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Sehnsuchtstage in Thunder Point

Nachdem FBI-Agentin Laine Carrington bei einem Undercover-Einsatz angeschossen wurde, nimmt sie sich eine Auszeit und kommt nach Thunder Point. Sie braucht die Sicherheit, die nur eine Kleinstadt bieten kann, und viel Ruhe, um zu entscheiden, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Und vielleicht, ganz vielleicht kann sie in Thunder Point das finden, was sie in ihrem Leben sehnlichst vermisst: echte Freundschaft und möglicherweise sogar die Liebe.

Berührend und ergreifend: Die Thunder-Point-Serie von Bestsellerautorin Robyn Carr


  • Erscheinungstag: 05.12.2016
  • Aus der Serie: Thunder Point
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499593
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robyn Carr

Sehnsuchtstage in Thunder Point

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Barbara Minden

 

 

 

MIRA© TASCHENBUCH

MIRA© TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Chance
Copyright © 2014 by Robyn Carr
erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Christiane Branscheid
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; pecher und soiron, Köln

ISBN eBook 978-3-95649-959-3

www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

Als Laine Carrington in Thunder Point eintraf, fuhr sie direkt zum Hang am Strand und stellte das Auto auf dem Parkplatz neben Coopers Strandbar ab. Doch sie ging nicht hinein. Noch nicht. Zunächst wollte sie erst einmal sehen, ob der Ausblick von dem Grundstück mit den Bildern, die man ihr geschickt hatte, übereinstimmte. Laine atmete tief aus, ohne sich bewusst zu sein, dass sie vorher den Atem angehalten hatte. Die Aussicht war sogar noch schöner als auf den Fotos.

Was mache ich hier? schoss es ihr erneut durch den Kopf. Denn schon während der dreitausend Meilen langen Fahrt hatte sie sich diese Frage wieder und wieder gestellt.

Der Ausblick war tatsächlich atemberaubend. Der Strand lang und breit. Die riesigen dunklen Felsen bildeten einen deutlichen Kontrast zum graublauen Wasser. Die Bucht lag zwischen zwei Landzungen, hinter denen sich schier endlos der Pazifik erstreckte, der sich an den gigantischen Klippen brach. Doch das Wasser in der Bucht lag ruhig und still vor ihr.

Laine erschauderte vor Kälte und kuschelte sich noch tiefer in ihre Jacke. Es war Ende Januar, und die feuchte Kälte sorgte dafür, dass ihre rechte Schulter bis hinunter in den Ellbogen schmerzte. Die Schulter, in der eine Kugel gesteckt hatte. Vielleicht war es diese Kugel, die Laine nach Thunder Point geführt hatte. Sie war im Dienst verletzt und anschließend zur Erholung vom Außendienst des FBI in den Innendienst versetzt worden. Sie hatte keine laufenden Fälle mehr bekommen, aber einen Computer, um für andere Agenten zu recherchieren und Büroarbeit zu erledigen. Sowie sie erkannte, dass es statt der bisherigen Leitung von Ermittlungen eher um Assistenzaufgaben ging und zudem nach einem längeren Schreibtischaufenthalt aussah, hatte sie um ein Jahr unbezahlten Urlaub gebeten. Sie wollte sich voll und ganz auf ihre Genesung konzentrieren.

Die Reha war nur eine Ausrede. Laine brauchte dafür kein Jahr mehr. Ihre Schulter war beinahe schon wiederhergestellt. In einem halben Jahr wäre sie wieder topfit. Doch obwohl der Psychologe sie bereits für einsatzfähig erklärt hatte, wollte sie ihre berufliche Laufbahn noch einmal überdenken. Außerdem war sie allergisch gegen einen Vollzeitjob am Schreibtisch.

Noch dazu hatte sie einen schrecklichen Besuch bei ihrem Vater in Boston hinter sich. Danach war sie wütend heimgereist und hatte sich unverzüglich mit einer Immobilienmaklerin in Thunder Point in Verbindung gesetzt. Eine E-Mail mit ein paar Fotos hatte Laine gereicht. Sie beschloss, ein Haus zu mieten. Ein Haus mit Ausblick über die gesamte Bucht. Thunder Point in Oregon war so weit wie möglich von Boston entfernt.

