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Belladonna

hier erhältlich:

A star is born: Karin Slaughters brillianter Debütroman

Eine Collegeprofessorin wird aufgeschlitzt in einer Restauranttoilette gefunden. Für die junge Frau gibt es keine Rettung mehr, und die einst so friedliche Kleinstadt Heartsdale ist schwer erschüttert. Die Gerichtsmedizinerin Sara Linton findet heraus: Das wahre Grauen des Opfers begann schon lange vor seinem Tod. Nach und nach enthüllt sich ihr der morbide Plan eines sadistischen Psychopathen – und eine furchtbare Erkenntnis: Ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit könnte den Killer überführen … oder ihren eigenen Tod bedeuten.


Sara Lintons erster Fall – der spannende Auftakt zur Grant-County-Serie

Die Grant-County-Reihe umfasst sechs Bände. Heldin ist die toughe Sara Linton. Sie arbeitet im Städtchen Heartsdale im Grant County als Kinderärztin und Rechtsmedizinerin. Ihr Ehemann Jeffrey Tolliver ist der örtliche Polizeichef.

1 – Belladonna

2 – Vergiss mein nicht

3 – Dreh dich nicht um

4 – Schattenblume

5 – Gottlos

6 – Zerstört


»Karin Slaughter zählt zu den talentiertesten und stärksten Spannungsautoren der Welt.« Yrsa Sigurðardóttir

»Jeder neue Thriller von Karin Slaughter ist ein Anlass zum Feiern!« Kathy Reichs


  • Erscheinungstag: 18.02.2020
  • Aus der Serie: Grant County Serie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679350
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Sara Linton lehnte sich im Stuhl zurück und murmelte ein leises »Ja, Mama« in den Hörer. Und fragte sich, ob je der Tag käme, an dem sie zu alt wäre, um von ihrer Mutter übers Knie gelegt zu werden.

»Ja, Mama«, wiederholte Sara und klopfte mit ihrem Stift auf den Tisch. Sie spürte, dass sie ein heißes Gesicht bekam, und eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf.

Es klopfte leise an der Bürotür, gefolgt von einem zögernden »Doktor Linton?«.

Sara ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken. »Ich muss Schluss machen«, sagte sie zu ihrer Mutter, die noch eine allerletzte Ermahnung hinterherschickte, bevor sie auflegte.

Nelly Morgan schob die Tür auf und musterte Sara streng. Als Büroleiterin der Heartsdale-Kinderklinik war Nelly so etwas wie eine Sekretärin für Sara. Solange Sara denken konnte, hatte Nelly in der Klinik das Zepter geschwungen. Sogar schon damals, als Sara selbst hier Patientin gewesen war.

Nelly sagte: »Deine Wangen glühen ja.«

»Meine Mutter hat mich angeschrien.«

Nelly hob eine Augenbraue. »Vermutlich hatte sie dazu allen Grund.«

»Na ja«, sagte Sara und hoffte, dass die Sache damit erledigt war.

»Die Laborwerte von Jimmy Powell sind gekommen«, sagte Nelly, ohne den Blick von Sara zu wenden. »Und die Post«, fügte sie hinzu und ließ einen Stapel Briefe in den Eingangskorb fallen. Das Plastikgestell bog sich unter dem Gewicht.

Sara seufzte, als sie das Fax überflog. An einem guten Tag diagnostizierte sie Ohrenentzündungen und Halsschmerzen. Heute würde sie den Eltern eines zwölfjährigen Jungen sagen müssen, dass er an akuter myeloblastischer Leukämie erkrankt war.

»Nicht gut«, vermutete Nelly. Sie arbeitete lange genug in der Klinik, um zu wissen, wie man einen Laborbericht las.

»Nein«, stimmte Sara zu und rieb sich die Augen. »Ganz und gar nicht.« Sie lehnte sich vor und fragte: »Die Powells sind in Disney World, oder?«

»Zu seinem Geburtstag«, sagte Nelly. »Sie müssten heute Abend wieder zurück sein.«

Sara fühlte, wie eine tiefe Traurigkeit sie übermannte. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, Nachrichten dieser Art zu überbringen.

Nelly schlug vor: »Ich kann für sie gleich morgen früh einen Termin machen.«

»Danke«, sagte Sara und legte den Laborbericht in Jimmy Powells Krankenakte. Dann warf sie einen Blick auf die Wanduhr und schnappte nach Luft. »Stimmt das etwa?«, fragte sie und sah zum Vergleich auf ihre Armbanduhr. »Ich sollte Tessa schon vor einer Viertelstunde zum Lunch treffen.«

Nelly sah auf ihre Uhr. »So spät? Es ist schon bald Zeit fürs Dinner.«

»Es ging nicht eher«, sagte Sara und sammelte Krankenblätter zusammen. Sie stieß versehentlich gegen den Eingangskorb, und sämtliche Post fiel zu Boden.

»Mist«, fluchte Sara.

Nelly wollte helfen, aber Sara hielt sie davon ab. Nicht nur, dass sie es ungern sah, wenn andere Leute die Unordnung beseitigten, die sie angerichtet hatte; sollte Nelly es tatsächlich schaffen, auf die Knie zu sinken, käme sie zweifellos ohne tatkräftige Unterstützung nicht wieder hoch.

»Ich hab’s schon«, sagte Sara, raffte die Kuverts zusammen und ließ sie auf den Schreibtisch fallen. »War sonst noch etwas?«

Nelly lächelte. »Chief Tolliver wartet auf Leitung drei.«

Das verhieß nichts Gutes. Sara nahm in der Stadt zwei Pflichten wahr, als Kinderärztin und als Coroner, und Jeffrey Tolliver, ihr Ex-Mann, war der Polizeichef. Es gab nur zwei Gründe für ihn, Sara mitten am Tag anzurufen, und von denen war keiner sonderlich angenehm.

Sara griff nach dem Telefon, bereit, Nachsicht walten zu lassen. »Ich kann nur hoffen, dass jemand gestorben ist.«

Jeffreys Stimme war verzerrt, und sie nahm an, dass er sein Handy benutzte. »Da muss ich dich leider enttäuschen«, sagte er, und dann: »Ich hänge schon zehn Minuten in der Leitung. Was, wenn das jetzt ein Notfall gewesen wäre?«

Sara begann, ein paar Unterlagen in ihrer Aktentasche zu verstauen. Es war ungeschriebenes Klinikgesetz, Jeffrey stets erst durch brennende Reifen springen zu lassen, bevor man ihn mit Sara telefonieren ließ. Sie war richtig überrascht, dass Nelly daran gedacht hatte, ihr zu sagen, dass er in der Leitung war.

»Sara?«

Sie schaute zur Tür und murmelte: »Ich sollte längst weg sein.«

»Was?«, fragte er. Seine Stimme hatte ein leichtes Echo.

»Ich hab gesagt, dass du immer jemanden vorbeischickst, wenn ein Notfall vorliegt«, log sie. »Wo bist du?«

»Im College«, antwortete er. »Ich warte auf die Hilfswauwaus.«

Er benutzte ihre Insiderbezeichnung für die Wachleute an der Grant Tech, der Staatsuniversität im Stadtzentrum.

Sie fragte: »Und was gibt’s?«

»Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«

»Großartig«, schnauzte sie, zog die Papiere wieder aus der Aktentasche und fragte sich, wieso sie sie überhaupt erst eingepackt hatte. Sie blätterte ein paar Karteikarten durch und schob sie in eine Seitentasche.

Sie sagte: »Ich bin schon jetzt zu spät für den Lunch mit Tess. Was kann ich für dich tun?«

Offenbar brüskiert von ihrem schroffen Ton sagte er: »Du hast gestern etwas abgelenkt gewirkt in der Kirche.«

»Ich war aber nicht abgelenkt«, flüsterte sie und ging ihre Post durch. Beim Anblick einer Postkarte hielt sie inne, und sie erstarrte. Auf der Vorderseite der Karte war ein Bild von Saras Alma Mater, der Emory University in Atlanta, zu sehen. Neben ihrer Adresse in der Kinderklinik standen auf der Rückseite die mit Schreibmaschine getippten Worte »Warum hast du mich verlassen?«.

»Sara?«

Ihr brach der kalte Schweiß aus. »Ich muss Schluss machen.«

»Sara, ich…«

Sie legte auf, bevor Jeffrey seinen Satz beenden konnte, und stopfte drei weitere Krankenblätter zusammen mit der Postkarte in ihre Aktentasche. Sie schlüpfte zur Seitentür hinaus, ohne dass jemand sie sah.

Bei strahlendem Sonnenschein trat Sara auf die Straße. Die Luft war inzwischen kühler als am Morgen, und die dunklen Wolken kündeten Regen für den späteren Abend an.

Ein roter Thunderbird fuhr vorüber, aus dessen Fenster ein Kind seinen Arm baumeln ließ.

»Hallo, Doktor Linton«, rief das Kind.

Sara winkte und antwortete mit einem »Hey!«, als sie über die Straße ging. Sie querte den Rasen vor dem College, bog nach rechts auf den Gehsteig und ging dann weiter in Richtung Main Street. In weniger als fünf Minuten erreichte sie das Restaurant.

Tessa saß in einer Nische an der hinteren Wand des leeren Lokals und aß einen Hamburger. Sie sah nicht gerade erfreut aus.

»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte Sara sich und ging auf ihre Schwester zu. Sie versuchte es mit einem Lächeln, aber Tessa reagierte nicht.

»Du hast zwei gesagt. Jetzt ist es schon fast halb drei.«

»Ich musste noch Papierkram erledigen«, erklärte Sara und schob ihre Aktentasche auf die Sitzbank. Tessa war Klempnerin und ihr gemeinsamer Vater Klempner. Verstopfte Abflussrohre mochten durchaus keine Lappalien sein, aber Linton & Töchter bekamen nur sehr selten Notrufe, wie sie bei Sara an der Tagesordnung waren. Ihre Familie konnte sich nicht vorstellen, wie ein arbeitsreicher Tag für Sara aussah, und war ständig verärgert über ihre Unpünktlichkeit.

