×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Thunder Point - Teil 1-3«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Thunder Point - Teil 1-3« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Thunder Point - Teil 1-3

ZEIT DER LIEBE IN THUNDER POINT

Hank Cooper ist ein Abenteurer, den es nie lange an einem Ort hält. Auch in dem idyllischen Thunder Point ist er bloß auf Durchreise. Sobald er sich um das Erbe eines Freundes gekümmert hat, will er weiterziehen. Doch Hank erwartet eine Überraschung in Gestalt der attraktiven Pilotin Sarah. Seit Langem hat er sich nicht mehr so zu einer Frau hingezogen gefühlt. Ohne es zu wollen, steht er am Scheideweg: Kehrt er in sein altes Leben zurück - oder lässt er es zu, dass sein Herz ein Zuhause findet?

FRÜHLINGSGEFÜHLE IN THUNDER POINT

Schon seit Langem ist Gina mit dem attraktiven Single-Dad Mac McCain befreundet. Zusammen haben sie Sorgen, Nöte und fröhliche Moment bei der Erziehung ihrer Töchter geteilt. Das vielleicht einmal mehr aus ihnen werden könnte, hat Gina selbst überrascht. Aber plötzlich tanzen Schmetterlinge in ihrem Bauch. In Macs Nähe fühlt sie sich wieder wie ein Teenager und kann einfach nicht genug von ihm bekommen. Doch ihr junges Glück wird jäh bedroht: Nachdem Macs Exfrau jahrelang verschwunden war, taucht sie nun ausgerechnet in dem Küstenstädtchen Thunder Point auf. Und wie es scheint, will sie um jeden Preis Mac zurückgewinnen!

HERZENSZAUBER IN THUNDER POINT

In einem Akt der Verzweiflung verlässt Devon McAllister mit ihrer kleinen Tochter ihr Zuhause, in dem sie sich nicht mehr sicher fühlt. Sie will nur eins: ihrer traumatischen Vergangenheit entfliehen und irgendwo untertauchen. Unerwartet landet sie in dem Küstenstädtchen Thunder Point, wo sie mit offenen Armen aufgenommen wird. Vor allem der attraktive Spencer unterstützt sie tatkräftig - und berührt ihr Herz. Doch wird es ihr gelingen, ihre schmerzvollen Erfahrungen hinter sich zu lassen?

"Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin."
The Library Journal

"Mit ihrer typischen Mischung aus Humor, realistischen Konflikten und messerscharfen Charakterisierungen erweckt Robyn Carr Thunder Point zum Leben."
The Library Journal

"Tauchen Sie ein in Robyn Carrs Welt: Großartig erzählte Geschichten und wunderbar gekennzeichnet Charaktere."
New York Times-Bestsellerautorin Susan Elizabeth Phillips


  • Erscheinungstag: 16.04.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1008
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769055
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Robyn Carr

Thunderpoint - Teil 1-3

Robyn Carr

Zeit der Liebe in Thunder Point

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Barbara Minden

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Wanderer

Copyright © 2013 by Robyn Carr
erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Getty Images, München / James + Courtney Forte;
Thinkstock / Getty Images, München / KsushaArt

ISBN eBook 978-3-95649-533-5

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Hank Cooper brauchte fast acht Stunden, um von Virgin River nach Thunder Point in Oregon zu kommen, weil er seinen Fifth-Wheel-Wohnauflieger hinter sich herzog. Er fuhr regelmäßig auf dem Seitenstreifen, damit die Schlange der Autos hinter ihm vorbeikonnte. Kurz vor der Grenze zwischen Kalifornien und Oregon hielt er bei einer Redwood-Touristenfalle an. Sie war komplett ausgestattet und lockte neben der üblichen Essenstheke und den Toiletten mit eigener Grünanlage, Souvenirs und Holzschnitzereien. Hank verzichtete aufs Grün und kaufte sich ein Sandwich und etwas zu trinken. Kurz darauf ließ er die riesigen Bäume hinter sich, und schon bald lag die felsige Küste Oregons vor ihm.

Beim ersten Aussichtspunkt machte er halt. Mit Blick aufs Meer wählte er die Nummer vom Sheriff Department von Coos County.

„Hallo“, begrüßte er die Frau am anderen Ende der Leitung. „Mein Name ist Hank Cooper, und ich bin auf dem Weg nach Thunder Point. Man hat mich benachrichtigt, dass mein Freund Ben Bailey tot ist. Offenbar hat er mir etwas vererbt, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich zu Ihnen unterwegs bin. Ich habe die Nachricht erhalten, dass Ben gestorben ist, doch keine weiteren Einzelheiten. Ich möchte mit dem Sheriff sprechen. Ich brauche ein paar Antworten.“

„Bleiben Sie dran“, bat sie ihn.

Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte sich eigentlich vorgestellt, seine Nummer zu hinterlassen und zu Mittag zu essen, während er auf den Rückruf wartete.

„Deputy McCain“, meldete sich eine neue Stimme in der Leitung.

„Hank Cooper am Apparat, Deputy“, erwiderte Hank und nahm unwillkürlich Haltung an. „Ich hatte gehofft, ich könnte mit dem Sheriff reden.“

„Ich bin der Deputy Sheriff. Das Büro vom County Sheriff ist in Coquille. Wir sind ein Außenrevier, wo ein paar Deputys arbeiten. Thunder Point ist klein. Es gibt zwar einen Constable, aber keine sonstigen lokalen Gesetzeshüter. Der Constable kümmert sich um kleinere Auseinandersetzungen, Zwangsräumungen und solche Sachen. Das County-Gefängnis liegt in Coquille. Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Cooper?“

„Ich bin ein Freund von Ben Bailey und auf dem Weg in die Stadt, weil ich herausfinden will, was mit ihm passiert ist.“

„Mr Cooper, Ben Bailey ist vor mehreren Wochen gestorben.“

„Das weiß ich, doch ich habe es gerade erst erfahren. So ein alter Mann – Rawley irgendwer – hat meine Nummer gefunden und mich angerufen. Er behauptet, Ben sei umgebracht worden. Getötet und begraben. Und jetzt möchte ich wissen, was geschehen ist. Ben war mein Freund.“

„Ich kann ihnen die Einzelheiten in etwa neunzig Sekunden liefern.“

Aber Cooper wollte dem Mann in die Augen schauen, während er sich die Geschichte anhörte. „Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, komme ich ins Sheriff Department.“

„Das ist nicht nötig. Wir können uns in der Bar treffen“, schlug der Deputy vor.

„In welcher Bar?“

„Bens. Ich vermute, Sie waren nicht sehr eng befreundet.“

„Wir kennen uns schon seit fünfzehn Jahren, doch das ist mein erster Besuch hier. Wir wollten uns mit einem dritten Kumpel aus der Army in Virgin River treffen und ein bisschen jagen gehen. Ben hat uns erzählt, er habe einen Angelladen.“

„Ich würde sagen, dass er mehr Wild Turkey Bourbon verkauft hat als Angelköder. Wissen Sie, wo Ben gewohnt hat?“

„Nur so ungefähr“, erwiderte Cooper.

„Fahren Sie über die 101 zur Gibbons Road, Richtung Westen. Nach ungefähr vier Meilen suchen Sie nach einem Schild, das mit billigen Getränken wirbt. Da halten Sie sich links und fahren auf den Bailey Pass, der über eine kurvige Straße den Berg hinunterführt. Dort finden Sie das Baileys. Was glauben Sie, wann können Sie dort sein?“

„Ich bin gerade erst an der Grenze zwischen Kalifornien und Oregon“, entgegnete Hank. „Ich habe einen Wohnauflieger dabei. In ein paar Stunden?“

„Eher in drei. Wir treffen uns dort, falls nichts dazwischenkommt. Ist das Ihre Handynummer?“

„Ja“, antwortete Hank.

„An der Küste haben Sie guten Empfang. Ich rufe Sie an, falls ich aufgehalten werde.“

„Danke, Deputy … wie war noch Ihr Name?“

„McCain. Bis nachher, Mr Cooper.“

Hank beendete das Gespräch, steckte das Handy in die Jackentasche zurück und stieg aus dem Geländewagen. Er stellte sein Essen auf die Motorhaube und lehnte sich gegen das Auto, um auf den nördlichen Pazifik zu schauen. Inzwischen hatte er beinahe die ganze Welt gesehen, aber dies war seine erste Reise an die Küste von Oregon. Der Strand war felsig. Aus dem Wasser ragten Felsbrocken, so groß wie zweistöckige Häuser. Ein orangeweißer Hubschrauber flog über das Wasser – eine Coast Guard HH-65 Dolphin, Rettungsdienst.

Einen Augenblick lang sehnte Cooper sich in einen Hubschrauber zurück. Sobald er geklärt hatte, was mit Ben passiert war, würde er sich vielleicht doch noch einen Job als Pilot suchen. Nach seiner Zeit bei der Army hatte er eine Menge Sachen gemacht, die mit Fliegerei zu tun hatten. Zuletzt hatte er von Corpus Christi aus Ölbohrplattformen angeflogen – bis es eine Ölkatastrophe gegeben hatte. Hank bewegte den Kopf, während er dem Hubschrauber mit Blicken übers Wasser folgte. Eine Arbeit bei der U.S. Coast Guard, der USCG, hatte er nie in Betracht gezogen. Er war es gewohnt, Stürme auf der offenen See zu meiden, anstatt mitten hineinzufliegen, um jemanden aus dem tosenden Meer zu fischen.

Hank nippte ein paar Mal an seinem Getränk und biss von seinem Sandwich ab. Dabei nahm er die vielen Autos und Geländewagen, die auf den Parkplatz einbogen, nur beiläufig wahr. Menschen stiegen aus und strebten, mit Ferngläsern und Kameras bewaffnet, auf die Kante der Aussichtsplattform zu. Er selbst fand nicht, dass diese monströsen, mit Vogelkacke bedeckten Felsbrocken ein Foto wert waren. Nicht einmal, wenn der orange-weiße Hubschrauber über sie flog. Über ihnen schwebte …

Die Wellen prallten mit tödlicher Kraft gegen die großen Felsen, und der Wind frischte beständig auf. Hank wusste nur zu gut, wie heikel es bei diesem Wind und unter solchen Voraussetzungen sein konnte, einen Hubschrauber zu steuern. Und dann auch noch so dicht bei den Felsen. Falls etwas schiefging, wäre der Helikopter nicht mehr rechtzeitig in der Lage, einen Zusammenstoß mit den Felsen oder eine unsanfte Begegnung mit den Wellen zu vermeiden. Das konnte ungemütlich werden.

Jetzt stieg ein Mann in Gurtzeug aus dem Hubschrauber und baumelte an einem Seil herab. Das war der Moment, in dem Hank entdeckte, was die anderen Fahrer vor ihm bemerkt hatten. Er legte sein Sandwich ab und holte sein Fernglas aus dem Handschuhfach. Dann schaute auch er zu dem Felsen hoch, gute zwölf bis fünfzehn Meter, und erkannte in dem, was er für zwei Flecken gehalten hatte, zwei Menschen. Einer stand ganz oben auf dem Felsen und bemühte sich, nicht vom Wind umgeworfen zu werden. Der andere hing an der vorderen Seite an der Felskante.

Kletterer? Die beiden trugen unter ihrer Kletterausrüstung etwas, das wie ein Neoprenanzug aussah. Durch das Fernglas konnte Cooper erkennen, dass ein kleines Boot in der Brandung vor den Felsen hin und her geworfen wurde. Der Mann, der sich aus dem Hubschrauber abgeseilt hatte, befestigte eine Leine am Felsen. Sie flatterte in der Böe. Der Mensch oben auf dem Felsen hatte nicht nur Probleme mit dem eigentlichen Wind, sondern auch mit dem zusätzlichen Wind, den die Rotorblätter des Hubschraubers verursachten. Und falls der Pilot die Maschine nicht stabil halten konnte, würde der Rettungsschwimmer, der immer noch am Seil baumelte, gegen den Felsen krachen.

„Ruhig, ruhig, ruhig“, ermahnte Hank sich selbst und wünschte, die Besatzung des Helikopters könnte ihn hören.

Der Coast Guard griff an die Felswand neben dem gestrandeten Kletterer, hakte sich selbst am Felsen fest und blieb eine Minute lang bei dem Mann. Schließlich erhob sich der Kletterer selbstständig vom Felsen und ließ sich von seinem Retter huckepack festgurten und mitnehmen. Die beiden wurden sofort und schnell über eine Leine in den Helikopter hochgezogen.

„Ja“, flüsterte Cooper. Gute Arbeit! Er hätte gern gewusst, wer der Pilot war. Das war eine außergewöhnliche Flugleistung. Zu dem Kletterer zu gelangen war der schwerste Teil der Aktion gewesen. Den Kerl oben auf dem Felsen zu retten war für alle Beteiligten am wenigsten riskant. Der Hubschrauber entfernte sich leicht vom Felsen, während man Opfer Nummer eins vermutlich gerade stabilisierte. Dann, noch einmal langsam über dem Felsen schwebend, ließ die Rettungsmannschaft einen Rettungskorb herab. Der zweite Kletterer wartete auf der Spitze des Felsens, bis der Korb direkt vor ihm war. Dann erst stand er auf, hielt sich am Korb fest und ließ sich hineinfallen. Als man ihn nach oben zog, applaudierten die Autofahrer rings um Cooper begeistert.

Bevor der Mann ganz im Helikopter war, zerschellte das kleine Boot an der Felswand und brach in tausend Stücke. Von ihm blieb nichts als ein paar schwimmende Trümmer auf der Wasseroberfläche übrig. Die Kletterer hatten vermutlich versucht, das Boot im Lee der Felsen zu ankern, damit die großen Wellen es nicht zerschmetterten und sie hoch- und anschließend wieder runterklettern konnten. Doch als das Schiff verloren war, waren sie es auch.

Wer hat die Coast Guard benachrichtigt? Vermutlich einer von ihnen mit dem Handy. Wahrscheinlich der auf der Spitze des Felsens, dessen Leben nicht an einem seidenen Faden hing.

Nachdem alle sicher im Inneren des Hubschraubers geborgen waren, stieg der Hubschrauber auf und flog aufs Meer hinaus.

Und damit, meine Damen und Herren, beenden wir unsere heutige Matinee. Schalten Sie morgen wieder ein, und begleiten Sie uns bei einer neuen Show, dachte Coop. Als die anderen Autofahrer langsam davonfuhren, aß er sein Sandwich zu Ende und setzte sich wieder in seinen Geländewagen, um seinen Weg nach Norden fortzusetzen.

Zum Glück war Coopers GPS auf dem neuesten Stand, denn die Gibbons Road war nicht beschildert. Drei Stunden nach dem Ereignis auf dem Felsen war Cooper auf einer schmalen, zweispurigen Straße, die in engen Kurven einen steilen Berg hinabführte. An einer Kreuzung stand ein Schild, das Billige Getränke versprach. Ben stammte nicht gerade „aus gutem Haus“, wie Coopers Großmutter aus den Südstaaten es ausgedrückt hätte.

Von dieser Kreuzung aus konnte Cooper jedenfalls sehen, wo Thunder Point lag. Die Stadt war wunderschön. Eine sehr breite Bucht schmiegte sich u-förmig an die steile Felsküste. Coop entdeckte Bens Haus, ein einzeln stehendes Gebäude mit einer großen Terrasse und Treppen, die bis zu einem Dock und an den Strand hinabführten. Hinter Bens Heim erstreckte sich eine vollkommen unbewohnte, felsige Landzunge bis zum Meer. Coop saß einen Moment reglos im Auto. Er dachte an Bens Kunden und stellte sich vor, wie sie den billigen Getränken zugesprochen und anschließend versucht hatten, wieder auf die 101 zu kommen. Diese Straße könnte ebenso gut Selbstmörderstraße heißen.

Auf der dem Meer gegenüberliegenden Seite ragte eine weitere Landzunge weit ins Meer hinein. Dort reihten sich Häuser an Häuser. Cooper konnte sich ausmalen, wie traumhaft schön die Aussicht in diesen Häusern war. Auf der Landzunge befand sich außerdem ein kleiner Hafen und die Stadt selbst. Thunder Point war mit einer Reihe Treppen von der Marina bis ganz nach oben an einen Steilhang gebaut worden. Zwischen Bens Haus und der Stadt lag nur der große, ausgedehnte Strand. Als Cooper hinunterblickte, entdeckte er eine Frau in einer roten Kapuzenjacke. Sie ging mit einem großen Hund am Strand entlang und warf immer wieder einen Stock, den der Hund ihr zurückbrachte. Es war ein schwarz-weißer Hund mit dunklen Augen, wie die eines Araberfohlens. Die Sonne schien und erinnerte Cooper daran, wie Ben ihm in einer E-Mail einmal seine Heimat beschrieben hatte.

Oregon ist im Winter überwiegend feucht und kühl, außer in der Gegend um Bandon und Coos Bay herum. Dort herrscht fast das ganze Jahr über ein eher gemäßigtes Klima, und es ist häufiger sonnig als stürmisch. Aber wenn die Stürme über das Meer nach Thunder Point ziehen, ist das so etwas wie eines der sieben Weltwunder. Die Bucht ist durch die Hügel geschützt und bleibt ruhig, ein sicherer Hafen für Fischerboote. Doch diese Gewitterwolken sehen manchmal wirklich spektakulär aus …

Dann sah Cooper niemanden mehr, nur noch zwei Adler, die über Bens Seite der Bucht kreisten. Es war ein seltener und großartiger Anblick.

Er ging weiter über den Parkplatz und war nicht besonders überrascht, dass der SUV vom Sheriff Department bereits dort stand. Der Deputy Sheriff saß im Wagen und notierte sich etwas. Wenige Sekunden später stieg er aus und lief auf Cooper zu. Hank betrachtete ihn abschätzend. Deputy McCain war ein junger Mann, wahrscheinlich Mitte dreißig. Er war groß, hatte blondes Haar, blaue Augen und breite Schultern – ungefähr so, wie man es erwartete.

Cooper reichte ihm die Hand. „Deputy.“

„Mr Cooper, mein Beileid wegen des Verlusts Ihres Freundes.“

„Was ist Ben zugestoßen?“

„Er wurde am Fuß der Kellertreppe gefunden, wo er die Köderbehälter aufbewahrte. Ben wohnte hier, er hatte ein Apartment über der Bar. Die Türen waren nicht abgeschlossen. Ich glaube nicht, dass Ben sie je abgeschlossen hat. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf, aber der Fall wurde dem Gerichtsmediziner übergeben. Nichts fehlte, nicht einmal Bargeld. Der Gerichtsmediziner hielt es für einen Unfall.“

„Aber der Mann, der mich angerufen hat, behauptete, Ben wäre umgebracht worden“, erklärte Cooper.

„Ich glaube, Rawley war sauer. Er bestand ein bisschen zu sehr darauf, dass Ben nicht gestürzt sein konnte. Aber Ben hatte etwas getrunken. Nicht mal ansatzweise mehr als das gesetzliche Maß, doch genug, um zu stolpern. Rawley hat ihn entdeckt. Ben bewahrte sein Geld in einem Portemonnaie in der Kühlbox auf, und das Geld war immer noch an seinem Versteck. Das einzig Merkwürdige war …“ Der Deputy rieb sich den Nacken, bevor er fortfuhr. „Der Todeszeitpunkt wurde mit zwei Uhr morgens angegeben. Ben trug Boxershorts, und Rawley beharrte darauf, dass es keinen vernünftigen Grund gäbe, um diese Zeit im zweiten Stock aus dem Bett zu steigen und mitten in der Nacht in den Keller zu gehen. Vielleicht hat er recht – außer, dass Ben auch ein Geräusch gehört haben und zum Strand marschiert sein könnte. Falls Sie sich fragen, nein, es gibt kein Überwachungsvideo. In Thunder Point wird nur die Bank von einer Kamera überwacht. Ben hatte in all den Jahren vielleicht die ein oder andere merkwürdige Gestalt in seiner Bar. Aber wirklichen Ärger gab es nie.“

„Sie halten es also nicht für möglich, dass jemand, der Bens Versteck kannte, beschlossen hat, ihn um Mitternacht auszurauben?“

„Die meisten von Bens Kunden waren Stammkunden oder hatten über Stammkunden von der Bar gehört – Wochenendausflügler, Motorradfahrer, Angler und so weiter. Ben machte keine großen Geschäfte, doch er konnte davon leben.“

„Von Ködern und Whiskey?“

Der Deputy lachte. „Köder, Feinkost, Bar, Waschsalon, billige Souvenirs und Treibstoff. Ich würde sagen, dass Feinkost und der Barbetrieb den Löwenanteil seines Geschäfts ausmachten.“

„Treibstoff?“, wiederholte Cooper und blickte sich suchend um.

„Unten am Dock. Für Boote. Ben ließ ein paar seiner Kunden oder Nachbarn am Dock längsseits anlegen. Manchmal war die Warteschlange in der Marina ein wenig lang, und Ben hatte nichts dagegen, wenn sich die Leute selbst bedienten. Seit er tot ist und hier alles geschlossen wurde, müssen die Boote eine andere Anlegestelle finden – vermutlich in der Marina. Oh, er hatte auch noch einen Abschleppwagen, den er in der Stadt untergestellt hat. Aber er hat nie mit ihm geworben. Mehr weiß ich nicht. Er hatte keine Angehörigen, Mr Cooper.“

„Wer ist dieser Rawley? Der Kerl, der mich angerufen hat?“

Der Deputy nahm seinen Hut ab und kratzte sich am Kopf. „Sie sagten, Sie seien gute Freunde gewesen?“

„Vor fünfzehn Jahren. Er hat mir erzählt, dass er bei seinem Vater aufgewachsen ist und dass sie eine Bar und einen Angelladen hier an der Küste hatten. Wir haben uns in der Army kennengelernt. Er war Hubschraubermechaniker, und jeder nannte ihn den freundlichen Ben. Er war der netteste Mensch der Welt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich gegen einen Einbrecher gewehrt hätte. Vermutlich hätte er ihm nicht nur das Geld gegeben, sondern ihn auch noch zum Essen eingeladen.“

„Na bitte! Sie sind vielleicht nicht mit den neuesten Fakten vertraut, aber Ben kennen Sie gut. Wir neigen alle dazu zu glauben, dass es ein Unfall war. Auch aus Mangel an Beweisen des Gegenteils. Niemand hätte Ben für ein Almosen etwas angetan. Wissen Sie etwas über Rawley?“

Cooper schüttelte den Kopf.

„Rawley Goode ist um die sechzig, ein Veteran mit ein paar eindrucksvollen, posttraumatischen Problemen. Er lebt an der Küste, wo er sich um seinen älteren Vater kümmert oder so ähnlich. Ben hat ihm Arbeit gegeben. Rawley half hier und da aus, putzte, erledigte Besorgungen, räumte auf, solche Sachen. Er konnte Kunden bedienen, sofern niemand eine Unterhaltung von ihm verlangte. Die Leute von hier sind an ihn gewöhnt. Ich glaube, er war obdachlos, als Ben ihn getroffen hatte, doch sein Vater lebt schon lange hier. Interessanter Mensch, obwohl ich nicht gerade behaupten kann, ihn zu kennen. Rawley hat Ben gefunden.“

„Sind Sie sicher, dass Rawley ihn nicht die Treppe hinuntergestoßen hat?“

„Rawley ist ein schmächtiger kleiner Kerl. Der Gerichtsmediziner hat nichts entdeckt, was darauf hindeuten könnte, dass Ben gestoßen wurde. Und Rawley … war von Ben abhängig. Als Ben starb, gab es niemanden, den wir verständigen konnten. Aber machen Sie sich keine Sorgen – die Stadt hat ihm einen würdigen Abschied bereitet. Er war beliebt. Es gibt hier zwar bessere Bars, wo man hingehen kann, doch die Leute mochten Ben.“

„Ja, und ich mochte ihn auch“, erwiderte Cooper und blickte zu Boden. „Es muss doch ein Testament oder so etwas existieren. Rawley hat sich am Telefon nicht gerade deutlich ausgedrückt, aber er meinte, Ben hätte mir etwas hinterlassen. Könnten alte Fotos aus unserer Zeit bei der Army sein oder so. Was, denken Sie, sollte ich jetzt tun?“

„Ich führe ein paar Telefonate und überprüfe das für Sie.“

„Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Und vielleicht können Sie mir auch einen Platz empfehlen, wo ich meinen Anhänger abstellen kann?“

„An der Küste gibt es einige Touristenplätzchen. Coos Bay ist eine schöne Gegend. Haben Sie vor, eine Weile zu bleiben?“

Cooper zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ein paar Tage, um mit ein paar Leuten zu sprechen, die Ben kannten, mitzunehmen, was auch immer er mir vererbt hat, und ihm meinen Respekt zu erweisen. Ich möchte einfach allen zeigen, dass er gute Freunde hatte. Wir haben uns zwar nicht oft gesehen, und es klingt, als ob Ben mir nicht besonders viel erzählt hätte, doch wir sind immer in Kontakt geblieben. Und wenn ich nun schon mal den langen Weg auf mich genommen habe, um herzukommen, möchte ich auch etwas über ihn erfahren. Wie die Leute mit ihm klargekommen sind – so was in der Art. Wissen Sie, was ich meine?“

„Ich glaube, ich verstehe Sie. Das Haus ist abgesperrt. Niemand würde sich darum scheren, wenn Sie ein Weilchen hierblieben, solange Sie außerhalb des Hauses übernachten. Es ist natürlich kein richtiger Stellplatz für Ihren Anhänger, allerdings wird es für ein paar Tage schon gehen.“

„Danke, vielleicht tue ich das sogar. Die Aussicht ist ziemlich beeindruckend.“

Der Deputy reichte Cooper die Hand. „Ich muss los. Sie haben meine Nummer.“

„Danke, Deputy McCain.“

„Roger McCain, aber daran erinnert sich kaum jemand. Die Leute nennen mich Mac.“

„Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mac. Und danke für Ihre Hilfe.“

Sarah Dupre lief mit ihrer großen Dänischen Dogge Hamlet über die Hauptstraße von Thunder Point zum Diner. Sie band die Hundeleine an einem Laternenpfahl fest, zog sich die Handschuhe aus und betrat den Laden. Zu den Dingen, die sie an dieser kleinen Stadt liebte, gehörte, dass immer jemand da war, mit dem man ein paar Minuten reden konnte. Da sie erst seit ein paar Monaten hier wohnte, war sie noch nicht besonders bekannt in der Gegend. Doch wenn sie daran dachte, wie freundlich ihre neuen Nachbarn zu ihr waren, kam es ihr vor, als lebte sie schon länger hier. Wenn sie nicht arbeitete, ging sie gern mit Ham am Strand spazieren und aß auf dem Nachhauseweg etwas in dem kleinen Diner-Restaurant. Offensichtlich teilten auch andere diese Vorliebe. Vor den Laternenpfählen standen immer einige Hundenäpfe mit Wasser. Und auf den beiden Bänken links und rechts von der Eingangstür des Diners saßen regelmäßig ein bis zwei ältere Männer, die sich so die Zeit vertrieben.

