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Erfüllte Träume in Thunder Point

Als Buch hier erhältlich:

Lin Su hat ihren vierzehnjährigen Sohn allein großgezogen und kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Patienten. Sie hat alles unter Kontrolle - und das soll auch so bleiben. Doch ihr Sohn wird langsam flügge und entwickelt seinen eigenen Kopf. Als dann noch der neue attraktive Nachbar vor der Tür steht, spürt Lin Su, dass ein neues Kapitel in ihrem Leben beginnen könnte. Allerdings müsste sie dafür bereit sein, sich zu öffnen und sich bei jemandem fallen zu lassen …

»Diese Serie ist wohl ihre beste.«
Romantic Times Book Reviews

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.«
The Library Journal


  • Erscheinungstag: 03.04.2018
  • Aus der Serie: Thunder Point
  • Bandnummer: 9
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768034
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Vivienne Leung,
in Dankbarkeit und Zuneigung

1. Kapitel

Charlie Simmons verpasste kaum etwas von dem, was am Strand vor sich ging. Er war vierzehn, und seine Mutter arbeitete als Krankenschwester. Sie betreute Winnie Banks, eine Dame mit ALS, die oben am Hang wohnte. Von dort aus konnte man den ganzen Strand überblicken. Charlie begleitete seine Mutter jeden Tag zur Arbeit. Er hing meistens draußen, in der Nähe des Hauses, in der Stadt oder am Strand herum. Er war sehr geübt im Beobachten. Er beobachtete das Leben mehr, als dass er daran teilnahm. Das wollte er, wenn möglich, bald ändern.

Es war die dritte Augustwoche. Nebenan stand alles komplett kopf. Ein Umzugswagen war rückwärts zur Garage eingebogen. Charlie hatte den neuen Besitzer schon einmal gesehen, als dieser sich das Haus zum ersten Mal angeguckt hatte. Der Mann war auf einem Fahrrad über den Strand gedüst – auf einem ziemlich teuren Rennrad. Damals hatte er mit Cooper die Terrasse besichtigt, die direkt zur Bucht hinausging. Anschließend waren sie zusammen im Haus verschwunden und nicht mehr herausgekommen, jedenfalls nicht auf der Strandseite. Cooper hatte später erzählt, dass der Typ mit dem Rad an dem Haus interessiert war und ihm ein Angebot unterbreitet hatte.

Kaum dass der Umzugswagen aufgetaucht war, war Charlie nach draußen gegangen, um sich alles genau anzuschauen. Alle Häuser an diesem Hang boten von ihren Terrassen und Wohnzimmern aus einen tollen Ausblick auf den Pazifischen Ozean. Aber die Haustüren und Garagen führten zur Straße, oberhalb des Hügels. Charlie sah Cooper mit den Umzugsleuten sprechen, deshalb wartete er geduldig, bis er fertig war.

»Nur um sicherzugehen, die Geräte für das Fitnessstudio müssen nach unten – die sind schwer. Der neue Besitzer richtete sich im Untergeschoss ein Fitnessstudio ein. Die Wohnräume sind im anderen Stockwerk. Sie sollten Hauptschlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Bad und alles andere auf diesem Stockwerk finden. Ich bin unten in der Bar, wenn ich Ihnen nachher den Lieferschein unterschreiben soll.«

Als Cooper in seine Strandbar zurückkehrte, lief er direkt an Charlie vorbei.

»Wer zieht denn da ein, Cooper? Der Typ mit dem sauteuren Rennrad?«

Cooper grinste. »Genau der. Er ist im Augenblick nicht in der Stadt.«

»Beim Radrennen?«, fragte Charlie.

»Großer Triathlon in Australien.«

»Alter Schwede«, sagte Charlie. »Ist er ein Ironman?«

Cooper lachte. »Ist er.«

»Wie heißt er?«, fragte Charlie.

»Blake Smiley. Googelst du ihn?«

»Tue ich. Möchtest du wissen, was ich herausfinde?«

»Ich glaube, ich weiß schon genug, aber danke.«

»Wolltest du auch schon einmal an einem Triathlon teilnehmen, Cooper?«

»Auf keinen Fall«, erwiderte der Besitzer der Strandbar eindeutig belustigt. »Nicht, dass ich Menschen, die so etwas machen, nicht bewundern würde …«

»Wann ist er wieder hier?«

»Ich bin nicht sicher. Kann jeden Tag so weit sein, schätze ich.«

»Ich werde über das Rennen mal im Internet recherchieren. Weißt du, wo in Australien?«

»Nein, keine Ahnung.«

Charlie holte seinen Laptop heraus und suchte nach dem Mann. Das machte er schon lange – Informationen sammeln und am Laptop lernen. Denn er hatte nicht viele Freunde und konnte im Gegensatz zu anderen Kindern nicht einfach loslaufen und spielen. Charlie hatte als Kleinkind unter schweren Allergien und Asthma gelitten. Darum war er zu einem ruhigeren Lebensstil verdammt. Er glaubte auch, dass er wegen seiner ständigen Bronchitisausbrüche und der Lungenentzündung, die er als Kind gehabt hatte, ein bisschen zu klein für sein Alter geraten war. Entweder das oder es lag an den vietnamesischen Anlagen, die er von seiner Familie mütterlicherseits geerbt hatte. Eines Tages hatte er einen gebrauchten Laptop geschenkt bekommen und gelernt, wie man ihn benutzte. Am Ende hatten die ganzen Tage, die er im Haus verbringen musste, dazu geführt, dass er klüger war als durchschnittliche Vierzehnjährige.

Charlies Mutter Lin Su war Amerikanerin mit asiatischen Wurzeln. Da Charlies leiblicher Vater ein weißer Amerikaner war, nahm Charlie an, dass er selbst amerikanisch mit asiatischem Erbe war. Das Vietnamesische sah man an seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen.

Er suchte nach Blake Smiley. Der Mann lief seit fünfzehn Jahren Rennen. Dank eines Stipendiums konnte er aufs College gehen und war inzwischen siebenunddreißig Jahre alt. Smiley war seit seinem ersten Sieg in Oahu mehrfacher Triathlon-Champion. Er hielt ein paar Rekorde, hatte einen Uniabschluss in Biologie und Physiologie und wurde von ein paar Firmen gesponsert. Er hatte sogar einen Werbespot für einen teuren Entsafter gedreht. Einen Entsafter? fragte sich Charlie. Außerdem arbeitete Smiley als Coach und Consultant, und er hielt Vorträge als Motivationstrainer. Charlie liebte TED-Talks. Er wäre liebend gern klug oder erfahren genug gewesen, um Menschen mit seinen Fähigkeiten anzuleiten oder zu inspirieren.

»Er ist ein Gott«, murmelte Charlie vor sich hin. Und dann war da noch seine Körpergröße. Blake Smiley war nur eins siebzig groß und wog achtundsechzig Kilo. Kein Riese. Das fand Charlie ermutigend.

Er hatte ihn gesehen. Er wirkte stark. Sehnig. Muskulös. Charlie hatte beobachtet, wie er mit dem Rennrad über die Straße am Strand geschossen war. Er hatte gesehen, wie er das Rad hochgehoben hatte und damit zwei Treppen hochgerannt war, um sich mit Cooper auf der Terrasse des Hauses zu treffen, das er gekauft hatte.

Aber noch etwas faszinierte Charlie an dem Mann: Smiley hatte sich das Schwimmen selbst beibringen müssen. Er hielt Vorträge darüber, wie er sich seine Sportkarriere aufgebaut hatte, und über Überlebenswillen und Training.

Charlie konnte nicht schwimmen. Seine Mutter flippte schon aus, wenn er einmal lief, und er hatte noch nie einen Pool im Garten gehabt. Charlie wäre gern geschwommen. Er hatte den Sommer damit verbracht, am Strand herumzuhängen und älteren Kindern beim Stand-up-Paddeling und Windsurfen zuzuschauen. Einmal war er sogar auf so einem Paddelboard mitgenommen worden. Jemand anderes hatte gepaddelt, und er hatte eine Schwimmweste getragen.

Charlie klappte seinen Laptop zu und ging in Winnies Schlafzimmer. Er klopfte leise an die Tür. Schwer zu sagen, was gerade in diesem Raum passierte. Konnte sein, dass sie gebadet oder zurechtgemacht wurde oder dass sie las. Vielleicht schlief Winnie auch.

»Komm rein«, rief seine Mutter.

Charlie stieß die Tür auf und sah, dass seine Mutter Winnies Hände manikürte. Winnie liebte Maniküre. Die alte Frau war zu einer guten Freundin geworden. Sie verbrachten eine Menge Zeit gemeinsam vor dem Computer, unterhielten sich und fanden alles Mögliche heraus.

»Du wirst es nicht glauben«, sagte er und schob sich die Brille hoch. »Der neue Nachbar. Er ist ein Ironman!«

Blake kehrte spät in der Nacht aus Australien zurück. Er hatte im Flugzeug geschlafen. Denn er wusste, dass der Jetlag ihm in den nächsten Tagen zu schaffen machen würde. Doch der Jetlag würde wieder vorbeigehen.