»Ich hab um zwei im Leichenschauhaus angerufen«, klärte Tessa sie auf und kaute an einem Pommes frites. »Du warst nicht da.«

Mit einem Seufzer setzte sich Sara und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe noch mal in der Klinik vorbeigeschaut, dann rief Mama an, und irgendwie ist mir die Zeit davongelaufen.« Sie unterbrach sich und sagte dann, was sie immer sagte: »Tut mir leid. Ich hätte dich anrufen sollen.« Als Tessa schwieg, fuhr Sara fort: »Du kannst für den restlichen Lunch auf mich wütend sein, oder du kannst damit aufhören, und ich gebe dir ein Stück Schokosahnetorte aus.«

»Ich möchte lieber Red-Velvet-Torte«, konterte Tessa. »Geht klar«, erwiderte Sara außerordentlich erleichtert. Es reichte, dass ihre Mutter auf sie wütend war.

»Wo du von Anrufen sprichst«, fing Tessa an, und Sara wusste, worauf sie hinauswollte, bevor ihre Schwester die Frage gestellt hatte: »Von Jeffrey gehört?«

Sara erhob sich, um in die Tasche zu greifen. Sie zog zwei Fünfdollarscheine hervor. »Er hat angerufen, bevor ich die Klinik verließ.«

Tessas bellendes Lachen hallte durchs Restaurant. »Was hat er gesagt?«

»Ich hab aufgelegt, bevor er überhaupt was sagen konnte«, antwortete Sara und gab ihrer Schwester das Geld.

Tessa stopfte die Fünfer in die Gesäßtasche ihrer Jeans. »Mama hat also angerufen? Sie war ziemlich stinkig auf dich.«

»Ich bin auch ziemlich stinkig auf mich«, sagte Sara. Nachdem sie nun seit zwei Jahren geschieden war, konnte sie ihren Ex-Mann immer noch nicht loslassen. Sara schwankte zwischen Hass auf Jeffrey Tolliver und Hass auf sich selbst. Sie wünschte sich, dass nur ein einziger Tag verging, ohne dass sie an ihn denken musste, ohne dass er in ihrem Leben auftauchte. Weder gestern noch heute war ein solcher Tag gewesen.

Ostersonntag war ihrer Mutter wichtig. Obwohl Sara nicht sonderlich religiös war, empfand sie es als nicht zu viel verlangt, an einem Sonntag im Jahr in die Kirche zu gehen und Strumpfhosen zu tragen, um Cathy Linton glücklich zu machen. Sara hatte nicht damit gerechnet, dass Jeffrey ebenfalls in der Kirche sein würde. Gleich nach dem ersten Choral hatte sie ihn aus dem Augenwinkel gesehen. Er saß rechts drei Reihen hinter ihr, und sie beide schienen sich gleichzeitig zu bemerken. Sara hatte sich als Erste gezwungen, wieder wegzusehen.

Wie sie dort in der Kirche saß und den Priester anstarrte, ohne ein einziges Wort zu verstehen, das der Mann sagte, spürte Sara Jeffreys unverwandten Blick im Nacken. Die Intensität dieses Blicks ließ eine Hitze in ihr aufsteigen, sodass sie errötete. Obwohl sie in einer Kirche saß, ihre Mutter auf der einen Seite und Tessa und ihr Vater auf der anderen, fühlte Sara, wie ihr Körper auf den Blick reagierte, der von Jeffrey gekommen war. Irgendetwas an dieser Jahreszeit hatte sie zu einem völlig anderen Menschen gemacht.

Sie rutschte auf ihrem Platz hin und her, stellte sich vor, dass Jeffrey sie berührte und wie sich seine Hände auf ihrer Haut anfühlten, als Cathy Linton ihr den Ellbogen in die Rippen stieß. Die Miene ihrer Mutter verriet, dass sie genau wusste, was Sara in diesem Moment durch den Kopf ging, und dass ihr das ganz und gar nicht gefiel. Cathy hatte voller Ingrimm die Arme über der Brust verschränkt und fand sich mit der Tatsache ab, dass ihre Tochter in der Hölle enden würde, weil sie am Ostersonntag in der Baptistenkirche an Sex dachte.

Es folgte ein Gebet, dann ein weiterer Choral. Nach einer vermeintlich angemessenen Zeitspanne warf Sara einen Blick über die Schulter, um noch einmal nach Jeffrey zu schauen. Aber er war eingeschlafen, das Kinn auf der Brust. Genau das war das Problem mit Jeffrey Tolliver: Die Vorstellung, die man sich von ihm machte, war weitaus besser als die Realität.

Tessa trommelte mit den Fingern auf den Tisch, um Saras Aufmerksamkeit zu wecken. »Sara?«

Sara legte die Hand auf die Brust, denn sie merkte, dass ihr Herz wie gestern Morgen in der Kirche zu stark klopfte. »Was?«

Tessa schickte ihr einen wissenden Blick. »Was hat Jeb denn gesagt?«

»Wovon redest du?«

»Ich hab gesehen, wie du nach dem Gottesdienst mit ihm gesprochen hast«, sagte Tessa. »Was hat er gesagt?«

Sara überlegte, ob sie lügen sollte. Schließlich antwortete sie: »Er hat mich für heute zum Mittagessen eingeladen, aber ich hab ihm gesagt, dass ich dich treffe.«

»Hättest du doch absagen können.«

Sara zuckte die Achseln. »Wir gehen Mittwochabend aus.«

Es fehlte nur noch, dass Tessa vor Begeisterung in die Hände klatschte.

»Mein Gott«, stöhnte Sara. »Wo bin ich da bloß mit meinen Gedanken gewesen?«

»Zur Abwechslung mal nicht bei Jeffrey«, erwiderte Tessa. »Stimmt’s?«

Sara nahm die Speisekarte aus dem Serviettenständer, wenngleich sie eigentlich gar nicht darauf zu schauen brauchte. Seit Sara drei Jahre alt war, hatte ihre Familie mindestens einmal pro Woche in der Grant Filling Station gegessen, und die einzige Änderung auf der Speisekarte hatte es gegeben, als der Besitzer Pete Wayne zu Ehren von Präsident Jimmy Carter dem Angebot auf der Nachtischkarte Erdnusskrokant hinzugefügt hatte.

Tessa beugte sich über den Tisch und schob die Speisekarte beiseite. »Ist alles in Ordnung?«

»Es ist wieder die Zeit«, sagte Sara und kramte in ihrer Aktentasche. Sie fand die Postkarte und hielt sie in die Höhe.

Tessa nahm die Karte nicht, und Sara las vor: »Warum hast du mich verlassen?« Sie legte die Karte auf den Tisch und wartete auf Tessas Reaktion.

»Aus der Bibel?«, fragte Tessa, obwohl sie es genau wusste.

Um Fassung bemüht blickte Sara aus dem Fenster. Plötzlich stand sie auf und sagte: »Ich muss mir die Hände waschen.«

»Sara?«

Sie tat Tessas Betroffenheit mit einer Handbewegung ab und versuchte sich zusammenzureißen, bis sie die Toiletten erreicht hatte. Die Tür der Damentoilette klemmte seit Anbeginn der Zeiten, und sie zog mit einem heftigen Ruck an der Klinke. Der kleine, schwarz-weiß gekachelte Raum war kühl. Sie lehnte sich an die Wand, schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, die letzten paar Stunden des Tages aus dem Gedächtnis zu verbannen. Jimmy Powells Laborwerte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Vor zwölf Jahren, als Assistenzärztin am Grady Hospital in Atlanta, hatte sie den Tod kennengelernt. Grady hatte die beste Notaufnahme im Südosten, und Sara hatte ihren Teil an heikelsten Verletzungen zu Gesicht bekommen, angefangen bei dem Jungen, der ein Päckchen Rasierklingen verschluckt hatte, bis zu dem Mädchen, an dem eine Abtreibung mit einem Kleiderbügel aus Metall versucht worden war. Das waren schreckliche Fälle, aber in einer so großen Stadt waren sie dennoch keine Seltenheit.

Manche Fälle in der Kinderklinik, wie der von Jimmy Powells Erkrankung, trafen Sara mit der Wucht einer Abrissbirne. Er würde zu einem jener seltenen Patienten werden, bei denen Sara in ihren beiden professionellen Funktionen würde tätig werden müssen. Jimmy Powell, der so gern beim College-Basketball zuschaute und über eine der größten Sammlungen von Rennwagenmodellen verfügte, die Sara je gesehen hatte, würde mit größter Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres sterben.

Sara bändigte ihr Haar mit einer Spange zum Pferdeschwanz, während sie darauf wartete, dass sich das Waschbecken mit kaltem Wasser füllte. Sie lehnte sich darüber und hielt inne, weil ihr ein Übelkeit erregender, süßlicher Geruch entgegenschlug. Pete hatte wahrscheinlich Essig in den Ablauf geschüttet. Das war ein alter Klempnertrick gegen fauligen Gestank, aber Sara hasste diesen Essiggeruch.

Sie hielt den Atem an und spritzte sich Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass auch das nichts geholfen hatte, sich aber ein nasser Fleck direkt unter dem Halsausschnitt ihres T-Shirts abzeichnete.

»Na toll«, murmelte Sara.

Sie wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab, während sie auf die Kabinen zuging. Nachdem sie den Inhalt eines Toilettenbeckens gesehen hatte, ging sie zur nächsten Kabine, der für Rollstuhlfahrer, und öffnete die Tür.

»Oh«, hauchte Sara und trat schnell zurück. Sie blieb erst stehen, als sie das Waschbecken im Kreuz spürte. Sie stützte sich daran ab. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund und musste sich zwingen, konzentriert zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie ließ den Kopf sinken, schloss die Augen und zählte bis fünf, bevor sie wieder aufsah.

Sibyl Adams, eine Professorin am College, saß auf der Toilette, den Kopf an die gekachelte Wand gelehnt, die Augen geschlossen. Ihre Hose war bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, die Beine waren weit gespreizt. Sie hatte eine Stichwunde im Unterleib. Blut füllte das Toilettenbecken, Blut tropfte auf die Bodenkacheln.

Sara zwang sich, in die Kabine zu gehen, und hockte sich vor die junge Frau. Sibyls Hemd war hochgezogen, und Sara konnte einen langen senkrechten Schnitt erkennen, der über den gesamten Unterleib verlief, den Nabel durchtrennte und am Schambein endete. Ein weiterer Schnitt hatte unter ihren Brüsten eine klaffende waagerechte Wunde hinterlassen. Von ihr stammte auch der größte Teil des Bluts, das noch immer am Körper hinunterrann. Sara legte eine Hand auf die Wunde und versuchte, die Blutung zu stillen, aber das Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, als drückte sie einen Schwamm aus.