Gina James stand hinter der Theke des kleinen Diners. Gina kümmerte sich im Restaurant um beinahe alles außer dem Kochen. Abends arbeiteten noch eine weitere Kellnerin und ein paar Aushilfskräfte in Teilzeit dort, aber es war ein ziemlich kleiner Laden. Ginas Mutter Carrie saß auf einem Hocker am Tresen neben ihrer Freundin Lou McCain. Carrie gehörte der Feinkostladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Lou war Lehrerin, die, wenn sie nicht arbeitete, für ihren Neffen Mac einsprang, um dessen Kinder zu hüten. Zwei von ihnen hatten Platz genommen in einer Nische, aßen Pommes und tranken Cola. Eine Belohnung nach einem langen Schultag.

Sarah grüßte, und alle drei Frauen erwiderten die Begrüßung ihrerseits mit einem herzlichen „Hallo“.

„Etwas zu trinken oder zu essen?“, fragte Gina.

„Könnte ich bitte ein Wasser haben? Wie geht’s euch denn so?“

„Was soll ich sagen? Es ist Freitag“, erwiderte Lou. „Ich werde die kleinen Schei… ähm, Schätzchen erst Montagmorgen wiedersehen.“

Sarah lachte. „Dafür kommst du bestimmt in den Himmel.“

„Falls ich nach meinem Tod in die Hölle käme, würden sie mich an einer Junior High unterrichten lassen“, erklärte Carrie lachend.

„Und wenn ich in die Hölle käme, müsste ich dort Kuchen und Törtchen backen“, entgegnete Lou.

„Hast du heute frei?“, fragte Gina Sarah.

„Wegen Landons Footballspiel. Dafür habe ich am Samstag und Sonntag Bereitschaftsdienst.“

„Aber du hast dir deswegen keinen Ärger eingehandelt, oder?“

„Nein. Meine Kollegen mögen freie Wochenenden genauso wie alle anderen. Und ich fliege gern an den Wochenenden, wenn ich dafür keines von Landons Spielen verpasse.“

Carrie stützte sich mit dem Ellbogen gegen die Theke. „Ich wünschte, ich hätte einen so aufregenden Job wie du, Sarah. Gegen deinen Job als Pilotin kommt meine Arbeit hier jedenfalls nicht an.“

„Erzähl uns ein bisschen davon“, forderte Lou sie auf.

Bevor Sarah etwas sagen konnte, ging die Tür des kleinen Diners auf, und das Glöckchen bimmelte. Ray Anne trat ein, in ihrer Version der Uniform einer Immobilienmaklerin: zu kurz, zu eng und zu viel Oberweite. Sie schimpfte. „Sarah, dieser Hund sollte angeleint sein!“

„Ist er doch, Ray Anne.“ Sarah lehnte sich auf dem Barhocker zurück, um durch die Glasscheibe der Eingangstür zu blicken. „Er ist festgebunden.“

Ray Anne wischte sich über den pinkfarbenen Rock. „Er schafft es trotzdem immer wieder, mich mit seinem schrecklichen Maul zu erwischen.“

„Nun, Ray Anne, du siehst einfach zu unwiderstehlich aus“, konterte Lou.

„Haha. Na ja, ihr erratet nie, was ich gerade entdeckt habe! Den tollsten Mann der Welt, draußen bei Bens Bar. Er ist muskulös und sieht aus wie ein echter Kerl – verwaschene Jeans, Löcher an den richtigen Stellen, einfaches altes T-Shirt unter einer Lederjacke. Eine dieser Fliegerjacken, du weißt schon, Sarah. Er fährt einen dieser Geländewagen mit einem Wohnauflieger … gutes Gesicht mit vielleicht einem Pickel und ein paar kratzigen Bartstoppeln auf Wangen und Kinn. Er sprach mit Mac. Sieht aus wie aus einer Werbeanzeige für Calvin Klein.“

„Was hast du denn draußen bei Ben getan?“, wollte Lou wissen.

„Ich habe mir etwas zur Vermietung angesehen. Am Berg. Zwei Blocks von Ben entfernt. Ihr wisst schon, das alte Haus von Maxwell.“

„Und wie konntest du von dort die Löcher in seinen Jeans und die Bartstoppel erkennen?“

Ray Anne tippte mit ihrer manikürten Hand auf ihre übergroße Handtasche und holte ein Fernglas heraus. Sie lächelte konspirativ und ruckte mit dem Kopf, ohne dass sich auch nur ein Härchen ihres blonden Schopfs bewegt hätte.

„Schlau“, sagte Lou. „Männer beobachten für Fortgeschrittene. Wie alt ist denn das Objekt deiner brennenden Begierde?“

„Unwichtig“, erklärte Ray Anne. „Ich frage mich, was er hier macht. Ich habe gehört, dass Ben keine näheren Angehörigen hatte. Glaubt ihr, der niedliche, alte Ben hat einen heißen Bruder unterschlagen? Nein, das wäre zu grausam gewesen.“

„Warum?“, fragte Sarah.

„Weil Ray Anne zu gern die Chance hätte, Bens Grundstück zu verkaufen“, informierte Carrie sie.

„Das stimmt nicht“, protestierte Ray Anne. „Du kennst mich, ich will nur helfen, wo ich kann.“

„Und wenn du schon dabei bist, ein oder zwei Männer einsacken“, ergänzte Lou.

Ray Anne erstarrte. „Einige von uns sind immer noch sexuelle Wesen, Louise“, meinte sie spitz. „Eine Regung, die dir vielleicht fremd ist.“ Als der Streifenwagen des Sheriff Departments langsam auf der Straße vorbeifuhr, rief Ray Anne: „Oh, da ist unser Deputy Knackarsch. Ich frage ihn, was los ist. Falls mich dieser Hund vorbeilässt!“

„Deputy Knackarsch?“, fragte Sarah und lachte.

„Die Teeniemädchen in der Stadt haben ihm diesen Spitznamen verpasst“, erklärte Lou trocken. „Ich kann die Benutzung nicht empfehlen. Mac hasst ihn. Der Name macht ihn wirklich wütend. Ich sollte ihm verraten, welcher Spitzname zu Ms Immobilienmaklerin passen würde. Feuchtes Höschen.“

Carries Lippen verzogen sich zu einem Lachen. „Sie hat dir unterstellt, dass du vielleicht nicht die ganze sexuelle Tragweite erfasst, Louise.“

Lou erwiderte sarkastisch: „Falls sie tot aufgefunden wird, gebt ihr Mädchen mir dann ein Alibi?“ Dann drehte sie sich um und rief: „Hey, Kinder. Kommt, wir machen uns auf die Socken.“ Zu ihren Freundinnen meinte sie: „Ich werde Knackarsch zu Hause mal aushorchen. Und ich wette, ich kriege mehr aus ihm heraus als aus unserem Feuchten Höschen hier.“

Sarah hängte ihre rote Regenjacke gerade rechtzeitig an einen Haken im Windfang, um zu sehen, wie ihr jüngerer Bruder Landon mit seinem Rucksack voller Footballausrüstung zur Hintertür hineinkam.

„Hallo“, begrüßte sie ihn. „Dich hatte ich hier gar nicht erwartet.“

„Ich bin nur gekommen, weil ich ein paar Sachen holen und mir ein Sandwich machen wollte“, antwortete er und beugte sich nach vorn, damit er den Hund streicheln konnte. Er musste sich nicht weit beugen, Hamlet war groß. „Ich muss los.“

„Warte eine Sekunde“, bat sie.

„Was?“, fragte er, immer noch den Hund streichelnd.

„Um Himmels willen, kannst du mich einmal ansehen?“, sagte sie. Als er sich mit dem schweren Rucksack auf den Schultern aufrichtete, schnappte sie nach Luft. Er hatte einen Bluterguss an der Wange.

„Training“, erklärte er. „Es ist nichts.“

„Du hast an Spieltagen kein Training.“

„Tja, ich hoffe, ich kriege deswegen keinen Ärger. Ein paar von uns sind rausgegangen, um ein paar Runden zu trainieren, und da hat es mich erwischt. Es war ein Unfall.“

„Du hast ohne Helm trainiert?“

„Sarah, es ist nichts. Ein kleiner Kratzer. Den hätte ich mir auch holen können, wenn ich gegen die offene Spindtür gelaufen wäre. Zieh nicht so ein Gesicht, und behandle mich nicht wie ein Mädchen. Kommst du zum Spiel?“

„Natürlich. Weshalb spielst du nicht Schach, singst im Chor oder spielst meinetwegen in einer Band? Irgendwas, dass ohne körperliche Auseinandersetzung gemacht wird?“

Er grinste sie an. Es war ein unwiderstehliches Lächeln, das er von ihrem verstorbenen Vater geerbt hatte. „Du bekommst genug Schlaf, ohne dass ich dich zu Tode langweile“, antwortete er. „Und apropos – warum kannst du nicht einfach Stewardess oder so was sein?“

Damit hatte er sie erwischt. Sarah flog den Rettungshubschrauber für die Coast Guard. Das bedeutete immer wieder auch riskante Einsätze. Heikel. Und zugegebenermaßen bereitete ihr dieser Teil der Arbeit am meisten Spaß.

„Kann ich mich darauf verlassen, dass du heute Abend deinen Helm trägst?“

„Sehr witzig. Es wird bestimmt ein gutes Spiel. Die Raiders sind ein guter Gegner. Sie sind ein gutes Team.“

„Tut es weh?“, fragte sie und berührte ihre eigene Wange.

„Nee, es ist fast nichts. Bis später.“

Sie unterdrückte das dringende Verlangen, ihn zu bitten, vorsichtig zu sein. Es gab nur noch sie beide. Sie war seine Beschützerin und Familie. Manchmal wollte sie ihn einfach nur in die Arme nehmen und festhalten. Trotzdem war es sehr aufregend, ihn spielen zu sehen. Landon war ein großartiger Sportler, fast eins achtzig und sehr muskulös für einen Sechzehnjährigen. Sie hatte gehört, dass er der beste Quarterback seit Langem in Thunder Point war.

Zum tausendsten Mal hoffte sie, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, mit ihm hierherzuziehen. Er war letztes Jahr in der North Bend Highschool sehr glücklich gewesen und hatte dort gerade erst Fuß gefasst und Freunde gefunden. Doch sie hatte es nicht ertragen, in der Stadt zu bleiben, in der ihr Ex lebte – in dem Haus, das sie gemeinsam bewohnt hatten. Schlimm genug, dass sie immer noch zusammen arbeiteten.

Sie war schon so oft umgezogen …

Sarah streckte die Arme aus, als wollte sie ihren Bruder in den Arm nehmen, ließ sie dann aber wieder sinken. Er wollte keine Zärtlichkeiten mehr. Seit er Teenager war, wollte er das nicht mehr. Also hielt sie sich zurück.

„Na gut“, meinte Landon geduldig. „Bring es hinter dich.“

Sie schlang die Arme um ihn, und er erwiderte ihre Umarmung lässig mit nur einem Arm. Dann grinste er sie wieder an. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie gut er aussah, was ihn noch attraktiver machte.

„Spiel dir dein kleines Herz aus dem Leib, Großer“, sagte sie. „Und lass dich nicht zu übel zurichten.“

„Keine Sorge, ich bin schnell.“

„Gehst du nach dem Spiel noch aus?“

„Keine Ahnung. Kommt darauf an, wie müde ich bin.“

Sarah musterte ihn. „Als ich in deinem Alter war, war ich nie zu müde, um auszugehen. Wenn du ausgehst, wäre es schön, wenn du gegen Mitternacht wieder zu Hause wärst. Und auf keinen Fall nach eins.“

Er lachte. „Wir sind uns einig, Boss.“

Beide wussten, dass er nach einem Spiel nur selten ausging.

2. KAPITEL

Roger McCain fuhr nach Hause. Für heute war Feierabend. Er wohnte in einem großen Haus, das er sich mit drei Kindern und seiner Tante Lou nicht ganz leisten konnte. Er war sechsunddreißig und seine älteste Tochter Eve sechzehn. Ryan war zwölf und Dee Dee zehn. Als er nach Hause kam, ging er zuerst zum Waffenschrank in der Garage, um seine Waffen sicher wegzuschließen, bevor er das Haus betrat. Obwohl er seine Kinder belehrt und auch ausgebildet hatte, kamen ihm keine Waffen ins Haus.

Es war ungefähr halb sechs, als er aus der Garage ins Haus trat. Lou stand am Spülbecken und spülte Geschirr. Sie war sechzig, sah aber überhaupt nicht so aus. Sie trug eng anliegende Jeans, eine weiße Seidenbluse, Lederweste und Stiefel, und sie hatte eine gute, straffe Figur. Ihr lockiges, schulterlanges Haar war kastanienbraun und von hellen Strähnchen durchzogen. Ihre Nägel manikürt und mit knalligen Farben lackiert. Sie beklagte sich über Krähenfüße und ihren Kehllappen, wie sie die Haut unter ihrem Kinn bezeichnete. Doch Mac hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Lou nannte sich selbst eine altjüngferliche Tante. Sie hatte nie geheiratet oder Kinder bekommen, aber in Wirklichkeit war sie jung, energiegeladen und resolut. Also genau das, was er brauchte, auch wenn sie ihn manchmal rasend machte.

Ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen, sagte sie: „Da stehen Tacos. Die Kinder haben schon gegessen. Eve fährt heute Abend mit dem Van zum Spiel. Sie trifft ein paar Freunde. Das heißt, wir, du und ich und die Kinder, müssen zusammen hinfahren. In weniger als einer Stunde.“

Freitagabend. Highschool Football. Eve war Cheerleader. Eine großartige, junge Cheerleaderin, die ihrer Mutter ähnlich sah.

„Bist du mal auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich damit einverstanden bin, dass Eve mit dem Van fährt?“

Lou drehte sich um. „Bin ich“, antwortete sie und nickte entschieden. „Ich komme immer auf solche Ideen. Du kannst natürlich auch Nein sagen und mit ihr diskutieren, bis du schließlich doch nachgibst und den ganzen Abend herumgrummelst. Sie ist sechzehn und ein braves Mädchen. Sie hat es verdient.“

Mac nickte, obwohl er Lous Kommentare dieser Art hasste. Seine Exfrau Cee Jay – Kurzform für Cecilia Jayne – war ebenfalls Cheerleaderin gewesen und er Footballspieler, damals in Coquille. Cee Jay war mit sechzehn schwanger geworden, Mac mit neunzehn bereits ein frischgebackener Ehemann, und ein weiteres Kind war unterwegs.

Cee Jay hatte sie verlassen, als Dee Dee neun Monate alt war. Danach war Mac mit den Kindern zu Lou gezogen. Cee Jay war noch so jung gewesen, als sie fortgegangen war – dreiundzwanzig. Mac war sich immer noch nicht richtig im Klaren darüber, weshalb er sich mit dreiundzwanzig schon so alt gefühlt hatte. Doch zu der Zeit war er ziemlich damit beschäftigt gewesen, seine Familie mit zwei Jobs zu ernähren. Er hatte gerade angefangen, in Nachtschichten als Deputy zu arbeiten, und war tagsüber als Sicherheitsdienst in einem gepanzerten Wagen unterwegs.

Es war sein schmutziges, kleines Geheimnis, dass es ihm gar nichts ausgemacht hatte, zwei Jobs gleichzeitig erledigen zu müssen. Doch Cee Jay war zu häufig allein. Außerdem musste sie andauernd knausern, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Sie hockte mit den Kindern zu Hause in einem kleinen Häuschen und beklagte sich ständig. Es sei nicht genug Geld da, das Haus zu klein, zu alt, kurz vor dem Auseinanderfallen, die Kinder außer Rand und Band. Sie jammerte, dass ihr Leben keinen Spaß mache und ihr Mann sich zu wenig um sie kümmere. Cee Jay warf ihm vor, ohnehin nur so lange zu Hause aufzutauchen, bis er sein Essen verschlungen hatte, um dann gleich wieder zum nächsten Job aufzubrechen. Sie wollte mehr Geld, aber es gefiel ihr nicht, dass er ständig arbeitete.

Und dann, eines Tages, hatte sie genug. Sie packte einen großen Koffer, brachte die Kinder zu den Nachbarn und wartete, bis er von seinem Tagesjob nach Hause kam. „Ich halte es nicht mehr länger aus“, hatte sie ihm erklärt. „Ich habe es satt, vollgekotzt zu werden, Windeln zu wechseln, den ständigen Krach auszuhalten. Ich habe diesen Mist, den wir Leben nennen, so satt. Ich bin es leid, nie auch nur einen Penny übrig zu haben, wenn ich einkaufen war. Ich habe endgültig genug. Ich gehe.“

In den letzten neun Jahren hatte Mac sich oft gefragt, weshalb ihn das überrascht hatte.

„D…du gehst?“, hatte er gestammelt. Woraufhin sie erklärte: „Die Kinder sind nebenan. Ich nehme meine Sachen und zweihundert Dollar mit.“

Mac zitterte. Vor Angst. Vor Furcht. Vor Schmerz. „Cee Jay, das kannst du mir nicht antun.“

„Na ja, du hast damit angefangen. Sieh nur, was du mir angetan hast. Ich war sechzehn, Mac. Sechzehn und schwanger!“

„Aber du warst glücklich! Und du wolltest Ryan. Du hast um Ryan gekämpft! Dee Dee war ein Unfall, aber du …“

„Und du glaubst, ich hätte mit sechzehn oder zweiundzwanzig irgendeine Ahnung gehabt?“

„Hör zu, ich war auch erst neunzehn! Wir waren also beide zu jung. Glaubst du, ich wüsste das nicht? Du kannst doch nicht einfach deine Kinder im Stich lassen!“

„Ich sehe keine Möglichkeit, sie allein durchzufüttern. Außerdem halte ich das alles einfach nicht mehr aus!“

„Cee Jay, wie soll ich denn arbeiten und mich gleichzeitig um die Kinder kümmern?“

Er erinnerte sich an das Geräusch einer Hupe. Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu. „Keine Ahnung, aber dir wird schon etwas einfallen. Ruf deine Tante an, sie konnte mich noch nie leiden.“

Er hatte Cee Jay an der Schulter gepackt und geschüttelt. So grob war er noch nie mit einer Frau umgegangen.

„Bist du verrückt geworden? Was soll das denn? Wirst du von einem Kerl abgeholt?“

Als Mac aufhörte, sie zu schütteln, sagte sie: „Es gibt keinen Kerl! Das ist ein Taxi! Soll ich die Polizei rufen? Lass mich gehen!“

Natürlich hatte es einen anderen Mann gegeben. Mac brauchte drei Wochen, bis er es herausfand: ein Golfprofi. Es war ihm ein Rätsel gewesen, wie und wann Cee Jay die Zeit gefunden hatte, eine Beziehung zu diesem Mann aufzubauen. Eine Beziehung, die stabil genug gewesen war, um den Mann zu überreden, sie zu sich zu nehmen. Aber Mac hatte nicht lockergelassen und es schließlich herausgefunden. Freundinnen – junge Mütter wie Cee Jay – rannten herum, passten gegenseitig auf die Kinder auf, um sich ein wenig freie Zeit für sich zu verschaffen. Sobald Mac den Namen des Mannes kannte, fing er an, seine Aktivitäten in den Nachrichten zu verfolgen. Dann folgte das zweite Rätsel: Warum kehrte Cee Jay nicht zu ihrer Familie zurück, als die Beziehung zu dem Golfspieler vorbei war? Denn sie dauerte kaum länger als einen Monat.

Mac hatte sich ausgemalt, wie er Cee Jay dazu brachte, ihn anzuflehen, wieder zu ihm zurückkehren zu dürfen. Nur so lange, bis er sich sicher gewesen wäre, dass sie sich wirklich geändert hatte und bereit war, ihre Verantwortung zu übernehmen und so etwas nie wieder zu machen. Niemand konnte sich die Demütigung vorstellen, die er empfand, weil er nicht in der Lage war, die Mutter seiner Kinder zu halten. Damals hatte er in Coquille gewohnt. Es dauerte keine achtundvierzig Stunden, bis jeder, der je von ihm gehört hatte, darüber sprach, wie Cee Jay McCain ihren jungen Ehemann und die drei kleinen Kinder wegen eines Golfprofis verlassen hatte. Mac verbrachte die folgenden fünf Jahre damit, sich auszumalen, dass sie vielleicht doch wieder zur Vernunft kommen und zu ihm und den Kindern zurückkehren würde. Und sei es nur, um die Kinder zu sehen. Dann dämmerte ihm allmählich, dass er sich davor fürchten musste, dass sie Anspruch auf die Kinder erheben könnte, sobald er endlich alles einigermaßen im Griff hatte. Mac beantragte die Scheidung. Er musste Cee Jay suchen, um das erledigen zu können. Sie war in Los Angeles wieder aufgetaucht. Mac und Cee Jay sprachen nicht miteinander. Sie unterzeichnete die Papiere und lehnte das Sorgerecht ab. Und er ließ es, abgesehen von ein paar kleinen Drohungen, ebenfalls gut sein. Er hasste Cee Jay für das, was sie ihren Kindern antat. Seitdem hatte er eine Heidenangst, sich wieder auf eine Frau einzulassen.

Während der Scheidung waren Mac und die Kinder nach Thunder Point umgezogen. Ungefähr eine halbe Stunde von Coquille und dem Büro des Sheriffs entfernt. Selbst wenn Mac ins Büro nach Coquille zurückgemusst hätte, hätte er immer noch pendeln können. Doch hier war es ihm ausgerechnet während der großen Finanzkrise gelungen, ein größeres Haus zu finden. Groß genug für eine Familie: drei Kinder, Tante Lou und zwei Labradore.

Mac hatte seine Eltern früh verloren und schon während seiner Zeit an der Junior High und der Highschool bei Lou gewohnt. Man hätte also meinen können, dass sie genau wie er befürchtete, Eve könne einem coolen Footballspieler in die Hände fallen und sich ihr Leben genauso versauen wie ihre Mutter. Lou und Mac hatten nie darüber gesprochen. Diese Bedenken waren also nie in Worte gefasst worden. Aber sie wussten beide, was Mac innerlich auffraß. Er wollte, dass Eve mit siebenundzwanzig in gesicherten und stabilen Verhältnissen lebte. In wirklich sicheren Verhältnissen.

Und genau in diesem Moment wirbelte seine Tochter in ihrer sehr knappen Cheerleader-Uniform in die Küche. Sie trug einen kurzen Faltenrock, einen Pulli mit V-Ausschnitt und eine Lederjacke. Eve hatte lange wunderbare Beine und dichtes dunkles Haar, das sie die meiste Zeit offen trug. Außerdem hatte sie die blauesten Augen, die man sich vorstellen konnte. Ihr Lächeln war im positiven Sinne hypnotisierend, hatte allerdings auch seinen Preis. Denn kaum hatte Mac die Zahnarztrechnungen bezahlt, flatterten schon die nächsten Monatszahlungen ins Haus. Die blauen Augen lagen in ihren Genen, gesunde Zähne leider nicht. Wenn das Sheriff Department ihm keine zahnärztliche Zusatzversicherung zahlen würde, hätte er ein echtes Problem – und seine Kinder auch.

„Ich winke dir beim Spiel zu, Daddy“, sagte Eve und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. „Nachher gehen wir noch aus“, informierte sie ihn.

„Mitternacht, Eve“, erinnerte er sie. Als ob sie vor Mitternacht nicht in Schwierigkeiten geraten konnte. Doch länger hielt er es nicht aus. Er musste die Kinder zu Hause und in ihren Betten wissen, damit er sich entspannen konnte.

„Wie oft bin ich schon zu spät nach Hause gekommen?“

„Ein paar Mal.“

„Aber nicht sehr viel später“, erinnerte sie ihn. Dann strahlte sie. „Ich glaube, wir werden es den Raiders heute Abend mal so richtig zeigen!“

Und er grinste sie an. Sie war sein Püppchen, und er würde für sie sterben. So einfach war das.