Laines Auto stand auf dem Parkplatz der Strandbar. Sie lehnte lange am Kofferraum und blickte aufs Meer. Der Himmel war bedeckt, eigentlich sogar grau. Außerdem war es kalt und niemand auf dem Wasser. Laine mochte bewölkte und stürmische Tage. Ihre Mutter hatte solche Tage immer Suppentage genannt. Obwohl ihre Mutter eine typische Karrierefrau gewesen war, hatte sie gern gekocht und gebacken. Vor allem an solchen grauen Tagen war sie mit Tüten voller Lebensmittel früher aus dem Büro oder dem Krankenhaus nach Hause gekommen, um ein paar Stunden in der Küche zu verbringen. Das hatte sie entspannt. Ihr gefiel es, die Familie mit herzhaftem Essen zu versorgen – schmackhaften Suppen und Eintöpfen, deftigen Pfannengerichten, Nudeln in Sahnesoßen und süßen weichen Brötchen.

Laine seufzte. Sie würde es nie verwinden, dass sie ihre Mutter verloren hatte. Inzwischen lag ihr Tod fünf Jahre zurück. Dennoch griff sie immer noch ab und zu nach dem Telefon, bevor sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter nicht mehr lebte.

Es war Zeit, sich auf den Weg in die Stadt zu machen, um die Maklerin zu treffen. Laine setzte sich ins Auto. Am Hang wurde gebaut. Es sah aus, als würden auf der Strandseite einige Häuser an den Hang gebaut. Von dort aus hätte man, genau wie von Coopers Strandbar aus, den besten Ausblick über die Bucht.

Laine fuhr über die Hauptstraße zur Arztpraxis, vor der sie anhielt. Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war, schloss sie die Türen aus reiner Gewohnheit ab. Sie schaute sich um und betrachtete die Straßenlaternen, zwischen denen immer noch Weihnachtsschmuck hing. Na ja, es ist erst Januar, dachte sie und lachte leise.

Dann betrat sie die Praxis, wo Devon McAllister hinter dem Empfangstresen an einem Schreibtisch saß. Strahlend lächelnd erhob sich Devon.

„Du bist da“, sagte sie beinahe flüsternd, kam hinter dem Tresen hervor und schloss Laine in die Arme. „Ein Teil von mir hatte Angst, dass du nicht kommst. Dass etwas passiert ist, dass das FBI einen Einsatz für dich hat …“

„Können wir bitte so wenig wie möglich über dieses Thema sprechen?“

„Welches Thema? Die Sekte? Den Angriff? Das FBI?“

Laine konnte sich nicht zurückhalten und strich Devon das Haar aus dem Gesicht, als wäre sie ihre kleine Schwester. Laine hatte Devon in der Kommune unter ihre Fittiche genommen. „Alles, was damit zusammenhängt“, erklärte Laine. „Wenn die Leute herausfinden, dass ich fürs FBI arbeite, stellen sie mir entweder merkwürdige Fragen oder sie verhalten sich seltsam. Als ob sie Angst hätten, ich würde ihre Akten überprüfen oder so was. Lass uns die Sache ein wenig herunterspielen. Wenigstens so lange, bis ich mich hier ein bisschen eingelebt habe.“

„Was wirst du sagen? Denn die Leute hier wollen immer alles über alle wissen. Sie sind sehr nett und freundlich, doch sie werden dich löchern.“

„Ich werde einfach erzählen, dass ich für ein Sonderkommando gearbeitet habe, die meiste Zeit jedoch hinterm Schreibtisch zugebracht habe. Datenüberprüfung, Nachforschungen und solche Dinge. Das ist nicht mal gelogen. Und ich bin wegen meiner Schulter-OP freigestellt.“

„Okay“, meinte Devon und lachte leise. „Sie müssen wirklich nicht wissen, dass dein Sonderkommando eine Antiterroreinheit war, bis du über die illegale Marihuana-Plantage einer Sekte gestolpert bist. Genauso wenig wie wir ihnen auf die Nase binden müssen, dass deine Schulter operiert wurde, weil du bei einem Einsatz angeschossen wurdest.“ Sie grinste.