Sara wischte sich die Hände am Hemd ab und neigte Sibyls Kopf nach vorn. Ein leises Stöhnen war zu hören, aber Sara vermochte nicht zu sagen, ob nur Luft aus dem Mund einer Leiche entwich oder ob eine noch lebende Frau um Hilfe flehte. »Sibyl?«, flüsterte Sara unter größten Mühen, denn die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

»Sibyl?«, wiederholte sie und schob mit dem Daumen Sibyls Augenlid auf. Die Frau fühlte sich heiß an. Eine Quetschung entstellte die rechte Gesichtshälfte. Sara erkannte den Abdruck einer Faust unter dem Auge. Als sie den blauen Fleck berührte, bewegten sich Knochen unter Saras Fingern und klickten wie zwei Murmeln, die aneinanderstoßen.

Mit zitternder Hand legte Sara die Finger an Sibyls Halsschlagader. Sie spürte ein leichtes Pochen an ihren Fingerspitzen, aber Sara war sich nicht sicher, ob es sich um ihren eigenen Puls handelte oder ob die Frau noch lebte. Sara schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die beiden Empfindungen auseinanderzuhalten.

Ohne Vorwarnung verkrampfte sich der Körper, zuckte heftig, kippte nach vorn und riss Sara zu Boden. Eine Blutlache breitete sich aus, und instinktiv versuchte Sara, die zuckende Frau beiseitezuschieben. Mit Händen und Füßen tastete sie nach einem Halt auf dem glatten Fliesenboden. Schließlich schaffte Sara es, unter der Frau hervorzurutschen. Sie drehte Sibyl auf den Rücken und barg ihren Kopf in den Armen. Plötzlich endeten die Krämpfe. Sara legte ein Ohr an Sibyls Mund, horchte auf Atemgeräusche. Es gab keine.

Sara kniete sich neben Sibyl und drückte auf ihren Brustkorb, in dem Versuch, wieder Leben in ihr Herz zu pressen. Sara hielt der jüngeren Frau die Nase zu und atmete ihr Luft in den Mund. Sibyls Brustkorb hob sich kurz, aber mehr geschah nicht. Sara versuchte es noch einmal und musste würgen, weil die Sterbende ihr Blut in den Mund hustete. Sie spuckte aus und wollte weitermachen, stellte jedoch fest, dass es zu spät war. Sibyls Augen drehten sich nach hinten, und als sie ein letztes Mal zischend ausatmete, schüttelte ein leichter Schauder ihren Körper. Ein Rinnsal aus Urin breitete sich zwischen ihren Beinen aus.

Sie war tot.

2

Grant County war nach dem guten Grant benannt, nicht Ulysses, sondern Lemuel Pratt Grant, einem Eisenbahnunternehmer, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Atlanta-Route weit nach South Georgia hinein und bis zum Meer ausbaute. Auf Grants Schienen transportierten die Züge Baumwolle und andere Waren durch ganz Georgia. Diese Eisenbahnlinie hatte dazu geführt, dass man von Orten wie Heartsdale, Madison und Avondale als Städten Notiz nahm. So manche Stadt in Georgia war nach dem Mann benannt. Zu Beginn des Bürgerkriegs entwickelte Colonel Grant zudem einen Verteidigungsplan für den Fall, dass Atlanta belagert werden sollte; allerdings verstand er sich besser auf Güterzüge als auf Feldzüge.

Während der Depression beschlossen die Bürger von Avondale, Heartsdale und Madison, ihre Polizei, ihre Feuerwehren und auch ihre Schulen unter eine gemeinsame Verwaltung zu stellen. Das half, bei unentbehrlichen öffentlichen Dienstleistungen Geld zu sparen, und bewog außerdem die Bahn, die Grant-Strecke nicht stillzulegen. Als Ganzes war das County nämlich viel größer als die Einzelstädte. 1928 wurde in Madison ein Armeestützpunkt gebaut, das brachte Familien aus allen Teilen der Nation in das winzige Grant County. Ein paar Jahre später wurde Avondale Standort eines Bahnbetriebswerks auf der Strecke Atlanta-Savannah. Nach einigen weiteren Jahren wurde in Heartsdale das Grant College gegründet. Fast sechzig Jahre lang blühte und gedieh das County, bis die Schließung von Garnisonen, Rationalisierungen und die Finanzpolitik der Reagan-Ära die Wirtschaft von Madison und drei Jahre später die von Avondale Schritt für Schritt ruinierte. Wäre das College nicht gewesen, aus dem 1946 eine technische Universität entstand, die sich auf Agrarwesen spezialisierte, hätte Heartsdale denselben Niedergang erlebt wie seine Schwesterstädte.

So war also das College das Herzblut der Stadt, und die oberste Direktive des Bürgermeisters von Heartsdale an den Polizeichef Jeffrey Tolliver lautete, das College bei Laune zu halten, wenn ihm sein Job lieb war. Und genau das tat Jeffrey, als er bei einer Sitzung mit der Campus-Polizei Maßnahmen gegen die seit kurzer Zeit erhebliche Zunahme von Fahrraddiebstählen erörterte. Plötzlich läutete sein Handy. Anfangs erkannte er Saras Stimme nicht und dachte, jemand erlaube sich mit diesem Anruf einen Scherz. In den acht Jahren, die er sie jetzt kannte, hatte Sara kein einziges Mal so verzweifelt geklungen. Ihre Stimme bebte, als sie drei Wörter aussprach, die er nie aus ihrem Mund erwartet hätte: Ich brauche dich.

Jeffrey bog vor den Toren zum College links ab und lenkte seinen Lincoln Town Car die Main Street hinauf in Richtung des Restaurants. Der Frühling hatte in diesem Jahr besonders früh eingesetzt. Die Hartriegelbäume, die die Straße säumten, blühten bereits und tauchten die Straße in ein weißes Blütenmeer. Die Frauen vom Gartenclub hatten Tulpen in Kübel gepflanzt, die die Gehsteige zierten, und ein paar Kids aus der Highschool waren damit beschäftigt, die Straße zu fegen, statt nachzusitzen. Der Besitzer des Textilgeschäfts hatte einen Kleiderständer mit seiner Ware auf den Gehsteig gestellt, und der Haushaltswarenladen hatte im Freien eine Loggia mit Verandaschaukel errichtet. Jeffrey wusste, dass die Szenerie, die ihn im Diner erwartete, einen starken Kontrast bilden würde.

Er kurbelte die Scheibe herunter, um frische Luft in den stickigen Wagen zu lassen. Die Krawatte lag eng um seinen Hals, und er nahm sie ab. Im Geist rekapitulierte er Saras Anruf wieder und wieder, und dabei versuchte er, ihm etwas zu entnehmen, das über die ganz offensichtlichen Fakten hinausging. Sibyl Adams war in einem Diner niedergestochen und getötet worden.

Zwanzig Jahre als Cop hatten Jeffrey dennoch nicht für eine solche Nachricht gerüstet. Die Hälfte seiner Laufbahn hatte er in Birmingham, Alabama, verbracht, wo Mord nur selten eine Überraschung darstellte. Es war selten eine Woche vergangen, ohne dass er gerufen wurde, mindestens einen Mord zu untersuchen, gewöhnlich Folge der extremen Armut in Birmingham: Drogengeschäfte, die schiefgelaufen waren, häusliche Streitigkeiten, bei denen Waffen zu leicht bei der Hand waren. Wenn Saras Anruf aus Madison oder gar Avondale gekommen wäre, hätte Jeffrey das nicht im Geringsten überrascht. Drogen und gewalttätige Auseinandersetzungen unter rivalisierenden Banden wurden in diesen beiden Städten immer häufiger zu Problemen. Heartsdale war das Juwel. In zehn Jahren betraf der einzige verdächtige Todesfall eine alte Frau, die einen Herzschlag bekommen hatte, als sie ihren Enkel dabei erwischte, wie er ihren Fernseher stehlen wollte.

»Chief?«

Jeffrey griff nach seinem Funkgerät. »Yeah?«

Marla Simms, die Telefonistin auf der Dienststelle, sagte: »Ich habe mich um die Sache gekümmert, so wie Sie es wünschten.«

»Gut«, antwortete er und fügte hinzu: »Bis auf Weiteres Funkstille.«

Marla verzichtete auf die naheliegende Frage und schwieg. Grant war schließlich eine Kleinstadt, und sogar auf der Wache gab es Leute, die reden würden. Jeffrey wollte diese Sache so lange unter Verschluss halten, wie es nur ging.

»Verstanden?«, fragte Jeffrey.

Sie antwortete mit einem: »Ja, Sir.«

Jeffrey schob sein Handy in die Jackentasche und stieg aus dem Auto. Frank Wallace, sein dienstältester Detective, stand bereits Wache vor dem Diner.

»Ist jemand rein oder raus?«, fragte Jeffrey.

Er schüttelte den Kopf. »Brad ist an der Hintertür«, sagte er. »Der Alarm ist ausgeschaltet. Ich nehme an, der Täter hat sich das zunutze gemacht, um rein- und wieder rauszukommen.«

Jeffrey blickte erneut auf die Straße. Betty Reynolds, die Besitzerin des Kramladens, fegte den Gehsteig und warf argwöhnische Blicke in Richtung Diner. Bald würden die Leute kommen, wenn nicht von Neugier getrieben, dann von Hunger.

Jeffrey wandte sich an Frank. »Niemand hat was gesehen?«

»Nicht das Geringste«, bestätigte Frank. »Sie ist zu Fuß von zu Hause hierhergekommen. Pete sagte, sie kommt jeden Montag nach dem Mittagsandrang her.«

Jeffrey nickte knapp und betrat das Lokal. Das Grant Filling Station war so etwas wie der Mittelpunkt der Main Street. Mit seinen großen roten Nischen und den gesprenkelten weißen Resopalflächen, mit den Chromgeländern und den verchromten Strohhalmspendern sah es noch fast so aus wie damals, als Petes Vater es eröffnet hatte. Sogar die groben weißen Linoleumfliesen auf dem Boden, die stellenweise so durchgetreten waren, dass man die schwarzen Klebeflächen sah, stammten noch aus der Anfangszeit. Jeffrey hatte in den vergangenen zehn Jahren fast jeden Mittag hier gegessen. Das Lokal war ein Ort der Entspannung, eine vertraute Zuflucht nach der ständigen Auseinandersetzung mit dem Abschaum der Menschheit. Er sah sich im Raum um, wohl wissend, dass für ihn von jetzt an hier nichts mehr so sein würde wie früher.