Er fühlte sich steif, und seine Knochen knackten. Sein Körper kam ihm in den letzten Jahren immer etwas weniger entgegen. Dinge wie das Training vor einem Triathlon und die vielen internationalen Reisen forderten langsam ihren Tribut. Es erschien ihm seltsam, in sein eigenes Haus zurückzukehren. Er besaß zum ersten Mal ein eigenes Haus. Das hätte niemand vermutet. Blake war beinahe vierzig und hatte noch nie ein eigenes Haus besessen. Nicht einmal eine Wohnung oder ein Reihenhaus. Er hatte lange über die Lage nachgedacht. Blake wollte in Meeresnähe wohnen, und er mochte den kühlen Pazifischen Ozean. Das Training im kühlen Wasser war anstrengender als das in wärmerem Wasser. Und die unerbittliche Natur des Meeres bot realitätsnähere Bedingungen als ein See oder ein Schwimmbecken. Blake brauchte Höhentraining, und das hatte er in Oregon ebenfalls. Wo auch immer er hinsah … Berge. Die Orte Boulder oder Truckee hatte er ebenfalls ernsthaft in Betracht gezogen, aber am Ende gefiel ihm diese kleine Stadt am besten. Wenn er nicht gerade an Wettkämpfen teilnahm, trainierte er, und wenn er nicht trainierte, genoss er seine Freizeit. Hier konnte er sehr gut trainieren. Und vielleicht würde er hier auch einmal trainieren, wie man richtig lebte. Schließlich würde er nicht ewig an professionellen Sportwettkämpfen teilnehmen. Zum Leben wollte er einen ruhigen Ort, der nicht von Profisportlern und Olympioniken überlaufen war. In Boulder oder Truckee konnte man von jedem Baum mindestens zehn Olympiateilnehmer schütteln.

Den ersten Tag verbrachte Blake mit Auspacken, dem Einrichten seines privaten Sportstudios und einer kleinen Trainingseinheit, die ihn daran hinderte, nach einem siebzehnstündigen Flug vollständig zu versteifen. Später fuhr er in die nächstgrößere Stadt in einen Supermarkt, um seine Lebensmittelvorräte aufzustocken. Er brauchte hauptsächlich Biogemüse, Hülsenfrüchte und Körner inklusive Quinoa. Seine Zusatzprodukte bestellte er sich online. Er war kein Vegetarier. Doch während der Trainingssaison war es am besten, wenn er sich eine Hühner- oder Rindfleischbrühe kochte, die er mit Quinoa und Gemüse essen konnte. Cooper hatte ihm empfohlen, sich gut mit Cliff, dem Eigentümer des Fischrestaurants in der Marina, zu stellen, wenn er guten frischen Fisch oder Krabben bekommen wollte.

Wenn Blake trainierte, was beinahe das ganze Jahr über der Fall war, schränkte er seine Lieblingslebensmittel erheblich ein – Käse, einfache Kohlehydrate und die meisten gut schmeckenden Fette wie Butter und Sahne. Er begrenzte seinen Alkoholkonsum auf ein gelegentliches Bier. Doch außerhalb seiner Trainingssaison, wenn er nur gemäßigt trainierte oder sich ein Weilchen entspannte, genoss er das Essen sehr. Natürlich in Maßen, denn niemand war disziplinierter als er. Aber eine gute fettige Pizza war für ihn das Beste, was es auf der Welt gab. Natürlich könnte er sich auch seine eigene vegetarische Pizza mit glutenfreiem Teig backen; wenn er allerdings in der Genießerphase war, genügte ihm diese Pizza nicht. Vielleicht lag es daran, wie er aufgewachsen war, denn er sehnte sich immer noch nach Dingen, die er nicht haben konnte, und Pizza und Bier gehörten eindeutig zu diesen Sachen.

An seinem zweiten Tag im eigenen Haus wachte er zu früh auf, mischte sich eines seiner Proteingetränke zusammen, dehnte sich, zog sich den Neoprenanzug über und lief zur Bucht. Es war halb neun, aber die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Das Wasser fühlte sich eisig an. Er kannte die genaue Distanz über die Bucht nicht, aber nach fünfzig Minuten schwimmen hatte er eine Vorstellung. Er hatte sich bereits ein paar Rad- und Laufstrecken rausgesucht, bevor er ein Angebot für das Haus abgegeben hatte.

Ihm gefiel das Haus. Blake hatte sich an vielen Orten, inklusive Hawaii, mindestens hundert Immobilien angesehen. Hawaii war reizvoll, der Lebensstil dort verlockend. Doch seine zukünftige Arbeit würde vermutlich hauptsächlich in den USA stattfinden, und obwohl er gern reiste, wollte er eine feste Basis haben, die in weniger als zehn Stunden zu erreichen war. Wenn seine Arbeit ihn nach Chicago, New York oder Los Angeles führte, konnte er in sechs Stunden oder weniger in Thunder Point sein. Boulder, im Zentrum des Landes, war zwar praktisch, jedoch nicht so verlockend wie diese unscheinbare kleine Fischerstadt am Meer. Auf Cape Cod hatte Blake ein Haus entdeckt, das ihm gefallen hatte, die Ostküste allerdings war unterhalb des Kaps nicht so friedlich oder verkehrsgünstig gelegen wie Oregon. Die Freeways hier waren nicht verstopft, die Luft sauber, und es gab noch eine Menge Platz … Mit zehn Jahren wäre ihm nie die Idee gekommen, dass er einmal wohnen könnte, wo immer er wollte. In dem Alter war seine Hauptsorge gewesen, etwas zu essen zu kriegen und es warm zu haben.

Er stellte den Timer seiner Uhr ein, lief ins Wasser, tauchte unter, schwamm an den steilen Felsen im Wasser vorbei und fing an, die Bucht von einem Ende zum anderen schwimmend zu durchqueren. Bis der Timer ertönte, hatte Blake die Bucht siebenmal gequert. Er schätzte die Distanz zum Strand auf etwas mehr als eine Viertelmeile. Später, als er aus dem Wasser stieg, schien die Sonne. Er würde noch ein paar Stunden Fahrrad fahren und morgen laufen gehen. Vor dem nächsten Wettkampf würde er einen Probetriathlon absolvieren. Nur einen.

Am Strand, auf den Stufen zum Nachbarhaus, saß ein Junge. Er balancierte einen Laptop auf seinen Knien und trug eine schwarze Brille. Blake schüttelte sich, um das Wasser abtropfen zu lassen, und zog Kapuze und Schwimmbrille ab. Ein wenig außer Atem steuerte er auf den Jungen zu.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo«, erwiderte der Junge seine Begrüßung. »Sie sind in Sydney Zweiter geworden.«

Blake lächelte. »Das Rennen ist gut für mich gelaufen.«

»Ihre Zeiten waren gut, aber McGill hat Sie geschlagen. Er schlägt Sie ziemlich regelmäßig.«

»Stalkst du mich, Kleiner?«

»Nö, ich habe Sie nur gegoogelt. Also, warum war das trotzdem ein gutes Rennen?«

»Erst einmal, wie heißt du?«

»Ich bin Charlie«, antwortete der Junge und streckte die Hand aus. Mit der anderen schob er sich die Brille über den Nasenrücken hoch.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Charlie. Ich nehme an, mich kennst du schon.«

»Ich habe Cooper gefragt, wer Sie sind, und er hat mir erzählt, dass Sie bei einem Lauf in Australien mitmachen. Das habe ich dann recherchiert. Sie sind ziemlich erfolgreich.«

»Danke«, entgegnete Blake und schaute den Jungen fragend an. »Was hast du noch über mich herausgefunden?«

»Na ja … dass Sie sich selbst das Schwimmen beibringen mussten.«

»Stimmt.«

»Wie haben Sie das gemacht?«

»Genau, wie ich fast alles gelernt habe – Überlebenswille. Ich bin in ein Schwimmbecken gefallen. Vielleicht hat man mich auch hineingestoßen, daran erinnere ich mich nicht mehr. Und ich konnte nicht schwimmen. Ging unter wie ein Stein.«

»Musste man Sie retten?«

»Nein. Das war im College, und ich war auf einer Poolparty. Ich glaube nicht, dass da irgendwer auf mich geachtet hat. Ich hielt die Luft an und bin zu Fuß rausgegangen. Meine Lungen waren kurz vorm Explodieren.«

»Sie sind rausgegangen?«, stieß Charlie überrascht hervor.