Als sie durch die Tür verschwand, schüttelte Lou den Kopf. „Ich wünschte, du würdest endlich anfangen, ein eigenes Leben zu leben“, sagte sie.

„Das hier ist mein Leben“, erwiderte er und setzte sich an den Tisch, um sich ein paar Tacos zu machen.

„Du musst ein bisschen mehr daraus machen. Zum Beispiel mit einer Frau.“

„Warum? Willst du wegziehen?“

„Könnte ich machen“, erwiderte sie herausfordernd.

„Dann tu dir keinen Zwang an. Ich komme schon klar.“

Sie lachte ihn aus. „Das würde ich gern sehen“, spottete sie und holte ihm eine kalte Cola aus dem Kühlschrank, bevor sie sich zu ihm setzte. „Erzähl mir von den Verbrechen in Thunder Point, Mac. Ich habe den ganzen Tag noch nichts Interessantes gehört.“

„Na ja“, erwiderte er und streute sich Käse auf vier große Tacos. „Kein interessantes Verbrechen, aber ein alter Freund von Ben Bailey ist gekommen und wollte wissen, was Ben zugestoßen ist. Er wohnt in seinem Wagen, draußen bei der Bar. Sagt, er wird sich ein paar Tage in der Gegend aufhalten.“

„Ray Anne hatte schon so etwas erwähnt. Ihr entgeht kein neuer Mann in der Stadt.“ Lou schüttelte den Kopf. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass Ben weg ist.“

„Das kann niemand“, meinte Mac, bevor er sich seinem ersten Taco widmete.

Cooper fuhr seinen Wohnauflieger auf einen Parkplatz an der Rückseite der Bar, außer Sicht von der 101. Der kleine Parkplatz bot nicht nur Platz für zwanzig oder dreißig Autos, von ihm ging auch noch eine weitere Straße ab, die direkt zum Strand hinunterführte. Eigentlich eher eine Auffahrt, die nach unten führte. Sie wirkte wesentlich harmloser als die Strecke über den Bailey Pass und die Gibbons zur Autobahn.

Cooper stromerte auf dem abgesperrten Grundstück herum und schaute durch die Fenster. Das neueste und schönste am gesamten Gebäude war eine eindrucksvolle Terrasse, die sich über zwei Seiten des Hauses erstreckte, komplett mit Stühlen und Tischen eingerichtet war und einen tollen Blick aufs Meer bot. Der Blick durchs Fenster offenbarte eine Menge Dinge, die nach Sperrmüll aussahen. Es gab einen langen Tresen mit Barhockern, jede Menge Alkohol auf einem Regal dahinter, aber nur ein halbes Dutzend kleine Tische. An der Wand hingen Dinge wie Rettungswesten, Netze, Muscheln und weiterer Krimskrams vom Meer. Auch ein paar gebogene Gestelle für Postkarten und Souvenirs fehlten nicht. Dieser Raum sah aus, als wäre seit Jahren nichts mehr an ihm gemacht worden. Cooper konnte sogar vom Fenster aus Staub und Spinnweben erkennen. Das überraschte ihn aber nicht. Ben war freundlich und großzügig bis zur Schmerzgrenze gewesen. Er konnte gut mit Motoren und allen möglichen mechanischen Arbeiten umgehen, aber er war nicht gerade geschäftstüchtig. Ben neigte ein wenig zur Faulheit, es sei denn, es ging darum, einen Motor zu warten. Und er hatte auch nie besonders gut mit Geld umgehen können und immer ausgegeben, was er besaß. Als Cooper ihn kennengelernt hatte, lebte Ben, genau wie sein Vater, ohne Konto und nur mit Bargeld. Er hatte mit Sicherheit nicht besonders viel Stil. Billige Getränke. Ben war einfach ein netter, guter alter Junge gewesen.

Cooper lud seinen Strandbuggy und sein Motorrad ab. Am Ende des Parkplatzes stand, unterhalb eines Hügels, ein großer Blechschuppen. Leider abgeschlossen. Cooper verstaute seine beiden Spielzeuge unter einer Plane und sicherte sie mit einer Kette, damit sie ohne seinen Wohnauflieger und ohne Schneid-brenner nicht gestohlen werden konnten.

Dann wanderte er zum Strand hinunter, um sich das Dock etwas genauer anzusehen, an dessen Ende er einen Öltank und eine betonierte Bootsrampe entdeckte. Er fragte sich, ob Ben ein Boot in dem Schuppen liegen hatte, der so groß wie eine Garage war. Langsam ging die Sonne unter, und es wurde verdammt kalt auf dem Wasser, ganz anders als in dem südlichen Klima, an das er gewöhnt war. Cooper begegnete ein paar Menschen, die entweder spazieren gingen oder joggten, und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Er war froh, dass er in seinem hinteren Hosenbund, unter der Jacke, eine Glock mit sich führte. Letztlich war er allein hier. Niemand kannte ihn, und er hatte immer noch Zweifel an Bens Treppensturz. Von einem großen Kerl wie Ben hätte man angenommen, dass er einen solchen Sturz, wenn auch mit Blessuren, überlebt hätte. Schlimmstenfalls mit gebrochenen Knochen.

Als die Nacht hereinbrach, kehrte Cooper zu seinem Wohnanhänger zurück. Am nächsten Morgen blieb ihm noch genug Zeit, um Thunder Point ausführlich zu erkunden. Nun wollte er sich erst einmal erholen und die Nacht ordentlich durchschlafen, bevor er am nächsten Morgen jene Männer und Frauen kennenlernen würde, die Ben gekannt hatten.

Doch gegen elf wurde es auf einmal laut. Ein paar Leute unterhielten sich. Cooper zog sich die Jacke wieder an, steckte sich die Pistole in den Hosenbund und ging nach draußen. Er hatte sein Fernglas aus dem Geländewagen geholt und spazierte über die Terrasse. Am Strand sah er ein paar Jugendliche, die an ein paar Feuerstellen feierten. Den Rufen und Quietschlauten nach zu urteilen, handelte es sich um Teenager. Ein paar Scheinwerfer, die sich von der anderen Seite des Strands aus Richtung Stadt näherten, ergaben ein vollständiges Bild. Bens Bar war vermutlich überwiegend von der Strandseite aus besucht worden, vor allem nachts. Die Scheinwerfer, die Cooper sah, hielten zwischen einer Reihe anderer Geländefahrzeuge – Quads und Strandbuggys.

Ja, das hier war eine Strandbar. Mit Waschautomat, Ködern und Bootsdiesel. Jetzt ergab das alles einen Sinn: Im Winter und bei schlechtem Wetter verkaufte Ben vermutlich eher weniger, aber während der Sommerzeit machte er wahrscheinlich ein gutes Geschäft. Leute aus Thunder Point auf der anderen Seite des Strands hielten hier an, um ein Soda oder ihren Frühstückskaffee zu trinken, wenn sie ihre Hunde ausführten. Leute aus der Stadt fuhren mit ihren Strandbuggys bis hierher, um bei Sonnenunter-gang etwas auf der Terrasse zu trinken. Sportangler und Segler konnten den Tag hier beginnen oder enden lassen.

Cooper tat es ein bisschen leid, dass er nicht mehr hier sein würde, um zu beobachten, wie die Sommerstürme über den Pazifik kamen. Oder die Wale, die im Frühling und Herbst hier vorbeizogen. Jetzt waren zwar keine Wale in der Bucht, aber er hielt jede Wette, dass die Aussicht vom anderen Ende der Klippen oder der gegenüberliegenden Seite der Bucht großartig war.

All das hatte Ben sicher aus tausend Gründen sehr angezogen. Es war der Laden seines Vaters, und er hatte Jahre seines Lebens hier verbracht. Der Ausblick war fantastisch, und niemandem gefiel es besser, die Füße hochzulegen und zu entspannen, als Ben Bailey.

Vom Strand erklang lautes Knallen und Geschrei. Er griff automatisch nach seiner Glock, aber die Geräusche wurden von Gelächter begleitet. Feuerwerk. Dann hörte er Gesang. Los, Cougars, los. Los, Cougars, los. Los, los zeigt es ihnen, zeigt es ihnen, zeigt es ihnen. Los!

Beifallsrufe. Klar! Darum ging es! Es war Oktober. Football und Teenager. Und das hier machten die Kids von der Küste nach einem Spiel vermutlich den ganzen Sommer lang. Cooper hatte als Kind viele Jahre am Meer gewohnt. Doch als er im Teenageralter gewesen war, zogen seine Eltern ins Inland, vom Wasser weg nach Albuquerque, New Mexico. Er und seine Freunde waren oft in der Wüste gewesen, außer Sicht neugieriger Erwachsener, wo sie Feuer gemacht, ein paar Bier getrunken oder sich mit Mädchen getroffen hatten.

Welch ein perfektes Umfeld. Die Küste war lang und führte hoch nach Kanada, aber dieses kleine Stückchen Strand war nicht so einfach zu erreichen. Man kam entweder nur aus Richtung Stadt über Bens Bar dorthin oder zu Fuß und mit einem Strandbuggy. Da war nicht mit vielen Fremden zu rechnen.

Cooper kehrte zu seinem Wohnmobil zurück und machte es sich bequem – die Tür abgeschlossen, die Pistole in Reichweite. Er schaltete den Fernseher an, der den Krach der Kids übertönte, bis es draußen leiser wurde. Am nächsten Morgen setzte er einen Kaffee auf und ging mit seiner Tasse erst zum Dock hinunter und dann an den Strand. Obwohl er mit diesem Ort nichts zu schaffen hatte, ertappte er sich dabei, dass er hoffte, dass die Kids den Strand ordentlich hinterlassen und ihren Müll nicht am Strand verteilt hatten.

Und tatsächlich! Ein paar große grüne Mülleimer standen am Hang. Sie waren voller Flaschen, Dosen, Sandwichverpackungen und Resten des Feuerwerks. Das Hochwasser hatte die Reste des Feuers gelöscht. Und der Strand war, außer etlichen Fußspuren, vollständig aufgeräumt. Wer waren diese Kinder? Teenager aus Stepford?

Cooper atmete die nebelige Meeresluft ein und beschloss, zu duschen und anschließend in die Stadt zu gehen. Er wollte ein wenig mehr über diesen Ort erfahren.

Hank überlegte, mit seinem Rhino-Strandbuggy den Strand entlang in die Stadt zu fahren, fuhr aber stattdessen mit dem Geländewagen auf die 101 zurück, einfach um die Entfernung besser einschätzen zu können. Der Freeway machte eine Rechtskurve nach Osten, von der Stadt weg, und er fuhr noch etwa fünf Meilen, bevor er ein kleines Schild nach Thunder Point sah. Dann bog er nach links ab und fuhr noch einmal fünf Meilen, bis er die Stadt erreichte. Also fuhr man entweder eine, höchstens anderthalb Meilen am Strand entlang oder zehn Meilen auf der Straße.

Auf dem Weg von der 101 nach Thunder Point kam er an der ungefähr 1960 erbauten Highschool vorbei, die am Rand der Stadt lag. Nicht zu groß, fiel ihm auf. Dann gelangte er auf die Hauptstraße, den Indigo Sea Drive.

Er war schon durch Hunderte Städte wie diese gefahren, vielleicht auch schon durch Tausende. Geschäfte säumten die Straßen: eine Reinigung, Bäckerei, Imbiss. Daneben, Seite an Seite, lagen die Grund- und die Realschule. Hank entdeckte ein Geschäft für Second-Hand-Mode neben einem Laden für gebrauchte Kleidung und fragte sich, was der Unterschied sein mochte. Es gab ein Lebensmittel- und Spirituosengeschäft, eine Apotheke, eine Tankstelle, eine Eisenwarenhandlung und ein kleines Motel. Außerdem eine schmuddelig wirkende Bar namens Waylan’s. Und ja, frischen Fisch sowie McDonalds, Taco Bell, Subways und Carrie’s Deli und Catering. Das Büro des Sheriffs lag in einem Haus mit schmaler Fassade, zwischen dem Feinkostladen und einem kleinen Lagerhaus, in dem ein Mann gerade das große Schaufenster leer räumte.

Bei einem weiteren Erkundungsgang durch die Stadt entdeckte er vier Straßen, die bergab zum Strand oder zur Marina führten. Der Strand und die Bucht sahen aus, als hätte man ein Becken ausgehoben. Alle Straßen führten entweder hoch oder runter – runter zur Marina, hoch zur Hauptstraße, runter zum Strand, hoch zu Baileys.

Es schien, als ob das Leben über die Marina und die Hauptstraße in die Stadt kam. Die meisten Bootsliegeplätze waren leer. Vermutlich wegen der Fischerboote, die früh am Morgen rausgefahren waren. Hank entdeckte zwei Bootsrampen und eine Bootstankstelle. Außerdem waren ein paar kleinere Fischerund Motorboote im Hafen festgemacht worden und ein großes Kajütboot. Am anderen Ende der Marina, hoch genug, um vor Hochwasser und Überschwemmungen geschützt zu sein, lag ein Restaurant, das auch mit einer Bar warb – Cliffhanger.

Cooper kehrte zur Hauptstraße zurück und fuhr nach Westen, aus der Stadt raus. Dort standen auch ein paar Häuser. Am Ende der Landzunge sogar ein sehr großes, mit einer geschlossenen Auffahrt. Wem dieses Haus gehörte, der genoss die beste Aussicht, die man sich vorstellen konnte. Denn das Gebäude stand weit oben auf einer Felsenklippe. Von Bens Terrasse aus war ihm ein kleiner Leuchtturm irgendwo unterhalb dieser Villa aufgefallen.

Thunder Point war nicht gerade eine schöne, kleine Stadt, aber ein paar hübsche Details wie zum Beispiel große Blumenkübel vor einigen Geschäften, altmodische Straßenlaternen und hier und da ein paar Büsche, die die breiten Wege säumten, gab es dennoch.

Cooper vermutete, dass die besten Orte für Neuigkeiten eine der zahlreichen Bars oder ein Diner waren. Das Cliffhanger hatte noch nicht geöffnet. Waylan’s vermutlich schon, aber ihm war nicht nach einer schmuddeligen Bar zumute. Er ging ins Diner und setzte sich an den Tresen. Entweder war der Laden absichtlich im Retrostil dekoriert, oder er war schon fünfzig Jahre alt. Die Kratzer im Linoleumfußboden gaben Anlass, Letzteres zu vermuten. Eine Kellnerin mit einer großen Kaffeekanne kam zu ihm. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine schwarz-weiß gemusterte Bluse. Auf ihrem Namensschild stand Gina.

„Guten Morgen, Gina“, begrüßte Cooper sie.

Gina schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. „Guten Morgen, fremder Mann. Hungrig?“

„Das bin ich tatsächlich. Welche Art von Eiern haben Sie denn da?“, fragte Cooper.

Sie stellte die Kaffeekanne ab und stützte sich mit beiden Händen am Tresen ab. Strahlend lächelnd erwiderte sie: „Das ist eine ziemlich dreiste Frage. Wir haben Eier als Eier da.“

Hank konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. „Dann rühren Sie mir mal ein paar zusammen. Toast auch, und … haben Sie auch Würstchen als Würstchen?“

„Einfach so oder mit Brötchen?“

„Mit Brötchen.“

„Weizen oder Weizen?“

„Warum nicht mal was riskieren? Weizen.“

„Gute Wahl. Besser für Sie. Und jetzt trinken Sie Ihren Kaffee bitte langsam, damit ich nicht gleich wieder zurückkommen muss.“

„Könnte ich noch etwas Eiswasser bekommen?“ Er sah sich um. In dem kleinen Diner saßen keine weiteren Kunden. „Falls es nicht zu viele Umstände macht.“

„Das kostet extra“, erwiderte sie, drehte sich um und klatschte die Bestellung auf den Tresen des Kochs.

„Das kann ich mir leisten. Aber es könnte von Ihrem Trinkgeld abgehen.“

Gina brachte ihm ein Eiswasser und stellte es vor ihm ab. „Falls es mein Trinkgeld beeinträchtigt, berechne ich das Wasser nicht. Glauben Sie etwa, ich arbeite wegen des Geldes hier?“ Sie wischte den Tresen sauber. „Ich weiß, dass Sie nicht einfach so zufällig hier vorbeikommen. Es gibt nur zwei Wege in diese Stadt, und beide sind ungemütlich.“

„Zwei Wege?“, fragte er im Vertrauen darauf, dass sie ihm den Weg von Gibbons bis zu Bens Bar hinunter erklären würde oder den über den Indigo Sea Drive durch das Herz der Stadt.

„Entweder über Land oder von See“, sagte sie. „Wir liegen auf dem Weg nach nirgendwo.“

„Ich bin dennoch zufällig hier. Ben Bailey war ein Freund von mir, und ich habe gerade erfahren …“

Entsetzt sah sie ihn an. „Oh, das tut mir leid! Wir vermissen Ben hier ganz schön.“

„Deshalb halte ich mich auch ein bisschen hier auf – um einige seiner Freunde kennenzulernen. Ben und ich haben uns vor langer Zeit bei der Army kennengelernt. Wir sind immer in Kontakt geblieben, aber ich war noch nie hier oben.“

„Ben war so ein netter Kerl. Der letzte Mensch, von dem ich dachte, wir könnten ihn verlieren.“

„Wer waren seine engsten Freunde?“, fragte Cooper.

„Ach, du lieber Himmel. Niemand und alle“, erwiderte sie schulterzuckend. „Ben war so einer, der auf die ganze Stadt achtete, aber ich weiß nicht, ob es ein oder zwei Menschen gibt, mit denen er besonders eng befreundet war.“

Die Tür ging auf, und Mac trat ein. Heute trug er keine Uniform, sondern Jeans, Stiefel, ein gebügeltes Hemd und eine Jacke, worin er sich sichtlich wohlfühlte.

„Das ist der Mann, den Sie wahrscheinlich fragen sollten“, sagte Gina.

„Hallo, Mac.“

Er nahm seine Mütze ab und setzte sich neben Cooper an die Theke. „Wonach fragen?“

„Er ist ein Freund von Ben …“

„Wir kennen uns schon“, sagte Mac und reichte ihm die Hand. „Wie geht es, Mr Cooper?“

Hank lachte. „Jedes Mal, wenn Sie mich Mr Cooper nennen, frage ich mich, ob mein Vater gerade den Raum betreten hat. Eigentlich heiße ich Hank, Kurzform von Henry, aber niemand hat mich je Henry genannt. Also habe ich mich so lange an Little Cooper gewöhnt, bis ich nicht mehr ganz so klein war und man mich nur noch Cooper nannte. Oder auch nur Coop. Suchen Sie es sich aus. An diesem Strand ist nachts übrigens ganz schön was los.“

„Kids“, bestätigte Mac. „Haben Sie sich benommen?“

„Nicht nur das, sie haben sogar aufgeräumt.“

„Der Dank dafür gebührt Ben. Der gesamte Strandabschnitt bis zur Stadt und der Marina ist … gehörte ihm. Er ließ ihn öffentlich nutzen. Von Zeit zu Zeit, wenn wirklich viel los war und sich ein Haufen Kinder dort aufhielt, ging er hinunter. Er erklärte ihnen auf seine Art, dass er, sobald er ihnen, den Campern oder Partyleuten hinterherräumen müsste, den Strand umzäunen und absperren würde. Er stellte ein paar Mülltonnen auf und sah einmal die Woche nach, ob sie geleert werden mussten. Er hatte ein paar Regeln für seinen Strand aufgestellt.“

„Er hat den Strand bewacht?“, fragte Cooper.

„Ja, aber es ging ihm eher um die Natur als darum, sich Arbeit zu ersparen. Er wollte nicht, dass Plastiktüten oder Kronkorken im Sand lagen oder von der Tide weggespült wurden, weil er nicht wollte, dass der Müll von Fischen gefressen oder Vögeln aufgepickt wurde, die daran erstickten. Ungefähr einmal im Jahr stellte er Schilder auf. Privateigentum. Warnungen oder Erinnerungen. Im Sommer kamen regelmäßig Motorrad- oder Radfahrergruppen zu ihm. Er nannte sie seine Wochenendkrieger. Es gab da eine wirklich furchterregend aussehende Bande, die einmal am Strand zeltete. Ben erklärte ihnen, dass sie auf seinem Grundstück zelten dürfen und willkommen seien, solange sie weder Waffen trugen noch Minderjährigen Alkohol ausschenkten, Drogen nahmen oder Ärger suchten. Außerdem müssten sie ihren Müll wieder mitnehmen und der Natur keinen Schaden zufügen.“ Mac schüttelte den Kopf und lachte. „Er hat sich nie die Mühe gemacht, die Polizei zu rufen. Ich hatte von der Motorradgang gehört, aber Ben hat mich nie gerufen. Die Motorradfahrer nahmen es locker, räumten ihren Müll weg und dankten ihm für die Benutzung des Strands. Er hatte eine ganz besondere Art an sich, wissen Sie? Dieser Vorfall liegt schon lange zurück. Bens Grundstück zog normalerweise eher Graubärte für das Wochenende an.“

„Graubärte?“

„Ältere Motorradfahrer, Mindestalter ab fünfzig oder so. Ben war ein ziemlich lässiger Typ, und er hatte vor nichts Angst. Er kam immer mit allen klar.“

„Ich weiß“, sagte Cooper.

Gina stellte Coopers Frühstück vor ihm ab und füllte seine Kaffeetasse auf.

„Gute Wahl, die Eier“, meinte Mac. „Hast du es ihm geraten?“, fragte er Gina.

„Nee, war seine eigene Wahl.“

„Die Burger hier sind auch großartig“, sagte Mac. „Die Sandwiches sind ziemlich gut, die Suppe hat gute Tage, und der Hackbraten ist grauenhaft. Ich weiß nicht, weshalb Stu ihn immer wieder macht. Kein Mensch in dieser Stadt ist so dumm, von dem Hackbraten zu essen. Er schmeckt schrecklich. Aber er holt das Beste aus Eiern raus. Entweder er macht Rühreier und Omelette daraus, oder er kocht sie. Tatsächlich schmeckt alles, was er einfach totfrittieren oder kochen kann, ziemlich gut.“

„Warum sieht sich der Besitzer nicht nach einem besseren Koch um?“

„Der Besitzer ist der Koch, das ist schon mal der Hauptgrund“, erklärte Gina. Dann fragte sie mit einem Blick auf Mac: „Sind alle dort, wo sie hinwollten?“

„Eve und Ashley sind beim Training der Cheerleader, Ryan ist beim Football, und Lou hat Dee Dee zum Tanzen gefahren. Nur, dass du es weißt: Eve und Ashley sind im Auto deiner Mutter unterwegs.“

Gina nickte, aber ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Sie beide …“, fragte Cooper.

„Alleinerziehende Eltern“, klärte Gina ihn auf. „Unsere Töchter sind beste Freundinnen. Meistens jedenfalls.“

„Also unterstützen Sie sich gegenseitig?“, fragte Cooper, während er sich Eier in den Mund schaufelte.

„Lou unterstützt mich“, erwiderte Mac. „Meine Tante lebt bei mir. Ginas Mutter lebt bei ihr. Man braucht ein Dorf, um … wo habe ich das nur schon einmal gehört? Sind Sie verheiratet, Cooper?“

„Nee. Mich will niemand haben.“

„Vielleicht, weil Sie in einem Anhänger wohnen. Schon mal darüber nachgedacht?“, fragte Mac.

Cooper grinste. „Kann sein. Nun, jetzt, wo ich eine Vorstellung von der Gegend habe, kann ich mich sehr viel leichter mit Eiern und Kaffee versorgen. Einfach im Strandbuggy über den Strand. Es sei denn, ich finde heraus, weshalb ich gekommen bin. Ich möchte wissen, was zum Teufel Ben zugestoßen ist. Habe ich schon alles gehört, was es zu hören gibt?“

„Der Gerichtsmediziner kümmert sich darum, aber ich halte meine Augen ebenfalls offen. Es ist ein abgeschlossener Fall, aber das hier ist meine Stadt, und Ben war ein guter Kerl. Falls ich etwas Verdächtiges erfahre, werde ich den Fall selbst noch einmal aufrollen und ermitteln“, sagte Mac.

„Was ist mit diesem Rawley Goode?“, fragte Cooper.

„Der schräge Rawley?“, fragte Gina und verzog den Mund.

„Ach, Rawley hat seine eigenen Probleme“, wiegelte Mac ab. „Ich hoffe nur, dass er nun, wo Ben weg und der Laden geschlossen ist, nicht abhaut.“

„Ich dagegen hatte eigentlich gehofft, er würde weiterziehen“, warf Gina ein.

„Haben Sie ein Problem mit Rawley?“, fragte Cooper.

„Ich habe ein Problem mit der Art, wie er einen ansieht und überhaupt nichts sagt. Das ist unheimlich.“

Mac lachte. „Das ist ziemlich genau der Grund, weshalb Ben ihm ein Geschirrtuch und einen Besen in die Hand gedrückt und ein paar Aufgaben in der Küche übertragen hat. Sie schienen sich zu verstehen.“

„Dieser Ort … man arbeitet zusammen, versteht sich untereinander, räumt hintereinander her, ein richtiges Stepford …“, meinte Hank.