Laine stöhnte. „Bitte, ich will wirklich nicht, dass es so interessant klingt.“

„Na ja, die einzigen Menschen, die ein paar Einzelheiten kennen, waren in jener Nacht dabei. Sie wurden gründlich gebrieft. Rawley, Cooper und Spencer werden sich sehr freuen, dich wiederzusehen. Und natürlich ist auch Mac im Bilde – er verkörpert hier in der Gegend das Gesetz. Man kann ihm nichts verheimlichen. Ich habe es auch meinem Chef Scott erzählt, aber den habe ich ganz gut im Griff.“

„Sag bloß“, erwiderte Laine lächelnd.

„In Dr. Grants Fall hat es mehr damit zu tun, dass er mich bei Laune halten will, damit ich in Ruhe den Papierkram seiner Klinik erledige. Er hat einen Horror vor Dingen wie Versicherungsformularen, vor allem, wenn es um die Gesundheitsprogramme Medicaid und Medicare geht. Wenn er muss, macht er es selbst, aber ehrlich, er braucht dafür fünfmal so lange wie ich. Er ist nicht mal gut darin, Patientenakten oder das Labor auf Stand zu halten.“

„Du bist so anders als der Mensch, den ich auf der Farm kennengelernt habe.“

„Eigentlich war ich in der Kommune ein anderer Mensch als der, der ich wirklich bin“, entgegnete Devon. „Jetzt bin ich wieder mehr ich selbst. Ich war immer eine gute Studentin und habe immer schon hart gearbeitet. Du bist hier das Rätsel. Wie hat ein so gebildetes Mädchen aus der Stadt wie du es geschafft, sich dermaßen in die Gemeinschaft dieser Sekte einzufügen?“

Laine lächelte und war insgeheim stolz auf ihre Leistung. „Spezialtraining, Recherche und gute schauspielerische Leistung.“

„Ich kann mir vorstellen, dass so etwas ein paar Tage lang funktioniert, doch in deinem Fall waren es über sechs Monate!“, warf Devon ein.

Das wusste Laine leider nur zu gut. „Sehr gute Recherche und sehr gute schauspielerische Leistung“, präzisierte sie. Ganz zu schweigen davon, dass Leben auf dem Spiel gestanden hatten und von ihrem Erfolg oder Versagen abhängig gewesen waren. Laine hatte jahrelang als verdeckte Ermittlerin gearbeitet. Ihre Zeit bei The Fellowship jedoch war der längste Undercover-Einsatz ihrer beruflichen Laufbahn gewesen. Sie hatte um den Auftrag gebeten, weil sie geglaubt hatte, dass es sich hier lediglich um eine kurze Beweisaufnahme handeln würde. Sie hatte angenommen, dass sie sich leicht einfinden und allem, was dort geschah, auf den Grund gehen konnte. Was dann tatsächlich passiert war, hatte sich jedoch ziemlich von dem unterschieden, was das FBI vermutet hatte. Eigentlich hatte sie nach Beweisen für die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Steuerflucht, Betrug, Menschenhandel und möglichem Inlandsterrorismus gesucht. Stattdessen entdeckte sie eine gigantische Marihuana-Farm, betrieben von einer vermeintlichen Sekte.

Laine hätte die Gemeinschaft damals verlassen, fliehen und ihre Informationen dem Sonderkommando übergeben können. Ihre Vorgesetzten hätten am besten gewusst, wie man einen Durchsuchungsbefehl kriegte, um auf das Gelände zu gelangen und Verdächtige festzunehmen, ohne einen Kleinkrieg zu entfachen. Doch hinter dem Zaun, der The Fellowship begrenzte, lebten Frauen und Kinder. Und die Männer der Gemeinschaft hätten sich vermutlich gewehrt – sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Deshalb war Laine geblieben, damit sie so viele Frauen und Kinder wie möglich sicher nach draußen schaffen konnte, bevor das FBI das Gelände stürmte. Es war eine gefährliche und umfangreiche Operation gewesen. Am Ende war Laine vom Sektenführer Jacob angeschossen worden.

„Bist du jetzt so weit, es einmal etwas ruhiger angehen zu lassen?“, fragte Devon.

„Du hast ja keine Ahnung wie sehr“, erwiderte Laine, die es bisher noch nie ruhig hatte angehen lassen. Der Gedanke, dass ganze Tage ohne Planung vor ihr lagen, jagte ihr eine Heidenangst ein.