»Das war zu der Zeit meine einzige Möglichkeit. Ich war ein Experte für Tiefe, weil ich nicht schwimmen konnte. Jedes Mal, wenn ich in der Nähe eines Schwimmbeckens war, sorgte ich dafür, dass ich wusste, wo das tiefe und wo das flache Ende ist. Ich fiel irgendwo in der Mitte ins Becken, schaute mich nach dem flachen Ende um und lief zu Fuß hinaus. Niemand kennt Tiefe und die Abmessung eines Schwimmbeckens so genau wie ein Kind, das nicht schwimmen kann. Dann habe ich mir selbst das Schwimmen beigebracht, denn unter Wasser zu gehen, war keine gute Erfahrung. Ich habe über das Schwimmen gelesen und es geübt. Und mir ein paar Videos von kleinen Kindern angesehen, die schwimmen lernen.«

»Der Pool, aus dem Sie hinausgegangen sind, war nicht so groß, nehme ich an.«

»Wenn du viel Wasser über dem Kopf hast, ist jedes Schwimmbecken groß. Danach habe ich Wassertreten gelernt, und dann, weil ich überhaupt keine Vorkenntnisse hatte, schien mir Schwimmen irgendwie ganz einfach. Ich musste mir wenigstens keine schlechten Gewohnheiten abtrainieren.«

»Hat man Ihnen eine Schwimmweste gegeben?«, fragte Charlie.

»Nein, das ist nicht die beste Art, schwimmen zu lernen. Aber die beste Art, am Leben zu bleiben, wenn du einen Unfall hast. Selbst erfahrene Schwimmer tragen unter bestimmten Bedingungen Schwimmwesten. Am besten ist es, erst einmal zu lernen, das Wasser zu respektieren, danach kommen die Schwimmbewegungen und die richtige Atmung. Man muss die Sache mit dem Auftrieb verstehen. Man kann sogar Babys das Schwimmen beibringen. Für die Babys benutzen sie nicht mal Auftriebshilfen. Sie bringen ihnen einfach nur bei, den Atem anzuhalten, Wasserplantschen, Wassertreten und wie man sich auf den Rücken dreht, um zu atmen … Hey, du kannst schwimmen, stimmt’s?«

Charlie schüttelte den Kopf.

»Du wohnst am Strand und kannst nicht schwimmen?«

Charlie schüttelte noch einmal traurig den Kopf. »Ich wohne nicht hier. Meine Mom arbeitet für Mrs. Banks. Da ich sie jeden Tag zur Arbeit begleite, werde ich hier in der Stadt zur Schule gehen, doch wir wohnen … ein paar Meilen weiter weg.«

»Und du kannst nicht schwimmen«, stellte Blake noch einmal fest.

»Das ist bis jetzt noch nie ein Thema gewesen.«

Blake lachte. Das verstand er vollkommen. »Also, was ist mit Mrs. Banks los?«

»ALS. Es geht ihr aber gut. Sie ist noch nicht im Endstadium«, erklärte Charlie, als ob er Ahnung von solchen Dingen hätte. »Sie kann immer noch ein bisschen gehen, allerdings nicht mehr allein. Meine Mom ist optimistisch. Doch Mrs. Banks braucht eine Krankenschwester. Sie ist nicht die erste ALS-Patientin meiner Mom. Es tut mir wirklich sehr leid für sie, dass sie ALS hat. Aber ich glaube, die Schule wird mir gefallen … jedenfalls für die Zeit, in der meine Mom für Mrs. Banks arbeitet.«

»Hoffentlich noch lange«, meinte Blake.

»Ja, das wünsche ich ihr auch. Also, was macht einen guten Lauf aus? Sie sind geschlagen worden.«

»Lass mich mal verschnaufen, ja? Ich bin Zweiter geworden – das ist eine verdammt gute Leistung. Wie du schon gesagt hast, McGill schlägt mich regelmäßig. Allerdings hat er nun seinen Rücktritt angekündigt.« Blake verzog das Gesicht. »Ich werde den Kerl wirklich vermissen.« Beide lachten. »Im Ernst, es war gut. Ich war nahe an meiner persönlichen Bestzeit im Schwimmen, und, falls du es noch nicht herausgefunden hast, darin bin ich deutlich besser als beim Radfahren.«

Charlie grinste ihn bloß an.

»Ich komme besser mal vorbei und stelle mich Mrs. Banks persönlich vor, oder? Nachdem ich mich geduscht habe, natürlich. Wie sieht ihr Tagesplan denn so ungefähr aus?«

»Nach ihrem Mittagsschlaf, vor dem Abendessen, sind üblicherweise alle da. Und sie ist ausgesprochen dreist.«

»Alle?«, fragte Blake.

»Na ja, Mrs. Banks Tochter Grace und ihr Mann Troy sind da. Und Mikhail. Er ist, seit er weiß, dass Mrs. Banks ALS hat, immer in der Nähe. Mikhail war früher Graces Trainer. Jahrelang, glaube ich. Sie ist ebenfalls eine Profisportlerin. Also sind Sie nicht der Einzige.«

»Ach was«, brachte Blake interessiert hervor.

»Eiskunstlauf, Goldmedaillengewinnerin«, erklärte Charlie. »Obwohl das schon ein Weilchen her ist. Sie hat sich schon lange aus dem Sport zurückgezogen.«

Blake runzelte die Stirn. Der Name Grace sagte ihm überhaupt nichts.

»Ich glaube, damals auf dem Eis nannte man sie Izzy.«

»Lieber Himmel, Izzy Banks?«, fragte er. »Du machst Scherze, oder?«

»Ihre Mutter ist Winnie Banks«, fügte Charlie hinzu. »Grace ist so was wie eine Weltmeisterin in zweiter Generation.«

Was ist das denn für ein Zufall? fragte sich Blake. Winnie und Izzy waren berühmte Mutter-Tochter-Eislaufikonen. Winnie Banks hatte den Eiskunstlauf aufgegeben, um ihren Trainer zu heiraten und mit ihm eine der bekanntesten, weiblichen Eiskunstlauf-Weltmeisterinnen als Tochter zu bekommen. »Unglaublich. Was macht sie jetzt?«

»Ihr gehört ein Blumenladen, und sie kriegt ein Baby«, antwortete Charlie. »Troy arbeitet als Lehrer an der Highschool. Und in dem Haus da …«, erklärte er und deutete auf das Gebäude zwischen Winnie und Coopers Bar, »… wohnen Spencer und Devon. Spencer und Cooper haben einen gemeinsamen Sohn.«

Blake zog die Brauen hoch. »Tatsächlich? Zwei Männer?«

Charlie lachte. »Nein, nicht so. Einer von ihnen ist der Vater und der andere der Stiefvater oder so ähnlich. Ich hab noch nicht rausgekriegt, wer wer ist. Aber Austins Mom ist vor ein paar Jahren gestorben. Nun ist Spencer mit Devon verheiratet und Cooper mit Sarah. Und Austin hat zwei Zimmer.«

Mit dem Hauskauf war es Blake offenbar irgendwie gelungen, in einer Gegend zu landen, wo die Kinder Mütter, Stiefmütter, Väter, Stiefväter, verstorbene Mütter und so weiter hatten. In Baltimore, wo er aufgewachsen war, war es auch so gewesen, aber normalerweise saß dort außerdem mindestens ein Familienmitglied im Knast. Dort hatte es auch keine dreistöckigen Familienhäuser am Strand gegeben, und es hielten sich auch keine Weltklasse-Profisportler in der Gegend auf. Nur Mitglieder einer Gang, Drogenhändler, Prostituierte und Zuhälter. Viele Eltern wurden vermisst, es gab tote Elternteile, Pflegeeltern. Kinder wuchsen bei Tanten, Großmüttern oder Nachbarn auf. Wenn er genau darüber nachdachte, hatten sich diese Familien aus allen möglichen kreativen Konstellationen zusammengesetzt. Als er klein war, brauchte man praktisch eine Karte, um herauszufinden, wer zu wem gehörte. Er war immer ein bisschen überrascht, wenn Leute, die ihre Miete zahlen konnten, ähnliche Familienstammbäume hatten.

Nein, dort, wo er aufgewachsen war, gab es keine Strandhäuser. Bis er dreizehn war, hatte er in einem städtischen, verwahrlosten Mietshaus gelebt. In einer Stadt, wo es im Winter so grauenhaft kalt wurde, dass er mit Landstreichern herumgehangen hatte, die unter Brücken und auf Bahnschienen Feuer in Mülltonnen gemacht hatten. Von dreizehn bis sechzehn war er viel herumgezogen, während seine Mutter versucht hatte, ihr Leben irgendwie in den Griff zu kriegen. Wenigstens hatte er regelmäßig die Schule besucht. Ein kritischer Punkt. Die Schulausbildung war das, was ihn ultimativ aus der Gegend herausgebracht hatte.

»Was stellst du mit deinem Computer sonst noch so an, außer das Leben deiner Nachbarn zu recherchieren?«, wollte Blake von Charlie wissen.

»Ich sehe alles nach. Kann ich etwas für Sie herausfinden?«, fragte Charlie und schenkte Blake ein süßes Grinsen.