Tessa Linton saß an der Theke, den Kopf in die Hände gestützt. Pete Wayne saß ihr gegenüber und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Nur an dem Tag, als die Raumfähre Challenger explodiert war, hatte Jeffrey ihn wie heute ohne seine Papiermütze im Lokal gesehen. Petes Haar war auf seinem Kopf hochgesteckt, dadurch wirkte sein Gesicht noch länger, als es ohnehin bereits war.

»Tess?«, fragte Jeffrey und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie lehnte sich weinend an ihn. Jeffrey strich ihr übers Haar und nickte Pete zu.

Pete Wayne war normalerweise ein fröhlicher Mensch, aber heute wirkte er wie versteinert. Er schien Jeffrey kaum wahrzunehmen, starrte unverwandt zu den Fenstern an der Restaurantfront hinaus und bewegte fast unmerklich die Lippen. Es kam kein Ton heraus.

Nach einigen Augenblicken des Schweigens setzte Tessa sich auf. Sie hantierte an dem Serviettenspender, bis Jeffrey ihr sein Taschentuch anbot. Er wartete, bis sie sich die Nase geputzt hatte, und fragte dann: »Wo ist Sara?«

Tessa faltete das Taschentuch zusammen. »Noch immer auf der Toilette. Ich weiß nicht …« Tessas Stimme versagte. »Da war so viel Blut. Sie wollte mich nicht hineinlassen.«

Er nickte und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sara war immer sehr besorgt um ihre kleine Schwester, und während ihrer Ehe hatte sich dieser Beschützerinstinkt auf Jeffrey übertragen. Auch nach der Scheidung hatte Jeffrey noch das Gefühl, dass Tessa und die Lintons seine Familie waren.

»Okay? «, fragte er.

Sie nickte. »Geh nur. Sie braucht dich.«

Jeffrey gab sich Mühe, darauf nicht einzugehen. Wäre Sara nicht Coroner des County, würde er sie nie zu Gesicht bekommen. Es sagte viel über ihre Beziehung aus, dass erst jemand sterben musste, damit sie sich mit ihm im selben Raum aufhielt.

Als er in dem Lokal nach hinten ging, spürte er Beklommenheit in sich aufsteigen. Er wusste, dass eine Gewalttat geschehen war. Er wusste, dass man Sibyl Adams getötet hatte. Aber darüber hinaus hatte er nicht die geringste Ahnung, was ihn erwartete, als er die Tür zur Damentoilette mit einem Ruck öffnete. Was er sah, raubte ihm buchstäblich den Atem.

Sara saß mitten im Raum, Sibyl Adams’ Kopf auf dem Schoß. Überall war Blut, bedeckte den Leichnam, bedeckte Sara, deren Hemd und Hose von oben bis unten durchtränkt waren, als hätte jemand einen Schlauch genommen und sie mit Blut bespritzt. Blutige Schuh- und Handabdrücke hatten Spuren auf dem Fußboden hinterlassen, als sei es hier zu einem furchtbaren Kampf gekommen.

Jeffrey stand in der Türöffnung, ließ alles auf sich wirken und rang nach Luft.

»Mach bitte die Tür zu«, flüsterte Sara, die Hand auf Sibyls Stirn.

Er tat wie geheißen und schritt an der Wand entlang einmal den Raum ab. Sein Mund öffnete sich, aber er brachte kein Wort heraus. Es galt natürlich, die naheliegenden Fragen zu stellen, aber ein Teil von Jeffrey wollte die Antworten gar nicht wissen. Ein Teil von ihm wollte Sara hinausbringen, sie in sein Auto setzen und wegfahren, bis sich keiner von beiden mehr daran erinnern konnte, wie dieser winzige Toilettenraum aussah und roch. Der morbide Geschmack von Gewalt saß fast greifbar und klebrig in seiner Kehle.

»Sie sieht aus wie Lena«, sagte er schließlich. Damit meinte er Sibyl Adams’ Zwillingsschwester, die in seiner Einheit Detective war. »Eine Sekunde lang dachte ich schon …« Er schüttelte den Kopf, konnte nicht fortfahren.

»Lena hat längere Haare.«

»Yeah«, sagte er, unfähig, den Blick von dem Opfer zu wenden. Jeffrey hatte im Laufe der Zeit eine Menge furchtbare Dinge gesehen, aber noch nie das Opfer eines Gewaltverbrechens persönlich gekannt. Nicht dass er Sibyl Adams gut gekannt hatte, aber in einer so kleinen Stadt wie Heartsdale waren eigentlich alle Nachbarn.

Sara räusperte sich. »Hast du es Lena schon gesagt?«

Ihre Frage traf ihn wie ein Hammerschlag. Nach zwei Wochen im Amt als Polizeichef hatte er Lena Adams direkt von der Akademie in Macon eingestellt. In jenen ersten Tagen war sie wie Jeffrey ein Außenseiter. Acht Jahre später hatte er sie zum Detective befördert. Mit dreiunddreißig Jahren war sie der jüngste Detective und zudem die einzige Frau unter den höheren Beamten. Und jetzt war ihre Schwester gleichsam auf ihrem Hinterhof ermordet worden, kaum zweihundert Meter vom Polizeirevier entfernt. Das Gefühl, auf irgendeine Weise persönlich dafür verantwortlich zu sein, raubte ihm fast den Atem.

»Jeffrey?«

Jeffrey atmete tief ein und langsam wieder aus. »Sie bringt gerade Beweismittel nach Macon«, antwortete er schließlich. »Ich habe die Highway-Streife angerufen und darum gebeten, dass man sie herschickt.«

Sara sah ihn an. Ihre Augen waren rot gerändert, aber sie hatte nicht geweint.

»Wusstest du, dass sie blind war?«, fragte sie.

Jeffrey lehnte sich an die Wand. Irgendwie hatte er diese Tatsache vergessen. »Sie konnte es nicht einmal sehen«, flüsterte Sara und sah auf Sibyl hinab. Wie gewöhnlich hatte Jeffrey keine Ahnung, was Sara dachte. Er beschloss zu warten, bis sie das Wort ergriff. Offenbar brauchte sie eine Weile, um ihre Gedanken zu ordnen. Er vergrub die Hände in den Taschen und ließ den Blick schweifen. Es gab zwei Kabinen mit Holztüren gegenüber eines alten Waschbeckens, das keinen Mischhahn, sondern separate Hähne für kaltes und warmes Wasser hatte. Darüber hing ein gesprenkelter Spiegel in goldenem Rahmen, dessen Farbe abblätterte. Der Raum war keine zehn Quadratmeter groß, und die winzigen schwarzen und weißen Kacheln auf dem Boden ließen ihn noch kleiner erscheinen. Die dunkle Blutlache um den Leichnam verstärkte diesen Eindruck. Mit Klaustrophobie hatte Jeffrey nie Probleme gehabt, aber Saras Schweigen wirkte wie die Anwesenheit einer vierten Person. Im Bemühen um Distanz sah er hinauf zur weißen Decke. Endlich sprach Sara. Ihre Stimme war kräftiger. »Sie saß auf der Toilette, als ich sie gefunden habe.«

Da ihm nichts Besseres einfiel, holte Jeffrey einen kleinen Notizblock mit Spiralbindung hervor. Er zog einen Stift aus der Brusttasche und schrieb mit, während Sara die Ereignisse bis zum gegenwärtigen Augenblick schilderte. Ihre Stimme wurde ausdruckslos, als sie Sibyls Tod in allen klinischen Einzelheiten schilderte.

»Dann habe ich Tess gebeten, mir mein Handy zu bringen.« Sara verstummte, und Jeffrey beantwortete ihre Frage, noch bevor sie sie gestellt hatte.

»Sie ist okay«, beruhigte er sie. »Auf dem Weg hierher hab ich Eddie angerufen.«

»Hast du ihm gesagt, was passiert ist?«

Jeffrey versuchte ein Lächeln. Saras Vater zählte nicht zu seinen größten Fans. »Ich hatte Glück, dass er nicht einfach aufgelegt hat.«

Sara wirkte nicht gerade amüsiert, aber jetzt endlich sah sie Jeffrey in die Augen. In ihrem Blick war eine Verletzlichkeit, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. »Ich muss die Vorbeschau machen, dann können wir sie ins Leichenschauhaus bringen.«

Jeffrey schob den Notizblock in die Jackentasche, während Sara Sibyls Kopf behutsam auf dem Boden ablegte. Sie ging in die Hocke und wischte die Hände an ihrer Hose ab.

Sie sagte: »Ich möchte, dass sie hergerichtet wird, bevor Lena sie zu sehen bekommt.«

Jeffrey nickte. »Sie braucht noch mindestens zwei Stunden. Da sollten wir genug Zeit haben, um die Spuren zu sichern.« Er deutete auf die Kabinentür. Das Schloss war aufgebrochen worden. »War das Schloss schon in dem Zustand, als du sie gefunden hast?«

»Das Schloss ist in dem Zustand, seit ich sieben war«, sagte Sara und zeigte auf ihre Aktentasche neben der Tür. »Reich mir mal ein Paar Handschuhe.«

Jeffrey öffnete die Tasche und achtete darauf, dass er die blutigen Griffe nicht berührte. Aus einer Innentasche zog er ein Paar Latexhandschuhe. Als er sich umdrehte, stand Sara zu Füßen der Leiche. Trotz der Blutflecke auf ihrer Kleidung schien sie sich wieder unter Kontrolle zu haben.

Dennoch musste er sie fragen: »Bist du sicher, dass du das hier tun willst? Wir könnten auch jemanden aus Atlanta kommen lassen.«

Sara schüttelte den Kopf, während sie sich routiniert die Handschuhe überstreifte. »Ich will nicht, dass ein Fremder sie berührt.«

Jeffrey verstand, was sie meinte. Das hier war eine Angelegenheit des County. Deshalb würden sich auch diejenigen, die zum County gehörten, ihrer annehmen.

Sara stemmte die Hände in die Hüften und ging um die Leiche herum. Er wusste, dass sie versuchte, einen unbefangenen Blick für das Geschehen zu gewinnen, sich selbst aus der Gleichung auszuklammern. Jeffrey ertappte sich dabei, dass er seine ehemalige Frau genau musterte, während sie das tat. Sara war hochgewachsen, über eins achtzig groß, mit dunkelgrünen Augen und braunrotem Haar. Er ließ seine Gedanken schweifen, erinnerte sich daran, wie gut es gewesen war, mit ihr zusammen zu sein, als der scharfe Ton ihrer Stimme ihn in die Realität zurückriss.