„Ich habe es gesehen“, wechselte Devon das Thema. „Das Häuschen, das du gemietet hast.“

„Du hast es gesehen?“

„Ray Anne, die Immobilienmaklerin, die ich dir empfohlen habe, hat mir erzählt, um welches Haus es sich handelt. Ich war neugierig und habe durch die Fenster geschaut. Es ist wundervoll. So schön.“

„Ich habe es bisher nur auf Fotos gesehen“, erwiderte Laine. „Wenn ich es richtig verstanden habe, hatte ich viel Glück, weil es in dieser Gegend normalerweise kaum etwas zu mieten gibt.“

„Jedenfalls nichts wirklich Schönes. Dein Domizil ist ein Ferienhaus, das aus unerfindlichen Gründen für eine Zeit lang nicht von den Besitzern benutzt wird. Darum vermieten sie es.“

„Kennst du sie? Die Leute, die das Haus vermieten?“

Devon schüttelte den Kopf. „Aber ich bin auch noch nicht lange hier. Ich kenne noch nicht jeden.“

Laine sah auf ihre Uhr. „Ich fahre jetzt besser los, um mich mit Ray Anne zu treffen. Willst du mitkommen? Und dir einmal alles von innen anschauen?“

Lächelnd nickte Devon. „Lass mich kurz mit Scott sprechen, dann folge ich dir hinterher, damit ich anschließend sofort wieder zurückfahren kann.“

„Vielleicht sollte ich lieber hinter dir herfahren“, meinte Laine. „Ich habe noch nicht durch die Fenster geschaut.“

Devon lotste Laine zu ihrem neuen Haus. Sie fuhren auf der Hauptstraße an etwas vorbei, das wie die Haupteinkaufsstraße von Thunder Point aussah, bogen nach links ab und gelangten in ein Wohnviertel. Eine Frau, die insgesamt ein wenig zu aufgedonnert wirkte, parkte mit ihrem BMW vor einem sehr kleinen Haus, das inmitten eines Dutzends unbeschreiblicher Häuser lag. Die Bäume, die ringsherum standen, waren trotz des tiefen Winters dunkelgrün. In Virginia oder Boston wäre um diese Jahreszeit höchstens alles mit Schnee bedeckt gewesen. An den Bäumen dort hing im Winter kein einziges Blatt mehr.

Laine war ein wenig erschrocken, wie gewöhnlich und plump das kleine Domizil wirkte. Sie hatte es auf keinen Fotos von vorn gesehen. Es wirkte sehr klein. Die Vorderseite hatte eine ganz normale weiße Haustür und ein einziges Fenster. Wenn es Laines Haus gewesen wäre, hätte sie die Tür dunkelgrün gestrichen und es mit den Fensterrahmen und -läden ebenso gemacht.

Sie parkte den Wagen, stieg aus und reichte der Immobilienmaklerin die Hand. „Ms. Dysart?“, fragte sie.

„Nennen Sie mich Ray Anne. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Laine.“ Sie klimperte mit den Hausschlüsseln. „Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Bitte, gehen Sie vor.“

Mit Ray Anne und Devon, die ihr dicht auf den Fersen folgten, betrat Laine das kleine Haus und damit eine völlig neue Welt. Im Inneren empfing sie eine weiträumige Diele. Links waren eine offene Treppe und ein kleines Gästebad. Auf der rechten Seite ein kleiner unmöblierter Raum mit einer Doppeltür, die man aufschieben konnte. Perfekt, um ihn als Arbeitszimmer zu nutzen. Geradeaus befand sich ein großes Zimmer mit einem riesigen Panoramafenster. Auf der linken Seite des großen Raums lag die große offene Küche mit angrenzendem Essbereich vor einem weiteren Fenster. Die beiden Fenster waren durch eine Fenstertür getrennt, die auf eine sehr große Terrasse führte – mit einem Ausblick auf die Bucht, der Laine einfach nur umhaute. Sie holte einmal tief Luft, lief zum Terrassengeländer und schaute hinunter. Die Terrasse thronte auf der Spitze eines Felshügels. „Sie können von hier aus nicht direkt zum Strand“, erklärte Ray Anne, die hinter ihr stand. „Es ist auch kein wirklich großer Strand – nur ein kleiner Sandstreifen bei Niedrigwasser. Um zum Strand zu gelangen, müssen Sie die Straße runter, durch die Stadt zur Marina runter. Doch die einzige, wirklich nennenswerte Strandlage hat Thunder Point da, wo Cooper gerade baut. Die meisten von uns hätten nie gedacht, dass dort je Gebäude stehen werden, doch Cooper plant mindestens zwanzig Einfamilienhäuser. Das restliche Fußvolk muss entweder von seiner Bar oder der Marina aus zum Strand gehen. Das ist die nördliche Landzunge. Der vorherige Besitzer, der Cooper alles vererbt hat, wollte immer, dass sie ein Naturund Tierschutzgebiet bleibt. Sosehr ich mir auch wünschen würde, auch dieses Land in Grundstücksparzellen aufzuteilen, um sie für Cooper zu verkaufen, müssen Sie zugeben, dass es wunderschön ist.“