Blake hatte viel für Kinder übrig. Für alle Kinder. Aber um diesen Jungen machte er sich keine Gedanken. Eines der Kinder, die in brandneuen, teuren, dreistöckigen Strandhäusern neben berühmten Profisportlern aufwuchsen. Blake sorgte sich eher um die Kids, die eine schwere Kindheit hatten und vom Leben benachteiligt waren. Er hatte in den letzten Jahren an einem Projekt gearbeitet, das Kindern in Not helfen sollte, und er war beinahe so weit, es endlich publik zu machen, sobald er noch ein paar Sponsoren mehr an Bord hatte.

Blake mochte Charlie sofort. »Es gibt tatsächlich etwas, das du für mich tun könntest. Ich muss aufs Rad und mindestens fünfzig Meilen radeln. Dann nach Hause und duschen.« Er schaute auf die Uhr. »Könntest du mir Bescheid sagen, sobald deine Mutter irgendwann nach eins glaubt, es ist in Ordnung, dass ich rüberkomme und mich meinen Nachbarn vorstelle?«

»Das wird eher zum Abendessen sein, falls Sie alle kennenlernen wollen. Troy hilft Grace im Blumenladen.«

»Ich möchte nicht stören – nur schnell Hallo sagen. Ich bin den Rest des Tages zu Hause.«

Es war nicht unbedingt erforderlich, dass Lin Su Krankenschwesternkleidung trug, aber sie schlüpfte dennoch jeden Tag in die saubere Uniform. Erstens, weil sie sich gut darin bewegen konnte. In ihrem Job fand man sich manchmal auf Händen und Knien, zum Beispiel, wenn man etwas im Abfluss des Waschbeckens im Bad suchte oder den Küchenboden wischte. Außerdem waren diese Uniformen pflegeleicht und, falls nötig, einfach zu ersetzen. Hinzu kam, dass man sie mithilfe der Uniform sofort identifizieren konnte. Sogar der UPS-Bote an der Tür wusste, dass sie entweder als medizinisches Personal im Haus oder irgendwo in der Nähe arbeitete.

Also war es logisch, bei der Arbeit diese Kleidung zu tragen. Und als sie nun einem sehr attraktiven Mann die Tür öffnete, erzielte die Uniform ihre Wirkung.

»Sie sind die Krankenschwester«, stellte der Mann fest. »Charlie hat gemeint, ich dürfte einen Besuch wagen, um mich rasch vorzustellen und Hallo zu sagen. Ich bin Blake Smiley. Ihr Nachbar.«

»Hallo«, begrüßte sie ihn und schaute ihn mit großen Augen an, was sie gar nicht beabsichtigt hatte. Er sah einfach so verdammt gut aus, dass sie nicht anders konnte. Sie hatte schon ein paar Mal einen Blick auf ihn erhascht, wenn er am Strand oder nebenan auf der Terrasse gewesen war. Aus der Nähe war er noch viel attraktiver. Sie war beinahe sprachlos.

»Sie sind Lin Su. Wie Sie merken, habe ich schon mit Charlie gesprochen.«

»Ach! Ja, ich bin Lin Su Simmons. Bitte, kommen Sie doch rein.«

»Passt es denn zeitlich, Mrs. Banks zu begrüßen?«

»Kommen Sie rein! Kommen Sie rein!«, rief Winnie vom Esszimmer aus.

Lin Su trat einen Schritt beiseite, damit Blake das Haus betreten konnte.

Winnie und Charlie saßen vor ihren Notebooks am Esszimmertisch. Winnie klappte ihren Laptop zu und streckte ihre Hand aus. »Mr. Smiley, wie geht es Ihnen? Charlie hat mir erzählt, dass Sie vielleicht vorbeischauen.«

»Es ist mir ein Vergnügen, Mrs. Banks«, erwiderte er und drückte ihr die Hand.

»Möchten Sie sich einen Augenblick zu uns setzen? Und wo wir jetzt die förmliche Begrüßung hinter uns haben, können wir uns vielleicht mit dem Vornamen ansprechen?«

»Ausgesprochen gern.«

»Charlie«, sagte Winnie. »Bitte hol Mikhail von der Terrasse.« Dann wandte sie sich wieder ihrem Gast zu. »Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich die Mühe machen vorbeizukommen. Es ist für mich nicht so einfach herumzukommen. Ich bin sicher, dass Charlie das bereits erzählt hat.«

»Hat er«, bestätigte Blake. »Es tut mir leid, dass Sie krank sind. Sie sehen aber gar nicht danach aus. Wie geht es Ihnen?«

»Solange ich nicht versuche, ein Glas hochzuheben oder auf beiden Beinen zu stehen, fühle ich mich gut«, antwortete sie und unterstrich ihre Worte mit einem leichten Kopfnicken. »Apropos Glas. Was dürfen wir Ihnen anbieten?«

»Nichts, Mrs. … Winnie. Ich wollte mich nur vorstellen und Sie kurz kennenlernen. Ich war ganz schön verblüfft, als ich hörte, dass nebenan zwei berühmte Sportlerinnen wohnen.«

»Wir sind schon ewig nicht mehr aktiv. Aber was um alles in der Welt machen Sie hier in Thunder Point?«

»Ich trainiere noch, doch ich habe mich in die Ruhe dieses Ortes verliebt.« Er blickte sich um. »Falls Sie eine Möglichkeit finden, dieses Haus nach Boulder zu transportieren, können Sie drei Millionen Dollar dafür kriegen.«

»Ich kann nicht glauben, dass der Preis Sie hierhergelockt hat«, meinte sie.

»Tatsächlich war es die Stadt. Die Größe, ihre Schlichtheit, die Häuser an der Bucht. Das ist ein großartiges Fleckchen zum Schwimmen. Die Hügel und Täler ringsum sind wunderbare Rennrad- und Laufstrecken. Die Luft ist perfekt.«

»Was ist Ihr nächstes Ziel?«, fragte Winnie.

»Tahoe«, antwortete Charlie, der sich wieder hingesetzt hatte, an Blakes Stelle.

»Er scheint genauso viel über mich zu wissen wie ich selbst«, sagte Blake. Dann erhob er sich und reichte dem russischen Coach, der von der Terrasse hereingekommen war, die Hand. »Guten Tag, Sir. Ich bin Ihr Nachbar, Blake.«

»Freut mich«, entgegnete Mikhail.

Nachdem alle im Salon saßen, verschwand Lin Su im Hauptschlafzimmer. Das war die Tageszeit, zu der sie alles für später vorbereitete, wenn Winnie sich für die Nacht fertig machte.

Nach einem kleinen Mittagsschlaf und einer kleinen Erfrischung verbrachte Winnie etwas Zeit im Wohnzimmer oder auf der Terrasse. Später aß sie gemeinsam mit denjenigen, die gerade da waren, zu Abend – manchmal mit der ganzen Familie, manchmal nur mit Lin Su, Charlie und Mikhail. Wenn Winnies Tochter Grace ihr danach half, sich fürs Bett umzuziehen, gingen Lin Su und Charlie nach Hause. An den meisten Abenden aber blieb Lin Su noch, bis Winnie mit ihrem abendlichen Ritual fertig war.

Ihr aktuelles Zuhause war nicht gerade ein besonders anheimelnder Ort. Lin Su und Charlie hatten sich einen kleinen Wohnwagenanhänger gemietet, der auf einem eher einfachen Campingplatz zurückgelassen worden war. Der Anhänger war komplett angemessen, und sie hatte ihn gereinigt, bis er nahezu klinisch sauber war. Ihr Job bei Winnie war zwar anspruchsvoll, aber auch bequem und gut bezahlt. Lin Su arbeitete noch an einer Lösung für ihre Wohnsituation. Doch mehr als ihre jetzige Unterkunft hatte sie sich bisher nicht leisten können. Sie war vom Krankenhaus entlassen worden, und es hatten sich jede Menge Rechnungen angesammelt, während sie zwischen zwei Jobs pendelte. Außerdem hatte sie noch alte Schulden zu begleichen: Ausbildung, Umzug, ein paar medizinische Behandlungen, die nicht von ihren Arbeitgebern gedeckt wurden. Sie hatte zwar endlich ein paar Ersparnisse, wagte es allerdings nicht, sie anzurühren. Lin Su war sehr vorsichtig im Umgang mit Geld, und am allerwichtigsten war ihr, dass Charlie eine gute Ausbildung bekam.

Im Moment sah alles gut aus. Es war Winnies Vorschlag gewesen, Charlie jeden Tag zur Arbeit mitzubringen und ihn deshalb in der Schule in Thunder Point anzumelden. Winnies Schwiegersohn Troy Headly unterrichtete dort Geschichte, und Winnies Nachbar Spencer Lawson war dort Sportdirektor und Footballtrainer. Lin Su müsste sich keine Sorgen machen, dass Charlie von älteren, stärkeren Kindern drangsaliert würde. Dafür war sie sehr dankbar.