„Hier gibt es genauso viele Idioten, Arschlöcher und Typen, die Probleme machen, wie in jeder anderen Stadt. Aber wissen Sie, was uns von allen anderen Städten unterscheidet?“

Cooper stützte den Kopf in die Hände. „Ich kann kaum erwarten, es zu erfahren. Was ist der Unterschied?“

Mac schob Gina seine Kaffeetasse zum Nachfüllen hin. „Ich weiß, wer sie sind.“

3. KAPITEL

Cooper erfuhr ein paar Dinge über die Stadt und Ben. Ben hatte Gina geholfen, ihren alten Jeep wieder in Gang zu bringen. Das war das eine. Und er hatte ihr, abgesehen von den Ersatzteilen, nie etwas dafür berechnet. Er hatte Anzeigen und Trikots der Kinderfußball- und Little-League-Mannschaften gesponsert – Baileys Angelbedarf. Er hatte einen Teil seines Grundstücks zum Vogelschutzgebiet erklärt. Es war groß und reichte bis zu den hohen Felsenklippen. Außer Adler gab es dort auch Seevögel, die am Wasser lebten, aber zur Brut ins Hinterland zurückkehrten. Cooper erinnerte sich, dass Ben ihm mehr als einmal etwas darüber gemailt hatte.

Ben hatte sich offenbar nicht sonderlich am Gesellschaftsleben beteiligt, aber er war bei sämtlichen Versammlungen und Treffen der Stadt dabei und aß auswärts im Diner und im Cliffhanger. Vor allem aber hatte er seinen Strand allen zur Verfügung gestellt. Das war der Ben, den Cooper kannte, weder schüchtern noch besonders gesellig, aber mit sich selbst zufrieden. Er hatte keine lange Karriere bei der Army vorzuweisen, sondern war nur ein paar Jahre dabei gewesen. Als Hubschraubermechaniker in Fort Rucker für Cooper. Er war überpenibel und beinahe schon außergewöhnlich gut gewesen, hatte aber ein paar Probleme mit Vorschriften gehabt. Vermutlich hatte Cooper ihn genau aus diesem Grund genommen. „Bailey, wo ist Ihr Hut?“ – „In meiner Tasche, Sir!“ – „Warum nicht auf Ihrem Kopf?“ – „Weil ich meinen Kopf nicht in die Tasche kriege, Sir!“

Cooper erfuhr, dass die Marina, verglichen mit den anderen Häfen der Region, ziemlich klein war. Die Krabbenfischer, die hier ihre Boote liegen hatten, wohnten in der Stadt. Sie brachten den Großteil ihres Fangs in größere Häfen, behielten aber auch etwas für sich, um es Restaurants wie dem Cliffhanger zu verkaufen. Manche der Profifischer waren schon seit Generationen im Geschäft. In der Marina lagen aber auch Sportboote und Jachten, die größtenteils Bewohnern von Thunder Point gehörten. Die Bucht galt als sicherer und ruhiger Liegeplatz, durch die Landzungen vor stürmischem Wetter geschützt.

Als sich Coopers und Macs Wege nach dem Frühstück trennten, sagte Cooper: „Ich glaube, es gibt kaum einen Grund für mich hierzubleiben, außer der tollen Aussicht von Bens Terrasse. Was geschieht mit dem Grundstück?“

„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht sucht man nach dem nächsten Angehörigen, oder man wartet ab, bis die fällige Grundsteuer nicht bezahlt wird, um es dann zu versteigern. Das fällt nicht in die Zuständigkeit des Sheriff Departments. Dennoch eine Schande. Den Leuten hat es dort am Strand und in der Bar gefallen.“

„Sie ist ziemlich heruntergekommen“, erinnerte ihn Cooper.

„Falls Sie finden, dass das Äußere heruntergekommen ist, sollten Sie erst mal sehen, wie es von innen aussieht. Na ja, die Leute haben keine hohen Ansprüche an den Ort, aber er diente seinem Zweck. Es mag Ihnen vielleicht schon aufgefallen sein, dass diese Stadt nicht besonders schick ist.“

Mac hatte Coopers Handynummer zwar schon, gab ihm aber als freundschaftliche Geste auch noch seine eigene Handynummer, bevor sie sich vor dem Diner verabschiedeten.

Da Cooper weder weitere Pläne noch geschäftliche Dinge zu erledigen hatte, verbrachte er ein paar Tage damit, in der Gegend herumzufahren – hoch nach Coos Bay, in die Berge, zum Kasino in North Bend –, wobei er seinen Anhänger als Wohnwagen und Heimatbasis benutzte. An einem sonnigen Nachmittag holte er seinen Laptop aus der Tasche und setzte sich auf einen Stuhl auf Bens Terrasse, von wo aus er über die Bucht blicken konnte. In nur wenigen Tagen war er zu dem Schluss gekommen, dass die feuchten, nebligen Morgen typisch für die Küste Oregons waren. Die Sonne kam zwar üblicherweise spätestens am Vormittag raus, aber an diesem Oktobernachmittag war es dennoch so kühl, dass er eine Jacke brauchte. Bevor Cooper seinen Laptop aufklappte und sich einloggte, sah er wieder die Frau und ihren Hund. Sie warf einen Stock und wartete, bis die große schwarz-weiße Dogge ihn zurückbrachte. Der Hund hatte unheimlich lange Beine, er war halb so groß wie die Frau. Es war dieselbe Frau – rote Regenjacke mit Kapuze, schwarze, kniehohe Gummistiefel. Die Hände in den Taschen vergraben, wartete sie auf den Hund. Sie kam auf sein Ende des Strandes zu. Doch bevor Cooper einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen konnte, wandte sie sich ab und ging in Richtung Stadt zurück.

Er loggte sich ein und sah nach seinen Mails, wobei er von Zeit zu Zeit den Kopf hob, um zu sehen, wo die Frau und ihr Hund abgeblieben waren. Sie war zu weit von ihm entfernt, sodass er ihr Aussehen nicht beurteilen konnte. Dennoch fühlte er sich bezaubert. Sie hatte etwas an sich, das so … einsam wirkte. Das hatten sie vielleicht gemeinsam. Cooper fiel es nicht schwer, Menschen kennenzulernen und sich mit ihnen anzufreunden, was aber nur selten geschah. Er war ein Einzelgänger, das wusste er. Es war nicht viel nötig, um einen Mann in einen Einzelgänger zu verwandeln. Wenn man zu oft der Neue gewesen war, hin und wieder umstritten, ein paar vergebliche Versuche, eine langfristige Beziehung mit einer Frau zu führen …

Er schickte Luke Riordan eine Mail. Vor fünfzehn Jahren waren sie rauflustige, kampfbereite Hubschrauberpiloten gewesen – und Ben ihr Mechaniker. Ben war, wenig überraschend, immer der robusteste von allen gewesen. Cooper informierte Luke über die Einzelheiten von Bens Tod. Er beschrieb ihm das Grundstück, den Strand, die Stadt und schrieb ihm auch, dass Bens Haus und Grundstück vielleicht versteigert würden.

Dann schrieb Cooper seinem Vater und seiner ältesten Schwester Rochelle, um ihnen, obwohl sein Handy wunderbar funktionierte und sie ihn jederzeit erreichen konnten, mitzuteilen, wo er sich gerade aufhielt.

Seine Eltern und seine drei verheirateten Schwestern wohnten in oder in der Nähe von Albuquerque. Wenn Cooper es einrichten konnte, plante er kurze Stippvisiten in New Mexico ein, aber er blieb nie lange dort. Cooper stand seiner Familie zwar nah, aber sein Verhältnis zu ihr war kompliziert. Ein Teil von ihm spürte, dass er versagt hatte, weil er bis jetzt noch nicht sesshaft geworden war. Er hatte weder geheiratet und eine Familie gegründet noch eine ordentliche Karriere gemacht … Der andere Teil von ihm dachte, dass seine Familie unvernünftige Erwartungen hatte und versuchte, ihn in eine Richtung zu drängen, die er nicht einschlagen konnte.

Vom weit oben gelegenen Highway drang ein Motorengeräusch zu ihm. Er klappte den Laptop zu und ließ ihn auf dem Stuhl liegen, während er um die Terrasse herumging und einen Pick-up von der 101 kommen sah. Noch bevor er den Fahrer richtig gesehen hatte, wusste er, dass das Rawley sein musste. Der Wagen war so alt, dass er als Klassiker gelten durfte, aber der Motor lief ruhig. Das war sicher Ben zu verdanken. Die Reifen waren neu und glänzten.

Der Mann parkte den Wagen und stieg aus. Ja, das musste Rawley sein. Er war ein dünner Mann in den Sechzigern. Sein gräuliches Haar wirkte spärlich. Er sah ziemlich fertig aus und trug zu seiner alten Jeans ein Hemd, das der amerikanischen Flagge glich. Um die Stirn hatte er sich ein Tuch oder ein altes Bandana gebunden, und er hatte einen dünnen, grauen Pferdeschwanz. Der Mann kam direkt auf Cooper zu.

Cooper streckte ihm die Hand hin. „Rawley?“, fragte er.

Der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper. Anstatt Cooper die Hand zu schütteln, drückte er ihm einen dicken Umschlag in die Hand. Dann wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen zurück.

„Hey!“, rief Cooper. „Was ist das?“

Doch Rawley ging einfach weiter. Cooper beobachtete ihn. Als Rawley vor seinem Wagen stand, stieg er nicht ein. Er lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen und vor der Brust verschränkten Armen gegen die Beifahrertür. Dann nickte er kurz und wartete ab.

Cooper öffnete den Umschlag und entnahm ihm ein dickes, dreifach gefaltetes Dokument. Als er es auseinandergefaltet hatte, erkannte er ein Testament, aufgesetzt von Lawrence Carnegie, Notar. Es war seitenlang. Doch ganz oben klebte eine grasgrüne Notiz mit folgendem Text: Kümmere dich um alles, Coop.

Verblüfft blickte er zu Rawley. „Er will, dass ich mich um das hier kümmere?“

Rawley verdrehte die Augen, als ob er sagen wollte: Richtig, Dummkopf. Was steht denn auf dem Zettel?

Cooper überflog in Windeseile das Dokument. Er hatte angenommen, dass Ben ihn als Nachlassverwalter einsetzen wollte, aber es dauerte nur zwei Sekunden, bis er begriff, dass Ben ihm das Grundstück vermacht hatte. Als er ein bisschen weiterlas, erschien es ihm so, als ob sich das Testament auf das Grundstück und das Gebäude bezog. Und der Strand? Das Dokument umfasste vier Seiten Juristendeutsch. Da gab es vermutlich einen Absatz, der spezielle Bedingungen beinhaltete. Aber dazu würde er sich Zeit nehmen und einen näheren Blick darauf werfen müssen. Dann entdeckte er einen Schlüssel in dem Umschlag.

„Für die Bar?“, fragte er Rawley.

Rawley verdrehte erneut die Augen, ohne etwas zu sagen.

Cooper hätte es ihm beinahe nachgemacht. Stattdessen nahm er den Schlüssel in die eine und das Dokument in die andere Hand und ging über die Terrasse zu der dem Meer zugewandten Seite vom Haus. Dort steckte er den Schlüssel in eine Reihe von Doppeltüren, die man weit zur Terrasse hin öffnen konnte. Die Fensterdichtung war gut, vermutlich, um die Fenster Sturm- und Tsunami-tauglich zu machen. Er stieß eine der Türen auf und wurde sofort von einem bestialischen Gestank übermannt. So etwas Übles hatte er noch nie gerochen. Haben Sie nicht gesagt, dass Ben bereits beerdigt worden ist? Doch dieser Geruch war weitaus schlimmer als ein verwesender Körper. Nach etwa drei Schritten in die Bar beziehungsweise den Angelladen war ihm klar, dass hier etwas faulte, kombiniert mit etwas, das nach vergammeltem Fisch und Müll stank. Der Strom war abgestellt worden.

Er brüllte: „Rawley!“

Die Antwort folgte in Form eines Motorengeräuschs. Rawley fuhr weg.

Eine Stunde später rief Cooper Mac auf dem Handy an. Es war inzwischen später Nachmittag, und die Sonne schien, was Coop aber nicht aufmunterte. Die Sonnenwärme verstärkte nicht nur den Gestank in der Bar und der vergammelnden Köder im Angelladen, sondern sorgte auch dafür, dass Menschen an den Strand kamen, Hunde ausführten oder joggten. Zum Schwimmen oder für ein Picknick war es zu kühl. Der Anblick der geöffneten Türen und Fenster von Bens Bar jedoch lockte ein paar mutige Seelen an. Sie waren neugierig. Als sie es bis auf die Terrasse geschafft hatten, hielten sie sich jedoch die Nasen zu und traten den Rückzug an. Eilig.

„Mac“, sagte Cooper am Telefon. „Mann, ich habe ein Problem.“

„Was ist los?“

„Es geht schon mal damit los, das Rawley mir etwas gebracht hat, das so aussieht wie ein Testament. Es muss noch beglaubigt werden, aber es sieht so aus, als habe alles seine Ordnung. Ben hat mir sein Grundstück hinterlassen.“

„Wow. Haben Sie das kommen sehen?“

„Er hat mir gegenüber nie etwas angedeutet. Zweitens, im Umschlag lag ein Schlüssel, und ich bin ins Haus gegangen. Heilige Maria, Mutter Gottes, da sind so viele Sachen am Faulen, dass man sie gar nicht mehr zählen kann. Der Strom ist abgestellt und der Ködertank voller toter Fische in stehendem Brackwasser und Gott weiß was noch. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich noch was Faules rieche. Ich habe die Türen und Fenster aufgerissen, aber der Gestank ist durchdringend. Kennen Sie jemanden? Zum Beispiel einen Tatortreiniger? Oder so etwas?“

„Es gibt eine Firma in North Bend, die sich Flut- und Umweltreinigung nennt. Und noch eine Firma, die sich um die Beseitigung von chemischem Gefahrgut kümmert.“

Cooper konnte das Husten nicht unterdrücken. „Hier handelt es sich definitiv um Gefahrgut. Haben Sie die Nummer?“

„Lassen Sie mich dort anrufen“, meinte Mac. „Ich nehme den ersten verfügbaren Termin für eine Schätzung der Sachlage. Haben Sie vor, den Laden aufzuräumen?“

„Das ist nicht gerade das, was ich mir für diese Woche vorgestellt hatte, aber jemand muss es ja tun. Ich würde nicht mit Rawley rechnen. Er übergab mir das Testament und den Schlüssel und hat sich dann wie der Teufel vom Acker gemacht.“

Mac lachte.

„Kommen Sie her, und atmen Sie einmal tief ein. Dann dürfen Sie lachen, Sie Witzbold. Wir brauchen vielleicht ein Abbruchunternehmen, falls man diesem Gestank nicht Herr werden kann.“

„Ich glaube, ich komme tatsächlich mal raus. Ich meine, ich bin neugierig. Und auf dem Weg führe ich ein paar Telefonate.“

Um sich davor zu schützen, giftige Gase einzuatmen, verzog Cooper sich aufs Dock. Doch der Gestank verfolgte ihn sogar bis dorthin. Er war nicht besonders überrascht, als er den SUV des Sheriff Departments ankommen sah, und zwar nicht auf der Straße, sondern am Strand.

Mac hielt vor dem Dock an und stieg aus. Er trug seine Uniform.

„Sind Sie im Dienst?“, fragte Cooper.

„Ich bin so gut wie immer im Dienst, aber ich fahre den Firmenwagen nur, wenn ich die Uniform anhabe. Der ist nur für offizielle Geschäftstermine. Wir haben unsere Vorschriften.“ Er schaute die Treppe hinauf zur Bar und krauste die Nase. „Junge, Junge.“

„Jetzt sagen Sie mal. Ich habe Ben nie für einen Witzbold gehalten. Aber hier steht: ‚Ich hinterlasse dir all meine weltlichen Güter, aber vielleicht musst du alles abfackeln.‘“

„Glauben Sie, das Testament ist rechtsgültig?“, fragte Mac.

Cooper zog das dicke Dokument aus seiner hinteren Hosentasche und reichte es Mac. „Kennen Sie Lawrence Carnegie?“

„Ja. Das ist ein Notar aus der Stadt. Er kümmert sich um die hiesigen Angelegenheiten. Ich vermute, Ben hat ihn beauftragt.“

„So sieht es zumindest aus. Ich muss sagen, dass ich nie mit so etwas gerechnet hätte. Erzählt man so etwas nicht vorher?“

„Ich habe auch ein Testament und niemandem die Einzelheiten dazu verraten. Hauptsächlich weil ich nicht will, dass meine Kids denken, dass sie, wenn sie mich im Schlaf ermorden, das Auto kriegen oder so. Meine Tante Lou, die sich sowieso um alles kümmert, wird meine Nachlassverwalterin. Und Himmel, ich habe ja nicht einmal etwas Wertvolles zu vererben. Haben Sie ein Testament gemacht?“

„Kein großartiges“, erwiderte Cooper. „Ich habe ein paar Ersparnisse. Die werden zwischen meinen Nichten und Neffen aufgeteilt, falls noch etwas übrig ist, wenn ich gehe. Ich dachte, es könnte ihnen vielleicht bei der Ausbildung helfen. Und nein, ich habe es auch niemandem gesagt.“

Mac blätterte durch die Seiten. „Ich glaube, ich kann Bens Gedanken erklären oder zumindest den Hintergrund der Geschichte dieses Orts. Bens Vater war ein bisschen alt, als Ben nach Thunder Point zurückkehrte. Er war krank, hatte einen Schlaganfall gehabt. Das war, kurz bevor man mich hierher versetzte. Der alte Mann war am Scheitern.“

„Ich erinnere mich, dass Ben vor circa zehn Jahren aus der Army ausschied, um seinem Dad zu helfen“, sagte Cooper. „Ich hörte etwas über einen Laden. Offenbar war er nicht gerade sehr spezifisch …“

„Nun, alles wurde auf Bens Namen überschrieben. So gab es für Ben ein paar Jahre später, als sein Dad starb, weder ein Testament noch Erbstreitigkeiten – und das Wichtigste: keine Erbschaftssteuer.“

Cooper steckte die Hände in die Hosentaschen. „Woher wissen Sie das?“

„Reiner Tratsch, fürchte ich“, erwiderte Mac. „Es heißt, dass es, als der alte Mann starb, eine Menge interessierter Käufer gegeben hätte, die annahmen, dass diese Hinterwäldler, die einen heruntergekommenen Angelladen und eine Bar betrieben, sich nicht auf den schlimmsten Fall vorbereitet hatten. Das Land ist einiges wert, Cooper. Wenn es da keinen Trust oder eine Überschreibung gegeben hätte, wäre Ben schon allein wegen der Erbschaftssteuer gezwungen gewesen zu verkaufen. Es gibt hier in der Gegend eine Menge kleiner, von Motten zerfressener Städtchen. Aber wir haben auch große Ferienressorts, in denen Golfturniere stattfinden oder erstklassige Jagdveranstaltungen, die das große Geld anziehen. Und diese Gegend hier, direkt am Meer und durch fünf Meilen reine Naturschönheit vom Freeway getrennt, wäre erstklassig dafür geschaffen. Das hätte die wirtschaftliche Situation von Thunder Point verbessert. In der Stadt wohnen eine Menge Menschen, die wollten, dass Ben verkauft. Und hey, jetzt bekommen Sie das Grundstück … das wird die Menschen freuen, angenommen Sie wollen es einfach verkaufen.“

Cooper griff in die Tasche und holte den kleinen Notizzettel heraus, der am Testament befestigt gewesen war. Kümmere dich um alles, Coop. Er reichte ihn Mac. „Klingt das, als ob er wollte, dass ich es verkaufe?“

Mac las und gab ihm die Notiz anschließend zurück. „Hören Sie, Cooper, ich weiß, dass Ben ein Freund von Ihnen war. Aber Sie müssen tun, was Sie für richtig halten, es sei denn, Sie hatten eine spezielle Vereinbarung.“

„Warum hat er es nicht einfach Rawley vermacht?“

„Och, ich glaube, das ist ziemlich offensichtlich. Rawley ist ein bisschen aus dem Gleichgewicht, wenn Sie wissen, was ich meine. Außerdem glaube ich nicht, dass die zwei wie Brüder waren. Ben half ihm aus der Patsche, mehr nicht. Ben hat in den letzten paar Jahren mehr für Rawley getan als sonst wer in den letzten fünfundzwanzig Jahren.“

„Lieber Himmel. Das wird ja immer komplizierter. Glauben Sie, dass er auch zu den Dingen gehört, um die ich mich kümmern soll?“

„Keine Ahnung, Kumpel. Aber ich lasse gleich morgen früh ein Reinigungskommando vorbeikommen, damit es die Situation einschätzt. Falls Ihnen der Preis zusagt, können die Leute gleich loslegen.“

Cooper sah ihn ungläubig an. „Haben Sie gerochen, wie es da riecht? Kann der Preis in so einem Fall zu hoch sein?“

Mac lachte. „Meine Tante Lou ist gerade dabei, unser Abendessen anbrennen zu lassen. Warum schließen Sie nicht ab und leisten uns Gesellschaft? Sie können hier heute Abend ohnehin nichts mehr ausrichten.“

„Abendessen?“, fragte Cooper. Er warf einen langen und zweifelnden Blick auf die Straße, die zur 101 führte. Sie war bei Tageslicht schon schlimm genug.

„Ich nehme Sie mit. Wir fahren über den Strand. Und ich bringe Sie später auch wieder zurück.“

„Ich dachte, Sie hätten Ihre Vorschriften“, sagte Cooper. „Habe ich. Falls mich jemand anhält oder mir Fragen stellt, müssen Sie so tun, als hätte ich Sie verhaftet.“

„Mein Gott, da sind Sie zufällig auf mein ganz besonderes Talent gestoßen.“

Das Abendessen im Hause der McCains wurde in einer großen, warmen Küche eingenommen. Drei Kinder und drei Erwachsene saßen an einem großen, runden Tisch, während zwei Labradore die Hintertür bewachten. Cooper schaufelte sich die letzte Ladung Spaghetti in den Mund und wischte dann den Teller mit einem Stückchen Knoblauchbrot aus. Als er gerade dabei war, es sich in den Mund zu stecken, fiel ihm auf, dass fünf Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Ihm wurde bewusst, dass er gegessen hatte wie jemand, der kurz vorm Verhungern war. Er lachte und legte das Brot zurück auf den Teller.

„Es ist noch mehr da“, sagte Lou.

„Tut mir leid. Aber das war ehrlich gesagt köstlich.“

Lou verschränkte die Hände und meinte: „Vermutlich gehen Sie nicht so oft auswärts essen.“

„Ich esse wirklich gut. Es ist Macs Schuld. Er hat versucht, meine Erwartungen herunterzuschrauben, indem er gesagt hat, sie würden das Abendessen anbrennen lassen.“

„Ist er nicht süß? Dass er immer noch glaubt, er habe Humor?“, spöttelte Lou und bedachte Mac mit einem skeptischen Blick.

„Darf ich aufstehen?“, fragte Eve. „Ashley kommt gleich.“

„Klar“, erwiderte ihre Großtante. „Ryan und Dee Dee, ihr seid heute Abend mit dem Abwasch dran. Ich bringe eurem Dad und Mr Cooper den Kaffee ins Wohnzimmer.“

„Och“, jammerte Ryan. „Prison Break läuft gerade im Fernsehen! Komm schon, Tante Lou …“

„Tut mir leid. Ich hab in meinem Zimmer gerade eine Wiederholung von Warum hab ich ja gesagt mit Lauren Bacall laufen.“ Dann sah sie zu Mac. „Seit wann ist er aus dem Comicalter heraus?“

Anstatt zu antworten, beugte Mac sich zu Ryan. „Paukst du für einen Knastausbruch, oder bereitest du dich für ein Praktikum als Gefängniswärter vor?“

„Ganz toll, Dad. Deine Witze sind einfach blöd.“

„Ich weiß. Das ist meine Jobgarantie“, erwiderte Mac.

„Abwasch“, ermahnte Lou, die einen Teller in jeder Hand hielt.

„Ich helfe gern“, bot Cooper leise an. „Ich kann viel besser spülen als kochen.“

„Psst. Wir sehen lieber zu, dass wir hier wegkommen.“ Mac stand auf und schenkte Kaffee in zwei Tassen ein, wobei er Cooper fragend ansah.

„Schwarz“, bat Cooper.

Mit den beiden Kaffeebechern in den Händen verließ Mac die Küche. Cooper folgte ihm. Die Labradore, ein schwarzer und ein blonder, folgten Cooper. Im Wohnzimmer, wo es keinen Fernseher gab, drückte Mac mit einem der Kaffeebecher einen Schalter, und prompt erwachte der Kamin zum Leben. Dann wartete er ab, bis Cooper sich einen Platz gesucht hatte.

Anhand der Einkerbungen der Kissen auf einem Sessel war offensichtlich, wo der Deputy am liebsten saß. Cooper nahm in der Sofaecke Platz und beobachtete, wie die Hunde sich links und rechts von Macs Sessel hinlegten. „Ich vermute, Sie verbringen eine Menge Zeit hier“, sagte er.

Mac reichte ihm eine Kaffeetasse. „Wollen wir uns nicht duzen?“

„Gern“, entgegnete Cooper.

