zu Ende. Seine Hände zitterten, als er ihr Stift und Papier zurückgab. »Sie wissen, was ich meine.«

»Ja.« Sara legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie mich im OP-Saal anrufen. Wir legen Ihnen einen Zentralvenenkatheter, dann kann ich Ihnen etwas geben, damit Sie sich besser fühlen.«

»Danke, Doc.«

Sara zog den Vorhang hinter sich zu. Sie wählte von dem Apparat hinter der Schwesternstation die Chirurgie wegen einer Besprechung an, dann tippte sie die Anweisungen für einen Katheter ein.

»Hey.« Eldin hatte geduscht und einen frischen Arztkittel angezogen. »Ich habe meinem Säufer erst mal eine Infusion Diazepam verabreicht. Er wartet auf ein Bett.«

»Fügen Sie Multivitamine und 500 mg Thiamin hinzu, gegen …«

»Wernicke-Enzephalopathie«, sagte Eldin. »Gute Idee.«

Sara fand, dass er eine Spur zu selbstgewiss klang für jemanden, der gerade einen Schwall Erbrochenes abgekriegt hatte. Als seine Vorgesetzte – wenn auch nur für diese Nacht – war es ihre Aufgabe, ihn zu berichtigen, damit es nicht noch einmal passierte.

»Es ist keine Idee, Eldin«, sagte sie, »sondern eine empfohlene Behandlung, um Anfälle zu verhindern und den Patienten zu beruhigen. Eine Entgiftung ist die Hölle auf Erden. Ihr Patient leidet erkennbar. Er ist kein Säufer, sondern ein einunddreißigjähriger Mann, der mit einer Alkoholabhängigkeit kämpft.«

Eldin besaß genügend Anstand, um verlegen dreinzuschauen. »Okay. Sie haben recht.«

Sara war noch nicht fertig. »Haben Sie die Notizen der Schwester gelesen? Sie hat seine Vorgeschichte detailliert festgehalten. Er gab an, vier bis fünf Bier am Tag zu trinken. Fällt Ihnen dazu eine Faustregel aus Ihrem Studium ein?«

»Man verdoppelt immer die Menge der Getränke, die ein Patient angibt.«

»Richtig«, sagte sie. »Ihr Patient hat außerdem berichtet, dass er versucht hat, aufzuhören. Er hat vor drei Tagen einen kalten Entzug beendet. Es steht alles hier in seiner Krankenakte.«

Eldins Gesichtsausdruck wechselte von verlegen zu empört. »Warum hat mir Johna das nicht gesagt?«

»Warum haben Sie ihre Aufzeichnungen nicht gelesen? Warum haben Sie nicht bemerkt, dass ein akuter Entzug bei Ihrem Patienten eingesetzt hatte, dass er sich ständig kratzte, weil Phantomameisen über seine Haut krabbelten?« Sara erkannte nun wieder Beschämung auf seinem Gesicht, was für ihn sprach. Er verstand, dass die Schuld allein bei ihm lag. »Lernen Sie daraus, Eldin. Dienen Sie Ihrem Patienten das nächste Mal besser.«

»Sie haben recht. Es tut mir leid.« Eldin holte tief Luft und blies sie geräuschvoll wieder aus. »Himmel, ob ich den Bogen wohl jemals raushaben werde?«

Sara durfte ihn nicht im Dreck liegen lassen. »Ich sage Ihnen, was mein Betreuer seinerzeit zu mir gesagt hat: Sie sind entweder ein verdammt guter Arzt oder ein Psychopath, dem es gelungen ist, den schlauesten Menschen, der Sie je überwacht hat, an der Nase herumzuführen.«

Eldin lachte. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Sie haben Ihre Zeit als Assistenzärztin hier absolviert, richtig?« Er wartete, bis Sara nickte. »Ich habe gehört, Sie waren für ein Ausbildungsprogramm bei Nygaard vorgesehen, in der pädiatrischen Herz-Lungen-Chirurgie. Das ist verdammt eindrucksvoll. Warum sind Sie nicht geblieben?«

Sara versuchte eine Antwort zu formulieren, als sie eine neuerliche Veränderung in der Luft wahrnahm. Diesmal war es nicht die Elektrizität, die sie gespürt hatte, als sie Will Trent in dem Aufzug stehen sah. Es war die aus jahrelanger Erfahrung gespeiste Intuition einer Ärztin, die ihr verriet, dass es mit der ruhigen Nacht gleich vorbei sein würde.

Die Tür zur Rampe für die Rettungswagen flog krachend auf. Johna rannte den Flur entlang. »Sara, direkt vor dem Krankenhaus ist ein Unfall passiert. Mercedes gegen Sanka. Sie ziehen das Opfer gerade aus dem Wagen.«

Sara trabte in Richtung Traumastation, dicht gefolgt von Eldin. Sie spürte seine Nervosität steigen, deshalb sagte sie mit ruhiger Stimme zu ihm: »Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Kommen Sie niemandem in die Quere.«

Sie streifte gerade einen sterilen Kittel über, als Sanitäter mit der Patientin auf einer Bahre hereinstürmten. Alle waren klatschnass vom Regen. Einer von ihnen meldete mit lauter Stimme, was sie schon wussten. »Dani Cooper, neunzehn, weiblich, Verkehrsunfall mit Verlust des Bewusstseins, Brustschmerzen, Atemnot. Sie fuhr knapp fünfzig Stundenkilometer, als sie frontal in den Rettungswagen krachte. Bauchwunde scheint oberflächlich zu sein. Blutdruck ist 80/40, Puls 108. Atemgeräusche sind links flach, rechts klar. Sie ist jetzt wach und orientiert. IV in der rechten Hand mit normaler Kochsalzlösung.«

Die Notaufnahme war schlagartig voller Menschen, die sich in einer gut einstudierten, verwirrenden Choreografie bewegten. Schwestern, Atemwegsspezialist, Röntgenassistent, Protokollantin. Alle hatten eine bestimmte Aufgabe, sie legten Schläuche, zapften Blut, füllten Formblätter aus, legten die Blutdruckmanschette an, den Pulsmesser, Sauerstoff, Kathoden, und immer zeichnete jemand genau auf, was getan wurde und von wem.