»Jeffrey!«, bellte Sara und sah ihn streng an.

Er starrte zurück, und er merkte, dass seine Gedanken an einen anderen, scheinbar sichereren Ort gewandert waren.

Sie hielt seinem Blick noch einen Moment stand und wandte sich dann zur Toilettenkabine um. Jeffrey nahm noch ein Paar Handschuhe aus ihrer Tasche und streifte sie über, während Sara redete.

»Wie ich schon sagte«, fuhr sie fort, »saß sie auf der Toilette, als ich sie gefunden habe. Wir haben das Gleichgewicht verloren und sind zu Boden gefallen, und danach habe ich sie auf den Rücken gedreht.«

Sara besah sich Sibyls Hände und untersuchte die Fingernägel. »Nichts. Ich vermute, sie wurde überrascht und wusste gar nicht, wie ihr geschah.«

»Glaubst du, es ist schnell gegangen?«

»So schnell auch wieder nicht. Was er getan hat, sieht für mich aus wie geplant. Der Tatort war sehr sauber, bis ich gekommen bin. Sie wäre in die Toilettenschüssel ausgeblutet.« Sara wandte den Blick ab. »Oder sie wäre gar nicht verblutet, wenn ich nicht zu spät hier aufgetaucht wäre.«

Jeffrey versuchte sie zu trösten. »Wie willst du das wissen?«

Sie reagierte mit einem Achselzucken. »Da sind ein paar Quetschungen an ihren Handgelenken, wo sie gegen die Haltegriffe gestoßen ist. Und außerdem«, sie spreizte Sibyls Beine ein wenig, »sieh mal hier, an ihren Beinen.«

Jeffrey folgte ihrer Aufforderung. An der Innenseite beider Knie war die Haut abgeschürft. »Was ist das?«, fragte er.

»Der Toilettensitz«, sagte sie. »Die untere Kante ist ziemlich scharf. Ich vermute, sie hat die Beine zusammengepresst, als sie sich zur Wehr setzte. Man kann sehen, dass Haut daran haften geblieben ist.«

Jeffrey warf einen Blick auf die Toilette und sah dann wieder Sara an. »Meinst du, er hat sie auf der Toilette nach hinten gedrückt und dann zugestochen?«

Sara antwortete nicht. Stattdessen wies sie auf Sibyls nackten Rumpf. »Der Schnitt ist nicht tief bis etwa zur Mitte des Kreuzes«, erklärte sie und drückte auf den Bauch, um die Wunde so zu öffnen, dass er sah, was sie meinte. »Ich nehme an, es war eine doppelseitige Klinge. Man erkennt die V-Form beiderseits des Schnitts.« Ohne Zögern ließ Sara den Zeigefinger in die Wunde gleiten, die schmatzend nachgab. Jeffrey schluckte und wandte den Blick ab. Als er sich wieder umdrehte, sah Sara ihn fragend an.

»Alles okay?«

Er nickte stumm.

Sie bewegte den Finger in dem klaffenden Loch in Sibyl Adams’ Brust. Blut sickerte aus der Wunde. »Ich würde sagen, es handelt sich mindestens um eine Zehn-Zentimeter-Klinge«, schloss sie und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. »Ist dir das hier unangenehm?«

Er schüttelte den Kopf, obwohl sich ihm bei dem Laut der Magen umdrehte.

Sara ließ den Finger wieder herausgleiten und fuhr fort: »Es war eine sehr scharfe Klinge. An dem Einstich weist nichts auf ein Zögern hin, also muss er von Anfang an genau gewusst haben, was er tat.«

»Und was war das?«

Ihr Tonfall war sachlich. »Er hat ihr ein Zeichen in den Unterleib geschlitzt. Die Schnitte sind sehr überlegt ausgeführt, einmal von oben nach unten, einmal quer und dann noch ein Stich in den Oberkörper. Ich denke, das war die tödliche Wunde. Todesursache ist wahrscheinlich Verbluten.«

»Sie ist verblutet?«

Sara zuckte die Achseln. »Im Augenblick deutet noch alles darauf hin, ja. Sie ist verblutet. Es hat ungefähr zehn Minuten gedauert. Die Krämpfe waren Folge des Schocks.«

Jeffrey deutete auf die Wunden. »Das ist doch ein Kreuz, oder?«

Sara schaute sich die Schnitte genau an. »Würde ich auch sagen. Was anderes kann es doch kaum sein, oder?«

»Meinst du, es soll so etwas wie eine religiöse Message sein?«

»Wer kann das bei einer Vergewaltigung schon sagen?«, erwiderte sie und stutzte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Was?«

»Sie wurde vergewaltigt?«, fragte er und suchte bei Sibyl Adams nach Anzeichen von Gewaltanwendung. Es waren jedoch weder Quetschungen an ihren Oberschenkeln noch Abschürfungen im Beckenbereich zu entdecken. »Hast du was gefunden?«

Sara schwieg. Schließlich sagte sie: »Nein. Ich meine, ich weiß nicht.«

»Was hast du denn gefunden?«

»Nichts.« Ihre Gummihandschuhe schnalzten, als sie sie von den Fingern zog. »Nur das, was ich dir gesagt habe. Ich kann das auch im Schauhaus zu Ende bringen.«

»Ich kann nicht …«

»Ich werde Carlos anrufen, damit er sie abholt«, sagte sie und meinte damit ihren Assistenten. »Treffen wir uns dort, wenn du hier fertig bist, okay?« Als er nicht antwortete, sagte sie: »Wegen der Vergewaltigung, ich weiß es nicht, Jeff. Wirklich nicht. Es war nur eine Vermutung.«

Jeffrey wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nämlich nur zu genau, dass seine Ex-Frau auf ihrem Fachgebiet niemals Vermutungen anstellte. »Sara?«, fragte er. Und dann: »Geht es dir gut?«

Sara lachte zynisch. »Ob es mir gut geht?«, wiederholte sie. »Mein Gott, Jeffrey, was für eine blöde Frage.« Sie ging zur Tür und sagte bestimmt: »Du musst die Bestie finden, die das hier getan hat.«

»Ich weiß.«

»Nein, Jeffrey.« Sara drehte sich um und sah ihn durchdringend an. »Das hier ist ein ritueller Gewaltakt, keine Zufallstat. Sieh dir ihren Körper an. Sieh doch, wie sie hier zurückgelassen wurde.« Sara hielt kurz inne. »Wer immer Sibyl Adams getötet hat, muss seine Tat sorgfältig geplant haben. Er wusste, wo er sie finden konnte. Er ist ihr auf die Toilette gefolgt. Das hier ist ein kalkulierter Mord, verübt von jemandem, der damit ein Zeichen setzen wollte.«

Als ihm klar wurde, dass sie recht hatte, fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte diese Art von Mord schon gesehen. Er wusste ganz genau, wovon sie sprach. Das war nicht das Werk eines Amateurs. Wer immer dies hier getan hatte, putschte sich wahrscheinlich schon zu einer weitaus grausameren Tat auf.

Sara schien immer noch nicht zu glauben, dass er verstanden hatte. »Meinst du, dass er es bei einem Mord belassen wird?«

Diesmal zögerte Jeffrey keine Sekunde. »Nein.«

3

Lena Adams hatte einen blauen Honda Civic vor sich und betätigte stirnrunzelnd die Lichthupe. Die ausgeschilderte Geschwindigkeitsbegrenzung auf diesem Stück der Georgia 1-20 war fünfundsechzig, aber wie die meisten Bewohner Georgias sah auch Lena in den Schildern kaum mehr als einen wohlgemeinten Rat an die Touristen, die nach Florida fuhren oder von dort kamen. Und wie konnte es auch anders sein – die Nummernschilder des Civic waren aus Ohio.

»Nun mach schon«, stöhnte sie und schaute auf den Tacho. Sie war eingeklemmt zwischen einem riesigen Laster zu ihrer Rechten und dem Yankee in seinem Civic vor sich, der anscheinend entschlossen war, sie nur ein bisschen über der erlaubten Geschwindigkeit zu halten. Einen Moment lang wünschte sich Lena, sie hätte einen der Streifenwagen von Grant County genommen. Nicht nur, dass es sich darin angenehmer fuhr als in ihrem Celica, sondern überdies hatte man das Vergnügen, den Rasern einen Höllenschreck einjagen zu können.

Wie durch ein Wunder wurde der Laster langsamer und ließ den Civic einscheren. Lena reagierte auf die rüde Geste des Fahrers mit einem fröhlichen Winken. Sie konnte nur hoffen, dass er seine Lektion gelernt hatte. Eine Autofahrt durch den Süden war Darwinismus in Reinkultur.

Der Tacho des Celica kletterte auf fünfundachtzig, als sie die Stadtgrenze von Macon hinter sich ließ. Lena nahm eine Kassette aus der Hülle. Sibyl hatte ihr Musik ausschließlich zum Autofahren aufgenommen. Lena legte die Kassette ein und lächelte, als die Musik anfing, weil sie die ersten Takte von Joan Jetts »Bad Reputation« erkannte. Dieser Song war während ihrer Highschool-Zeit die Hymne der Schwestern gewesen, und sie waren an so manchem Abend spät über abgelegene Straßen gerast und hatten lauthals »Ich geb einen Scheiß auf meinen schlechten Ruf« gesungen. Dank eines auf Abwege geratenen Onkels wurden die Mädchen zum armen weißen Pack gezählt, ohne wirklich besonders arm zu sein oder gar, dank ihrer halb spanischen Mutter, sonderlich weiß.

Beweismaterial zum Labor des Georgia Bureau of Investigation nach Macon zu transportieren war, im Großen und Ganzen betrachtet, kaum mehr als ein Kurierjob, aber Lena war froh, dafür eingeteilt worden zu sein. Jeffrey hatte gesagt, sie könne den Tag nutzen, um sich abzuregen. Das hieß, freundlich ausgedrückt, sie möge ihr hitziges Temperament unter Kontrolle bringen. Frank Wallace und Lena kriegten sich ständig in die Wolle wegen eines Problems, das von Anfang an ihre partnerschaftliche Zusammenarbeit beeinträchtigt hatte. Der achtundfünfzigjährige Frank war nämlich nicht besonders erbaut, dass Frauen bei der Polizei Dienst taten, und noch weniger gern sah er eine Frau als Partnerin an seiner Seite. Sehr oft schloss er Lena bei Ermittlungen aus, während sie ständig versuchte, ihre Beteiligung zu erzwingen. Es musste etwas passieren. Da Frank jedoch in zwei Jahren pensioniert wurde, wusste Lena, dass sie eigentlich nur in Ruhe abzuwarten brauchte.