„Es gibt hier weder einen Fernseher noch einen Computer, ergo ist es kein Ort, an dem sich die Kinder gern aufhalten. Ich muss manchmal mit dem Cheerleader- oder Tanztraining konkurrieren, aber sie wollen mich nicht als Publikum. Das Klavier habe ich gleich in den Keller bringen lassen. Ein Mann braucht einen Rückzugsraum, und mich im Schlafzimmer zu verstecken, finde ich seltsam.“

Cooper lachte. „Ist das so?“

„Für Frauen anscheinend nicht. Sie machen so was die ganze Zeit. Lou kann es jedenfalls kaum abwarten, von uns wegzukommen und die Tür hinter sich zuzumachen. Aber jedes Mal, wenn ich nach einem Anruf wegen Belästigung, häuslicher Gewalt oder einer zweifelhaften sexuellen Tätlichkeit losfahre, versteckt sich der Verdächtige meistens im Schlafzimmer. Frag mich nicht warum. Es ist einfach merkwürdig.“

„Das ist irgendwie pervers“, meinte Cooper lachend.

„Das kannst du laut sagen. Vor ein paar Jahren hat sich so ein Irrer eine Schlägerei mit seiner Mutter und seiner Schwester geliefert und auf einen Deputy geschossen. Der Mann war komplett durchgeknallt, knapp über achtzehn und wohnte noch bei seinen Eltern. Er versteckte sich in seinem Schlafzimmer, wo wir fünfzehn Sturmfeuergewehre fanden.“

„Er wohnte noch bei den Eltern? Und Sturmfeuergewehre?“

„Ich weiß. Erklär mir mal, wieso sie glaubten, es sei okay, dass dieses Kind, das echt eine Schraube locker hatte, einen Haufen wirklich gefährlicher Waffen in seinem Zimmer hatte. Haben sie das denn nie, keine Ahnung, merkwürdig gefunden? Ich weiß, dass ich nicht gerade der beste Vater der Welt bin, aber ich bin mir sicher, dass ich genau weiß, wer hier ab und zu die Toilettenspülung vergisst.“

In diesem Moment dachte Cooper, dass Mac genau der Richtige war, falls es an Bens Tod irgendwas Verdächtiges gäbe. „Ich wette, du bist ein guter Vater. Und das hier ist ein schönes Haus, Mac.“

„Äh, ich gewöhne mich so langsam daran.“

„Wie lange wohnst du denn schon hier?“

„Seit ein paar Jahren. Dee Dee war sechs, jetzt ist sie zehn. Ich habe das Haus gekauft, weil es Platz genug für uns alle bot und solide gebaut ist. Außerdem liegt es an der Schulbusstrecke, obwohl natürlich niemand hier im Haus jemals den Bus in Betracht ziehen würde. Sie wollen lieber gefahren werden. Den Bus betrachten sie als Strafmaßnahme.“

„Und das kann deinen Terminplan über den Haufen werfen.“

„Ich habe Lou. Sie ist Lehrerin. Es macht ihr nichts aus, die Kinder abzusetzen. Wir haben größere Probleme, sie alle wieder abzuholen, denn nach der Schule haben sie alle möglichen Freizeitaktivitäten, angefangen beim Footballtraining bis zu Klavierstunden. Trotzdem kriegen wir das irgendwie hin.“

„Deine Tante Lou ist eine Wucht. Und ihre Spaghetti sind wirklich gut. Sehr gut.“

„Da hast du recht. Ich habe Glück, dass da jemand ist, der mir Spaghetti kocht. Es ist nur so, dass ich dieselben Sachen esse, seit ich zehn bin.“

Tante Lou hat sein Essen gekocht, seit er zehn war, und nun kocht sie für seine Familie?

Mac musste Cooper seine Überraschung angemerkt haben, denn er fuhr fort: „Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich noch ziemlich klein war. Danach hat Lou mich erzogen. Meine Frau hat mich mit den drei Kindern sitzen lassen, als Dee Dee neun Monate alt war. Lou hat mir schon mehr als einmal das Leben gerettet.“

Cooper war sprachlos. Seine größte Sorge war bislang gewesen, dass er nicht in der Lage war, sesshaft zu werden – oder zumindest so weit auf eine Frau einzugehen, um eine Beziehung mit ihr zu führen. Er war so weit von einer Vaterschaft entfernt, dass man ihn nicht mal ansatzweise mit drei Kindern hätte sitzen lassen können.

„Das Haus ist groß genug. Mit einem großen Garten, in der Nähe einer Stadt, die so klein ist, dass jeder jeden kennt. Wenn ich reich wäre, hätte ich ein Haus mit Blick aufs Meer, aber ganz weit oben. Nicht so was Lächerliches wie diese luftigen Häuser mit nur einem Raum und einer Menge Fenstern. Du bist vermutlich noch nicht lange genug hier, um dich zu fragen, woher Thunder Point seinen Namen hat. Aber wenn erst die Sturmwolken über die Bucht ins Land ziehen und die Blitze im Wasser einschlagen …“

Mac schüttelte den Kopf. „Das hier ist wirklich ein toller Ort. Manchmal nehme ich meinen Squad und fahre bis zu dem Schild, das billige Getränke verspricht, setze mich auf den Hügel und beobachte einfach nur das Wetter über der Bucht. Oder den Sonnenuntergang. Oder den Nebel und den Moment, wenn die Sonnenstrahlen durchkommen.“

Cooper dachte an alles, was Mac ihm vor einer Minute erzählt hatte. Dieser Mann hatte unglaubliche Herausforderungen zu bewältigen, mit denen Cooper noch nie konfrontiert gewesen war. Waise zu sein? Als alleinerziehender Vater mit drei Kindern zurückgelassen zu werden? Und dabei so normal auszusehen? Sich so zu verhalten, als wäre das alles das Normalste von der Welt.

Doch er sagte nur: „Das scheint ein gutes Haus zu sein.“

Mac erwiderte: „Für uns ist es gut genug.“

Während die Vertreter einer Reinigungsfirma durch den Angelladen marschierten, ging Cooper zum Dock und rief den Notar an, dessen Name auf dem Briefkopf des Testaments stand. Er erklärte ihm, was er auf Bens Grundstück gefunden hatte. „Bevor ich den Scheck für das Reinigungsunternehmen unterschreibe, wollte ich wissen, ob dieses Testament, das mir seit weniger als vierundzwanzig Stunden vorliegt, rechtsgültig ist.“

„Absolut bombensicher. Wenn Sie es sorgfältig lesen, werden Sie feststellen, dass alles in den Bailey Oceanfront Trust geflossen ist. Es gibt noch eine Grundstücksbelastung über dreißigtausend Dollar, die Sie so oder so übernehmen müssten. Er hat das Grundstück beliehen, um einen Abschleppwagen zu kaufen. Lieber beliehen als einen Teil des Grundstücks zu verkaufen. Es ist ein beachtliches Grundstück, Mr Cooper. Mr Bailey hatte keine anderen Besitztümer und auch wenig Erspartes, aber er wollte niemandem etwas schuldig bleiben. Er hat etwas Geld für die Grundsteuer zurückgelegt.“

„Was glauben Sie, weshalb er einen Abschleppwagen gekauft hat?“, fragte Cooper.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er meinte, er brauche ihn. Ihnen gehören nun über zweihundert Morgen Land einschließlich des Privatstrands, Mr Cooper.“

„Über zweihundert?“, fragte Cooper schockiert.

„So steht es in den Unterlagen. Ich empfehle Ihnen, ein Grundstücksgutachten erstellen zu lassen.“

„Lieber Gott!“

„Wie gesagt, beachtlich.“

„Sie verstehen nicht“, sagte Cooper. „Ben Bailey benahm sich immer wie ein armer Kerl mit einem Angelladen!“

„Soweit ich weiß, hatte er nicht viel Geld. Ben und sein Vater waren schon immer arm, sie hatten nur Land.“

Nur Land? Ein paar Hundert Morgen inklusive eines Privatstrands? Cooper stand am Dock. Von dieser Stelle aus konnte er im Westen das Meer und die breite Landzunge sehen. Im Süden die felsige, hügelige Landschaft, die mit Douglastannen gesprenkelt war. Im Osten noch mehr Hügel mit schlechten Straßen, die zum Highway führten, und im Norden blickte er über einen wundervollen Strand bis hin zur kleinen Stadt und der Marina. Er würde in eine Landkarte schauen müssen, aber von dort, wo er stand, konnte er nicht verstehen, weshalb Ben nichts Anspruchsvolleres mit all dem gemacht hatte, als einfach nur dafür zu sorgen, dass die Lichter brannten. Warum hatte er nicht wenigstens einen Teil davon zu Geld gemacht und sich ein ordentliches Haus gebaut? Warum hatte er sich keine Frau gesucht und sich mit ihr gemeinsam etwas aufgebaut? Ben war ein paar Jahre älter als Cooper, so um die vierzig. Und was hatte er aus sich gemacht?

Cooper schaute auf das Land im Süden der Bucht. Das musste das Vogelschutzgebiet sein. Er war noch nicht dort gewesen. Würden die Vögel das Land für ein großes Haus mit einer tollen Aussicht räumen? Aber vielleicht wollte Ben genauso wenig wie Cooper an ein großes Haus gebunden sein, das man ständig in Schuss halten musste. Und sauber. Und wo es hallte.

Doch das Stückchen Strand, das von der Stadt bis ganz an die Spitze von Bens Grundstück reichte, hätte bequem für eine Feriensiedlung mit mindestens tausend Zimmern oder ein paar Hundert Ferienvillen oder -häusern und vielleicht sogar für einen Golfplatz gereicht. Wie würde so etwas direkt vor einer so normalen Stadt wie Thunder Point mit ein paar Fischerbooten im Hafen aussehen?

Es würde aussehen wie ein Hauptgewinn im Lotto.

„Mr Cooper.“ Ein Mann mit einem Klemmbrett machte ihm ein Zeichen. Er steckte von Kopf bis Fuß in einem Schutzanzug, eine Maske hing um seinen Hals, und er trug Gummihandschuhe. Diese Jungs sehen aus, als wären sie aus einem Gefahrgutlager ausgebrochen, dachte Cooper. Aber sie kamen sicher mit schlimmen Sachen in Berührung, wie zum Beispiel Überschwemmungen und Feuersbrünsten. Mordfällen? Cooper stieg die Stufen hinauf und traf ihn Nase rümpfend auf der Terrasse.

„Sie haben Probleme“, informierte ihn der Mann. „Sie haben Fäulnis, Schimmel und eine kaputte Klärgrube. Die Rohrleitungen sind ebenfalls verrottet. Darum stinkt es hier so.“

„Klingt furchtbar.“

„Keine Termiten“, sagte der Mann und lächelte müde.

„Was schlagen Sie vor?“

„Wir können das nicht so ohne Weiteres wieder in Ordnung bringen. Es sei denn, Sie wollen, dass wir alles gründlich auseinandernehmen. Sie brauchen eine neue Klärgrube, die Rohrleitungen müssen erneuert werden, und wir können den Schimmel nicht entfernen, ohne ein paar Wände und Böden herauszubrechen. Die gute Nachricht ist, dass Sie ein paar Wasserschäden und vergammeltes Holz haben – was sowieso erneuert werden müsste. Also schlagen Sie mehrere Fliegen mit einer Klappe. Sie lassen uns das alte Holz rausreißen, um den Schimmel zu beseitigen, und wir berechnen es Ihnen nur einmal.“

„Ich habe nicht vor, das Haus zu behalten. Also, was schlagen Sie jetzt vor?“

„Sie könnten es abreißen“, empfahl der Mann. „Das Grundstück verkaufen. Aber falls Sie daran denken sollten, das Gebäude zu verkaufen, müssten Sie vorher noch viel Arbeit hineinstecken. Das erfordert erhebliche Umbauarbeiten. Und ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie das Geld wieder zurückbekommen. Sehen Sie, dass das Haus genau in der Mitte eines Grundstücks steht? Man müsste mit den Leuten sprechen, denen der Rest des Strands und des Grundstücks gehört. Vielleicht würden sie Ihren Teil des Landes kaufen, um Sie von hier wegzubekommen, damit sie dort ein Hotel und eine kleine Einkaufspassage bauen können. Sie sollten sie fragen.“

Er sah sich um und reckte den Hals. „Obwohl das nicht gerade eine erstklassige Lage dafür wäre. Der Ort liegt ein bisschen zu abseits von allem.“

Cooper war einen Moment sprachlos. Dann fragte er: „Können Sie so Pi mal Daumen schätzen, über welche Summe wir reden?“

Der Mann riss das erste Blatt von seinem Klemmbrett ab und reichte es ihm. „Fünftausendachthundertneunzig Dollar. Und da sind die Rohrleitungen, die Klärgrube oder die Entfernung des faulen Holzes noch nicht mit drin. Das würde noch einmal ein paar Tausend Dollar kosten. Dann bleibt nur noch der Rahmen übrig.“

„So grob geschätzte sechstausend Dollar? Nur um das Haus zu entkernen?“

„Gute Schätzung. Und die Bar? Wie es halt mit Bars so geht. Sie ist gute fünfzig Jahre alt. Aber sie ist keine Antiquität, sondern nur alt und billig und vergammelt.“

„Gibt es irgendwas an diesem Ort, das noch in Ordnung ist?“, fragte Cooper.

Der Mann nickte. „Die Terrasse. Sie ist neuer als das Gebäude. Und soweit wir das bis jetzt beurteilen können, ist das Fundament solide. Aber ich würde keine Garantie dafür abgeben. Sie haben ein wirklich schlechtes Dach. Wir machen keine Renovierungen, aber ich wette, dass Sie da ein paar Hundert Riesen reinstecken müssten. Aber hey, wissen Sie, was die Leute für so einen Ausblick zahlen würden?“

Cooper rieb sich den Nacken, der trotz der Kälte schweißgebadet war. „Falls ich beschließen würde, es einfach abzureißen, könnten Sie das übernehmen?“

„Nein“, erwiderte der Mann kopfschüttelnd. „Aber ich könnte Ihnen eine gute Abbruchfirma empfehlen. Und ich könnte Ihnen auch Klempner und Handwerker für die Reparatur oder den Ersatz der Klärgrube, Innenarbeiten und Dachdecker empfehlen. Das sind alles Leute, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten, Unternehmer aus allen Gewerken. Wir sind auf Feuer- und Hochwasserschäden spezialisiert. Wenn wir mit der Arbeit fertig sind, beginnen die Renovierungsarbeiten.“

„Und Sie kommen nie irgendwohin und räumen den Dreck einfach weg?“, fragte Cooper.

„Ziemlich oft sogar. Aber das hier ist ein extrem schwerer Fall.“

„Weil der Strom schon ein paar Wochen lang abgestellt war und die Köder verrottet sind?“

„Das Gebäude war vorher schon in einem bedauernswert heruntergekommenen Zustand und verschimmelt. Vielleicht wollen Sie das alles erst einmal mit Ihrer Versicherung klären, die könnte vielleicht helfen. Aber dieses Gebäude ist schon seit Langem vernachlässigt worden. Sieht so aus, als ob jemand versucht hat, die Klärgrube noch weiter zu nutzen, obwohl sie längst hätte erneuert werden müssen.“ Er hob die buschigen Brauen und betrachtete ihn neugierig. „Sie?“

„Nein, ich war das nicht. Ich muss nachdenken, was ich nun mache. Falls ich mich entscheide, etwas zu unternehmen, wie lange im Voraus müssten Sie das wissen?“

„Es wird Winter. Terminlich bekommen wir das noch unter. Aber wenn Sie nicht bald handeln, wird das Wetter Sie ausbremsen.“

„Ich versuche, mich schnell zu entscheiden“, versprach Cooper. „Haben Sie noch mehr von diesen Masken?“

Der Mann griff in seine Tasche und holte ein paar heraus. „Nur damit Sie es wissen: Die sind bei dem Gestank hier nicht sehr wirkungsvoll.“

„Das glaube ich.“

„Nur so aus Neugier – warum haben Sie das Gebäude nicht repariert, bevor es so schlimm wurde?“

„Es gehört mir erst seit ein paar Tagen. Der Mann, dem es gehörte, ist gestorben.“

„Tatsächlich? Mann! Machen Sie es zu Geld! Das Grundstück ist vermutlich etwas wert.“

Er wusste natürlich, dass Cooper das auch wusste. Doch irgendetwas an der Sache störte Cooper. Er war erst in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, wenn er verstand, warum Ben in so einer vergammelten, verschimmelten, feuchten Holzbude gelebt hatte. Dass er keine Lust auf so viel Arbeit hatte, erklärte die Sache nur unvollständig. Ben hätte ein paar Leute anrufen und ein bisschen Land verkaufen können und damit genug Geld für den Bau eines kleinen Häuschens bekommen.

„Also“, sagte er zu dem Mann von der Reinigungsfirma. „Mit wie viel muss ich rechnen, damit Sie diesen Fischtank und die verrotteten Lebensmittel entsorgen?“

„Zweieinhalbtausend, aber das löst Ihre Probleme mit der Klärgrube nicht. Wir könnten uns auch darum kümmern. Aber das macht das Gebäude immer noch nicht gesund, und die Rohrleitungen würden auch immer noch nicht funktionieren.“

„Ich brauche einfach Zeit, um mich drinnen ein wenig umzusehen. Und nachzudenken. Aber verflucht, ich kann nicht nachdenken, wenn es da drinnen dermaßen stinkt.“

„Zweitausend Dollar sorgen dafür, dass es nur noch unangenehm riecht, aber nicht mehr bestialisch stinkt.“

„Abgemacht. Wann fangen Sie an?“

„Morgen. Wir kommen mit einem Team, einem Müllcontainer und ein paar Ventilatoren, um die Bude auszulüften.“

„So machen wir es. Ich muss mich umsehen, bevor ich entscheide, was ich als Nächstes tue. Im Moment tendiere ich zum Bulldozer.“

„Kann ich Ihnen nicht verdenken, Mr Cooper.“

4. KAPITEL

Rawley wohnte in einer kleinen Stadt im Landesinneren. Sie hieß Elmore. Mac gab Cooper die Adresse und sagte ihm, wie er dorthin kam. Außer einer Tankstelle, der Post, einer Grundschule und einem Dairy Queen hatte Elmore nicht viel zu bieten für eine kleine Stadt. Die nächstgrößere Stadt Bandon lag nur ein paar Meilen weiter und erfüllte wahrscheinlich die Bedürfnisse ihrer Bewohner.

Das Haus, in dem Rawley wohnte, war ein kleines altes Backsteingebäude mit einer Veranda. Der klassische Pick-up parkte neben dem Haus. Der Garten war ordentlich und das Gras immer noch grün, obwohl die Bäume und Büsche bereits Anzeichen des Herbstes zeigten. Als Rawley die Tür öffnete, war Cooper überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass das Haus von innen heimelig, sauber und ordentlich war.

„Hallo. Haben Sie einen Augenblick Zeit?“, fragte Cooper.

Rawley deutete eine Art von Nicken an, das eher ein Grinsen und eine leichte Kopfbewegung war. Er trat einen Schritt zurück, damit Cooper das Haus betreten konnte. Drinnen gab es ein Wohn- und Esszimmer, das so aussah, als hätte eine Frau es so hinterlassen: Seidenbezüge auf den abgenutzten Lehnen der Sessel und des Sofas, Bilder mit Bauernmotiven an der Wand, ein Büffet mit ein paar guten Glasschüsseln, darauf ein Tischläufer. Auf dem Tisch standen sogar Kerzen. Alles war alt, aber gut in Schuss. Vor dem Feuer saß ein älterer Mann in einem Rollstuhl. Er trug einen Overall und ein langärmeliges, sauberes Hemd. Seine Füße steckten nur in Socken. Es gab keinen Grund, Schuhe zu tragen, wenn man praktisch nie irgendwohin ging.

„Sehr schön, Rawley“, sagte Cooper und nahm alles in sich auf. „Ist das Ihr Vater?“

Rawley nickte.

Cooper hatte noch nie zu den geduldigsten Menschen gehört, aber das hier stellte seine Geduld erheblich auf die Probe.

„Ich wünschte, Sie würden mit mir sprechen“, sagte er. „Es sei denn, Sie sind stumm.“

„Ich rede, wenn es etwas zu sagen gibt“, erwiderte Rawley.

„Na gut“, sagte Cooper. „Wie geht es Ihnen seit Bens Tod? Kommen Sie klar?“

„So gut wie gar nicht“, antwortete Rawley.

Na bitte, dachte Cooper. Ehrlich, wenn auch nicht besonders auskunftsfreudig. „Kann ich Ihnen irgendwas geben, etwas, das Sie jetzt nach Bens Tod dringend brauchen könnten?“

„Kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte“, antwortete Rawley.

Nach dieser Aussage wandte sich der alte Mann im Rollstuhl um und schaute Cooper an. Er hielt den Kopf nicht wirklich oben, und Cooper sah, dass er vermutlich Opfer eines Schlaganfalls geworden war. Der Mann drehte den Rollstuhl mit der linken Hand, mit der rechten schützte er seine rechte Gesichtshälfte, wo Mund und Auge herunterhingen.

„Suchen Sie Arbeit?“, fragte Cooper.

„Hab noch nicht angefangen. Wieso? Wollen Sie Bens Laden wieder aufmachen?“

„Nein, aber ich räume gerade auf und lasse ihn reinigen. Es gab Probleme. Schimmel, Fäulnis und tote Fische. Morgen kommt eine Reinigungsfirma, um alles sauber zu machen und die Fischtanks, die verrotteten Lebensmittel, Köder und Müll …“

„Die Polizei hat alles versiegelt. Sie haben mich nicht mehr ins Haus gelassen“, versuchte Rawley zu erklären.

„Ich weiß. Und die Stromgesellschaft hat den Strom abgestellt“, sagte Cooper. „Ein bestialischer Gestank und ein großer Haufen Müll sind das Resultat davon. Doch sobald die Männer das Haus so weit in Ordnung gebracht haben, dass ich wieder einigermaßen atmen kann, muss ich mir alles mal genauer ansehen. Sie wissen schon … Kaufangebote, Schenkung, Verkauf, was auch immer. Vielleicht gibt es ein paar Sachen, die Sie haben wollen. Falls Sie mir bei der Arbeit helfen, würde ich Ihnen zahlen, was Ben Ihnen gezahlt hat.“

Rawley grinste und entblößte eine atemberaubende Zahnreihe. „Er hat gut gezahlt.“

„Hören Sie auf. Ben hatte nichts auf der Kante. Und Lügen konnte er auch nicht ausstehen.“

„Acht Dollar die Stunde“, sagte Rawley. „Wann?“

„In drei Tagen, vermute ich. Ist es okay, wenn Ihr Vater allein bleibt, solange Sie arbeiten?“

Der alte Mann holte tief Luft und hob kurz den Kopf. Es sah aus, als ob er finster dreinblickte, aber bei seinen unebenen Gesichtszügen war das schwer zu sagen. Sein gutes Auge blickte skeptisch.

Rawley nickte. Keine Fragen. Keine Vorschläge. Kein Kommentar.

„Rawley, ich weiß noch nicht, was ich mit dem Haus machen werde. Nur so als Vorwarnung. Es könnte sein, dass es bei dieser einen Woche Arbeit bleibt. Es könnte auch sein, dass ich alles abreißen lasse und das Land verkaufe.“

„Das müssen Sie entscheiden“, sagte Rawley ganz offensichtlich unbekümmert.

„Ja, glaube ich auch.“ Cooper kratzte sich am Nacken. „Dann bis dann.“ Er wandte sich ab, um zu gehen.

„Warten Sie“, bat Rawley. Er ging in die Küche, die hinter dem Türbogen des Esszimmers lag, und kam mit einem Päckchen wieder. Kekse, in Frischhaltefolie, nicht auf einem Teller oder in einem Tütchen. „In der Nachbarschaft des Wohnanhängers gibt es nicht viel. Sie sind ohne Zucker wegen Dad.“

„Stimmt“, meinte Cooper und nahm die Kekse an. „Danke. Das ist wirklich nett.“

Rawley zuckte nur mit den Schultern.

Cooper fuhr zurück. Ben gab ihm immer mehr Rätsel auf. Rawley wohnte in einem Haus, um das man sich gut gekümmert hatte, während Bens Haus größtenteils in einem erbärmlichen Zustand war. Abbruchreif. Wie passte das zusammen? Hatte Rawley sehr gut auf sich geachtet, aber Ben einen schlechten Dienst erwiesen?

Sobald Cooper in seinem Fifth-Wheel-Wagen saß, probierte er eines von Rawleys Plätzchen. Nicht schlecht für zuckerfrei. Weich und lecker. Er schüttelte den Kopf.

Drei Tage später war der Gestank schon nicht mehr so schlimm, und Cooper konnte Bens Haus betreten, ohne zu würgen. Er hatte den Strom wieder anstellen lassen, nicht nur um den Laden ordnungsgemäß zu beleuchten, sondern auch um eine Leitung zu seinem Wohnanhänger zu legen und den Generator zu schonen. Eine Mannschaft zu beschäftigen, die ihm den Müll wegräumte und die Ventilatoren installierte, sorgte für Aufmerksamkeit. Bei schönem Wetter hatten die Menschen am Strand das dringende Bedürfnis, näher zu kommen, um Cooper auf der Terrasse oder am Dock zu sehen. Normalerweise blieben sie stehen, um ihn zu begrüßen. Oder sie blieben eine Weile, um zu fragen, was da vor sich ging. Ein Kajakfahrer paddelte bis zum Dock, stieg aus und fragte, was denn nun mit dem Haus geschehen würde.