Sara rief: »Ich brauche einen Chem-12-Bluttest mit Differentialzellbild, Röntgenbilder von Brust und Abdomen und einen zweiten großen IV-Zugang für Blut, falls nötig. Hängen Sie einen Urinbeutel an und machen Sie einen Standard-Urin- und Drogenscreen. Ich brauche ein MRT von Hals und Kopf. Informieren Sie die Herzchirurgie, sie sollen sich bereithalten.«

Die Sanitäter verlagerten die Patientin auf das Bett. Das Gesicht der jungen Frau war weiß. Ihre Zähne klapperten, ihr Blick war unruhig.

»Dani«, sagte Sara, »ich bin Dr. Linton. Ich werde mich um Sie kümmern. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»A-Auto …« Dani brachte kaum ein Flüstern zustande. »Ich bin im Auto aufge-«

Ihre Zähne klapperten so heftig, dass sie nicht weitersprechen konnte.

»Schon gut. Wo tut es weh? Können Sie es mir zeigen?«

Sara sah, wie Danis Hand zu ihrem oberen linken Abdomen ging. Die Sanitäter hatten bereits ein Stück Gaze über die nicht sehr tiefe Verletzung unmittelbar unter ihrer linken Brustseite geklebt. Das war jedoch nicht alles. Danis Oberkörper wies einen dunkelroten Riss auf, wo etwas, möglicherweise das Lenkrad, sie mit großer Wucht getroffen hatte. Sara drückte ihr das Stethoskop auf den Bauch, dann hörte sie beide Lungenflügel ab.

»Darmgeräusche sind gut«, rief sie. »Dani, können Sie tief Luft holen für mich?«

Man hörte ein angestrengtes Pfeifen.

»Pneumothorax links«, verkündete Sara. »Bereiten Sie eine Thoraxdrainage vor. Ich brauche eine Thorakotomie-Schale.«

Danis Augen versuchten dem verwirrenden Durcheinander von Bewegungen zu folgen. Schränke wurden geöffnet, Tablette beladen – Abdecktücher, Schläuche, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe, Skalpell, Lidocain.

»Alles wird gut, Dani.« Sara beugte sich zu der jungen Frau hinunter, um sie von dem Chaos abzulenken. »Sehen Sie mich an. Ihre Lunge ist kollabiert. Wir werden einen Schlauch einführen …«

»Ich … ich bin nicht …« Dani holte mühsam Luft. Ihre Stimme war in dem Radau kaum zu hören. »Ich musste weg …«

»Okay.« Sara strich ihr das Haar aus der Stirn und suchte nach Anzeichen für eine Kopfverletzung. Es musste einen Grund geben, warum Dani am Unfallort das Bewusstsein verloren hatte. »Tut Ihnen der Kopf weh?«

»Ja … ich höre ständig ein Klingeln und …«

»Okay.« Sara untersuchte ihre Pupillen. Die Frau hatte eindeutig eine Gehirnerschütterung. »Dani, können Sie mir sagen, wo es am stärksten wehtut?«

»Er … Er hat mir wehgetan«, sagte Dani. »Ich glaube … Ich glaube, er hat mich vergewaltigt.«

Sara war wie vom Blitz getroffen. Die Geräusche im Raum verebbten, und sie hörte nur noch Danis gepresste Stimme.

»Er hat etwas in meinen Drink getan …« Dani hustete, als sie zu schlucken versuchte. »Ich bin aufgewacht, und er … Er war auf mir drauf … Dann war ich im Wagen, aber ich weiß nicht mehr, wie … Und …«

»Wer?«, fragte Sara. »Wer hat Sie vergewaltigt?«

Die Augenlider der Frau flatterten.

»Dani? Bleiben Sie bei mir.« Sara legte ihre Hand an die Wange der Frau. Danis Lippen wurden blass. »Ich brauche die Drainage, jetzt sofort!«

»Halten Sie ihn auf«, sagte Dani. »Bitte … halten Sie ihn auf.«

»Wen?«, fragte Sara. »Dani? Dani?«

Dani blickte Sara in die Augen und flehte sie lautlos an, zu begreifen.

»Dani?«

Wieder flatterten die Lider. Dann fiel Danis Kopf zur Seite.

»Dani?« Sara drückte das Stethoskop auf Danis Brust. Nichts. Das Leben war kurz davor, den Körper der Neunzehnjährigen zu verlassen. Sara unterdrückte die aufsteigende Panik und rief: »Wir haben keinen Herzschlag mehr. Starten Sie die CPR

Der Atemwegsspezialist schnappte sich den Ambulanzbeutel und die Maske, um die Lungen mit Luft zu füllen. Sara verschränkte die Finger und legte die Handflächen über Danis Herz. Die CPR, also die Herz-Lungen-Wiederbelebung, war eine Überbrückungsmaßnahme mit der Absicht, manuell Blut ins Herz zu pumpen, bevor es hoffentlich durch einen Elektroschock wieder zu einem regelmäßigen Rhythmus zurückfand. Sara drückte mit ihrem ganzen Gewicht auf Danis Brust. Ein scheußliches Krachen war zu hören, als die Rippen nachgaben.

»Verdammt!« Ihre Emotionen drohten sie zu überwältigen, doch Sara riss sich zusammen. »Sie hat einen instabilen Thorax. CPR bringt nichts. Wir müssen sie schocken.«

Johna hatte den Notfallwagen bereits herangerollt. Sara hörte, wie der Defibrillator die volle Ladestufe erreichte, während die Elektroden an Danis leblosen Körper gepresst wurden.

Sara hob die Hände, um den Metallrahmen der Liege nicht zu berühren.

»Achtung!« Johna drückte die Knöpfe an den Elektroden.