Sie schlug die Überdecke zurück, strich die Laken glatt und schüttelte die Kissen auf. Dann legte sie auch noch die Decke zusammen, die Mikhail benutzte, wenn er in dem großen Ledersessel neben Winnies Bett schlief. Mikhail glaubte, dass niemand davon wusste. Der Gedanke entlockte Lin Su ein Lächeln. Mikhail verschwand, bevor Lin Su morgens eintraf, damit niemand wusste, wie sehr er Winnie beschützte. Lin Su wischte Staub, entfernte das Wasserglas vom Nachttisch, ordnete die Bücher und Zeitschriften neben Winnies Bett. Ins Badezimmer hängte Lin Su frische Handtücher und Waschlappen. Morgen würde sie frische Laken aufziehen und die Bettwäsche wechseln. Sie hätte gern selbst einmal in so feinem Bettzeug geschlafen, aber um nichts in der Welt mit Winnie tauschen wollen.

Als sie wieder ins Esszimmer zurückkehrte, waren Grace und Troy auch da, und es wurde sehr viel geredet. Sie hatten das Abendessen aus Carries Feinkostladen mitgebracht, und Grace legte gerade die Sets auf den Tisch.

»Bitte, bleiben Sie doch!«, bat Grace ihren neuen Nachbarn. »Ich kann Ihnen versichern, das Essen ist gesund und voller wertvoller Nährstoffe.«

Doch zur Enttäuschung aller schlug Blake die Einladung aus und ging nach Hause, um sich einen Eintopf aus Grünkohl, Kürbis, Rind, Hühnchen, Quinoa, Öl und … – Lin Su hatte sich nicht alle Zutaten gemerkt – zuzubereiten. Außerdem war er im Training – für das nächste Rennen im kommenden Monat.

»Klingt köstlich«, bemerkte Grace mit einem zweifelnden Unterton in der Stimme.

»Klingt entsetzlich«, meinte Winnie und brachte damit alle zum Lachen.

Blake lachte fröhlich mit. »Nach den nächsten beiden Rennen habe ich ein bisschen Urlaub. Ich trainiere natürlich weiter, aber das strikte Trainingsprogramm und die Diät sind dann ein wenig gelockert. In den Zeiten esse und trinke ich ganz normal«, erklärte er breit grinsend.

»Nun, dann lade ich Sie ein, wenn Sie mit den nächsten beiden Rennen fertig sind«, sagte Troy und hob sein Bier.

2. Kapitel

Der Haushalt der Banks hatte sich etwas vergrößert, wenn auch nur wenig. Neu dazugekommen war eine Reinigungsmannschaft, die eine Frau namens Shauna Price leitete. Die Truppe bestand aus drei Frauen, die zweimal pro Woche vorbeikamen und zwei Stunden lang das Haus von oben bis unten hingebungsvoll sauber machten. Sie waren freundlich, ohne viel zu reden, berechneten eine Menge Geld, brachten ihre eigenen Reinigungsprodukte mit und verschwanden wieder. Einmal pro Woche fragte Shauna pflichtschuldigst bei Lin Su nach, ob alles in Ordnung sei. Sie fragte nicht Winnie. Lin Su vermutete, dass Winnie ihr Angst einflößte.

Dreimal pro Woche kam Curtis Rhinehold morgens zwischen zehn Uhr und Viertel vor elf – der Physiotherapeut. Er machte mit Winnie eine Serie von Übungen, um ihre Stärke und Balance zu erhalten, obwohl fraglich war, ob sie tatsächlich etwas bewirkten. In seiner Abwesenheit fuhr Lin Su mit diesen Übungen fort, weil es nicht schaden konnte. Vielleicht ermöglichte es Winnie, ihre Körperfunktionen noch etwas länger aufrechtzuerhalten.

Das Ende des Sommers war erfreulich warm und trocken. Charlie genoss den Umgang mit seinen neuen Freunden in Thunder Point und freute sich schon voller Hoffnung auf den Beginn der neuen Schule. Sein Kumpel Frank Downy, ein MIT-Student im zweiten Studienjahr, der Charlies Leidenschaft für Onlinenachforschungen teilte, war Mitte August wieder zum College zurückgekehrt. Coopers jüngerer Schwager Landon war ebenfalls wieder an die Uni von Oregon gefahren, um mit dem Footballtraining anzufangen. Kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs an der Thunder Point Highschool steckte Spencer bereits knietief im Footballtraining mit seiner Mannschaft. Er schimpfte und knurrte über die jungen Männer, die seinem Rücken und den Knien so einiges abverlangten. Troy war, wenn er Grace nicht gerade im Blumenladen aushalf oder sich im Haus nützlich machte, damit beschäftigt, sich auf den Unterricht mit seinen Klassen vorzubereiten. Charlie langweilte sich keine Sekunde. Er hatte Winnie und Mikhail und war sehr unabhängig.

Außerdem hatte er einen weiteren neuen Freund – den Triathleten von nebenan. Charlie sah Blake jeden Tag. Manchmal unterhielten sie sich nur kurz am Strand. Manchmal spielten sie Volleyball oder werkelten an seinem Rennrad herum. An einem Nachmittag entdeckte Lin Su ihren Sohn dabei, wie er Blakes Terrasse mit dem Schlauch abspritzte, während Blake sie mit einem Schrubber bearbeitete. An einem anderen warmen und sonnigen Nachmittag unternahm Charlie mit Blake einen Spaziergang, um ihm die Anhöhe des Hügels am Strand und den Aussichtsplatz zu zeigen, von wo aus er in einem Monat die Wanderungen der Wale beobachten könnte.

Lin Su war glücklich, dass Charlie einen Freund gefunden hatte. Ein gutes männliches Vorbild konnte nicht schaden. Ihr wäre es jedoch lieber gewesen, Charlie hätte sein Herz an Troy, Spencer oder Cooper gehängt – nette, gefestigte, verheiratete Männer. Es wäre gefährlich, wenn Charlie glaubte, dass ein Mann wie Blake eine ständige Rolle in seinem Leben spielen würde. Er war ein wenig zu frei und lässig für Lin Sus Geschmack. Und ihre eigene Situation – die Arbeit und das Wohnen – war auch nur vorübergehend. Mit ein bisschen Glück würde das alles noch eine Weile anhalten. Aber vielleicht mussten sie auch bald weiterziehen.

Sie hatten immer weiterziehen müssen.

Sich um Winnie Banks zu kümmern, war ideal für Lin Su. Zwar arbeitete sie viele Stunden, aber wenn Winnie ihren Mittagsschlaf hielt oder sich mit Charlie oder Mikhail beschäftigte, hatte sie eine Menge Zeit. Lin Su versuchte, ihre Rolle als Angestellte und Krankenschwester gut auszufüllen, aber dennoch eine höfliche Distanz zu wahren, weil sie weder Mitglied der Familie noch Bewohnerin der Stadt war. Doch genau das erlaubten Familie und Stadtbewohner ihr in diesem speziellen Fall nicht. Sie arbeitete seit Juni bei Winnie, und sie und Winnie fingen an, sich einander nah zu fühlen und eine Beziehung zueinander aufzubauen. Charlie gegenüber fühlte sich Winnie sogar noch verbundener. Die beiden hielten mittlerweile wie Pech und Schwefel zusammen. Die ganze Familie bezog Lin Su und Charlie überall mit ein und empfing sie mit offenen Armen. Sie aßen gemeinsam mit der Familie, klatschten und tratschten und spielten miteinander.

Lin Su versuchte dennoch, niemals ihre Rolle zu vergessen. Und es fiel ihr immer noch schwer, sich daran zu gewöhnen, dass sie und Winnie sich jetzt duzten.

»Ich möchte keine Krankenschwester von einer Agentur«, sagte Winnie. »Denk mal darüber nach. Du kümmerst dich darum, mich ins Bett zu bringen, hilfst mir beim Baden, bringst mich auf die Toilette, hilfst mir, mich anzuziehen. Wir – du und ich – sind sehr vertraut miteinander. Wenn du nicht zu dieser seltsamen Mannschaft, die ich jetzt meine Familie nenne, passen würdest – zu meiner Tochter, einem Lehrer und einem alten Trainer –, müsste ich mich nach jemand anderem umsehen. Ich fürchte, du hängst bei uns fest.«

Drei Frauen, die ungefähr in Lin Sus Alter und miteinander befreundet waren, hatten Mitte August hübsche Babybäuchlein. Grace, Iris und Peyton. Iris Sileski arbeitete als Beratungslehrerin an der Highschool und hatte Grace den Blumenladen verkauft. Sie waren seit dem Tag, an dem Grace vor ein paar Jahren nach Thunder Point gekommen war, befreundet. Peyton Grant, die Arztassistentin, die praktischerweise den Arzt geheiratet hatte, kam genau wie ihr Mann Scott regelmäßig vorbei, um nach Winnies Gesundheit zu sehen. Da war es nur natürlich, dass diese drei Frauen sich regelmäßig trafen. Manchmal erst am Ende eines Tages, manchmal zum Mittagessen, manchmal auch schon morgens, um gemeinsam Kaffee zu trinken, und manchmal zum Abendessen. Alle drei Frauen sollten ihr Kind noch vor Weihnachten bekommen.