„Ich weiß es noch nicht genau“, antwortete Cooper ihm wahrheitsgemäß. „Vermutlich bin ich zwar jetzt dafür verantwortlich, aber ich habe kein Interesse, das Geschäft zu übernehmen.“

„Das hatte Ben auch nicht“, erwiderte der Kerl und lachte. „Aber die Leute hier in Thunder Point lieben diesen Ort, sogar wenn sie nicht gern ins Haus gehen.“

„Weshalb mögen sie ihn?“, fragte Cooper.

„Klatsch und Getränke, hauptsächlich. Und Ben hatte normalerweise ein paar Delikatessen von Carrie da, wenn er es geschafft hatte, sie zu überreden, ihm die Sachen zu liefern. Das machte sie, wenn Gina freihatte und auf den Feinkostladen aufpasste. Carries Feinkost ist gutes Zeug, und Ben hat nicht einmal dafür geworben. Morgens hatte er Rührei-Sandwiches und solche Sachen und belegte Brötchen und Pizza. Für später Desserts und so was. Es war gut. Es war alles verpackt. Er hat nichts gekocht. Wissen Sie, was ich meine?“

Ein Mann und eine Frau mit einem Hund sahen Cooper auf dem Dock und fragten: „Sie sind der neue Besitzer, stimmt’s?“

„Ich glaube schon.“

„Ich bin Charlie, und das ist Donna, meine Frau. Wann werden Sie die Bar aufmachen?“

„Ich weiß noch nicht, ob ich das überhaupt tun werde“, erklärte Cooper. „Im Augenblick räume ich das Haus erst einmal auf. Ich bin kein großer Koch …“

„Ben hat auch nie gekocht. Er hat alles aufgewärmt.“

„Hat Ben von Rührei-Sandwiches und diesem Feinkostzeug gelebt?“, fragte Cooper.

„Keine Ahnung“, antwortete Charlie. „Er war gut mit Getränken. Mit allen Getränken. Kaffee, Cappuccino, Wein, Bier und Spirituosen. Wenn es ein schöner Tag war, hat er ihn bei einem oder zwei Getränken mit ein paar Jungs aus der Stadt ausklingen lassen. Auch viele Sportangler kamen her, um ein paar zu trinken, bevor sie mit ihren Booten in die Marina zurückkehrten.“

„Was ist mit dem Cliffhanger? Oder mit Waylans Bar?“

„Das Cliffhanger ist teuer, und Waylans Bar ist ein Schmuddelloch. Aber sie haben HD-Fernseher. Der Besitzer versucht, eine Sportbar daraus zu machen. Wenn Sie die Bar wieder aufmachen, kaufen Sie sich einen Fernseher.“

„Verstanden“, sagte Cooper.

Später gingen er und Rawley durch Bens Wohnräume, die zu Coopers großer Überraschung sauber waren. Er vermutete, dass Rawley sich auch darum gekümmert hatte. Ben hatte nur einen kleinen Kleiderschrank.

„Wollen Sie seine Sachen haben?“, fragte er Rawley.

„Die sind mir zu groß“, erwiderte Rawley. „Ich könnte höchstens ein paar alte T-Shirts und Sweater für meinen Dad gebrauchen. Der Rest kann in die Altkleidersammlung.“

„Klar“, stimmte Cooper ihm zu.

„Das hätten sie zumindest verdient.“

Cooper war beeindruckt. Er hatte so allmählich den Verdacht, dass sich unter Rawleys rauer Schale ein guter und großzügiger Mensch verbarg.

Ben hatte auch noch einen alten Fernseher und eine alte Stereoanlage, offensichtlich war er noch nicht bis zum iPod gekommen. In seinem Bücherregal standen viele Bücher über die Natur und Tierwelt Oregons, hauptsächlich über Vögel. Cooper fand auch Bens Laptop, ihr hauptsächliches Kommunikationsmedium der letzten zehn Jahre. Und darin entdeckte er auch ein paar Neuigkeiten, die er hätte wissen müssen, wenn er aufmerksam genug gewesen wäre. Ben war offenbar ein engagierter Ornithologe. Zwar hatte er keinen Studienabschluss, aber er hatte beinahe täglich Webseiten und Blogs über Vögel besucht. Das erklärte wiederum die Sache mit dem Vogelschutzgebiet auf Bens Grundstück.

Vor ein paar Tagen war Cooper durch das gesamte Schutzgebiet bis zur steilen Klippe, die sich hoch über den Pazifik erhob, gewandert. Das Land war dicht bewachsen, aber er hatte etwas entdeckt, das wie ein selten genutzter Wanderpfad aussah, der zwischen Douglastannen und Gebüsch durch das Unterholz führte. Die hellen Herbstfarben standen im Kontrast zu dem dunklen Grün der Bäume. Zwischen den Bodenpflanzen entdeckte Cooper verwelkte Blumen. Er sah die Reste vieler alter Vogelnester. In einigen lagen noch ein paar Schalen und einige tote Eier. Außerdem flogen einige Seevögel sehr niedrig über ihn, vermutlich weil seine Anwesenheit sie aufgeschreckt hatte. Sogar ein einsamer Adler zog eine Zeit lang seine Kreise über Coopers Kopf. In einem Baum saßen Vögel, die wie kleine Kraniche aussahen.

Ben hatte etliche Dokumente über Vogelschutz, seltene und vom Aussterben bedrohte Vögel. Auf seinem PC hatte er Vogelbilder gesammelt. Fotos, die er selbst geschossen hatte. Anscheinend war er ein begeisterter Vogelbeobachter gewesen. Überall im Haus hingen große, leistungsstarke Ferngläser an Nägeln.

Außerdem stellte Cooper fest, dass Ben viele Mails von Cooper und Luke Riordan aufgehoben hatte und ein paar wenige von anderen Menschen. Das erinnerte ihn an eine E-Mail, die er einmal von Ben bekommen hatte. Darin hatte Ben beiläufig erwähnt: „Da mein Vater vor ein paar Jahren gestorben ist …“ Cooper hatte gedacht, vor ein paar Jahren? Hatte Ben seine Freunde tatsächlich nicht über den Tod seines Vaters informiert?

Und dann fragte sich Cooper, wer ihm so etwas schreiben würde. Auch wenn er eine Menge Menschen ganz gut leiden konnte, konnte er seine guten Freunde doch an einer Hand abzählen.

Außerdem hatte Cooper Schwestern, Schwager, Nichten und Neffen, die immer mit ihm in Kontakt standen. Zumindest war er mit seiner Familie verbunden.

Es würde ihn ziemlich viel Zeit kosten, sämtliche E-Mails durchzugehen, die Ben aufgehoben hatte. Aber er würde es schon meistern. Schließlich könnte eine Information dabei sein, die etwas über Bens Pläne mit dem Grundstück verriet. Vielleicht fand er sogar eine Andeutung, was zu seinem Tod geführt hatte. Cooper bezweifelte das zwar, aber es lohnte sich, das einmal zu überprüfen.

Das Wetter an diesem Nachmittag sah gut aus. Rawley war mit einem Berg voller Wäsche, die noch gewaschen werden musste, nach Hause gegangen, und Cooper entspannte sich mit dem Laptop auf der Terrasse. Er zählte neun Kinder am Strand. Zwei trugen Neoprenanzüge, Wakeboards und Paddel und waren draußen in der Bucht. Vier spielten Volleyball ohne Netz. Drei Mädchen saßen im Sand und unterhielten sich miteinander. Hinter ihnen standen drei Geländewagen, die er nicht hatte kommen sehen.

Cooper genoss die Aussicht, und die Kids schienen Spaß zu haben. Sie trieben ein bisschen Unfug. Ein Junge schnappte sich ein Mädchen, küsste es, wurde geboxt, was ihn hysterisch auflachen ließ, bevor er das Mädchen jagte, einfing und dieses zweite Mal wesentlich herzlicher behandelt wurde. Die beiden anderen Jungs mit ihren Surfbrettern gingen fast bis zum Ende der Bucht, wo die Pazifikwellen hoch und herausfordernd aussahen. Das Wasser in der Bucht war tintenblau. Neoprenanzüge zu tragen, war sehr klug, denn die Luft war kalt – und im Meer war es noch kälter. Aber es handelte sich ganz offensichtlich um Profis. Im Sommer, so hätte Cooper gewettet, waren sicher auch viele Schnorchler unterwegs. Vielleicht wurde sogar getaucht, und bestimmt surften viele Kids auf Brettern weit aus der Bucht heraus.

Er schickte eine kurze E-Mail an seine Schwester in Rochelle und erzählte ihr, dass die Gegend tatsächlich ziemlich cool sei. Trotzdem hatte er keine Ahnung, was er mit dem Grundstück anstellen sollte. Camping in einem Wohnanhänger war nicht unbedingt gemütlich. Er musste einen Campingplatz finden, Wäsche waschen und alle paar Tage Trinkwasser bunkern. Aber wenigstens konnte er hier den Strom aus der Bar nutzen und brauchte seine Batterie nicht. Er hatte niemandem aus seiner Familie erzählt, was genau er mit dem Grundstück zu schaffen hatte. Er wollte keine Ratschläge. Seine Familie, allen voran seine Schwester, war sehr gut darin, anderen zu sagen, was sie machen sollten.

Dann sah er den großen Hund wieder, aber diesmal ohne die Frau. Ein junger Mann oder Junge ging mit ihm spazieren und warf einen Ball statt des Stocks. Der Ehemann? fragte sich Cooper.

Dann sah er, dass der Kerl einen weiten Bogen um die Kids am Strand machte und einen großen Umweg in Kauf nahm, um nicht mit ihnen zusammenzutreffen. Alle Jungs aus der Gruppe, insgesamt waren es sechs, versperrten ihm den Weg. Der junge Mann mit dem Hund wich ihnen aus und lenkte seine Schritte in Richtung Land zum Hügel hin. Er rief seinen Hund, damit dieser ihm folgte. Die anderen änderten ihre Position und versperrten ihm erneut den Weg. Der Hund, halb so groß wie sein Herrchen, versteckte sich hinter ihm.

Cooper, der in seiner Jugend in bei Weitem viel zu viele Kämpfe verstrickt gewesen war, erkannte rasch, dass sich dort etwas zusammenbraute. Er wusste, was als Nächstes kommen würde. Und sie waren sechs gegen einen. Der Junge, der der Anführer der Gruppe zu sein schien, schubste den einsamen Spaziergänger. Der junge Mann richtete sich auf. Seine Schultern wurden ein wenig breiter. Er schien bereit, den Kampf aufzunehmen. Der Anführer sprach ernsthaft auf ihn ein, beugte sich zu ihm und ging zu verbalen Angriffen über. Dann schubste er ihn erneut, und der junge Mann hob die Fäuste.

„Das wird nicht passieren, ihr Arschlöcher“, sagte Cooper laut zu sich selbst. Er stellte den Laptop ab. Dann stand er auf, nahm zwei Finger in den Mund und ließ einen ohrenbetäubenden Pfiff ertönen.

Die Jungs drehten sich um und entdeckten ihn auf der Terrasse des geschlossenen Angelshops. Die Beine gespreizt, die Hände in die Hüften gestützt, beobachtete Cooper sie. Er hasste Drangsalierer und war bereit, über die Terrassenbrüstung zu springen und zum Strand zu sprinten, um dem jungen Mann beizustehen, obwohl er vielleicht sogar selbst das Problem war. Aber es spielte keine Rolle, ob der junge Mann etwas Schlimmes getan hatte. So etwas tat man einfach nicht. Man griff nicht einfach jemanden an und verwickelte ihn in einen unfairen Kampf, bei dem er in der Minderheit war.

Die Teenager beobachteten Cooper, und er beobachtete sie.

Dann zogen sie sich klugerweise zurück, und der junge Mann mit dem Hund ging an ihnen vorbei und steuerte Coopers Dock an.

Er wollte aber nicht zu Cooper, sondern setzte sich auf die untere Stufe der Treppe, die zur Bar führte. Von dort aus warf er dem Hund den Ball zu. Cooper ließ ihn ungefähr fünf Minuten so gewähren, dann ging er die Treppe hinunter.

Ein sehr missmutig aussehender Teenager schaute ihn an und sagte: „Nun muss ich mich wohl bedanken. Nehme ich an.“

„Nimmst du an? Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte zugesehen, wie sie dich zusammenschlagen?“

„Das hätten sie wahrscheinlich gar nicht.“ Er blickte hinter sich, um der großen Dänischen Dogge den Ball abzunehmen und erneut zu werfen.

„Hätten sie wahrscheinlich nicht?“, fragte Cooper.

Der Junge hob die Schultern.

„Hattest du eine kleine Meinungsverschiedenheit mit deinen Freunden?“

Der Junge sah ihn an und lachte. „Alter, das sind nicht meine Freunde!“

„Was sind sie dann?“

„Teamkollegen. Mehr nicht.“

Cooper ging noch zwei Schritte weiter runter und setzte sich auf dieselbe Treppenstufe wie der Junge. „Hast du das letzte Spiel versaut, oder was?“

Der Junge sah ihn ungeduldig an. Er hielt den Ball fest, der voller schleimiger Hundespucke war. Der Hund saß vor ihm und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. „Sie würden das nicht verstehen“, sagte er und warf schließlich den Ball.

„Probier es doch einmal.“

Der Junge sah ihn wütend an. In Verteidigungsstellung, verletzt, voller ohnmächtiger Wut. Cooper dachte, lieber Himmel! Das bin ja ich! Vor zwanzig Jahren oder so …

„Ich bin der Neue“, erklärte der Junge. „Bin gerade hergezogen. Genau richtig für Football, und das war mein fataler Fehler. Ich sollte nicht ins Team kommen und schon gar keine Touchdowns machen. Das Arschloch am Strand ist ein Senior. Mannschaftskapitän. Er wollte in diesem Jahr drei Dinge und hat fest damit gerechnet, sie zu erreichen: bester Spieler der Mannschaft, gewählter Homecoming King und einmal alle Cheerleader flachlegen.“

Cooper spürte eine seltsame Reaktion. Erstens kam es ihm sehr bekannt vor, der Neue zu sein. Unfreiwillig in Kämpfe verwickelt zu werden, auch wenn es schon lange her war, war ihm ebenfalls noch sehr gut in Erinnerung. Aber Homecoming King? Nicht Cooper! Und Cheerleader? Als er in der Highschool war, hatte er nicht einmal das Glück gehabt, sich mit einem dieser Mädchen überhaupt auch nur zu verabreden, geschweige denn mehr. Er dachte an Macs Tochter, die er vor ein paar Tagen beim Abend-essen im Hause McCain kennengelernt hatte. Eve war eine wunderschöne, jungfräuliche, entzückende, sechzehnjährige Cheerleaderin, die am besten von niemandem angefasst werden sollte.

Aus reiner Lust an der Provokation fragte er: „Und? Wie viele dieser Dinge willst du erreichen?“

Der Junge musterte ihn fassungslos. „Im Ernst jetzt? Als ob ich je bester Spieler würde oder jemand sich mit mir verabreden würde. Hören Sie auf.“

„Der Kerl, der dich geschubst hat. Wer ist das?“

Ein unfrohes Lachen begleitete die Antwort. „Jag Morrison. Der Königsprinz von Thunder Point. Und ja, das ist die Kurzform von Jaguar, falls Sie glauben können, dass jemand sein Kind so nennt.“

„Lieber Himmel“, sagte Cooper kopfschüttelnd.

„Ja.“

Cooper ließ das erst einmal eine Weile sacken. Offensichtlich gab es hier böses Blut. Das konnte vielerlei Gründe haben. Vielleicht war dieser Junge hier ein besserer Spieler, vielleicht steckte ein Mädchen dahinter.

Am Ende fragte Cooper: „Hat dein Hund einen Namen, Kleiner?“

Der Junge lachte, aber es klang nicht fröhlich. „Hamlet. Das ist Dänisch.“

„Der Hund könnte ein wenig tapferer sein.“

„Wem sagen Sie das?“, sagte der Junge.

„Und was ist mit dir? Name?“

„Und mit Ihnen?“, schoss er zurück.

„Entschuldigung“, meinte Cooper und reichte ihm die Hand. „Hank Cooper. Aber fast alle nennen mich Cooper.“

Der Junge entspannte sich ein wenig. „Landon Dupre.“ Er warf einen Seitenblick auf die Teenager am Strand, die augenscheinlich nirgendwo anders hinwollten. Cooper schoss durch den Kopf, dass sie auf eine zweite Chance warteten, Landon zu drangsalieren und einzuschüchtern.

„Es war schön, dich kennenzulernen, Landon. Was sagen denn deine Eltern über deine Problematik, die damit einhergeht, dass du der Neue bist?“

„Ich habe keine Eltern mehr.“

„Ach. Und wem bist du dann Rechenschaft schuldig?“

„Rechenschaft schuldig?“, imitierte der Junge ihn. „Hören Sie auf.“

„Betrachte es doch mal so: Ich versuche nur, auf möglichst freundliche Weise herauszufinden, ob deine Eltern hinter dir stehen oder du ein Straßenjunge bist, aus dem Waisenhaus oder dem kompletten Gegenteil davon.“

„Ich wohne bei meiner Schwester“, erwiderte der Junge. Seine Stimme brach. Das war entweder ein Zeichen des Respekts oder seines Elends.

„Ah, das Mädchen in der roten Regenjacke.“

Landon sah Cooper an. „Sie kennen sie?“

„Ich kenne den Hund. Sie hat ihn ein paar Mal am Strand ausgeführt. Man kann ihn schwerlich übersehen. Er ist so groß wie ein Pferd.“

„Und so doof wie ein Brot.“

„Du solltest ihn nicht so niedermachen“, riet Cooper. „Du könntest sein Selbstwertgefühl verletzen.“ Dann grinste er den Jungen an. „Warum habt ihr so einen großen Hund?“

„Meine Schwester hat ihn meinetwegen angeschafft. Es war eine Rettungsaktion. Sein Besitzer wurde eingezogen. Das war ihre Idee eines Trostpreises, weil sie mitten in der besten Spielzeit meines Lebens mit mir umgezogen ist.“

Der Hund war zurück, legte den Ball ab und setzte sich erwartungsvoll vor ihn. Der Sabber tropfte ihm aus dem Maul. „Hamlet hat ein Problem mit dem Sabbern. Es ist schrecklich. Ich weiß nicht, was an einem Deutschen Schäferhund so verkehrt gewesen wäre.“

Cooper musste unwillkürlich lachen, froh, dass er nicht der Hüter dieses Jungen war. „Weshalb seid ihr hierher gezogen?“

„Scheidung.“

„Du bist geschieden?“, fragte Cooper scherzhaft.

Landon wandte den Kopf, und als er Cooper lächeln sah, ließ seine Anspannung ein wenig nach. „Sie wurde geschieden, konnte sich das Haus nicht mehr leisten und wollte in einer kleineren Stadt leben, damit sie mich besser im Auge behalten kann. Was ich ungeheuer schätze, falls Sie verstehen. Außerdem gefiel es ihr nicht, andauernd ihrem Ex zu begegnen. Na ja, das verstehe ich zwar. Aber mal ehrlich, mussten wir deshalb wirklich nach Posemuckel in Oregon ziehen, wo die Einheimischen mich jeden Tag verprügeln wollen? Musste das wirklich sein?“

„Hast du ihr das gesagt?“, fragte Cooper. Er verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch nachzusehen, wer da gerade sprach. Dies war wirklich die seltsamste Unterhaltung, die er je geführt hatte. Er hörte sich an wie sein eigener Vater.

Der Junge verschloss sich wieder. „Ich verstecke mich nicht hinter meiner Schwester, Alter. Außerdem hat sie ihre eigenen Probleme.“

Cooper, der größere Schwestern hatte, verstand das sofort. „Sag mal, ist dieses Alter-Ding nicht langsam vorbei? Alle Alter zu nennen? Habe ich mir nie angewöhnen können …“

„Nun, Alter, dann sollten Sie das vielleicht nachholen.“

„Oder du holst es nach“, konterte Cooper. „Also, steht dir jemand bei? Ich meine, irgendwer? Lehrer? Pfarrer? Vertrauensperson?“

„Sehr witzig. Sie sind ein echter Komiker.“

„Bin ich, ja? Aber ich meine es ernst. Jeder braucht eine Deckung. Ich bin in deinem Alter auch mit anderen Typen aneinandergeraten. Ich weiß nicht, was das immer war …“

„Wollen Sie eine zweite Meinung?“, fragte Landon.

Cooper lachte über den Sarkasmus des Jungen. „Okay. Schon gut. Ich glaube, ich hole auf.“

„Ben“, erklärte Landon. „Ben war mein Freund.“

Erstaunt verstummte Cooper. Dann legte er die Hand auf Landons Schulter. „Er war auch mein Freund. Tut mir leid, Mann.“

„Ja. Was auch immer passiert ist, es hätte nicht passieren dürfen.“

Er hat die Streuner eingesammelt, dachte Cooper. Er hat Rawley Arbeit verschafft, Landon beschützt und dafür gesorgt, dass Ginas Jeep lief. Wer wusste schon, wie vielen anderen er noch geholfen hatte? Er hatte kleine Vögel und Fische beschützt. Er hatte eine Menge Bekannte, aber keine richtigen echten Freunde. Er kümmerte sich auf seine Art um die Stadt und hielt dieses kleine Stückchen Strand sauber.

5. KAPITEL

Kurz nachdem Landon über den Strand flüchten konnte, wurde es stürmisch. Der Angelladen konnte, wenn es stürmte, ziemlich einsam werden. Cooper vermutete, dass es bei dem feuchten Wetter in Oregon viele vergleichbare Nächte gab. Also duschte er in seinem Anhänger und nahm dann den Truck, um über den Strand in die Stadt zu fahren. Er beschloss, im Cliffhanger etwas zu essen.

Es war nicht sehr voll, was Cooper aber nicht überraschte. Er hatte beobachtet, dass die Fischerboote mit den letzten Sonnenstrahlen in die Bucht zurückgekehrt waren, und vermutete, dass diese Jungs froh waren, nach Hause zu kommen und eine warme Mahlzeit vor dem Kamin essen zu können. Im Restaurant stand ebenfalls ein großer Kamin. Er erinnerte Cooper an Jacks Bar in Virgin River. Man hätte eine Menge aus dem alten Angelladen von Ben machen können, um es gemütlicher zu machen. Zum Beispiel, einen Kamin einbauen, um nur mal schon mit Punkt eins zu beginnen, dachte er. Dann ermahnte er sich selbst, damit aufzuhören. Egal, was auf diesem Stück Papier stand, er hatte nichts damit zu tun. Aus irgendeinem Grund hatte ihm sein alter Freund vertraut.

Cooper hatte nicht erwartet, ein bekanntes Gesicht im Restaurant zu sehen. Darum war er angenehm überrascht, als er Mac entdeckte, der bei einem Bier an der Bar saß und mit dem Barmann sprach. Heute Abend trug er keine Uniform. Cooper ging zu ihm und sagte: „Hallo, Deputy.“

„Cooper“, erwiderte Mac und reichte ihm die Hand. „Was treibt dich denn an so einem nassen Abend vor die Tür?“

„Hunger“, antwortete Cooper und setzte sich an den Tresen.

„Cliff, bring meinem Freund Cooper bitte ein Bier.“

„Cliff?“, wiederholte Cooper und lachte kurz. „Das passt.“

„Ja, stimmt“, erwiderte der Mann. „Was hätten Sie denn gern?“

„Eins vom Fass“, bat Cooper. „Dann muss das Ihr Restaurant sein, Cliff.“

„Muss wohl. Speisekarte?“

„Ja, bitte.“

„Nimm einfach den Zackenbarsch“, empfahl Mac.

Cooper blickte zu ihm. „Und wie möchte ich den gern haben?“

„Er nimmt den Zackenbarsch, Cliff. Vertrau mir einfach. Also, was passiert so alles am anderen Ende des Strands?“

„Den schlimmsten Gestank bin ich losgeworden. Und ich habe mir Bens Sachen zum größten Teil angesehen, zum Teil gespendet oder weggeworfen, weißt schon. Vieles war nicht mehr funktionstüchtig. Ben hatte schon seit Langem an dieser Klärgrube gearbeitet, schon damals, als ich darauf gewartet hatte, dass wir uns in Kalifornien treffen. Ich vermute mal, dass er es nie so richtig geschafft hat, sie zu reparieren.“

„Und was kommt jetzt als Nächstes?“

Cooper trank einen Schluck Bier. „Keine Ahnung. Ich denke noch darüber nach. Ich habe einen Teil einer Wand abgerissen. Ich weiß nicht, ob sie verschimmelt oder verfault war. Vielleicht muss sie geglättet werden. Keine Ahnung.“

„Du bist immer noch hier“, sinnierte Mac.

Cooper trank noch einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. „Fühlt sich an wie lauter unerledigte Geschäfte. Ich sehe jeden Tag etwas Neues, aber die meiste Zeit wirft das alles nur noch mehr Fragen auf.“

„Über seinen Tod?“

„Über sein Leben“, erklärte Cooper. „Wie hat er es bis zum Ende des Monats geschafft? Er kaufte Feinkost im Feinkostladen, aber er hat es nirgendwo aufgeschrieben …“

„Ich glaube, Carrie hat ihn anschreiben lassen“, erklärte Mac. „Er kaufte alle seine Bestellungen, inklusive Spirituosen bei Großmärkten, und ich wette, damit hat er einen kleinen Gewinn erzielt. Ich meine, er musste keine Miete zahlen, oder?“

„Er hat sich um Dinge gekümmert. Um Menschen. Ich lasse Rawley im Augenblick auch wieder für mich arbeiten.“

Mac blickte kurz ganz ernst, dann legte er Cooper die Hand auf den Rücken, als wolle er sich bedanken.