In Wahrheit war Frank gar kein so übler Kerl. Auch wenn er unter jener Verschrobenheit litt, die fortgeschrittenes Alter mit sich bringt, schien er sich doch alle Mühe zu geben. An einem guten Tag vermochte sie zu erkennen, dass seine anmaßende Art nicht seinem Ego entstammte, sondern tiefer begründet war. Er zählte zu der Sorte Männer, die Frauen die Türen aufhielten, und im Haus nahm er stets seinen Hut ab. Frank war sogar bei den Freimaurern. So jemand ließ seine Kollegin keine Vernehmung führen, geschweige denn, dass er ihr das Kommando bei einer Razzia überließ. An einem schlechten Tag hätte Lena ihn am liebsten in seine Garage gesperrt und den Motor seines Wagens gestartet.

Jeffrey hatte recht damit gehabt, dass der Ausflug ihr half, sich abzuregen. Lena war zeitig in Macon angekommen, hatte dank der Sechszylindermaschine des Celica eine halbe Stunde wettgemacht. Sie mochte ihren Boss, der das absolute Gegenteil von Frank Wallace war. Frank handelte strikt aus dem Bauch heraus, während Jeffrey eher ein Kopfmensch war. Jeffrey zählte zudem zu jenen Männern, die sich in Gesellschaft von Frauen wohlfühlten und nichts dagegen hatten, wenn diese ihre Meinung zum Ausdruck brachten. Die Tatsache, dass er Lena schon vom ersten Tag an dazu motiviert hatte, einmal den Rang eines Detective zu bekleiden, war ihr nicht entgangen. Jeffrey hatte sie nicht befördert, um eine vom County festgelegte Quote zu erfüllen oder um besser dazustehen als sein Vorgänger: Das hier war schließlich Grant County, mit einer Stadt, die bis vor fünfzig Jahren noch auf keiner Landkarte verzeichnet gewesen war. Jeffrey hatte Lena den Job anvertraut, weil er ihre Arbeit und ihren Verstand schätzte. Die Tatsache, dass sie eine Frau war, hatte damit nichts zu tun.

»Scheiße«, zischte Lena, als sie das Blaulicht hinter sich aufblitzen sah. Sie ging vom Gas und fuhr rechts ran, der Civic fuhr an ihr vorbei. Der Yankee hupte und winkte. Jetzt war Lena an der Reihe, dem Mann aus Ohio den Finger zu zeigen.

Der Beamte der Georgia Highway Patrol stieg in aller Ruhe aus seinem Wagen. Lena griff nach ihrer Handtasche auf dem Rücksitz und kramte nach ihrer Dienstmarke. Als sie sich wieder umdrehte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass der Cop direkt hinter ihrem Wagen stand. Die Hand hatte er an der Waffe, und sie hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie nicht gewartet hatte, bis er näher herangekommen war. Wahrscheinlich nahm er jetzt an, dass sie nach ihrer Waffe suchte.

Lena ließ die Dienstmarke in den Schoß fallen und hob die Hände. »Tut mir leid«, sagte sie durch das offene Fenster.

Der Cop trat zögernd einen Schritt auf sie zu, und seine kantigen Kiefer mahlten, als er neben dem Wagen stand. Er nahm die Sonnenbrille ab und musterte sie prüfend.

»Hören Sie«, sagte sie, die Hände noch immer erhoben. »Ich bin im Dienst.«

Er unterbrach sie. »Sind Sie Detective Salina Adams?«

Sie senkte die Hände und sah den Streifenpolizisten fragend an. Er war recht klein, aber sein Oberkörper war derart muskulös, als wollte er damit den Mangel an Körpergröße kompensieren. Seine Arme waren so dick, dass sie vom Körper abstanden. Sein Oberkörper schien aus den Nähten seiner uniform zu platzen.

»Lena«, sagte sie und warf einen Blick auf sein Namensschild. »Kenne ich Sie?«

»Nein, Ma’am«, erwiderte er und stülpte sich seine Sonnenbrille wieder auf. »Wir haben einen Anruf von Ihrem Chief bekommen. Ich soll Sie nach Grant County zurückbegleiten.«

»Wie bitte?«, fragte Lena, überzeugt, sich verhört zu haben. »Von meinem Chief? Von Jeffrey Tolliver?«

Er nickte kurz. »Ja, Ma’am.« Bevor sie ihm eine weitere Frage stellen konnte, war er schon auf dem Rückweg zu seinem Wagen. Lena wartete, bis er wieder auf die Straße gefahren war, und setzte sich hinter ihn. Er beschleunigte zügig und fuhr neunzig. Sie überholten den blauen Civic, aber Lena scherte sich nicht darum. Sie konnte nur denken: »Was hab ich denn diesmal verbrochen?«

4

Obwohl das Heartsdale Medical Center den markanten Abschluss der Main Street bildete, wirkte es nicht halb so imposant, wie sein Name hätte vermuten lassen. Gerade eben zwei Stockwerke hoch, war das kleine Krankenhaus zu kaum mehr in der Lage, als sich der Schürfwunden und verdorbenen Mägen anzunehmen, die nicht auf die Sprechstunden der Ärzte warten konnten. Ungefähr dreißig Minuten entfernt gab es in Augusta ein größeres Krankenhaus, in dem die schwereren Fälle behandelt wurden. Hätte sich nicht das Leichenschauhaus des County in seinem Kellergeschoss befunden, wäre das Medizinische Zentrum schon vor langer Zeit abgerissen worden, um einem Studentenwohnheim zu weichen.

Wie der Rest der Stadt war auch das Krankenhaus während des Aufschwungs in den Dreißigerjahren erbaut worden. Erdgeschoss sowie erster Stock waren seither renoviert worden, aber das Leichenschauhaus war der Krankenhausverwaltung offenbar weniger wichtig. Die Wände waren mit hellblauen Fliesen gekachelt, die so alt waren, dass sie langsam wieder in Mode kamen. Die Fußböden waren mit braunem und grünem Linoleum im Karomuster ausgelegt. Die Decke hatte so manchen Wasserschaden erlitten, war aber fast immer wieder ausgebessert worden. Die Geräte waren veraltet, aber sie funktionierten.

Saras Büro befand sich im rückwärtigen Teil, vom Rest des Leichenschauhauses durch ein großes Glasfenster abgetrennt. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, schaute aus dem Fenster und gab sich alle Mühe, ihre Gedanken zu sammeln. Sie konzentrierte sich auf das stete Rauschen im Leichenschauhaus: das Surren des Kompressors für den Gefrierschrank, das Plätschern des Wassers aus dem Schlauch, mit dem Carlos den Fußboden abspritzte. Da sie sich unter der Erde befanden, wurden die Geräusche von den Wänden des Leichenschauhauses eher geschluckt als zurückgeworfen, und irgendwie empfand sie das vertraute Summen und Brummen als beruhigend. Das schrille Läuten des Telefons durchbrach die Ruhe.

»Sara Linton«, sagte sie, denn sie rechnete mit Jeffrey. Stattdessen meldete sich ihr Vater.

»He, Baby.«

Sara lächelte. Beim Klang von Eddie Lintons Stimme wurde ihr leichter ums Herz. »He, Daddy.«

»Ich hätte einen Witz für dich.«

»So?« Sie versuchte unbefangen zu wirken, denn sie wusste, dass ihr Vater dazu neigte, seinen Stress mit Humor zu bewältigen. »Und wie geht der?«

»Ein Kinderarzt, ein Anwalt und ein Priester sind auf der Titanic, als die zu sinken beginnt«, fing er an. »Der Kinderarzt sagt: ›Rettet die Kinder!‹ Der Anwalt sagt: ›Scheiß auf die Kinder!‹ Und der Priester sagt: ›Haben wir dazu noch Zeit?‹«

Sara lachte, aber eigentlich nur, um ihrem Vater den Gefallen zu tun. Er schwieg, wartete wohl darauf, dass sie etwas sagte. »Wie geht’s Tessie?«

»Macht ein Nickerchen«, wusste er zu berichten. »Und wie geht’s dir?«

»Ach, alles in Ordnung.« Sara zeichnete Kreise auf ihren Kalender. Eigentlich kritzelte sie nie, aber sie musste einfach etwas mit ihren Händen anfangen. Einerseits hätte sie gern in ihrer Tasche nachgeschaut, ob Tessa daran gedacht hatte, die Postkarte hineinzulegen. Andererseits wollte sie gar nicht wissen, wo die Karte war.

Eddie unterbrach ihre Gedanken. »Mom sagt, du musst morgen zum Frühstück kommen.«

»So?«, fragte Sara und zeichnete Quadrate um die Kreise.

Seine Stimme intonierte einen Singsang. »Waffeln und Hafergrütze und Toast und Speck.«

»He«, sagte Jeffrey.

Sara hob ruckartig den Kopf und ließ den Stift fallen. »Du hast mich erschreckt«, sagte sie, und dann zu ihrem Vater: »Daddy, Jeffrey ist hier…«

Eddie Linton gab eine Reihe unverständlicher Töne von sich. Seiner Meinung nach half bei allen Problemen mit Jeffrey Tolliver nur ein exakt gezielter Steinwurf an den Kopf.

»Also gut«, sagte Sara in den Hörer und bedachte Jeffrey mit einem verkniffenen Lächeln. Er betrachtete die Gravur im Glas, wo ihr Vater ein Stück Klebeband über den Nachnamen TOLLIVER geklatscht und dann mit schwarzem Filzschreiber LINTON darauf geschrieben hatte. Da Jeffrey Sara mit der einzigen Graveurin der Stadt betrogen hatte, stand zu bezweifeln, dass die Beschriftung in näherer Zeit professioneller korrigiert werden würde.

»Daddy«, unterbrach Sara, »ich seh dich dann morgen früh.« Sie legte auf, bevor er etwas entgegnen konnte.