Danis Körper bäumte sich auf unter den dreitausend Volt, die direkt auf ihre Brust zielten. Der Monitor gab einen Signalton von sich. Alle warteten endlos lange Sekunden, ob das Herz wieder zu schlagen begann, aber die Linie auf dem Schirm flachte ab, und der Alarmton heulte.

»Noch einmal«, sagte Sara.

Johna wartete das Laden ab. Ein weiterer Schock. Ein weiterer Signalton. Eine weitere flache Linie.

Sara ging die Möglichkeiten durch. Keine CPR. Kein Elektroschock. Kein Aufbrechen der Brust, denn es gab nichts aufzubrechen. Ein instabiler Thorax wurde beschrieben als zwei oder mehr nebeneinanderliegende Rippen, die an zwei oder mehr Stellen gebrochen waren, was zu einer Destabilisierung der Brustwand und einer Veränderung der Atemmechanik führte.

Soweit Sara feststellen konnte, wiesen Dani Coopers zweite, dritte und fünfte Rippe zahlreiche Brüche durch die Einwirkung stumpfer Gewalt auf. Die spitzen Knochen schwammen sozusagen lose in ihrer Brust und konnten ihr Herz und ihre Lunge anstechen. Die Überlebenschancen der Neunzehnjährigen waren in den einstelligen Prozentbereich gesunken.

All die Geräusche, die Sara ausgeblendet hatte, als sie an Dani arbeitete, füllten plötzlich ihren Kopf. Das sinnlose Zischen von Sauerstoff. Das Knirschen der Blutdruckmanschette. Das Knistern der PPE-Kittel, als alle im Raum die verringerten Aussichten bedachten.

Jemand stellte den Alarmton ab.

»Okay.« Sara sagte es für sich, und für niemanden sonst. Sie hatte einen Plan. Sie zog die Gaze von der oberflächlichen Verletzung auf Danis linker Seite ab. Sie schüttete Desinfektionsmittel in die Wunde und ließ es überfließen wie bei einem Brunnen. »Eldin, erzählen Sie mir etwas vom Rippenbogen.«

»Äh …« Eldin beobachtete Saras Hände, als sie ein frisches Paar steriler Handschuhe überstreifte. »Der Rippenbogen besteht aus dem Rippenknorpel um das und hinauf bis zum Brustbein. Die elfte und zwölfte Rippe sind lose.«

»Im Allgemeinen enden sie etwa an der Axillarlinie und innerhalb der Muskulatur der Seitenwand, richtig?«

»Richtig.«

Sara hob ein Skalpell aus der Schale. Sie schnitt in die Verletzung und durchtrennte vorsichtig die Fettschicht hinunter zum Bauchmuskel. Dann durchdrang sie das Zwerchfell, um ein Loch etwa von der Größe ihrer Faust herzustellen.

Sie sah Johna an. Der Schwester stand vor Verblüffung der Mund halb offen, aber sie nickte. Wenn Dani noch eine Überlebenschance hatte, dann diese.

Sara griff in das Loch. Der Zwerchfellmuskel saugte sich um ihr Handgelenk. Rippenknochen streiften über ihre Knöchel wie die Tasten auf einem Xylofon. Die Lunge war platt wie ein luftloser Ballon. Magen und Leber waren glitschig und biegsam. Sara schloss die Augen und konzentrierte sich auf die menschliche Anatomie, während sie in Danis Brust vordrang. Ihre Fingerspitzen strichen an den blutgefüllten Herzbeutel. Vorsichtig schloss Sara ihre Hand um das Organ und drückte.

Der Monitor piepste. Die flache Linie schnellte in die Höhe.

Sie drückte wieder. Ein weiteres Piepen. Ein weiteres Hochschnellen.

Sara fuhr fort, mit Fingern und Daumen im normalen Rhythmus des Lebens Blut durch das Herz zu pumpen. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Geräuschen des Monitors. Sie spürte die Anordnung der Arterien wie eine topografische Zeichnung. Rechte Koronararterie. Ramus interventricularis posterior. Rechte Marginalarterie. Linke Koronararterie. Ramus circumflexus.

Kein anderes Organ im Körper ruft so viele Emotionen hervor wie das Herz. Dein Herz kann gebrochen oder voller Freude oder Liebe sein. Oder es kann einen komischen Purzelbaum schlagen, wenn du deinen großen Schwarm im Aufzug siehst. Man legte die Hand aufs Herz, um Treue zu geloben. Man schlug sich aufs Herz, um Loyalität, Aufrichtigkeit oder Respekt zu demonstrieren. Wer grausam war, wurde vielleicht herzlos genannt. Wer nicht allzu pfiffig war, war ein Herzchen. Man sagte Hand aufs Herz, um zu schwören. Als Sara und Tessa klein waren, hatte Tessa oft die Hand aufs Herz gelegt. Sie stahl Saras Kleidung, eine CD oder ein Buch und schwor, dass sie es nicht gewesen war – Hand aufs Herz.

Sara wusste nicht, ob Dani überleben würde, aber sie gelobte beim Herzen dieser Frau, dass sie alles tun würde, um den Mann aufzuhalten, der sie vergewaltigt hatte.

1

»Dr. Linton.« Maritza, die Anwältin von Dani Coopers Familie, näherte sich dem Zeugenstand. »Können Sie uns sagen, was als Nächstes geschah?«

Sara holte Luft, dann sagte sie: »Ich kniete auf der Rollbahre und fuhr mit in den OP hinauf, damit ich Danis Herz ohne Unterbrechung weiter massieren konnte. Ich wurde den üblichen Hygienemaßnahmen unterzogen, dann übernahmen die Chirurgen.«

»Und dann?«

»Ich beobachtete die Operation.« Sara blinzelte. Auch drei Jahre später sah sie Dani noch vor sich, wie sie auf dem OP-Tisch lag, die Augen mit Klebeband verschlossen, ein Schlauch ragte aus ihrem Mund, die Brust war aufgespreizt, weiße Bruchstücke von Rippen waren wie Konfetti im Brustraum verteilt. »Die Chirurgen taten, was sie konnten, aber Dani war nicht mehr zu retten. Sie wurde gegen zwei Uhr fünfundvierzig für tot erklärt.«

»Danke.« Maritza kehrte zu den Unterlagen auf ihrem Tisch zurück und blätterte darin. Ihr Mitarbeiter beugte sich zu ihr und flüsterte etwas. »Euer Ehren, wenn ich mir einen Moment Zeit nehmen dürfte?«

»Beeilen Sie sich«, sagte Richterin Elaina Tedeschi.