„Ich bin heute am Strand einem Jungen begegnet, der Bens Freund war, wie er behauptet“, fuhr Cooper fort. „Ben hat auf der Landzunge eine Vogelschutzzone eingerichtet. Ich habe das Gefühl, dass ich herausfinden sollte, was Rawley braucht, bevor ich fahre. So als ob ich es Ben schuldig wäre. Ich frage mich dennoch … er hat sich um Leute gekümmert, aber alles andere ist in einem verlotterten Zustand und kurz vor dem totalen Verfall. Wie hat er gelebt?“

„Ich glaube nicht, dass Geldverdienen je zu Bens Prioritäten gehörte, würde mich aber nicht darauf festlegen. Du weißt möglicherweise mehr über Bens Geschäfte als ich. Als alle anderen.“

„Nun, zum einen hatte er nicht viel Geld. Und soweit ich das beurteilen kann, machte er sich deswegen keine Sorgen. Warum hat er das Grundstück nicht jemand anderem gegeben? Warum hat er es nicht der Stadt gegeben?“

Mac lachte und trank einen Schluck Bier. „Die Stadt hätte es verkauft. Wie ich schon sagte, es gibt ein paar Menschen hier in der Stadt, denen die Dinge so gefallen, wie sie sind – ganz einfach. Andere wiederum glauben, ein großes Geschäft wäre gut für die Stadt.“

„Was glaubst du?“, fragte Cooper.

Mac hob halbherzig die Schultern. „Ich glaube, falls dort zum Beispiel ein Ferienressort für Golfer entstünde, würde sich die Stadt in eine Stadt voller Hilfskräfte, Kellner, Zimmermädchen und Butler verwandeln. Ich glaube, das wäre das Ende von Carries Feinkostladen, Pizza Hut und dem Diner. Aber es könnte der Handelskammer und den kommerziellen Fischern helfen, vor allem wenn sie das Fünf-Sterne-Restaurant des Ferienressorts beliefern würden. Und wenn du wissen willst, was ich davon halten würde, fahr mal nach Bandon Dunes. Die Leute kommen von überall auf der Welt, um dort Urlaub zu machen, Golf zu spielen, Geschäftskonferenzen abzuhalten oder Hochzeiten zu feiern. Das ist schon etwas. Sehr erstklassig. Daran ist vieles gut. Und die Hilfskräfte kommen aus Bandon.“

„Das heißt Arbeitsplätze …“

„Und sollte nicht so leichtfertig außer Acht gelassen werden“, räumte Mac ein.

„Es könnte der lokalen Wirtschaft helfen“, sagte Cooper. „Und den Wert deines Grundstücks steigern.“

„Könnte sein“, erwiderte Mac. „Du bist jetzt seit ungefähr einer Woche hier. Hast du schon jemandem von Bens Testament erzählt?“

„Ich habe höchstens erwähnt, dass ich für den Angelladen verantwortlich bin, aber du bist der Einzige, der die Einzelheiten kennt. Du und Rawley.“

„Nun, Rawley wird es nicht weitererzählen. Die Leute gehen trotzdem bereits davon aus, dass die Dinge so sind, wie sie vermutlich tatsächlich sind. Zum Beispiel, dass das Grundstück dir gehört. Und du könntest es verkaufen.“

„Dafür muss aber immer noch ein bisschen juristischer Papierkram erledigt werden“, erklärte Cooper. „Deshalb muss ich aber nicht hierbleiben.“

„Weshalb bist du dann immer noch hier?“

„Ich kann es zunächst einmal nur so erklären: Ich möchte, sofern ich dazu in der Lage bin, Bens Absichten begreifen. Das heißt nicht, dass ich seinen Erwartungen entsprechen werde. Vielleicht kann ich das auch gar nicht. Aber ich bin es dem Kerl schuldig, erst einmal herauszufinden, was er vorhatte, bevor ich Pläne mache.“

Mac blickte nach hinten und sah dann Cooper an. „Sieh zu, dass du deine Pläne bald machst, Cooper. Eingehende …“

Bevor er seinen Satz beendet hatte, erschien eine Frau. Sie war mindestens fünfundfünfzig, versuchte aber, wie fünfunddreißig auszusehen. Ihr Kostüm war aus einem glatten, satinähnlichen Stoff. Ein großer Ausschnitt brachte ihr Dekolleté zur Geltung. Der Minirock entblößte kurze Beine in hohen, sehr hohen Pumps. Die Haare waren blond gefärbt. Die Nägel lang und rot. Sie war nicht gerade angezogen wie für einen Kirchgang. Tatsächlich sah sie eher so aus, als wäre sie mit einer Stange, an der sie tanzen kann, vertrauter.

„Na, Mac, wie geht es dir?“, fragte sie und neigte sich zum Deputy, um ihn mit zwei Wangenküssen zu begrüßen. „Und wer ist dein Freund hier?“

„Ray Anne, das ist Cooper. Cooper, das ist Ray Anne. Cooper war ein Freund von Ben.“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. „Oh, Cooper, es tut mir so leid. Wir alle vermissen Ben sehr.“

„Danke. Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte er. Aber es schien ihm außer Frage, dass Ben zu dieser Frau keinerlei Beziehung hatte. Im Gegensatz dazu hatte er Bens Verhältnis zu Rawley beinahe sofort verstanden.

Sie plauderten ein paar Minuten. Ray Anne fragte Mac nach Lou und den Kindern und wollte wissen, ob es Fortschritte wegen der Ampelschaltung in der Stadt gab. Und ob Mac etwas gehört habe wegen der „häuslichen Auseinandersetzungen“ bei Charlie und Donna.

Darauf erwiderte Mac: „Nein, gab es da eine häusliche Auseinandersetzung?“

Ohne auf die Frage einzugehen, wandte Ray Anne sich an Cooper. „Ich hörte schon, dass ein Freund von Ben in der Stadt sein soll. Wie sieht es denn jetzt da draußen so aus?“

„Eine Bruchbude“, sagte Cooper. „Ich versuche gerade herauszufinden, wie ich damit umgehe.“

„Nun, falls Sie Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, mich anzurufen.“

Sie zückte eine Visitenkarte. Die Frau war Immobilienmaklerin. Offenbar kannte sie einen Taschenspielertrick. Die Karte musste sie schon die ganze Zeit unbemerkt in der Hand gehabt haben, ohne dass er es mitbekommen hatte. Cooper blickte kurz auf die Visitenkarte, dann wieder auf Ray Anne, wobei er lächelte und „Danke“ sagte.

„Ich kenne jeden guten Handwerker in der Gegend. Egal, was Sie brauchen – Farbe, Fußboden, Gebäudesanierung, alles Mögliche …“

Sie wusste tatsächlich alles, wie es schien.

„Schimmelsanierung?“, fragte er.

„Ja!“, erwiderte sie strahlend und tippte ihm auf die Hand, die immer noch ihre Visitenkarte festhielt. „Rufen Sie mich einfach an. Das ist meine Handynummer. Jederzeit!“

„Das weiß ich zu schätzen“, erwiderte er. Dann kam der Zackenbarsch.

„Hier kommt Ihr Abendessen“, sagte sie. „Ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Passen Sie auf sich auf. Und lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen, Hank. Ich bin immer hocherfreut, einem Freund zu helfen.“

Mac und Cooper wandten sich ihrem identischen Abendessen zu. Cooper probierte einen Bissen.

„Das ist gut“, sagte er.

„Sag ich doch“, erwiderte Mac.

„Also, die Frau weiß alles. Sie kennt vermutlich sogar meine Rentenversicherungsnummer. Du hast mich ihr als Cooper vorgestellt, aber sie nannte mich Hank. Ich würde wetten, sie kennt die genaue Fläche von Bens Grundstück.“

„Das würde ich ebenfalls annehmen“, murmelte Mac.

Cooper aß noch ein bisschen mehr von seinem Zackenbarsch. „Und ich wette, man würde mich für ein paar Hundert Quadratmeter flachlegen.“

Mac wandte sich ihm zu und sagte leicht lächelnd: „Man würde dich flachlegen, damit du überhaupt nur darüber sprichst.“

Cooper versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, weil Ray Anne immer noch den Gastraum abarbeitete und auf dem Weg zur Bar an einigen Tischen stehen blieb. „Ist das bei ihr so üblich?“

„Ich glaube schon. Trotzdem bist du hier der erste Neue seit Langem.“

„Hast du so etwas schon mal erlebt?“

„Diese Aufmerksamkeit? Oder so einen Bestechungsversuch?“, fragte Mac.

„Wo wir gerade dabei sind, Vertraulichkeiten auszutauschen …“

„Cooper, ich arbeite in dieser Stadt. Meine Kids gehen hier zur Schule, meine Tante arbeitet hier als Lehrerin. Lou kennt Ray Anne schon lange. Kurz gesagt: nein. In meinem Hirn gibt es tatsächlich Regionen, die etwas schwer von Begriff sind, aber so schwer von Begriff nun auch wieder nicht. Ehrlich. Sie ist nicht mein Typ. Ich stand noch nie auf mütterliche Frauen.“

„Ich hatte nie eine Mutter, die so aussah“, erwiderte Cooper.

Sie aßen schweigend weiter. Als Cooper den Teller von sich schob, hatte Ray Anne das Restaurant bereits verlassen. „Also hat dich die Familie heute Abend allein gelassen?“, fragte Cooper.

Mac lehnte sich zurück. „Das stimmt nicht ganz. Heute ist Lous Abend mit ein paar guten Freunden aus Coquille, und sie wird erst spät zurück sein. Ich habe eine Pizza für die Kids gekauft und mich verdrückt.“ Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Ich stand an der Tür, habe die Pizza hineingeworfen und gesagt, dass ich in zwei Stunden wieder zurück bin. Sie haben sich auf die Pizza gestürzt wie hungrige Wölfe.“

„Zwei ganze Stunden?“, fragte Cooper lachend.

„Ich muss noch die Hausaufgaben nachsehen. Wenn ich die nicht kontrolliere, zerreißt Lou mich in der Luft.“

„Hausaufgabenkontrolle. Das kann doch nicht so schlimm sein.“

„Hast du in letzter Zeit mal Hausaufgaben kontrolliert?“

„Wessen Hausaufgaben sollte ich wohl nachgesehen haben?“

„Darum geht es nicht, Cooper. Es geht darum, dass es eine Qual ist. Wenn ich heutzutage zur Schule gehen müsste, würde ich nicht mal den Realschulabschluss schaffen. Kurz, ich hätte es lieber schon längst aufgegeben. Aber das ist der Preis des Daseins als Vater.“

Lou stand in ihrer Unterwäsche vor dem Spiegel im Badezimmer und hob ihre Brüste leicht an. Dann betrachtete sie sich von der Seite und seufzte. Obwohl sie klein waren, hatten ihre Brüste eine unvorteilhafte Tendenz zum Hängen entwickelt. Dabei standen sie einmal so keck. Sie ließ los. Dann strich sie sich leicht mit den Fingern über die Wangen bis zu den Ohren und fragte sich zum tausendsten Mal, ob sie mit einem Facelifting nicht zehn Jahre jünger aussehen würde.

„Lou, komm zurück“, rief Joe aus dem Schlafzimmer.

Ich will nicht gierig sein, dachte sie. Nur zehn Jahre.

Sie seufzte noch einmal und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Joe Metcalf war fünfzig, und außer dass er sehr gut aussah, war er wahnsinnig gut in Form. In George-Clooney-Form. Er war muskulös, breitschultrig, hatte einen flachen Bauch und lange Beine, wundervolle große Hände und großartige Zähne. Als sie das Bett erreichte, schaltete er den Fernseher aus und breitete die Arme aus.

„Was hast du da drinnen gemacht?“, fragte er und küsste sie auf den Hals.

„Wir nennen es frisch machen“, antwortete sie.

„Ich wette, du hast gegrübelt.“

„Warum sagst du das?“, fragte sie und löste sich von ihm.

„Weil du dazu neigst, so etwas zu tun. Ich glaube, alle unsere Probleme wären gelöst, wenn du mich endlich nicht mehr verheimlichen würdest. Warum hältst du mich geheim, Lou? Wieso schwindelst du immer noch, damit wir uns treffen können?“

Sie zögerte. Es war so kompliziert. Das lag hauptsächlich an seinem Alter. Er war zehn Jahre jünger als sie. Obwohl sein Haar grau wäre, wenn er es wachsen lassen würde, ohne es vorher abzurasieren, wäre er locker als fünfundvierzig durchgegangen.

„Ich möchte nicht, dass die Kinder darunter leiden, wenn sie spüren, dass sie meine Aufmerksamkeit teilen müssen.“

„Das wäre nicht der Fall, Lou. Wir würden nur so viel Zeit miteinander verbringen, wie du es für richtig hältst. Ich habe auch Kinder.“

„Deine sind deine eigenen.“

„Gott sei Dank“, erwiderte er seufzend. Langsam rollte er sich auf den Rücken, behielt sie aber im Arm. Joe war ein geschiedener Vater. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, fünfundzwanzig und dreiundzwanzig. „Sie brauchen dennoch eine Menge Zuwendung. Eine direkte Verbindung zur Brieftasche.“

„Bevor du dich versiehst, sind sie verheiratet und haben Kinder“, entgegnete Lou. „Und meine auch. Und ich werde mich fühlen wie eine Oma. Oh, mein Gott.“ Sie lehnte den Kopf an seine nackte Schulter.

Er lachte, und seine Hand fand den Weg zu ihrem Po. „Die bestaussehende Oma des Landes, vielleicht sogar der ganzen Welt.“

Sie hob den Kopf. Verwuschelte rote Locken umrahmten ihr Gesicht. „Wenn du siebzig bist, bin ich schon achtzig. Achtzig.“

„Jesus, als ob du mit einem Neunzehnjährigen vögeln würdest. Ich hoffe, ich lebe mit siebzig überhaupt noch. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie du mit achtzig aussiehst!“

Lou und Joe hatten sich über ein Onlineportal kennengelernt und sich zum Kaffee verabredet. Er hatte, nun ja, reif ausgesehen. Als sie ihn nach seinem Alter gefragt hatte, hatte er geantwortet: „Wie alt hättest du mich denn gern?“ Sie hatte geantwortet: „Neunundfünfzig.“

„So soll es sein“, kam die prompte Antwort.

Das war ein paar Wochen gewesen, bevor sie erfahren hatte, wie alt er wirklich war. Sie dachte, dass er für sein Alter verdammt gut aussah, wozu Männer grundsätzlich eher neigten. So war es von der Natur vorgesehen. Männer wurden attraktiver, während Frauen verwelkten, wenn sie älter wurden.

Er war seit zehn Jahren geschieden, hatte sich hin und wieder mit Frauen verabredet, aber es hatte nie so richtig gefunkt. Doch er hatte eine Frau kennenlernen wollen, die mit ihm ins Kino, zum Essen oder zu gesellschaftlichen Anlässen ging. Er aß wirklich sehr gern und ging nur selten ins Kino, aber …

„Okay, die Wahrheit? Ich wollte noch einmal Sex haben, bevor ich sterbe. Mit jemandem, der mir gefällt.“

Was für ein Zufall. So ging es ihr auch.

Joe war Air Force Colonel im Ruhestand, der inzwischen als Polizist bei der Oregon State Police arbeitete. Es war vorgesehen, dass er mit sechzig zum zweiten Mal in den Ruhestand ging. Und jetzt, wo er sich von seiner Scheidung erholt hatte, konnte er sich auf einen angenehmen Ruhestand freuen. Seine Ex hatte wieder geheiratet und seine Kinder das College beendet.

Zu seiner Arbeit in Coos County gehörte es, im Sheriff Department auszuhelfen. Das war ein bisschen zu nah für Lous Geschmack.

„Ich weiß nicht, warum“, argumentierte er. „Die Leute bei der Polizei sind wie eine große Familie. Die verheiraten sich andauernd miteinander.“

„Heiraten!“

„Na ja, wir müssen schließlich ein Ziel haben! Außerdem verstehen Mac und ich uns gut. Er mag mich. Wir arbeiten sehr gut zusammen, wenn es sein muss.“

„Lass mich nachdenken, lass mich nachdenken!“, bat sie ihn. Inzwischen bat sie ihn schon seit einem Jahr um Bedenkzeit.

Eigentlich wünschte sie sich nichts sehnlicher als das, was er vorschlug. Doch das blieb ihr kleines Geheimnis. Wenn sie ihn mit einundzwanzig Jahren kennengelernt hätte, hätte sie ihn auf der Stelle geheiratet – vorausgesetzt, er wäre nicht erst elf gewesen. Sie wäre eine gute Frau für ihn. Tatsächlich hatte sie sich so etwas immer gewünscht: ein Zuhause, einen Mann, Kinder. So verrückt es jetzt erschien, war sie der Erfüllung bisher nie auch nur annähernd so nah gekommen. Lou war fünfundzwanzig gewesen, als ihr Bruder und ihre Schwägerin Mac bekamen, und fünfunddreißig, als sie starben und ihn zum Waisen machten. Sie war Macs Ersatzmutter geworden. Als Mac zu ihr kam, um ihr zu gestehen, dass seine Freundin schwanger war, war sie vierundvierzig. Und fünfzig als Cee Jay ihn mit drei Kindern sitzen ließ. Macs Kinder aufzuziehen, beschnitt ihr Sozialleben und kostete sie ihren Schlaf und ihr Geld. Dennoch hätte sie Cee Jay, wenn sie es gekonnt hätte, geküsst, weil sie ihr diese drei wunderbaren Kinder geschenkt hatte.

Einmal pro Woche traf Lou sich mit Joe. Manchmal gingen sie essen, manchmal blieben sie zu Hause, manchmal verbrachten sie den Abend sogar woanders als bei ihm. Einmal hatte sie sich für ein langes Wochenende davongestohlen, um mit ihm nach Victoria zu fahren. Das war traumhaft gewesen. Er brachte ihre beste Seite zum Vorschein, und sie vergötterte ihn. Sie wollte nur einfach nicht, dass er sich mit einer alten Frau belastete, die sie über kurz oder lang werden würde. Und sie wollte nicht, dass jemand über die Vorstellung lachte, sie könnte glauben, jung genug für das hier – für ihn – zu sein. Auf keinen Fall wollte sie, dass man so über sie lachte wie über Ray Anne. Lou selbst fand Ray Anne ausgesprochen lächerlich.

Joe streifte ihr den Slip herunter. „Es ist deine Entscheidung, Baby. Ich möchte dich nicht zu sehr unter Druck setzen, aber ich werde dich auch nicht aufgeben. Und mir gefällt es, was du mit mir heimlich tust.“

Es gab zwei Situationen, die in Cooper den spontanen Reflex auslösten, alles hinzuwerfen und abzuhauen. Wenn er, wie zum Beispiel bei der Army und einigen anderen Jobs, total mit der Welt über Kreuz lag. Oder wenn er sich unsicher und unwohl fühlte. Das war ihm einige Male passiert. Und es war häufig sehr kompliziert gewesen. Er war ein paar Mal mit einer Frau zusammen gewesen, von der er gedacht hatte, dass er es schaffen würde, sie auf Distanz zu halten. Er hatte sich die Art von glücklichem Familienleben vorgestellt, das seine Familie lebte. Als das nicht funktioniert hatte, musste er einen doppelten Schlag verkraften. Nicht nur, dass er derjenige war, der die Frau verlassen hatte – was für einen Mann, der sein Bestes versucht hatte, schmerzhaft genug war. Er musste außerdem selbst mit Verlustschmerz und Einsamkeit klarkommen. Natürlich versuchte er normalerweise, beides zu vermeiden: Arbeit, die nicht zu ihm passte, und Frauen, die nicht zu ihm passten. In den letzten Jahren hatte er romantische Beziehungen, die ihm am Ende nur wehtaten, vermieden. Die damit verbundene Schlaflosigkeit, das schmerzhafte Gefühl, gescheitert zu sein, die plötzliche Einsamkeit, die er aushalten musste, und das Gefühl der Zurückweisung taten seinem Gemüt nicht gut. Er ließ sich nur noch mit Frauen ein, die ihm nicht viel bedeuteten. Ihm gefielen die Risiken, die er einging, wenn er sich festlegte, einfach nicht.

Cooper dachte, dass es vielleicht in seinem Interesse wäre, ein Verkaufsschild auf seinem Strandgrundstück aufzustellen und abzuhauen. Möglicherweise war das das Beste, was er tun konnte. Doch die Bruchbude, Bar und Angelshop reizten ihn. Er war sich über die Gründe dafür nicht ganz im Klaren. Für ihn stand wirklich nichts auf dem Spiel. Es war ein Geschenk, ein purer Glücksfall.

Obwohl der Angelshop wie ein Pickel in der ansonsten schönen Landschaft saß, gefiel es ihm, wieder am Wasser zu sein. Doch das Desaster, das Haus sanieren zu müssen, stand vor ihm wie der Mount Everest. Cooper wusste nicht, wo er anfangen sollte – oder ob überhaupt.

Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so große Entscheidungsschwierigkeiten gehabt zu haben. In der Regel traf er seine Entscheidungen eher zu schnell, ohne die Dinge wirklich bis zu Ende zu denken. Sich bei der Army einschreiben, einen Job annehmen oder kündigen. In den letzten fünf Jahren hatte es zwei Jobs gegeben, die vermutlich schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen waren, obwohl er es nicht vorhergesehen hatte. Dieses Mal überraschte er sich selbst. Der Cooper, für den er sich hielt, hätte die dem Verfall geweihte alte Bruchbude inzwischen entweder verkauft oder abreißen lassen.

Er spürte eine seltsame Art von innerem Frieden. Und das machte ihm richtig Angst.

Ein paar Tage später ertappte sich Cooper selbst dabei, wie er sich am leeren Strand den ruhigen Sonnenuntergang ansah. Die Fischerboote waren am Dock längsseits gegangen. Cooper war über den langen Weg in die Stadt gefahren. Er wollte entweder einen Burger oder eine Pizza zum Abendessen haben. Doch als er bei der Highschool ankam, sah er, dass das Footballspielfeld hell erleuchtet und der Parkplatz überfüllt war. Die Anfeuerungsrufe der Cheerleader und Bässe der Highschool Band waren sogar durch das geschlossene Wagenfenster zu hören. Cooper bog auf das Schulgrundstück ein, fuhr hinter das Gebäude und suchte nach einem Parkplatz. Er landete weit hinten, auf einem völlig verdreckten Platz. Dort standen auch die Busse der Carver High Badgers. Als er in Richtung Spielfeld ging, sah er, dass sowohl die Tribünen der Heimmannschaft als auch die der gegnerischen Mannschaft voll besetzt waren.

Lieber Himmel, die ganze Stadt war da.

Cooper zahlte seine fünf Dollar Eintritt, aber die billigen Zuschauerplätze waren bereits so überfüllt, dass er am Ende einfach herumstand. Durch den Lautsprecher ertönte eine Ansage. Cooper entdeckte Eve an der Seitenlinie und fragte sich, welche der Cheerleaderinnen Ginas Tochter war. Er sah sich ein paar Spielzüge an. Kurz vor der Halbzeit stand es 10 zu 7 für die Badgers. Er schnappte Gesprächsfetzen auf, dass Thunder Point noch nie gegen die Carver High gewonnen hatte, jedenfalls nicht in den letzten Jahren. Und dann, während die Uhr schon die letzten Sekunden zur Halbzeit hinunterzählte, gab es auf dem Spielfeld plötzlich einen Tumult und einen Aufschwung und …

„Dupre hat den Ball und rennt los! Rennt, rennt, und wir… haben … Touchdown! Sechzig Yards und Touchdown für die Cougars!“

Die Mannschaft, die Cheerleader und die Fans brüllten. Ein paar der Cougars rannten zum Quarterback und klatschten ihn ab. Sie umarmten ihn und schlugen ihm auf die Schulter. Es stand 10 zu 13 für die Cougars. Sie hatten kurz vor der Halbzeit Punkte eingefahren. Dann rannten beide Mannschaften vom Feld und wurden auf dem Spielfeld durch eine Band ersetzt.

Alle Zuschauer stürmten zum Imbissstand, und obwohl Cooper inzwischen am Verhungern war, betrachtete er die lange Schlange skeptisch. Bei Pizza Hut oder im Cliff hätte er bessere Chancen gehabt.

„Der Kerl ist ein Naturtalent“, sagte einer der Vorübergehenden auf dem Weg zum Imbissstand.

„So was wie ihn haben wir, seit ich hier wohne, nicht gesehen“, ergänzte ein anderer.

Vielleicht standen die Dinge für den Jungen gar nicht so schlecht, wie er dachte. Die Mannschaft und die Menge schienen mit seinem Spiel einverstanden zu sein. Trotz der Hungerattacken, unter denen Cooper litt, würde er jetzt nirgendwohin fahren.

Nachdem er zehn Minuten inmitten des stetigen Zustroms von Menschen gestanden hatte, die sich von den Zuschauertribünen weg- und wieder zurückbewegten, rief jemand seinen Namen.

„Cooper? Cooper, was machst du denn hier?“

Er wandte sich um und entdeckte Gina, heute mit offenem blondem Haar. Sie trug ein Cougar-Sweatshirt unter ihrer Jacke.

„Ich war auf dem Weg in die Stadt, sah, dass gespielt wird, und habe einfach angehalten, um mir das Spiel anzusehen. Also, welche ist deine?“, fragte er und deutete mit dem Kopf zu den Cheerleadern.