Wenn sie sich bei Winnie oder in der Nähe ihres Hauses trafen und Lin Su gerade nichts zu tun hatte, baten sie sie, ihnen Gesellschaft zu leisen. Winnie genoss es sehr, die Frauen um sich zu haben. Mit Lin Sus oder Graces Hilfe konnte sie sogar dabei sein, wenn sie sich in Coopers Strandbar oder irgendwo in der Stadt zum Essen trafen. Winnie genoss diese kurzen Ausflüge in den Diner, was ihrer Tochter ein herzliches Lachen entlockte, weil es ungefähr das erste Mal war, dass Winnie einen Diner betrat.

»Stimmt. Wenn es mein Diner wäre, wäre er ganz anders eingerichtet und würde mehr wie ein Wohnzimmer aussehen. Aber es ist in Ordnung für mich«, erklärte Winnie und reckte die perfekt geformte Nase ein wenig nach oben. »Erst einmal.«

Lin Su wusste, dass sich Winnie weder vom Diner noch von dessen Einrichtung angezogen fühlte – es waren die Frauen in Winnies Alter, die Winnie dort von Zeit zu Zeit traf. Carrie vom Feinkostladen, deren Tochter Gina tagsüber dort arbeitete. Carries beste Freundinnen Lou, eine Lehrerin, und Ray Anne, Immobilienmaklerin, waren häufig im Diner. Winnie hatte vorher nie darum gebeten, in den Diner gebracht zu werden, aber wenn die Frauen anriefen, um ihr zu sagen, dass sie sich dort zu Kaffee und Kuchen treffen wollten, fuhr sie ebenfalls gern dorthin. Noch besser gefiel ihr jedoch, wenn sie sich im Cliffhanger trafen, um ein Glas Wein zu trinken. Dann sorgte Winnie dafür, dass sie auf jeden Fall dorthin kam, auch wenn sie Troy oder Mikhail bitten musste, sie hinzufahren – und selbst, wenn sie sich im Rollstuhl zeigen musste.

»Ich hatte noch nie im Leben Freundinnen«, gestand Winnie ihrer Krankenschwester Lin Su flüsternd. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie neu diese Erfahrung für mich ist.«

Doch das konnte Lin Su. Ihre Adoptivmutter Marilyn Simmons hätte sich niemals mit einem Haufen Frauen in einem kleinen Diner getroffen. Lin Sus leibliche Mutter hatte die Flucht aus Vietnam nicht lange genug überlebt, darum war Lin Su mit drei von einem wohlhabenden weißen amerikanischen Paar aus Boston adoptiert worden. Sie bezeichneten es gern als eine Adoption aus Mitgefühl. Marilyn, eine sehr bekannte Anwältin, sah sich gern als Dame der Gesellschaft. Ihre leiblichen Töchter besuchten die besten Schulen und Universitäten, während Marilyn im Vorstand verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen saß, Bridge und Golf spielte, an namhaften Veranstaltungen teilnahm, politische Kampagnen unterstützte und shoppen ging. Nein, sie wäre niemals mit normalen Frauen in einen Diner gegangen.

Das gehörte auch zu den Dingen, die Lin Su an Thunder Point schätzte – die Leute trafen sich, ohne auf Status oder Einkommen zu achten. Lin Su wusste, dass es Winnie finanziell sehr gut ging. Den meisten ihrer Patienten ging es gut. Wer sich eine private Pflegeschwester leisten konnte, hatte keine Geldprobleme. Winnie wirkte weitaus eleganter als die Frauen, mit denen sie sich zum Kaffee oder zum Wein traf. Doch sie behandelten Winnie genauso, wie sie sich untereinander behandelten.

Auch für Lin Su war es reizvoll, sich mit all diesen Menschen anzufreunden – den jüngeren, schwangeren Frauen genauso wie den älteren, die sie als bodenständig und klug empfand. Doch sie versuchte weiterhin, professionelle Distanz zu wahren, die ihr den Job sichern und sie vor einer Enttäuschung bewahren würde, wenn der Tag kam, an dem man sie daran erinnern würde, dass sie lediglich eine Angestellte war. Trotzdem …

Ihre größte Herausforderung war der Triathlet von nebenan. Er machte ihr gleichzeitig Angst und faszinierte sie. Ihre Angst vor ihm rührte nicht daher, dass etwas mit ihm nicht gestimmt hätte. Im Gegenteil, er schien einfach zu richtig. Er erinnerte sie an einen Jungen, den sie geliebt hatte, als sie auf die Highschool gegangen war. Er hatte Rugby gespielt, mit Bestnote abgeschlossen, einen wohlklingenden Familiennamen und war monatelang mit Lin Su zusammen gewesen. Seine Eltern waren mit ihren Adoptiveltern befreundet. Marilyn hatte die Mutter des Jungen sehr bewundert, und es begeisterte sie, dass Lin Su mit ihm zusammen war. Irgendwann hatte sie ihr heimlich zugeflüstert, dass es doch für die Familie sprach zu akzeptieren, dass ihr Sohn sich für eine Asiatin entschieden hatte.

Doch als Lin Su ihm mitgeteilt hatte, dass sie schwanger war, hatte er nur erwidert: »Tut mir leid, Baby, aber ich gehe nach Princeton.«

Lin Su war mit Winnie auf der Terrasse, als Gelächter und Unterhaltungsfetzen aus dem Nachbarhaus drangen. Dabei war überhaupt niemand auf der Terrasse zu sehen. Winnie saß am Tisch und genoss den Sonnenschein, während sie Solitär spielte, um ihre Finger beweglich zu halten. Lin Su schaute zur Nachbarterrasse hinüber und sah, dass Charlie auf einem von Blakes Fahrrädern saß, während Blake eine Schraube am Rad anzuziehen schien. Dann stand Blake auf, und Charlie fuhr die Strandstraße hinunter.

Wie ein geölter Blitz.

Ihr Sohn flog auf diesem Rad nur so dahin. Flog, als ob er sich in einem Rennen wähnte!

»Winnie, kannst du es einen Augenblick allein aushalten? Ich muss mal mit Mr. Smiley über Charlie und das Radfahren sprechen.«

»Mir geht es gut«, erwiderte Winnie. »Ich laufe nicht weg.«

»Ich bin gleich wieder da«, versprach Lin Su, schon auf dem Weg zur Treppe, die zum Strand hinunterführte. Als sie die Stelle erreichte, wo Blake auf der Straße stand, war Charlie bereits außer Sicht.

»Mr. Smiley, es ist sehr nett von Ihnen, dass Charlie eine Runde auf Ihrem Rennrad drehen darf. Trotzdem ist das keine so gute Idee.«

»Bitte nennen Sie mich Blake. Und warum halten Sie es für keine gute Idee, Lin Su?«

»Erstens ist das ein sehr teures Rennrad. Zumindest hat Charlie das gesagt.«

»Stimmt. Es ist aber nicht mein Hauptrennrad.« Blake warf ein Werkzeug in die offene Werkzeugkiste. »Es passiert ihm schon nichts. Er trägt einen Helm. Wir haben über die Regeln auf der Straße gesprochen, und er hat sie verstanden.«

»Hat Charlie zufällig auch erwähnt, dass er Asthma hat?«

»Nein. Muss er Medikamente nehmen?«

»Ja.«

»Hat er einen Inhalator?«

»Er sollte ihn immer bei sich tragen. Manchmal bekommt er von körperlicher Anstrengung Asthma.«

Blake hob kurz die Schultern. »Wenn es ihm zu steil wird, hält er vermutlich an.«

»Wo ist er hingefahren?«

»Ich habe keine Ahnung, Lin Su. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht zu lange fahren soll. Ihm gefällt das Rad. Er fährt vermutlich noch ein Weilchen damit herum.«

»Er könnte aber zu weit fahren!«, warf sie ein.

Blake wischte sich die Hände an einem Lappen ab und dachte nach. »Er ist ein großer Junge. Er weiß, wie er mit seinem Asthma klarkommt, oder?«

»Manchmal ist er aber nicht so vorsichtig, wie er sollte«, erklärte sie mit Nachdruck.

Blake legte ihr einen Arm um die Schulter und drehte sie in Richtung Stadt, die am anderen Ende des Strands lag. Er deutete mit dem Finger auf ein Gebäude. »Sehen Sie das Gebäude da hinten?«

»Welches Gebäude?«, fragte sie.