Es wurde still im Gerichtssaal, man hörte nur die Geschworenen auf ihren Stühlen herumrutschen und gelegentlich ein Husten oder Schniefen aus dem halb vollen Zuschauerraum. Sara holte erneut tief Luft. Sie war bereits drei Stunden lang im Zeugenstand gewesen. Eben waren sie von der Mittagspause zurückgekehrt, und alle waren müde. Dennoch saß sie aufrecht und blickte geradeaus auf die Uhr an der Rückseite des Saals.

Eine Reporterin im Zuschauerraum tippte in ihr Handy, aber Sara ignorierte die Frau, so gut es ging. Sie konnte Danis Eltern nicht ansehen, denn der Schmerz der beiden war fast so niederschmetternd wie ihre Hoffnung, auf irgendeine Weise einen Schlussstrich ziehen zu können. Auch durfte sie die Jury nicht ansehen. Sara wollte mit niemandem Augenkontakt herstellen und keinesfalls eine falsche Botschaft übermitteln. Es war heiß und stickig im Gerichtssaal. Prozesse schritten nie so zügig voran oder waren so interessant, wie es im Fernsehen den Anschein hatte. Die medizinischen Fakten konnten in ihrer Fülle verwirrend sein. Die Geschworenen sollten sich konzentrieren und zuhören und sich nicht fragen, warum Sara sie komisch angesehen hatte.

Es ging in diesem Gerichtsverfahren nicht um Sara. Es ging darum, das Versprechen zu halten, das sie Dani Cooper gegeben hatte. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, musste aufgehalten werden.

Sie ließ ihren Blick zu Thomas Michael McAllister IV. wandern. Der Zweiundzwanzigjährige saß zwischen seinen teuren Anwälten am Tisch der Verteidigung. Seine Eltern, Mac und Britt McAllister, waren direkt hinter ihm im Zuschauerraum. Gemäß Richterin Tedeschis Anweisungen war Tommy als der Beklagte und nicht als der Angeklagte zu bezeichnen, damit für die Geschworenen klar war, dass es sich hier um einen Zivilprozess und nicht um ein Strafverfahren handelte. Es ging nicht um Gefängnis oder Freiheit, sondern vielmehr um Millionen von Dollar für die widerrechtliche Tötung von Daniella Cooper. Mac und Britt konnten es sich problemlos leisten, zu bezahlen, aber noch etwas anderes stand auf dem Spiel, etwas, das selbst ihr enormer Reichtum ihnen nicht garantieren konnte: der gute Ruf ihres Sohnes.

Bisher hatten sie alles zu Tommys Schutz unternommen, was sie konnten, angefangen von einem PR-Manager, den sie engagiert hatten, um das Narrativ in den Medien zu gestalten, bis zu Douglas Fanning, einem bekannten Anwalt, dessen Dienste sie sich gesichert hatten. Fanning wurde wegen seiner Art, Zeugen im Zeugenstand zu zerfleischen, »der Hai« genannt.

Das Verfahren war erst zwei Tage alt, und es war Fanning bereits gelungen, einiges von dem herauszuhalten, was er als Tommys »jugendliche Unbesonnenheiten« bezeichnete. Als wäre praktisch jeder Heranwachsende mit elf verhaftet worden, weil er den Hund des Nachbarn gequält hatte, in seinem vorletzten Highschool-Jahr der Vergewaltigung bezichtigt und eine Stunde vor seiner Abschlussfeier mit einem Partyvorrat Ecstasy erwischt worden. Das erkaufte man sich eben mit einem Anwalt, der zweitausendfünfhundert Dollar die Stunde kostete – er verwandelte ein Raubtier in einen Chorknaben.

Tommy war fraglos der Rolle entsprechend gekleidet und hatte den maßgeschneiderten Anzug, den er im Jahr zuvor in einer Klatschkolumne zur Schau gestellt hatte, gegen einen schwarzen Anzug von der Stange mit einer zart hellblauen Krawatte und einem weißen Oxfordhemd eingetauscht – all das wahrscheinlich von einem Geschworenenberater ausgesucht, der seit Monaten die vorteilhaftesten Schlüsselbegriffe und Strategien gebündelt und dann eng mit Fanning zusammengearbeitet hatte, um die optimalen Geschworenen auszuwählen, und der jetzt irgendwo in der Nähe des Gerichts eine Schatten-Jury tagen ließ, der man dieselben Beweismittel präsentierte, um die Verteidigung bei ihrer Herangehensweise zu unterstützen.

Trotz alledem ließ sich das arrogant gereckte Kinn von Tommy McAllister nicht verbergen. Er hatte sein ganzes Leben in den hermetischen gesellschaftlichen Zirkeln Atlantas verbracht. Sein Urgroßvater, ein Chirurg, war nicht nur ein Pionier auf dem Feld künstlicher Gelenke gewesen, er hatte außerdem mitbegründet, was später eine der großen orthopädischen Kliniken Atlantas werden sollte. Tommys Großvater, ein Vier-Sterne-General im Ruhestand, hatte die Erforschung von Infektionskrankheiten am CDC geleitet. Mac, sein Vater, war einer der angesehensten Kardiologen im Land. Britt hatte eine Ausbildung zur Geburtshelferin absolviert. Es war keine Überraschung, dass Tommy das Familienunternehmen fortführte. Er stand im Begriff, ein Medizinstudium an der Emory University zu absolvieren.

Er war außerdem der Mann, der Dani Cooper unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hatte.

Zumindest nach Saras Überzeugung.