„Die Rothaarige da hinten, das ist Ashley. Direkt daneben steht Macs Tochter Eve.“

„Eve hatte ich schon entdeckt. Ich war neulich einen Abend bei Mac zum Abendessen eingeladen und habe die Kids kennengelernt.“

„Möchtest du bei uns sitzen? Wir sind gleich da oben“, sagte sie und deutete auf ihre Plätze. „Wir können etwas zusammenrücken. Wir haben versucht, früh da zu sein und Sitze vor der Fifty-Yard-Linie zu bekommen.“

Als er sich umdrehte, stand Mac auf und winkte. Zum ersten Mal dachte er, dass da etwas vor sich ging. Mac und Gina. Wäre sinnvoll. Alleinerziehende Eltern, eine Menge Gemeinsamkeiten …

Ihm gefiel Gina, sie war hübsch und schlagfertig.

„Bist du dir sicher?“, fragte er sie. „Ich habe noch nie so viele Menschen bei einem Highschool-Spiel gesehen.“

„Die Stadt interessiert sich für Sport. Und ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist: Wir haben hier sonst nicht so viel Abwechslung. Wir sind die echten Friday Night Lights.“

„Ich komme gern mit rauf. Danke.“

„Ich bin auf dem Weg zu den Waschräumen. Wir sehen uns zur zweiten Halbzeit.“

Cooper kletterte auf die Zuschauertribüne, um sich zu Mac und Lou zu setzen. Mac holte eine Cola aus einer kleinen Kühltasche und bot sie ihm an. Die Kids waren auf den Zuschauertribünen unterwegs und suchten nach jemandem, zu dem sie sich setzen konnten, anstatt bei der Familie bleiben zu müssen.

Tänzerinnen gesellten sich zur Musikkapelle auf dem Spielfeld. Ungefähr ein Dutzend Mädchen. Cooper erzählte, was Gina ihm wegen der Friday Night Lights gesagt hatte.

„Hast du heute Abend mal die Kids auf dem Spielfeld gezählt? Also Footballspieler, Cheerleader, Pompon-Girls und die Band? Und hast du jetzt eine Vorstellung davon, wie viele Stunden sich die Eltern dieser Stadt allein für diese Sportart eingebracht haben?“, fragte ihn Lou. „Plus der Tatsache, dass wir uns letztlich auch nichts anderes leisten können.“

„Sie sind ganz schön gut für eine Stadt dieser Größe“, meinte Cooper.

„Das sind sie“, pflichtete Mac ihm bei. „Wir arbeiten schwer daran, ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.“

Die zweite Halbzeit lief noch besser, aber es war nicht einfacher für die Cougars. Die Badgers holten auf und zogen an ihnen vorbei. Die Cougars lagen zehn Punkte im Rückstand, bevor auch sie wieder aufholten und die Bewohner von Thunder Point verrückt machten. Es gab ein paar gefährliche Situationen auf dem Spielfeld, ein paar richtig fiese Angriffe und Strafstöße. Ein Cougar musste sogar vom Platz. Die Spannung wuchs.

Und dann tat er es noch einmal. Dupre erkämpfte sich den Ball, rannte neunzig Yards für einen Touchdown und brachte ihnen damit zwei Punkte Vorsprung. Die Zeit lief, und in fiebriger Aufregung schafften es die Cougars zum Sieg.

Sogar Cooper sprang auf und brüllte, bis er heiser war. Er ertappte sich dabei, Gina und Lou zu umarmen, während Mac ihm auf den Rücken klopfte.

„Das ist das erste Mal, seit wir hierher gezogen sind, dass sie in der Lage waren, die Badgers zu schlagen“, strahlte Mac.

„Wie kommt’s?“, wollte Cooper wissen.

„Carver High“, sagte Mac. „Große, alte Bauernjungs aus dem Landesinneren. Dort erzieht man sie streng und tapfer. Man sagt, sie kämen schon mit Schulterpolstern aus dem Mutterleib.“

„Aber das glaubst du nicht“, sagte Cooper lachend.

„Das Wichtige ist doch, dass sie daran glauben“, erwiderte Mac. „Ich muss meine Kinder einsammeln. Sehen wir uns noch?“

„Ja, wahrscheinlich. Ich fahre nicht weg, bevor ich dich nicht angerufen habe. Wie findest du das?“

„Gut. Dann kann ich dir wenigstens sagen, wie du hier wegkommst.“

Cooper wartete ab, bis die Mehrheit der Zuschauer das Stadion verlassen hatte. Die Autoschlangen und Busse, die vom Parkplatz rollten, bewegten sich wirklich sehr langsam, und er parkte am hintersten Ende eines übervollen Parkplatzes. Er hatte das ungute Gefühl, dass er sich in seinem Wohnanhänger etwas zu essen zusammensuchen musste. Die Menge würde sich auf die wenigen Restaurants in der Stadt verteilen, und die Kids würden vermutlich an den Strand fahren. Aber das kümmerte ihn wenig. Nach einem solchen Spiel freute er sich, dass sie einen Ort zum Feiern hatten.

Es war eine Menge Gehupe, Gebrüll, Fangesänge und generelle Begeisterung zu hören. Cooper stand genau dort, wo er gesessen hatte, und beobachtete das alles zwanzig Minuten lang. Er stand ungefähr zehn Reihen oberhalb der Fifty-Yard-Linie. Die Badgers gingen zu ihren Bussen. Die Stadionlichter wurden nacheinander ausgeschaltet und ließen ihn im Dunkeln stehen. Er war überrascht, dass es ihm so viel Spaß gemacht hatte, sich das Highschool-Footballspiel einer kleinen Stadt, die nicht einmal seine Stadt war, anzusehen. Den größten Spaß seit Langem. Ihm war unter Pulli und Jacke richtig heiß geworden, so sehr hatte ihn die Spannung des Spiels mitgerissen. Im Gegensatz zu den Spielen seiner Nichten und Neffen, die er bei anderen, seltenen Gelegenheiten angesehen hatte, war dies das erste Mal, dass er bei so einem Ereignis dabei gewesen war. Jedenfalls seit seiner eigenen Highschool-Zeit, die ein wenig der von Landon glich, nur dass Cooper nie Quarterback gewesen war.

Er setzte sich einen Augenblick hin, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte auf das dunkle Spielfeld. Dabei überlegte er, wie Mac – der Gesetzeshüter der Stadt – das Leben im Herzen der Stadt empfand. Umgeben von begeisterten Freunden, verbunden mit einer Familie, die ihn jede Minute in Anspruch nahm. Für einen kurzen Augenblick war Cooper neidisch auf Mac, obwohl er selbst, wann immer ihm danach gewesen wäre, zum Skilaufen in die Alpen hätte fliegen können. Etwas, das Mac unmöglich gewesen wäre. Denn Mac sparte vermutlich für das College.

Cooper war froh zu sehen, dass die Dinge für Landon Dupre nicht so schlecht standen, wie er gedacht hatte. Der Junge hatte ein gutes Spiel gespielt, und es stand außer Frage, dass er die Stadt im Rücken hatte. Sie hielten ihn für einen Footballstar.

Es waren nicht mehr viele Leute im Stadion. Die Imbissbude hatte bereits geschlossen. Nur wenige Menschen standen noch in Grüppchen auf dem Parkplatz, vermutlich um Pläne für nach dem Spiel zu machen. Das Spielfeld lag im Dunkeln, die Zuschauerränge waren verwaist, die Busse der Gegner verschwunden. Cooper fühlte sich ein wenig merkwürdig. Bevor er darüber nachdenken konnte, weshalb er immer noch dort saß und nostalgisch wurde, redete er sich selbst damit heraus, dass die Schlange für eine Pizza oder einen Big Mac inzwischen schon nicht mehr so lang wäre. Dann ging er zum Parkplatz.

Er war schon außerhalb des Stadions, als er Stimmen hörte. Zwar konnte er kein Wort verstehen, aber er erkannte am Tonfall, dass diese Stimmen sich weder amüsierten noch in Feierlaune waren. Es war ein Streit, eine Diskussion um irgendetwas. Cooper befahl sich selbst, einfach weiterzugehen. Es konnte sich um einen Drogendeal handeln, der schiefgegangen war, oder um eine Auseinandersetzung zwischen Eltern und Teenagerkindern. Dennoch blieb er plötzlich stehen und lauschte. Eine strenge, fordernde, abfällige Stimme, eine Antwort, die er verstand. Nein! Nur ein Wort. Nein. Mehr war nicht nötig. Cooper bewegte sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.

Sie standen unter den Zuschauerrängen der Gäste. Im Dunkeln war er sich nicht sicher, wie viele es waren, aber er schätzte vier oder fünf. Jungen. Jedenfalls ungefähr so groß wie er. Cooper ging langsam und wünschte, er hätte eine Waffe, war aber gleichzeitig erleichtert, dass er keine dabeihatte. Denn so kam es dazu, dass Menschen getötet wurden, weil man eine Situation im Dunkeln leicht missverstand.

„Ich habe dir genau gesagt, was zu tun ist!“, sagte eine Stimme.

„Und ich sagte dir, dass ich das nicht mache! Ich stelle niemandem ein Bein. Ich eiere nicht herum.“

Landon!

Cooper beeilte sich. Zehn lange Schritte später, unter den Zuschauerrängen, kamen sie klar und deutlich in Sicht. Zwei Jungs hielten Landon an den Armen fest, zwei standen ihm gegenüber, und einer sprach.

„Du willst das nicht durchziehen? Ich bin der Mannschaftskapitän. Du machst, was ich dir sage.“

„Das Spiel verlieren?“, protestierte Landon. „Das hältst du nicht für falsch?“

„Wir hätten nicht verloren! Ich wäre ins Spiel gekommen, du Arschloch. Aber du musst dich ja die ganze Zeit produzieren …“

„Hallo, Jungs“, sagte Cooper. Er lehnte sich mit verschränkten Armen ans Geländer. „Ihr gratuliert gerade Dupre für sein Spiel?“

Die Jungs, die Landons Arme festhielten, ließen sofort los. Das war der Moment, in dem Cooper den feinen Blutsfaden an Landons Mundwinkel bemerkte. Den hatte er sich nicht im Spiel zugezogen. Er war frisch.

„Was machen Sie hier?“, fragte ihr Anführer, von dem Cooper wusste, dass er Jag hieß. „Sind Sie so eine Art Perverser, der sich im Dunkeln in der Nähe der Highschool unter den Zuschauertribünen herumtreibt?“

Cooper lachte. Er kratzte sich lässig am Kopf. „Okay, mal sehen, ob ich es richtig verstehe. Ihr seid gerade dabei, euren Quarterback zusammenzuschlagen, weil er ein Spiel gewonnen hat, anstatt zu tricksen, zu stolpern und das Spiel zu vermasseln, damit du an seiner Stelle ins Spiel gekommen wärst. Und du fragst mich allen Ernstes, ob ich ein Perverser bin? Junge, ich kann dir eine Menge Ärger ersparen. Dupre, komm. Ich habe Hunger.“

„Wer ist dieser Arsch?“, fragte der Anführer.

Gegen seinen Willen war Cooper ein wenig beeindruckt. Der Junge hatte es mit großer Autorität gefragt.

Einer der anderen Jungen, die Landon festgehalten hatten, neigte sich zu Jag und sagte: „Ihm gehört jetzt der Strand.“

Jag war einen Augenblick lang schockiert, doch dann lachte er. „Nun, dann entschuldigen Sie, Euer Eminenz. Ihnen gehört diese Bruchbude am Strand. Dann vermute ich mal, dass Sie ziemlich wichtig sein müssen.“

Cooper blickte ihn finster an. „Dupre“, sagte er. „Gehen wir.“

„Wir haben noch etwas zu erledigen“, warf Jag ein.

„Nicht mehr. Ihr seid jetzt damit fertig.“

Jag trat einen Schritt vor und stellte sich Cooper in den Weg. Er stach ihm mit dem Finger in die Brust und erklärte: „Wir reden mit Dupre. Und. Sie. Sind. Entschuldigt.“

Cooper blickte Jag erst auf den Finger, dann ins Gesicht. Dann griff er lässig nach Jags Finger und bog ihn um, bis der Junge aufschrie und auf die Knie ging. Jag versuchte vergeblich, sich aus Coopers Griff zu winden. Mit der anderen Hand packte Cooper ihn an seinem roten Haarschopf.

„Du willst, dass er verschwindet“, sagte Cooper. „Du wirst dich aber ganz sicher nicht mit mir anlegen wollen. Ich hasse Tyrannen. Hasse körperliche Auseinandersetzungen. Aber wenn ich muss, kenne ich alle schmutzigen Tricks.“

Er ließ Jag mit so viel Schwung los, dass dieser rückwärts umfiel. Dann blickte er Landon in die Augen.

„Komm, wir gehen“, sagte er erneut in einem beherrschten Tonfall. „Sofort.“

6. KAPITEL

Cooper und Landon gingen rasch zum Parkplatz. Keine Frage, Landon war nervös.

„Hör auf, dich ständig nach hinten umzuschauen“, riet ihm Cooper. „Ich höre schon, wenn sie kommen.“

„Und was, wenn nicht?“

„Werde ich. Wo steht dein Auto?“

„Hinter der Schule, auf dem Schülerparkplatz.“

„Und ich vermute, ihre Autos stehen ebenfalls dort?“

„Ja.“

„Da vorn steht mein Geländewagen“, sagte Cooper und deutete auf das Auto. „Ich fahre dich jetzt zu deinem Wagen, dann folge ich dir vom Parkplatz runter bis nach Hause, wenn du willst. Aber ich würde lieber noch irgendwohin, wo ich etwas zu essen bekomme. Ich meine es ernst, ich bin kurz vorm Verhungern.“

„Und falls ich keine Lust dazu habe?“, fragte Landon.

Darauf erwiderte Cooper nichts. Er wartete, bis sie bei seinem Wagen angekommen waren, und sagte: „Steig ein.“ Sobald sie beide im Auto saßen, wandte sich Cooper zu Landon um.

„Pass auf, folgende Abmachung. Ich weiß, was heute Abend passiert ist. Ich habe es kapiert. Dieser Junge ist ein Arsch. Ein Tyrann ohne Skrupel. Und er scheint eine Truppe zu haben. Ich habe so etwas auch schon erlebt, glaub mir. Wir müssen über deine Möglichkeiten sprechen, entweder beim Essen oder in deinem Wohnzimmer.“

„Meine Schwester ist zu Hause! Ich kann es nicht gebrauchen, dass sie sich auch noch einmischt. Sie wird es bestimmt noch schlimmer machen. Noch schlimmer, als Sie es schon gemacht haben!“

Cooper hob die Brauen. „War sie beim Spiel?“

„Ja, aber sie nimmt immer ihr eigenes Auto, falls ich danach noch irgendwohin will. Das tue ich zwar nie, aber nur für den Fall.“

Cooper drehte am Zündschlüssel. „Ruf sie an. Erzähl ihr, du gehst noch einen Burger essen und dass du nicht spät nach Hause kommst.“

„Können wir das nicht ein anderes Mal machen?“, fragte Landon. „Zum Beispiel, wenn nicht die ganze Stadt unterwegs ist? Lassen Sie mich einfach aussteigen, und dann werde ich …“

„Ruf sie an. Fahr zum Cliffhanger. Ich fahre dir hinterher. Ich bezweifle, dass der ganze Gockelverein sich dort aufhalten will. Und wir wissen beide, wo der Großteil der Mannschaft sein wird. Am Strand.“

Seufzend gab Landon nach. „Fahren Sie nach links auf den Parkplatz. Da steht mein Auto, der grüne Mazda. Ich rufe meine Schwester vom Auto aus an.“

„Mach schnell, denn ich bin mir sicher, die Jungs sind ziemlich angepisst und überlegen sich gerade, was sie als Nächstes mit dir anstellen werden.“

Landon stieg aus, doch dann sah er Cooper noch einmal an. „Was, wenn Sie tatsächlich ein Perverser sind?“

„Ich habe dir nur das Leben gerettet. Jetzt füttere ich dich und gebe dir ein paar Ratschläge. Sieh zu, dass ich es nicht bedauere.“

„Genau das machen Perverse“, sagte Landon.

Cooper beugte sich zu ihm. „Perverse lassen dich nicht selbst fahren. Du machst mich fertig. Nachdem wir von Arschlöchern wie Jag gesprochen haben, sprechen wir jetzt über Perverse. Geh jetzt!“

Mac brachte seine Tante Lou und die jüngeren Kinder nach dem Spiel nach Hause. Sobald er sie alle im Haus wusste, sagte er: „Ich mache noch mal einen schnellen Abstecher in die Stadt, sorge dafür, dass Ruhe herrscht …“

„Nach so einem Spiel herrscht keine Ruhe“, sagte Lou, als sie sich eine Diät-Cola aus dem Kühlschrank holte. „Setz dich bloß nicht auf diesen Hügel und spioniere den Strand aus.“

„Das mache ich nicht“, versprach er.

„Doch, das tust du“, erwiderte sie und verließ die Küche.

Einen Moment lang stand er unschlüssig herum. Dann holte er zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank und ging aus dem Haus. Die Nacht war klar und kalt, und am Himmel sah man Millionen Sterne. Er fuhr nur zehn Straßen weiter in eine Gegend, die am Hügel, genau oberhalb der Hauptstraße, lag. Er parkte den Wagen, ging eine Treppe hinauf auf eine Veranda, wo er mit den beiden Bierflaschen in der Hand an die Tür klopfte.

Gina öffnete die Tür. Sie hatte sich in eine Decke gehüllt und trug einen Winterschlafanzug. Ihre Füße steckten in dicken Socken. „Was machst du denn hier?“

„Ich bin auf der Suche nach der Gesellschaft eines Erwachsenen und hatte genug von Lou. Ich bin es leid, mich von ihr herumkommandieren zu lassen.“

„Was hat sie gesagt?“

„Sie hat gesagt: Geh nicht auf den Hügel und spioniere am Strand herum.“ Er reichte ihr ein Bier. „Komm raus.“

Gina schnappte sich eine Jacke vom Haken an der Innentür, schlüpfte hinein, knipste das Licht auf der Veranda an und nahm ihr Bier entgegen. „Was hast du vor?“

„Mich auf den Hügel setzen und den Strand beobachten.“

Sie lachte ihn aus. „Ich glaube, du denkst, dass niemandem auffällt, dass du hier bist.“ Sie setzte sich auf die oberste Treppenstufe und machte das Bier auf. „Was glaubst du denn, was da draußen los ist?“

Er setzte sich neben sie und öffnete ebenfalls sein Bier. „Ich weiß es, sobald ich es sehe“, sagte er und trank einen Schluck Bier. „Mein Verhältnis zu Lou … geht mir auf die Nerven. Wir sind wie ein altes Ehepaar.“

„Weshalb solltet ihr auch anders sein? Ihr seid jetzt schon länger zusammen, als die meisten Menschen eures Alters verheiratet sind. Sei nicht dumm. Beklag dich nicht. Du wärst ohne sie verloren.“

„Stimmt, ohne sie wäre ich verloren“, pflichtete er ihr bei. „Vielleicht ist es das, was mich so nervt. Es ist unnatürlich.“

„Bei mir musst du dich nicht ausheulen. Ich wohne bei meiner Mutter.“

„Ich wollte dich etwas fragen“, sagte Mac. „Wirst du für den Rest deines Lebens in diesem Diner arbeiten?“

„Wahrscheinlich. Weshalb?“

„Bist du nicht bald fertig mit deinem Abschluss?“

„Fast. Ich habe sogar schon ein paar Empfehlungen für den Master. Ich bin wirklich tierisch schnell. Vor erst siebzehn Jahren in der Highschool gewesen und jetzt schon fast den Abschluss geschafft.“

„Solltest du dir nicht etwas Besseres suchen? Wo du nicht hinter den Leuten herwischen musst?“

„Im Ernst?“, fragte sie. „Meinst du diese Frage jetzt wirklich ernst?“

„Hey, ich habe überhaupt keinen Abschluss. Nicht mal annähernd.“

„Okay, erstens passt Stu wirklich sehr gut auf mich auf. Ich verdiene im Diner mehr Geld, als ich an vielen anderen Orten verdienen würde. Ich bin für ihn fast unentbehrlich geworden, also muss er mich bei Laune halten. Und ich kann alles erledigen, was ich erledigen muss: halbtags zur Schule gehen, mich um Ashley kümmern und mich über ihre Aktivitäten auf dem Laufenden halten, meiner Mutter im Feinkostladen aushelfen. Zweitens werde ich meinen Abschluss in Sozialwissenschaften machen. Ich würde für das Land arbeiten müssen. Die bezahlen miserabel.“

„Aber da gibt es Sozialleistungen“, warf er ein.

„Ich bekomme Sozialleistungen. Vielleicht nicht gerade viel, aber …“

„Rentenkasse?“

„Ein wenig“, sagte sie. „Nicht dass ich damit rechne, je in Rente zu gehen. Worauf willst du hinaus?“

„Keine Ahnung“, gestand Mac und ruderte ein wenig zurück. „Es geht mich nichts an, ehrlich, aber manchmal finde ich, dass du zu viel arbeitest.“

„Das stimmt. Aber es läuft gerade gut bei mir. Ein Kind, mit einer Großmutter für den Notfall, eine ordentliche, wenn nicht sogar außerordentliche Ausbildung, ein paar Zusatzleistungen, einen Chef, der mich freinehmen lässt, wenn es nötig ist.“ Sie trank einen Schluck. „Das war eine gute Idee, das Bier. Danke. Gute Ratschläge kann ich immer gebrauchen“, fuhr sie fort.

Er lachte leise. „Das merke ich mir.“

„Ja, mach das. Es ist wirklich wunderschön heute Abend. Solche Dinge bemerkt man einfach nicht, wenn man mitten in einem wilden und verrückten Footballspiel steckt.“

„Hast du schon den neuen Arzt kennengelernt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, du?“

„Kurz. Er ist vorbeigekommen, um sich vorzustellen, bevor er damit anfing, die Fensterbretter der Fenster nebenan abzureißen. Seine Frau ist gestorben. Er hat ein paar kleine Kinder und ist mit einem Babysitter eingezogen. Sehr hübsch.“

Gina seufzte. „Das ist ein Au-pair, Mac. Sie ist aus Mexiko, bekommt Kost und Logis und eine Ausbildung – und, mit etwas Glück, die Aussicht auf eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung als Vollzeit-Kindermädchen. Und sie ist ungefähr zwölf.“

„Nein …“

„Okay, sie ist neunzehn. Und ich hörte, der Arzt sei ein Sahnestückchen.“

„Woher hast du das denn?“

Sie betrachtete ihn spöttisch in der Dunkelheit. „Was meinst du wohl?“

„Ray Anne?“

„Sie behält ihn ziemlich gut im Auge.“

Mac grinste. „Ich glaube, du bleibst im Diner, weil du dort Zugang zu allen Klatschgeschichten hast.“

Sie erwiderte sein Grinsen. „Genau wie im Polizeirevier.“

„Stimmt“, gab er zu, bevor er in längeres Schweigen verfiel. „Noch ein Jahr und unsere Mädchen sind mit der Schule fertig. Dann gehen sie aufs College.“

„Betrauerst du das jetzt schon?“

„Ha! Von wegen. Ich zähle die Tage! Glaubst du, sie gehen auf dasselbe College?“

„Keine Ahnung. Das hängt davon ab, ob Eve mit Ashley geht, die definitiv Downy folgen wird.“

Ashley war schon seit Downys Senior-Jahr in der Thunder Point Highschool mit ihrem Freund zusammen. Downy besuchte gerade in seinem ersten Jahr das State College. Mac war auch in seinem ersten Jahr am State College gewesen, als er seine Highschool-Freundin geschwängert hatte. Er erschauderte.

„Machst du dir keine Sorgen?“

„Nein“, erwiderte Gina. „Downy ist ein guter Junge, und Ash ist ein ehrgeiziges Mädchen. Insofern scheinen die beiden ein gutes Team zu sein. Sie wollen sich jetzt nicht vom Weg abbringen lassen.“

„Ich hoffe, du hast recht“, sagte er und holte tief Luft. „Und ich hoffe, Eve hat keinen festen Freund, bevor sie dreißig ist.“

„Warum?“, fragte Gina. „Weil sie dann am glücklichsten wäre?“

Mac schaute sie nur an. Gina war so hübsch, so klug. Wenn in ihrer beider Leben wegen der großen Verantwortung nicht ohnehin schon alles so kompliziert gewesen wäre, wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, um sie zu küssen, bis ihre Knie zitterten. Doch das würde er nicht tun.

„Das ist genau der Punkt“, meinte er stattdessen. „Du und ich, wir wissen beide, dass das, was uns mit sechzehn am glücklichsten gemacht hat, sich mit dreißig als nicht so klug erwiesen hat.“

„Oder fünfunddreißig?“, fragte sie.

„Oder mit fünfunddreißig“, pflichtete er ihr bei.

Nach einer langen Gesprächspause sagte sie sehr leise: „Irgendwann wirst du feststellen, dass du nichts bereust, Mac.“

„Hm?“, fragte er.

„Nichts. Ich muss ins Bett. Ich muss morgen früh zur Arbeit, und ich friere. Bist du fertig mit dem Bier? Soll ich die Flasche für dich wegwerfen?“

Autor

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Miniserien

Thunder Point