»Das Gebäude, auf dem das Klinikschild steht. Falls er einen Asthmaanfall bekommt, ist das ein Ort, wo man sich gut und schnell um ihn kümmern kann. Aber ich wette, er bekommt keinen Anfall. Und wissen Sie, warum? Weil ich wette, dass er nicht gern Asthma bekommt. Charlie ist vierzehn – er schämt sich vielleicht dafür. Machen Sie sich keine Sorgen. In ein paar Minuten radelt er entweder in einem atemberaubenden Tempo über den Strand oder er ist fix und fertig und schiebt.«

»Für meinen Geschmack nehmen Sie das alles ein bisschen zu sehr auf die leichte Schulter, Mr. Smiley. Sie scheinen nicht zu begreifen, wie schlimm so etwas ausgehen kann. Und ich bin hier der Elternteil – ich bin Krankenschwester und seine Mutter und sehr gut mit Charlies Gesundheitszustand vertraut.«

Blake holte tief Luft und kniff die Brauen zusammen. »Lin Su, ich bin Blake und nicht Mr. Smiley. Soweit ich weiß, gibt es hier keinen Mr. Smiley. Und ich nehme solche Dinge sehr ernst. Letztlich könnte es für Charlie besser sein, Respekt vor seinem Asthma zu bekommen. Er muss lernen, mit seinem Asthma umzugehen, sich nicht davon behindern zu lassen, und seinen Körper kennenlernen, falls er das nicht schon tut. Ihn vor allem schützen zu wollen, wird ihm nicht helfen. Wissen hilft. Angst nicht.«

Lin Su spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Sie schürzte die Lippen und bekam ganz schmale Augen. »Großartige kleine Lektion, Mr. Smiley. Sie sollten eines Tages mal einen TED-Talk halten. Haben Sie eine Ahnung, wie es sich angefühlt hat, die ganze Nacht bei ihm zu sitzen, als er drei war und ich alle paar Stunden Atemübungen mit ihm machen musste? Ich hielt ihn in den Armen, wenn er nach Luft rang, beobachtete, wie er blau anlief, brachte ihn in die Notfallambulanz. Er muss vorsichtig sein!«

Sie entdeckte in seinem Blick etwas, das ganz eindeutig nach Sympathie aussah. »Das hat Ihnen sicher furchtbare Angst gemacht«, räumte er ein. »Die gute Nachricht ist, dass er nicht mehr drei ist.«

Lin Su wurde immer wütender, obwohl er ganz freundlich mit ihr sprach.

»Ah, da ist er«, sagte Blake. »Er ist ziemlich schnell.«

Charlie raste in geduckter Haltung auf sie zu und trat wie ein Wilder in die Pedale. Dann verlangsamte er die Fahrt, grinste breit, was bewies, dass er die gleichen schönen weißen Zähne hatte wie seine Mutter.

»Das war toll«, sagte er ein wenig atemlos zu Blake. »Mom, was machst du denn hier? Ist mit Winnie alles in Ordnung?«

»Ihr geht’s gut. Hast du Schwierigkeiten beim Atmen?«, fragte Lin Su.

»Ich bin außer Atem«, erklärte Charlie. »Ich bin schnell gefahren. Aber nicht lange. In einer Sekunde geht es mir wieder gut.«

»Brauchst du deinen Inhalator?«

»Mom …«, sagte er. »Es geht mir gut.« Aber dann hustete er.

»Charlie, ich will nicht, dass du …«

»Charlie, hast du irgendwelche größeren Pläne mit dem Laptop heute Abend?«, unterbrach Blake sie.

»Nein, warum?«

»Ich glaube, du solltest einmal berühmte Sportler mit Asthma recherchieren«, schlug ihm Blake vor. »Du wirst ein paar sehr bekannte Namen finden und ein paar Anregungen bekommen.«

Charlie hustete für den Rest des Nachmittags immer mal wieder. Deshalb bot Grace an, bei ihrer Mutter zu übernachten, damit Lin Su ihren Sohn nach Hause bringen konnte. Auf dem Weg dorthin schimpfte Lin Su mit ihm. »Du hättest nicht so schnell fahren sollen. Ein langer Spaziergang oder mal auf dem Paddelboard herumpaddeln ist das eine – so ein hartes Training könnte dir dauerhaft zusetzen.«

»Das ist kein Asthmaanfall. Glaub mir. Das wüsste ich.« Er hustete noch einmal. »Das geht vorbei.«

»Wir machen ein paar Atemübungen, und ich behandele deinen Husten«, erklärte sie.

»Das mache ich schon«, wiegelte Charlie ab. »Ich hätte einfach nur gern, dass du ihn magst. Denn er ist ein guter Typ.«

»Mr. Smiley?«, fragte sie, obwohl sie natürlich wusste, wen ihr Sohn meinte. »Er gefällt mir. Es war sehr nett und nachbarschaftlich von ihm, dass du mit seinem Rennrad fahren durftest. Aber er wusste nichts von deinem Asthma. Dafür bist du verantwortlich, Charlie.«

»Dann schimpf mich halt aus«, lautete seine knappe Antwort.

Mr. Smiley entwickelt sich zu einem Problem, dachte Lin Su. Er ermunterte Charlie zu Freidenkerei, ließ ihn aus den Konsequenzen seines Verhaltens Lehren ziehen und verstand nicht, dass diese Konsequenzen in Charlies Fall fatal sein konnten.

Na ja, vielleicht auch nicht, gab sie gedanklich nach. Schlimmstenfalls bekäme Charlie einen Asthmaanfall, der mit dem Inhalator und ein bisschen Sauerstoff wieder verschwinden würde. Doch sie wünschte sich plötzlich verzweifelt, dass Charlie in erster Linie auf sie hörte.

»Das wird mich nicht umbringen, weißt du«, sagte Charlie, als ob er Gedanken lesen konnte. »Manchmal habe ich ein paar kleine Atemprobleme, aber nicht oft. Ich hatte schon lange keinen richtigen Anfall mehr.«

»Im Mai«, erinnerte sie. »Als alles blühte. Das war ein bisschen heikel.«

»Weil sich eine Erkältung daraus entwickelt hatte. Das hier könnte auch nur eine Erkältung sein. Ich habe mich ein bisschen verschnupft gefühlt, bevor ich mit dem Rad losgefahren bin.«

Für den Rest der Fahrt sagte Lin Su nichts mehr. Doch sie zählte mit, wie oft er hustete. Es klang inzwischen rau und dunkel. Charlie schnaufte aber nicht. Noch nicht. Sie waren schon fast zu Hause, als sie sagte: »Ich schätze es nicht, wenn du mich behandelst, als ob ich dich irgendwie bestrafen würde. Ich mache dir eine Suppe, während du heiß duschst und den Dampf einatmest. Danach die Asthmabehandlung. Wie oft hast du den Inhalator benutzt?«

»Nur zweimal.«

»Lass uns versuchen, das schon im Keim zu ersticken, Charlie.«

Er nickte. »Tut mir leid, Mom. Das Rad war so toll.«

»Ich weiß, Liebling.« Sie wollte weitermachen und ihm noch einmal vor Augen führen, welches Verhalten sein Asthma in Schach halten würde, aber sie wusste, er hatte genug. Und vielleicht hatte Mr. Smiley teilweise sogar recht. Charlie lernte auf diese Weise vielleicht mehr über die Konsequenzen, als wenn sie andauernd auf ihnen herumritt. Er hatte ihre Argumente alle schon zigmal gehört. Aber sie würde den Teufel tun und das zugeben.

Lin Su ging wie geplant vor: Dusche, Suppe, Behandlung. Danach fing er an, ein wenig zu schniefen. Sie hoffte, dass es sich eher um eine Erkältung als einen Anfall handelte. Obwohl auch das wieder eine Reihe von Problemen nach sich ziehen würde. Falls die Erkältungssymptome anhielten, wäre es falsch, ihn mit zu Winnie zu nehmen. Sie durfte keinerlei Keimen oder Viren ausgesetzt werden, wenn es sich vermeiden ließ. Bei all den Menschen, die sich ständig in Winnies Haus aufhielten, war das ohnehin schon riskant genug. Ihre Krankenschwester durfte ihr jetzt nicht noch mehr Viren ins Haus einschleppen.

Ihr kam ein unfairer Gedanke. Charlie hatte sich unverantwortlich verhalten. Es würde ihm recht geschehen, wenn er zur Strafe einen Tag allein zu Hause verbringen musste. Dabei wusste sie natürlich, dass eine Fahrt mit dem Fahrrad unmöglich die Ursache für seine Erkältung sein konnte. Er soll aber lernen, auf mich zu hören.