Tommy hatte Dani Cooper fast sein ganzes Leben lang gekannt. Sie hatten dieselben Privatschulen besucht, waren Mitglied im selben Country Club gewesen, hatten in denselben sozialen Kreisen verkehrt, und zum Zeitpunkt von Danis Tod waren sie beide an derselben Universität in Vorbereitungskurse für ein Medizinstudium eingeschrieben gewesen. In der Nacht, in der Dani starb, war Tommy gesehen worden, wie er auf der Party einer Studentenverbindung mit ihr stritt. Er hatte Dani am Arm gepackt. Sie hatte sich losgerissen. Niemand konnte sagen, was danach geschah, aber es war Tommys hundertfünfzigtausend Dollar teurer Mercedes Roadster gewesen, den Dani fuhr, als sie in den vor dem Krankenhaus abgestellten Rettungswagen krachte. Es war sein Sperma, das man bei der Obduktion in ihr fand. Es war Tommy McAllister, der kein Alibi für die Zeit hatte, nachdem Dani die Party verlassen hatte und bevor sie im Grady eintraf. Es war ebenfalls Tommy McAllister, der die intimen Details in den Drohnachrichten kannte, die Dani in der Woche vor ihrem Tod erhalten hatte.

Leider konnte der Staatsanwalt von Fulton County nur aufgrund von Beweisen handeln, nicht aufgrund einer Überzeugung. In einem Strafverfahren musste die Schuld ohne begründeten Zweifel bewiesen werden. Sara hätte freimütig eingeräumt, dass es in diesem Fall Zweifel gab. Bei der Studentenparty waren jede Menge andere junge Männer gewesen, die Dani nahestanden. Niemand konnte Tommys Behauptung widersprechen, dass der Streit beigelegt worden war. Niemand konnte Tommys Behauptung widerlegen, Dani hätte sich seinen Mercedes ausgeliehen. Niemand konnte seine Behauptung widerlegen, sein Sperma sei in Dani gewesen, weil sie zwei Nächte zuvor einvernehmlichen Sex gehabt hatten. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, dass Tommy die Party an jenem Abend zusammen mit Dani verlassen hatte. Viele Leute auf der Party hatten die intimen Details in Danis Leben gekannt. Was noch wichtiger war: Niemand konnte das Prepaid-Handy ausfindig machen, von dem die Drohnachrichten abgeschickt wurden.

Zum Glück wurde in einem Zivilprozess nicht zweifelsfrei, sondern aufgrund eines Übergewichts der Beweise entschieden. Die Coopers hatten eine Menge Indizienbeweise auf ihrer Seite. In dem Prozess wegen widerrechtlicher Tötung, den sie gegen Tommy McAllister angestrengt hatten, verlangten sie Schadenersatz in Höhe von zwanzig Millionen Dollar. Das war eine Irrsinnssumme, aber es ging ihnen nicht um das Geld. Im Gegensatz zu Mac und Britt hatte es sie ihre gesamten Ersparnisse gekostet, den Fall vor Gericht zu bringen. Die Coopers hatten alle Angebote eines außergerichtlichen Vergleichs abgelehnt, denn was sie wollten, was sie brauchten, damit sie den tragischen Tod ihrer Tochter begreifen konnten, war, dass jemand öffentlich dafür verantwortlich gemacht wurde.

Sara hatte sie gewarnt, dass sie wahrscheinlich nicht gewinnen würden. Maritza hatte das Gleiche gesagt. Beide wussten, wie das System funktionierte, und es begünstigte selten die Leute, die kein Geld hatten. Vor allem aber hing der ganze Fall daran, ob die Geschworenen Sara für eine glaubwürdige Zeugin hielten. In der Notaufnahme war es in der Nacht, in der Dani starb, turbulent zugegangen. Außer Sara hatte niemand die junge Frau sagen hören, dass sie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden war. Aufgrund der Natur des Falls hieß das, Saras Leben würde unter einem Mikroskop betrachtet werden. Um ihre Zeugenaussage zu zerlegen, mussten sie ihren Charakter zerlegen. Alles, was sie je getan, alles, was ihr widerfahren war, würde seziert, analysiert und – am erschreckendsten für Sara – kritisiert werden.

Sie wusste nicht, ob es ihr mehr Angst machte, wenn die dunkelsten Kapitel ihres Lebens in einem öffentlichen Gerichtssaal beleuchtet wurden, oder wenn sie ihr Versprechen an Dani brach.

»Dr. Linton.« Maritza war endlich bereit, fortzufahren. Sie ging mit einem Blatt Papier in der Hand wieder zum Zeugenstand. Sie streckte es Sara nicht entgegen, sondern drückte es an ihre Brust, um Spannung aufzubauen.

Der Trick funktionierte.

Sara spürte, wie hoch konzentriert die Jury war, als Maritza sagte: »Ich möchte kurz einen Schritt zurückgehen, wenn Sie einverstanden sind. Etwas aufgreifen, das heute Vormittag bereits zur Sprache kam.«

Sara nickte, dann sagte sie der Protokollführerin zuliebe: »Okay.«

»Danke.« Maritza machte kehrt und ging an der Geschworenenbank vorbei. Fünf Frauen, vier Männer, eine für Fulton County typische Mischung aus Schwarzen, Weißen, Asiaten, Latinos. Sara sah, wie ihre Blicke der Anwältin folgten, manche studierten ihre Miene, andere versuchten zu ergründen, was auf dem Papier stand.

Maritza hob ihren gelben Schreibblock vom Tisch auf und legte ihn auf das Rednerpult. Sie hatte ihren Kugelschreiber in der Hand, setzte ihre Brille auf und blickte in ihre Notizen.

Sie war nicht Douglas Fanning, aber sie beherrschte ihren Job. Maritza brauchte genauso wenig einen Berater, um zu wissen, wie sie sich anziehen musste, wie Sara einen brauchte. Beide waren sie Frauen, die sich in einem von Männern dominierten Berufsfeld hochgearbeitet hatten, und beide waren zu der Erkenntnis gelangt, dass ihr Aussehen für eine Jury mehr zählte als das, was aus ihrem Mund kam, ob es ihnen nun gefiel oder nicht. Das Haar zurückgekämmt, um Seriosität zu vermitteln. Dezentes Make-up, um zu zeigen, dass sie sich trotzdem Mühe gaben. Eine Brille, um ihre Intelligenz zu zeigen. Sittsamer Rock und passender Blazer, um zu zeigen, dass sie trotzdem feminin waren. Absätze nicht höher als fünf Zentimeter, um zu zeigen, dass sie es auch nicht übertrieben mit der femininen Ausstrahlung.