Jeffrey sagte: »Lass mich raten – er lässt mir liebe Grüße ausrichten?«

Sara ignorierte den Kommentar, denn sie wollte sich auf kein persönliches Gespräch mit Jeffrey einlassen. So umgarnte er sie nämlich. Wiegte sie in dem glauben, ein ganz normaler Mann zu sein, der zu Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft in der Lage war, während dieser Jeffrey in Wirklichkeit wahrscheinlich schon in dem Moment, da er das Gefühl hatte, Saras Wohlwollen wieder erworben zu haben, einen Strang suchte, über den er schlagen konnte.

Er sagte: »Wie geht’s denn Tessa so?«

»Gut«, sagte Sara. Sie nahm ihre Brille aus dem Etui und setzte sie auf. »Wo ist Lena?«

Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Noch ungefähr eine Autostunde entfernt. Frank lässt mich ausrufen, wenn es nur noch zehn Minuten sind.«

Sara stand auf und zupfte ihre weiße Arzthose an der Taille zurecht. Sie hatte oben im Krankenhaus geduscht und ihre blutige Kleidung in einen Beutel für Beweismittel gesteckt für den Fall, dass sie für den Prozess benötigt wurde.

Sie fragte: »Hast du dir überlegt, was du ihr sagen willst?«

Er schüttelte verneinend den Kopf. »Ich hoffe nur, wir finden etwas Konkretes, bevor ich mit ihr spreche. Lena ist ein Cop. Sie wird Antworten wollen.«

Sara lehnte sich über die Tischplatte und klopfte an die Scheibe. Carlos sah auf. »Sie können jetzt gehen«, sagte sie. Dann fügte sie erklärend zu Jeffrey hinzu: »Er bringt noch Blut- und Urinproben ins Labor. Die werden dort heute Abend noch untersucht.«

»Gut.«

Sara lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Hast du was Brauchbares in der Toilette gefunden?«

»Wir haben ihren Stock und ihre Brille hinter dem Toilettenbecken gefunden. Alles sauber gewischt.«

»Und die Kabinentür?«

»Nichts«, sagte er. »Ich meine, nicht nichts, aber jede Frau der Stadt ist da schon rein und raus. Beim letzten Zählen hatte Matt schon über fünfzig verschiedene Abdrücke.« Er zog einige Polaroids aus der Tasche und warf sie auf den Schreibtisch. Außer Nahaufnahmen der Leiche auf dem Boden waren darunter auch Bilder von Saras blutigem Schuh und von Handabdrücken.

Sara nahm eines der Bilder und sagte: »Ich schätze, es war nicht gerade hilfreich, dass ich am Tatort Spuren hinterlassen habe.«

»Du hattest ja wohl kaum eine andere Wahl.«

Sie behielt ihre Gedanken für sich und ordnete die Bilder in eine logische Reihenfolge.

Er wiederholte ihre frühere Einschätzung. »Wer immer das getan hat, wusste genau, was er wollte. Er wusste, dass sie das Restaurant allein besuchen würde. Er wusste, dass sie nicht sehen konnte. Er wusste, dass das Lokal um diese Tageszeit kaum besucht war.«

»Meinst du, er hat sie erwartet?«

Jeffrey reagierte mit einem Achselzucken. »Scheint jedenfalls so. Er ist wahrscheinlich durch die Hintertür hereingekommen und wieder hinausgegangen. Pete hatte die Alarmanlage abgeschaltet, damit sie die Tür zum Lüften offenlassen konnten.«

»Yeah«, sagte sie. Sie entsann sich, dass die Hintertür des Esslokals öfter geöffnet als zugesperrt war.

»Also sind wir auf der Suche nach jemandem, der sich mit ihren Aktivitäten auskannte, stimmt’s? Und der mit den Räumen des Lokals und ihrer Anordnung vertraut war.«

Sara wollte diese Frage nicht beantworten, denn sie unterstellte, dass der Mörder jemand war, der in Grant wohnte, jemand, der die Leute und die Lokale so gut kannte wie ein Ortsansässiger. Stattdessen stand sie auf und ging zu dem Aktenschrank aus Metall auf der anderen Seite ihres Schreibtisches. Sie nahm einen frischen Laborkittel heraus, streifte ihn über und sagte: »Ich habe bereits Röntgenaufnahmen gemacht und ihre Kleidung untersucht. Sie ist so weit fertig.«

Jeffrey drehte sich um und musterte den Tisch, der mitten im Leichenschauhaus stand. Auch Sara blickte dorthin, und es kam ihr vor, als sei Sibyl Adams im Tod viel kleiner als zu Lebzeiten.

Jeffrey fragte: »Hast du sie gut gekannt?«

Sara geriet ins Grübeln. Schließlich sagte sie: »Ich denke schon. Wir haben beide letztes Jahr in der Mittelschule Berufsberatung gemacht. Und dann bin ich ihr, wie du weißt, manchmal in der Bibliothek begegnet.«

»In der Bibliothek?«, staunte Jeffrey. »Ich dachte, sie war blind.«

»Aber es gibt doch auch Hörbücher.« Sie blieb direkt vor ihm stehen und verschränkte die Arme. »Du, ich muss dir was sagen. Lena und ich hatten vor einigen Wochen Streit.«

Offensichtlich war er überrascht. Sara hatte es auch überrascht, es gab nicht viele Leute in der Stadt, mit denen sie nicht auskam. Aber Lena Adams gehörte offenbar dazu.

Sara erläuterte: »Sie hat Nick Shelton vom GBI angerufen und um einen toxikologischen Bericht zu einem Fall nachgesucht.«

Jeffrey schüttelte verständnislos den Kopf. »Wieso denn das?«

Sara zuckte die Achseln. Sie wusste immer noch nicht, warum Lena sie übergangen hatte, zumal bekannt war, dass Sara sehr gut mit Nick Shelton zusammenarbeitete, dem Außenagenten des Georgia Bureau of Investigation für Grant County.

»Und?«, beharrte Jeffrey.

»Ich weiß nicht, was Lena damit erreichen wollte, dass sie Nick direkt anrief. Wir haben das dann aus der Welt geschafft. Es floss zwar kein Blut, aber ich möchte auch nicht behaupten, dass wir als Freundinnen auseinandergegangen sind.«

Lena stand in dem Ruf, gern andere Leute vor den Kopf zu stoßen. Als Sara und Jeffrey noch verheiratet gewesen waren, hatte Jeffrey oft über Lenas Temperamentsausbrüche geklagt.

»Wenn sie«, er hielt inne, »wenn sie vergewaltigt worden ist, Sara. Ich weiß ja nicht.«

»Fangen wir an«, antwortete Sara eilig und ging an ihm vorbei in den Leichenschauraum. Sie blieb vor dem Materialschrank stehen, weil sie einen Chirurgenkittel suchte. Sie blieb, die Hände an den Schranktüren, stehen und spulte im Geiste noch einmal ihr Gespräch ab.

»Sara?«, fragte er. »Stimmt was nicht?«

Sara fühlte Zorn über seine dumme Frage in sich aufsteigen. »Ob etwas nicht stimmt?« Sie fand den sterilen Kittel und knallte die Türen mit solcher Wucht zu, dass der Metallrahmen schepperte. Sara drehte sich um und riss die Folie auf. »Was nicht stimmt, ist, dass ich es leid bin, von dir ständig gefragt zu werden, ob etwas nicht stimmt, wenn so verdammt klar ist, was nicht stimmt.« Sie hielt inne, riss den Kittel ungeduldig aus der Verpackung. »Denk doch mal nach, Jeffrey. Heute ist eine Frau buchstäblich in meinen Armen gestorben. Und es war keine Fremde, sondern eine Frau, die ich kannte. Ich sollte jetzt zu Hause sein, ausgiebig duschen oder mit den Hunden spazieren gehen, aber stattdessen muss ich jetzt da rübergehen und sie aufschneiden und sie noch schlimmer zurichten. Damit ich sagen kann, ob du anfangen solltest, alle Perversen der Stadt zum Verhör zu holen oder nicht.«

Ihre Hände zitterten vor Zorn, als sie den Kittel überzuziehen versuchte. Ein Ärmel hatte sich verdreht, und sie drehte sich, um besser an ihn heranzukommen. Jeffrey sprang ihr bei.

Übellaunig fuhr sie ihn an: »Ich schaff’s schon alleine.«

Er hob die Hände, als wolle er sich ergeben. »Tut mir leid.«

Sara bekam die Bänder des Kittels nicht zu fassen und brachte es schließlich fertig, sie falsch zu knoten. »Scheiße«, zischte sie und versuchte krampfhaft, den Knoten wieder zu lösen.

»Ich könnte Brad überreden, mit den Hunden Gassi zu gehen«, erbot sich Jeffrey.

Sara ließ resigniert die Hände sinken. »Darum geht es doch gar nicht, Jeffrey.«

»Ich weiß«, erwiderte er, nahm die Bänder und begann, den Knoten zu lösen. Sie ließ ihren Blick zu seinem Hinterkopf wandern, wo sie ein paar graue Strähnen zwischen den schwarzen Haaren bemerkte. Am liebsten hätte sie ihn dazu gebracht, dass er sie tröstete und nicht immer nur versuchte, aus allem einen Witz zu machen. Sie wünschte sich, dass er wie durch ein Wunder Einfühlungsvermögen entwickelte. Aber nach zehn Jahren hätte sie es besser wissen müssen.

Er lockerte den Knoten mit einem Grinsen, als hätte er durch diese simple Handlung schlagartig alles zum Guten gewendet.

Sara nahm die Bänder und machte eine Schleife.

Er berührte ihr Kinn. »Alles okay«, sagte er, und diesmal war es keine Frage.

»Yeah«, stimmte sie zu und trat einen Schritt zur Seite. »Alles okay.« Sie nahm ein Paar Einweghandschuhe und machte sich an die Arbeit. »Bringen wir die äußere Leichenschau hinter uns, bevor Lena zurückkommt.«

Sara trat an den Autopsietisch aus Keramik, der in der Raummitte im Fußboden verankert war. Die weiße Tischplatte mit nach oben gebogenen Rändern umfing Sibyls zarten Körper. Carlos hatte ihren Kopf auf einen schwarzen Gummiblock gebettet und ein weißes Tuch über sie gebreitet. Wäre da nicht die schwarze Stelle über ihrem Auge gewesen, hätte man annehmen können, dass sie schlief.