Lin Su achtete die ganze Nacht lang auf jeden Husten. Es klang nicht sehr schlimm – und es verschlimmerte sich auch nicht. Charlie hatte kein Fieber. Es war ein produktiver Husten, und er keuchte auch nicht. Am nächsten Morgen fuhr sie als Erstes mit seiner Asthmabehandlung fort. »Ich glaube, dir geht’s bald besser. Aber es ist dennoch verantwortlicher, dich heute hierzulassen. Ich möchte nicht, dass Winnie und der Rest der Familie dich husten hören und Angst vor Keimen bekommen. Das verstehst du doch?«

»Ja. Aber würdest du bitte allen sagen, dass es mir gut geht? Und ich weder einen Asthmaanfall noch sonst was hatte?«

»Natürlich. Ich werde ihnen erklären, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme wegen Winnies Gesundheitszustand handelt. Für den Fall, dass du dir eine Erkältung eingefangen haben solltest. Ist das in Ordnung?«

»Ja. Es ist nur so, dass … Falls Blake denkt, dass es an dem Ausflug mit seinem Rad lag, wird er mich nie wieder damit fahren lassen.«

Das bezweifelte Lin Su. Ehrlich gesagt befürchtete sie sogar das Gegenteil. Blake entwickelte sich langsam zu einer Herausforderung für sie. Als Mann, der wollte, dass Charlie männlich mit seinem Asthma umging. Ihr armer kleiner schwacher Junge in seiner Seifenblase – natürlich wollte sie nicht, dass er so ein Leben hatte. Aber lieber Himmel, wenn ihm nun etwas Schlimmes zustieß? Und das war möglich – seine gebrechlichen Lungen, die starken Allergien, sein überfordertes Immunsystem … »Natürlich spielen wir hier die Erkältungskarte. Und wenn du eine zweite Chance bekommst, mit diesem oder irgendeinem anderen Rad zu fahren, dann lass uns gleich mal festhalten, dass du es nicht bis zur maximalen Höchstgeschwindigkeitsgrenze ausreizen wirst. Können wir uns darauf verständigen?«

»Dieses Rad ist ein Profirennrad. Kein Wunder, dass es ein Vermögen kostet!«

Lin Su setzte sich zu ihrem Sohn auf die Bettkante. »Charlie, deine Gesundheit war in letzter Zeit gut. Bleib dabei. Entwickle Durchhaltevermögen, werde stark, lebe lange. Benutze dein fabelhaftes Hirn dazu weiterzukommen und kauf dir ein paar Dutzend superteure Rennräder, wenn du das Schlimmste überstanden hast, aber bitte mach langsam.«

Er grinste. »Du möchtest, dass ich lange lebe, damit du einen reichen Kerl hast, der sich um dich kümmert, wenn du alt bist.«

»Ich rechne fest damit«, erwiderte sie. »Ich schicke dir eine Nachricht und rufe dich an. Versuch, es heute langsam anzugehen. Ich bin sicher, dass es dir morgen wieder gut geht.«

Wenn er jünger als vierzehn gewesen wäre, hätte sie vielleicht eine ältere Nachbarin gebeten, auf ihn aufzupassen – oder wenigstens einmal nach ihm zu sehen. Aber mit vierzehn hätte Charlie das als Beleidigung empfunden. Himmel, es hätte ihn schon mit elf beleidigt! Er kannte die Regeln, und er war verantwortungsbewusst. Trotzdem wollte sie lieber in der Nähe sein.

Blake zog sich seine Schwimmsachen an. Er war dankbar, dass die Sonne trotz der frühen Stunde klar und hell über der Bucht schien. Doch er wusste, dass das Wasser trotzdem eiskalt sein würde. Er zog sich seinen Zeitenmesser übers Handgelenk und war überrascht, dass Charlie nicht schon auf den Stufen saß, um auf seine Rückkehr aus dem Wasser zu warten. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Charlies Mutter ihn vielleicht von ihm – dem Unruhestifter mit dem reizvollen Rennrad – fernhielt.

Ursprünglich hatte Blake für heute einen langen Lauf geplant, den Plan dann aber geändert. Stattdessen setzte er sich aufs Fahrrad, um eine lange Strecke zu fahren. Als er zurückkehrte, war immer noch nichts von Charlie zu sehen. Auch auf Winnies Terrasse war niemand. Nicht einmal Winnie mit ihrer Pflegeschwester.

Lin Su. Es hatte ihm, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, tatsächlich den Atem verschlagen. Er hatte nur gesehen, dass sie zierlich war, eine Krankenpflegeruniform trug und ihr schwarzes Haar zu einem Knoten hochgesteckt hatte. Sie hatte mit Winnie und Grace gelacht. Obwohl die Frauen in einiger Entfernung von ihm zusammengestanden hatten, hatte er erkennen können, wie schön sie war.

Lin Su sah großartig aus, schien ihm aber leider zu grollen. Er würde sich in Sachen Charlie und Rennrad künftig trotzdem nicht grundsätzlich anders verhalten. Sondern Charlie höchstens vorher fragen, ob es seiner Mutter recht war, wenn er mit dem Rad fuhr. Wenn er von dem Asthma gewusst hätte, hätte er ihm vorgeschlagen, es langsam angehen zu lassen. Blake war zwar kein Experte, aber er fand, dass Jungen in Charlies Alter ihre eigenen Grenzen ausloten mussten.

Charlie war nirgendwo zu sehen.

Nachdem Blake geduscht und sich saubere Sachen angezogen hatte, standen ein paar Leute auf Winnies Terrasse. Troy, Mikhail und Winnie saßen an einem Tisch. Blake ging ins untere Stockwerk seines eigenen Hauses, durch die Innenhoftüren nach draußen und nach nebenan zu den Stufen zu Winnies Terrasse.

»Überfall!«, rief er laut und sprintete die letzten Stufen hoch. »Wie geht’s?«

»Hallo, Blake«, begrüßte ihn Troy und erhob sich. »Wie geht’s dir denn?«

»Gut. Ich hoffe, ich störe bei nichts Wichtigem.«

»Wir sind gerade dabei, von Winnie in die Geheimnisse des Bridgespiels eingeweiht zu werden«, sagte Troy. »Bridge, weil sie nicht Poker spielen will.«

»Bist du heute nicht in der Schule?«, fragte Blake Troy.

»Ich war heute Vormittag in der Schule, und heute Nachmittag helfe ich Grace im Blumenladen aus. Es ist nicht mehr viel Sommer übrig. Spielst du Bridge?«

»Sorry«, erwiderte Blake grinsend. »Ich frage mich, wo Charlie steckt. Ich glaube, es ist der erste Tag seit meinem Einzug, an dem ich ihn nicht irgendwo gesehen habe.«

In diesem Augenblick kam Lin Su mit einem Tablett voller Getränke auf die Terrasse – zwei Tassen Tee und zwei schmalen hohen Gläsern mit irgendwas. In einer der Tassen steckte ein Strohhalm für Winnie. »Er ist zu Hause geblieben«, beantwortete sie ihm die Frage. »Er bekommt vermutlich eine Erkältung, und wir achten wegen Winnie sehr darauf, hier keine Krankheitskeime einzuschleppen.«

»Um mich umzuwerfen, braucht es aber schon mehr als eine Erkältung«, erklärte Winnie.

»Eine Erkältung würde dir aber auch nicht guttun. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Blake?«

Blake freute sich über Gebühr darüber, dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Er spürte, wie sein Lächeln sich in ein dümmliches Grinsen verwandelte. »Nein, danke. Ich bin gerade vom Training zurück. Ich hoffe, er hat sich nicht bei, Sie wissen schon … erkältet.«

Sie stellte das Tablett auf den Tisch. »Charlie hatte einen guten Sommer. Ein Asthmaanfall ist keine Ursache für eine Erkältung, aber eine Erkältung kann seinen körpereigenen Widerstand gegen das Asthma schwächen. Es scheint ihm gut zu gehen – ihm läuft nur die Nase, und er hat Husten.« Sie rückte einen Stuhl für Blake zurecht, nahm sich ebenfalls einen und verteilte die Getränke. »Aber ich sage Ihnen mal, wovor ich wirklich Angst habe – dass er einmal aus unerfindlichem Grund einen schlimmen Anfall bekommt. Das ist schon lange nicht mehr vorgekommen.« Sie trank einen Schluck Tee. »Ich lasse ihn so lange zu Hause, bis er alles komplett überstanden hat.«

»Ich bitte um Verzeihung, falls das Rennrad daran schuld sein sollte. Ich hatte keine Ahnung …«

»Natürlich nicht«, mischte sich Winnie ein. »Charlie hätte es erwähnen müssen. Ich habe aber den Verdacht, dass er so unbedingt mit diesem Rad fahren wollte, dass er sich nicht traute, das aufs Spiel zu setzen. Er ist schon wild darauf, seit er das Rennrad zum ersten Mal gesehen hat.«

»Das ist das Schlimmste und Schwerste daran, vierzehn Jahre alt zu sein«, meinte Blake. »Die Sachen zu machen, die man machen sollte.«

»Ich bin froh, wenn er etwas daraus gelernt hat. Er kann ein total normales Leben führen, solange er vorsichtig ist.«

Und auf seine Mutter hört, dachte Blake. Es gab Teenager, für die so etwas ein Luxus wäre.

»Versprechen Sie mir, noch zu bleiben, wenn wir die Spielkarten austeilen?«, fragte Winnie.

»Wenn ich wirklich nicht störe«, erwiderte er.

»Ganz und gar nicht. Ich freue mich, wenn Sie vorbeikommen. Wann ist denn Ihr nächstes Rennen?«

»In drei Wochen, in Tahoe. Ich fahre eine Woche früher hin, um dort in den Bergen zu trainieren und mich zu akklimatisieren. Mein Trainer kommt vorher hierher. Wir machen ein kleines Trail-Rennen und fahren anschließend zusammen nach Tahoe, um uns auf den eigentlichen Wettkampf vorzubereiten.«

»Wo ist Ihr Trainer denn jetzt?«, fragte Troy.

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