Zeigen, zeigen, zeigen.

Maritza sah Sara an und sagte: »Vor der Mittagspause haben Sie uns Ihren Bildungsweg und Ihre Berufserfahrung dargelegt, aber zur Erinnerung für die Jury noch einmal: Sie sind zugelassene Kinderärztin und haben außerdem eine Zulassung als Gerichtsmedizinerin, richtig?«

»Ja.«

»Und in der Nacht, in der Dani Cooper in die Notaufnahme des Grady Hospitals gebracht wurde, waren Sie dort als Kinderärztin angestellt, aber aktuell, also heute, sind Sie als Coroner beim Georgia Bureau of Investigation angestellt, richtig?«

»Genau genommen ist mein Titel Medical Examiner oder Gerichtsmedizinerin.« Sara gestattete sich einen Blick zur Jury. Sie waren die einzigen Menschen im Gerichtssaal, deren Meinung zählte. »In allen Countys Georgias mit Ausnahme von vieren ist das Amt des Coroner ein Wahlamt, für das keine Zulassung als Mediziner nötig ist. Wenn ein Verbrechen vermutet wird, überträgt der Coroner des County die Untersuchung des Todesfalls in der Regel der gerichtsmedizinischen Abteilung des GBI. An diesem Punkt kommen dann meine Kollegen und ich ins Spiel.«

»Danke für die Erläuterung«, sagte Maritza. »Als Sie also Dani Cooper in der Notaufnahme untersuchten, würden Sie sagen, dass Sie sich dabei auf beide Felder Ihres umfangreichen Fachwissens stützten?«

Sara überlegte, wie sie ihre Antwort am besten formulierte. »Ich würde sagen, dass ich Dani zunächst als Ärztin beurteilte, später dann als Rechtsmedizinerin.«

»Haben Sie den Obduktionsbericht über Dani Cooper durchgelesen, der bereits als Beweismittel 113 A benannt wurde?«

»Ja.«

»Was waren die toxikologischen Befunde zu verschreibungspflichtigen Substanzen, falls es welche gab?«

»Die Blut- und Urinscreens wurden als nicht schlüssig eingestuft.«

»Hat Sie das überrascht?«

»Nein«, sagte Sara. »Dani hat im Krankenhaus eine Vielzahl von Therapeutika erhalten, darunter Rohypnol, das im Vorfeld der OP zur Muskelentspannung eingesetzt wurde.«

»Zuvor haben Sie uns erklärt, dass Rohypnol auch als sogenannte Vergewaltigungsdroge Verwendung findet, richtig?«

»Ja.«

»Wie leicht wäre es für Sie als Ärztin oder als jemand, der in einer medizinischen Einrichtung arbeitet, eine Ampulle Rohypnol zu stehlen, wenn Ihnen danach wäre?«

»Ich würde nicht riskieren, es aus dem Krankenhaus zu entwenden, in dem ich arbeite«, sagte Sara. »Es sind zu viele Möglichkeiten in das System eingebaut, es zurückzuverfolgen. Es ist auf der Straße problemlos erhältlich, ich würde mir also einen Drogendealer suchen und das Rohypnol von ihm kaufen.«

»Können Sie uns sagen, ob bei Dani Coopers Obduktion DNA gefunden wurde?«

»Aus Danis vorderer Vagina und dem Gebärmutterhals wurde bei einem Abstrich Sperma sichergestellt. Die Probe wurde zur Bearbeitung an das Labor des GBI geschickt. Das Labor konnte ein DNA-Profil zum Vergleich generieren.«

»Können Sie uns sagen, zu welchem Schluss das Labor kam?«

»Die DNA stimmte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit der Probe überein, die von Tommy McAllister genommen wurde.«

Maritza machte erneut eine Pause und tat, als schaute sie ihre Notizen durch, um der Jury Zeit zu geben, die Information zu verarbeiten. Sara ließ den Blick zu Douglas Fanning wandern. Der Hai hielt den Kopf gesenkt und schrieb in seinen Block; er benahm sich in jeder Hinsicht so, als könnte nichts, was Sara sagte, die geringste Rolle spielen. Er hatte das Gleiche bereits vor einem halben Jahr bei ihrer eidesstattlichen Aussage getan. Damals hatte sie es als Trick durchschaut, um sie aus dem Konzept zu bringen.

Jetzt stellte sie verärgert fest, dass er funktionierte.

Maritza räusperte sich, ehe sie fortfuhr. »Dr. Linton, haben Sie in dieser Nacht noch etwas anderes beobachtet, das Ihnen ungewöhnlich erschien?«

»Man sagte mir, Dani hätte den Wagen gesteuert, aber die Fleischwunde an ihrem Oberkörper war hier, auf der linken Seite, genau unterhalb der Rippen.« Sara zeigte den Bereich an ihrem eigenen Körper an. »Wenn man fährt, läuft der Sicherheitsgurt von der linken Schulter zur rechten Hüfte. Wäre die Verletzung von einem Sicherheitsgurt verursacht worden, hätte sie sich auf der rechten Seite befunden, nicht auf der linken.«

Maritza drang nicht auf eine Schlussfolgerung, sondern ging zum nächsten Puzzleteil weiter. »Sie haben die Beweisstücke 108 A bis F gesehen, die Aufnahmen der Überwachungskamera vor dem Krankenhaus von jener Nacht. Darauf ist festgehalten, wie der Mercedes des Beklagten geradewegs in den Rettungswagen kracht, richtig? Was man einen Frontalzusammenstoß nennen könnte.«

»Ja.«

»Welche anderen Eindrücke haben Sie gewonnen, als Sie die Aufnahmen sahen?« Maritza bemerkte, dass Fanning einen Einwand erheben wollte, und fügte rasch an: »Ihre Eindrücke als jemand, der an der Untersuchung von Verkehrsunfällen beteiligt war.«

Fanning beruhigte sich wieder.