»Mein Gott«, flüsterte Sara, als sie das Tuch wegzog. Der Abtransport des Leichnams vom Tatort hatte noch schlimmeren Schaden angerichtet. Im grellen Licht des Leichenschauhauses waren alle Merkmale der Wunde überdeutlich zu erkennen. Die Einschnitte im Abdomen waren lang und deutlich konturiert. Sie bildeten ein beinahe symmetrisches Kreuz mit einer tiefen Furche im Schnittpunkt. Bei Leichen nahmen Wunden ein dunkles, ja fast schwarzes Aussehen an. Die Risse in Sibyl Adams’ Haut klafften auf wie winzige feuchte Münder.

»Sie besaß nicht viel Körperfett«, erläuterte Sara. Sie deutete auf den Bauch, wo der Einschnitt sich gleich über dem Nabel verbreiterte. Die Schnittwunde dort war tiefer, und die Haut war gespreizt wie bei einem zu engen Oberhemd, an dem ein Knopf weggeplatzt war. »Im unteren Abdomenbereich, wo die Eingeweide durch die Klinge verletzt wurden, befindet sich Kot. Ich weiß nicht, ob der Stich absichtlich so tief geführt wurde oder ob es zufällig geschah.«

Sie deutete auf die Wundränder. »Hier an der Spitze der Wunde kannst du die Riefung erkennen. Vielleicht hat er das Messer hin und her bewegt. Es gedreht. Außerdem …« Sie überlegte, während sie weitermachte. »Es gibt Kotspuren an ihren Händen sowie an den Haltestangen in der Toilettenkabine, und daher muss ich annehmen, dass sie aufgeschlitzt wurde, die Hände auf den Bauch presste und schließlich aus irgendeinem Grund die Haltestangen umklammerte.«

Sie sah zu Jeffrey auf, um abzuschätzen, wie er sich hielt. Er schien wie angewurzelt dazustehen, vom Anblick des Leichnams wie gelähmt. Sara wusste aus Erfahrung, dass der Verstand ihr einen Streich spielen und die Hinweise auf eine brutale Gewalttat verschleiern konnte. Auch für Sara war der neuerliche Anblick von Sibyl noch schlimmer als der erste.

Sara legte die Hände auf den Leichnam und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass er noch warm war. Die Temperatur im Leichenschauhaus war immer niedrig, sogar im Sommer, weil der Raum sich unter der Erde befand. Sibyl hätte eigentlich inzwischen sehr viel weiter abgekühlt sein müssen.

»Sara?«, fragte Jeffrey.

»Nichts«, entgegnete sie, eigentlich noch nicht dazu bereit, Vermutungen auszusprechen. Sie drückte an der Wunde im Schnittpunkt des Kreuzes herum. »Es war eine zweischneidige Klinge«, begann sie zögernd. »Damit müsstest du etwas anfangen können. Die meisten Stichverletzungen stammen doch von gezackten Jagdmessern, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Sie wies auf eine bräunliche Stelle an der Wunde. Beim Säubern des Leichnams hatte Sara viel mehr sehen können, als ihre erste Untersuchung in der Toilette ergeben hatte. »Das stammt von der Parierstange und sagt uns, dass er das Messer bis zum Anschlag hineingestoßen hat. Ich kann mir vorstellen, dass ich Absplitterungen an der Wirbelsäule entdecke, wenn ich sie aufmache. Ich habe beim Tasten schon Unregelmäßigkeiten gefühlt. Wahrscheinlich sind da auch noch Knochensplitter drin.«

Jeffrey forderte sie mit einem Kopfnicken zum Weiterreden auf.

»Wenn wir Glück haben, finden wir irgendwo auch noch einen Abdruck der Klinge. Und wenn nicht, dann hilft uns vielleicht die Quetschung weiter, die durch die Parierstange verursacht worden ist. Ich kann die Haut abtrennen und präparieren, nachdem Lena ihre Schwester gesehen hat.«

Sie deutete auf den Mittelpunkt des Kreuzes. »Das war ein kräftiger Stoß, und deswegen würde ich vermuten, dass der Mörder von oben zugestoßen hat. Siehst du, dass die Wunde einen Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad hat?« Sehr aufmerksam betrachtete sie den Einstich und versuchte zu verstehen, was geschehen war. »Ich würde sagen, dass der Stich in den Unterleib anders ist als der, der die Brustwunde verursacht hat. Aber das ergibt keinen Sinn.«

»Warum?«

»Die Einstiche sind verschieden.«

»Und wie ist das möglich?«

»Kann ich nicht sagen«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie ließ dieses Thema für den Augenblick fallen und konzentrierte sich stattdessen auf die Stichwunde im Mittelpunkt des Kreuzes. »Also, er steht wahrscheinlich vor ihr, in den Knien eingeknickt, und er führt das Messer seitlich nach hinten«, sie demonstrierte das, indem sie die Hand zurückzog, »bevor er es ihr in die Brust rammt.«

»Er hat für die Tat zwei Messer benutzt?«

»Kann ich noch nicht sagen«, räumte Sara ein und wandte sich wieder der Bauchwunde zu. Irgendetwas stimmte nicht.

Jeffrey kratzte sich am Kinn und betrachtete die Brustwunde. Er fragte: »Warum kein direkter Stich ins Herz?«

»Nun, zum einen liegt das Herz nicht mittig im Brustkorb, wohin der Stich geführt werden musste, um den Mittelpunkt des Kreuzes zu treffen. Seine Entscheidung hat also auch eine ästhetische Komponente. Zum anderen schützen die Rippen Herz und Lunge. Er hätte wiederholt zustechen müssen, um da durchzukommen. Und damit hätte er die klare Kontur des Kreuzes verdorben, oder?« Sara holte tief Luft. »Bei einer Herzverletzung wäre eine große Menge Blut ausgetreten, und es wäre noch dazu mit beträchtlicher Geschwindigkeit hervorgesprudelt. Vielleicht hat er das vermeiden wollen.« Sie zuckte die Achseln, sah zu Jeffrey auf. »Ich denke, er hätte das Messer auch unter den Brustkorb und dann aufwärts führen können, wenn er das Herz hätte treffen wollen, aber das wäre ein Vabanquespiel gewesen.«

»Willst du damit sagen, dass der Angreifer über medizinische Kenntnisse verfügen muss?«

Sara fragte: »Weißt du, wo das Herz ist?«

Er legte eine Hand auf die linke Brustseite.

»Richtig. Und du weißt auch, dass sich deine Rippen nicht ganz in der Mitte treffen.«

Er tippte mit den Fingern auf seine Brustmitte. »Was ist das hier?«

»Das Sternum«, antwortete sie. »Der Einstich sitzt jedoch tiefer. Und zwar im Schwertfortsatz. Ich kann nicht sagen, ob das reines Glück war oder beabsichtigt.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, wenn du auf Teufel komm raus einer Person ein Kreuz in den Bauch schlitzen und dann ein Messer in die Mitte stoßen willst, dann wäre dies die beste Stelle, wenn du möchtest, dass das Messer tief eindringt. Das Sternum hat drei Teile«, sagte sie und deutete auf ihre Brust. »Der obere Teil ist das Manubrium, der Hauptteil ist der Corpus, der mit dem Processus, dem Schwertfortsatz endet. Von diesen drei Teilen ist der Schwertfortsatz vergleichsweise weich. Besonders bei jemandem in diesem Alter. Sie ist wie alt, Anfang dreißig?«

»Dreiunddreißig.«

»So alt wie Tessa«, flüsterte Sara, und eine Sekunde lang sah sie ihre Schwester vor sich. Doch dann konzentrierte sie sich wieder auf den Leichnam. »Der Schwertfortsatz verkalkt mit zunehmendem Alter. Der Knorpel wird härter. Wenn ich also jemandem in die Brust stechen wollte, würde ich dort mein X machen.«

»Vielleicht wollte er nicht in ihre Brüste stechen?«

Sara überlegte. »Das hier scheint mir persönlicher zu sein.« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich weiß nicht, ich würde eher denken, dass er ihre Brüste verletzen wollte. Verstehst du, was ich meine?«

»Besonders wenn es sexuelle Motive gibt«, meinte Jeffrey. »Ich meine, bei Vergewaltigungen geht es doch normalerweise um Macht, oder nicht? Es hat damit zu tun, dass jemand einen Zorn auf Frauen hat, dass er sie kontrollieren will. Warum sollte er sie also dort aufschlitzen und nicht an der Stelle, die sie zur Frau macht?«

»Bei einer Vergewaltigung geht es auch um Penetration«, entgegnete Sara. »Und das trifft hier zweifellos zu. Ein wuchtiger Einstich, der fast ungehindert in den Körper dringt. Ich glaube nicht …« Sie hielt inne, starrte auf die Wunde. Ihr kam ein neuer Gedanke. »Guter Gott«, flüsterte sie.

»Was ist denn?«, fragte Jeffrey.

Ein paar Sekunden lang bekam sie keinen Ton heraus. Sie hatte das Gefühl, als schnürte irgendetwas ihre Kehle zu.

»Sara?«

Ein Piepton erklang. Jeffrey schaute auf seinem Pager nach. »Das kann nicht Lena sein«, sagte er. »Darf ich mal telefonieren?«

»Sicher.« Sara kreuzte die Arme, als wollte sie sich vor den eigenen Gedanken schützen. Sie wartete, bis Jeffrey hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, und fuhr erst dann mit der Untersuchung fort.

Sie drehte die Lampe so, dass sie den Beckenbereich besser sehen konnte. Sie richtete das Spekulum aus und betete im Stillen zu Gott, zu jedem, der sie erhören wollte – aber vergeblich. Als Jeffrey an ihre Seite zurückkehrte, gab es keinen Zweifel mehr.

»Und?«, fragte er.

Saras Hände zitterten, als sie die Handschuhe abstreifte. »Sie wurde gleich zu Beginn des tätlichen Angriffs sexuell missbraucht.« Sie brach ab, ließ die verschmutzten Handschuhe auf den Tisch fallen und rief sich ins Gedächtnis, wie Sibyl Adams auf der Toilette gesessen hatte, die Hände auf die offene Wunde in ihrem Unterleib gepresst, und sich dann an die Haltestangen beiderseits der Kabine klammerte und absolut nicht fassen konnte, wie ihr geschah.

Sara stützte sich auf den Rand des Obduktionstisches. »In ihrer Vagina befinden sich Kotspuren.«

Jeffrey schien nicht ganz folgen zu können. »Es kam also zuerst zur Sodomie?«

»Es gibt keine Anzeichen für eine anale Penetration.«

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