Sara antwortete: »Es sah für mich so aus, als würde der Wagen zum Parkplatz vor der Notaufnahme gesteuert, doch dann fuhr er im letzten Moment geradeaus, er wurde langsamer und prallte an einen der Rettungswagen, die in der Zufahrt der Notaufnahme standen.«

»Okay. Auf den Bildern kann man nicht erkennen, wer den Wagen fährt, richtig?«

»Richtig.«

»Man sieht außerdem, dass Dani auf der Fahrerseite aus dem Mercedes gezogen wird, richtig?«

»Ja.«

»Sie sagten vorhin, Sie hätten den Unfallbericht von Sergeant Shanda London gelesen. Wissen Sie noch, wie schnell der Wagen fuhr, als er auf den Rettungswagen prallte?«

»Dem ECM zufolge war der Wagen im Moment des Aufpralls siebenunddreißig Stundenkilometer schnell.«

»Wir haben gestern Vormittag von Sergeant London etwas über das ECM gehört, aber können Sie unsere Erinnerung kurz auffrischen?«

»Das Elektronische Kontrollmodul oder Steuergerät zeichnet alle Daten in den Sekunden rund um eine Kollision auf. Am besten stellt man es sich wie die Black Box in einem Flugzeug vor, nur für Autos.«

»Und erschien Ihnen noch etwas anderes interessant, was Sie aus den Daten des Steuergeräts gelesen haben?«

»Zwei Dinge: Sie bestätigten die Verringerung der Geschwindigkeit, die ich auf den Bildern der Überwachungskamera bemerkt hatte. Der Mercedes verlangsamte von fünfundfünfzig auf siebenunddreißig Stundenkilometer. Und sie belegen außerdem, dass der Wagen vor dem Aufprall nicht bremste.«

»Euer Ehren?« Maritza ging mit dem Blatt Papier zur Richterin. »Wenn ich auf Beweisstück 129 A verweisen darf?«

Richterin Tedeschi nickte. »Bitte sehr.«

Fanning ließ sich endlich dazu herab, aufzublicken. Er schob seine Lesebrille auf der Nase nach unten. Die Gläser waren verschmiert. Wenn Tommy McAllister darauf programmiert war, wie ein strebsamer junger Mann mit ein paar Problemen zu wirken, so legte es Douglas Fanning darauf an, nach allem Möglichen auszusehen, nur nicht nach dem aalglatten Strafverteidiger der Megareichen, der er in Wirklichkeit war. Sein langes graues Haar war am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Sein Anzug war verknittert, die Krawatte fleckig. Einen Südstaaten-Slang wie den seinen hatte Sara nicht mehr gehört, seit ihre Großmutter tot war. Er tat oft, als würde ihm eine Information nicht auf Anhieb einfallen, um seinen Jura-Abschluss von der Duke University herunterzuspielen. Während Sara und Maritza alle Anstrengungen unternommen hatten, um kompetent und professionell zu wirken, sollten Fanning beide Eigenschaften zufliegen, ohne dass er sich etwas daraus machte.

»Dr. Linton.« Maritza legte das Blatt Papier endlich auf den Overheadprojektor. »Erkennen Sie dieses Beweisstück, das die Nummer 129 A trägt?«

Sara hatte sich wie alle anderen zu dem Monitor an der Wand umgedreht. »Das ist eine Kopie des Körperdiagramms, das ich aus dem Internet heruntergeladen habe, um meine Befunde anatomisch korrekt darzustellen. Unten auf der Seite sehen Sie meine Unterschrift, zusammen mit Datum und Uhrzeit.«

»Sie haben das Formblatt aus dem Internet heruntergeladen«, wiederholte Maritza. »Wäre es nicht einfacher gewesen, Fotos zu machen?«

»Alle Daten, die ich als Mitarbeiterin im Gesundheitswesen erhebe, unterliegen einem Bundesgesetz, das die Speicherung und Verbreitung sensibler Gesundheitsinformationen regelt. Das Telefon, das mir vom Grady Hospital zur Verfügung gestellt wurde, besaß keine Kamera, und ich konnte die Sicherheit meines privaten Handys nicht garantieren.«

»Aha, danke.« Maritza zeigte auf den Schirm. »Diese Kreuze über den Rippen, was stellen die dar?«

»Die Knochenfrakturen, die zu dem beitrugen, was man einen instabilen Thorax nennt.«

»Sie haben uns diesen Begriff heute Morgen erklärt, deshalb frage ich: Konnte der Sicherheitsgurt in Danis Fall für den instabilen Thorax verantwortlich gewesen sein?«

»Meiner Ansicht nach nicht. Der Wagen fuhr nicht schnell genug für einen solchen Schaden.«

»Was hat diesen Schaden verursacht?«

Fanning regte sich wieder. Er machte klar, dass seine Aufmerksamkeit Sara jetzt gewiss war. Sein Kugelschreiber hatte einen Schrägstrich in den Notizblock gemalt. Er gab einen Laut von sich, als wäre er im Begriff, Einspruch zu erheben, aber Maritza kam ihm zuvor.

»Ich will es anders formulieren.« Ihr Blick blieb auf Sara gerichtet. »Was kann, Ihrer Erfahrung als Rechtsmedizinerin zufolge, einen instabilen Thorax verursachen, Dr. Linton?«

»Ich hatte einen Fall, in dem der Verstorbene von einem zweistöckigen Bürogebäude gestürzt war. Ein anderer hatte am Steuer eines Lastwagens gesessen, der mit rund hundertfünfzig Stundenkilometern auf dem Highway einen Fahrbahnteiler aus Beton gerammt hat. Ein weiterer Fall war ein Kind, das von einem Betreuer totgeprügelt wurde.«

Der Gerichtssaal zuckte kollektiv zusammen.

Maritza fuhr fort. »Wir reden also von nichts, was passiert, wenn man mit siebenunddreißig Stundenkilometern in die Seite eines stehenden Rettungswagens kracht?«

»Meiner Ansicht nach nicht.«

Fanning machte einen weiteren Schrägstrich.

»Ein Sachverständigenzeuge hat uns früher erklärt, dass der Airbag des Mercedes ein halbes Jahr vor dem Unfall einem Rückruf unterlegen war. Er hat ausgelöst, aber wir können nicht wissen, ob er korrekt ausgelöst hat. Ändert das Ihre Einschätzung?«

»Nein. Meiner Ansicht nach …« Sara sah Fanning eine weitere Markierung in seinem Block anbringen. »Selbst wenn es keinen Airbag gegeben hätte, könnte der Aufprall von Danis Brust auf das Lenkrad bei dieser Geschwindigkeit keine so schweren Verletzungen verursacht haben.«

»Hat der instabile Thorax in Danis Fall zu starken Blutungen geführt?«

»Ja, aber es waren innere Blutungen. Äußerlich stammte das einzige Blut von der oberflächlichen Fleischwunde.«

»Danis Lunge war kollabiert. War das Sprechen deshalb schwierig für sie?«

»Ja, ihre Luftzufuhr war eingeschränkt. Sie konnte nur flüstern.«

»Würden Sie als Ärztin in Anbetracht von Danis bedrohlichem Zustand der Tatsache, dass sie Ihnen erzählt hat, sie sei unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden, mehr Bedeutung beimessen?«

»Ja«, sagte Sara. »Normalerweise sind Patienten in erheblicher Not darauf fixiert, dieser Notlage zu entkommen. Dani war darauf fixiert, mir zu erzählen, was ihr zugestoßen war.«

Maritza wandte sich wieder dem Körperdiagramm auf dem Monitor zu. »Was ist mit diesem Kreuz an Danis Hinterkopf?«

»Es zeigt ein Trauma infolge stumpfer Gewalt an.«

»Können Sie der Jury erklären, was Sie damit meinen?«

Sara setzte zu einer Antwort an, aber sie wurde plötzlich von Furcht gepackt. Fanning starrte sie unverblümt an, seine dunklen Knopfaugen nahmen jede Kleinigkeit auf, und er hielt den Kugelschreiber umklammert. Sie fürchtete sein Kreuzverhör fast so sehr, wie er den Gedanken daran erkennbar genoss.

Maritza nickte ihr kaum wahrnehmbar zu. Sie wussten beide, was hier auf dem Spiel stand. Das alles war für Dani. Es ging darum, dass Sara ihr Versprechen hielt.

Sie wandte sich mit ruhiger Stimme an die Jury. »Ein Trauma infolge stumpfer Gewalt bezeichnet einen Schlag an den Kopf, der nicht in den Schädel eindringt, und führt zu einer Gehirnerschütterung, einer Prellung oder beidem.«

»Was hatte Dani Cooper?«, fragte Maritza.

»Eine Gehirnerschütterung dritten Grades.«

»Wie kamen Sie zu diesem Schluss?«

»Unter anderem entdeckte ich post mortem ein Ödem an ihrem Hinterkopf.«

»Was ist ein Ödem?«

»Eine Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebe oder in Hohlräumen des Körpers«, erklärte Sara an die Jury gewandt. »Es ist im Wesentlichen eine Schwellung. Man verletzt sich, stößt sich zum Beispiel das Knie am Schreibtisch. Der Körper sendet Flüssigkeit, um zu sagen: ›Hey, Vorsicht mit deinem Knie, während ich es zu reparieren versuche.‹«

»Dritten Grades.« Maritza wollte Sara eindeutig dabei helfen, wieder festen Halt zu finden. »Erklären Sie das bitte.«

»Es gibt fünf Grade einer Gehirnerschütterung, der Schwere nach ansteigend. Grad drei ist durch einen Verlust des Bewusstseins von weniger als einer Minute charakterisiert. Es gibt auch noch andere Faktoren wie etwa die Pupillenreaktion, Puls, Blutdruck, Atmung, Sprechmuster und die Reaktion auf Befragung und natürlich das Ödem.«

»Könnte die Kopfstütze des Fahrersitzes die Ursache für Danis Gehirnerschütterung dritten Grades gewesen sein?«

»Meiner Ansicht nach nicht.« Sara sah Fannings Kugelschreiber wieder zuschlagen, als sie sich der Jury zuwandte. »Wir denken uns die Kopfstütze als etwas, das unserer Bequemlichkeit beim Fahren dient, aber eigentlich ist sie für unsere Sicherheit gedacht. Wenn Sie in einen Frontal- oder Auffahrunfall verwickelt sind, wird Ihr Kopf ruckartig vor und zurück gerissen. Die Kopfstütze verhindert ein schweres Schleudertrauma, eine Schädigung der Wirbelsäule oder sogar Ihren Tod. Bei der Geschwindigkeit, mit der der Mercedes fuhr, hätte das Schutzgerüst im Inneren der Kopfstütze kein solches Trauma verursacht.«

»Hatten Sie Gelegenheit, einen Blick in den Mercedes zu werfen, bevor er abgeschleppt wurde?«

»Ja.«

»Was ist Ihnen als Erstes aufgefallen?«

»Dass kein Blut auf dem Airbag war.«

»Warum ist das von Bedeutung?«

»Wie schon erwähnt, hatte Dani eine oberflächliche Fleischwunde auf der linken Körperseite, die durch ihr T-Shirt geblutet hat. Wäre die Verletzung bei dem Unfall passiert, wäre Blut auf dem Airbag zu erwarten gewesen.«

Maritza hielt inne, ehe sie zum nächsten Puzzleteil weiterging. Die Jury war jetzt voll bei der Sache. Die meisten hatten angefangen, in ihre Spiralblöcke zu schreiben. »Konzentrieren wir uns auf das Wort ›Fleischwunde‹. Es hat eine ...

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