„Wunderschön“, wiederholte Laine atemlos.

Ein paar Bäume wuchsen direkt aus den Felsen und dem Hügel unter ihrer Terrasse und ragten so weit auf, dass ihre Äste das Geländer streiften. Bald müssten sie gestutzt werden, damit sie Laine nicht die Sicht nahmen.

„Im Moment ist es so feucht und kalt, dass ich den Grill und die Terrassenmöbel unter ihrer Abdeckung gelassen habe. Bei diesem Wetter sitzen Sie vermutlich sowieso nicht draußen.“

Laine sah sich zum ersten Mal richtig um. Offenbar standen unter der wasserfesten Plane ein Tisch, vier Stühle, ein Sessel und ein ziemlich großer Grill. Laine drehte sich um und kehrte in Haus zurück. Dort nahm sie erst jetzt richtig Notiz von dem großen Wohnzimmer, das durch einen Frühstückstresen von der Küche getrennt war. Auf den Fotos hatte die Einrichtung etwas schöner ausgesehen, als sie es tatsächlich war. Es gab ein kastanienbraunes Sofa, zwei ungemütlich wirkende Rattan-Sessel, einen schönen Kamin und überhaupt nichts Anheimelndes. In der Frühstücksecke stand ein heruntergekommener, aber großer Tisch mit acht Korbstühlen. Ein kleiner Flur führte zu einem Waschraum, einer kleinen Pantry und der Innentür zur Garage.

„Schlafzimmer?“, fragte Laine.

„Gleich hier entlang“, erwiderte Ray Anne und führte sie wieder zur Haustür zurück und die Treppe hoch. Laine und Devon folgten ihr. Oben gab eine offene Doppeltür den Blick auf ein ziemlich kleines, doch gemütlich aussehendes Schlafzimmer mit großem Bett, Schreibtisch, Nachttisch und Kamin frei. Ein bodentiefes Fenster aus drei gläsernen Schiebeelementen führte auf einen kleinen Balkon mit atemberaubendem Blick. Laine war begeistert. Bei dem Gedanken, in die Kissen gelehnt auf dem Bett zu sitzen und durch das Fenster in die Wolken zu schauen, während im Zimmer nur der Kamin brannte, wurde ihr ganz warm ums Herz.

Beim Schein eines Kaminfeuers einzuschlafen schien ihr besonders reizvoll. Seit der Schießerei ließ sie nachts immer ein Licht brennen. Doch das erzählte sie niemandem.

„Wenn das Wetter schlechter wird, erinnern die Blitze über der Bucht an ein großes Feuerwerk“, erklärte Ray Anne. „Hier in der Gegend geht es immer nur um die Aussicht. Und in der Stadt gibt es eine Menge schöner Aussichten. Manche haben die Aussicht vorn, andere hinten, manche oben auf dem Hang, andere näher am Wasser. Manche in großen Häusern, manche in kleinen.“ Ray Anne stellte sich neben Laine. „Das Bad“, verkündete sie und deutete auf ein sehr funktionelles, großes Bad mit Ankleidebereich und Schrank, gläserner Duschkabine, einer großen Badewanne mit Whirlpool-Funktion.

Laine schaute kaum hin, denn ihre Blicke wurde wieder von der Aussicht angezogen. Devon dagegen begeisterte die Größe des Badezimmers und der Ankleidebereich.

„Es gibt unten noch zwei kleine Schlafzimmer, die durch ein großes Bad voneinander getrennt sind. Die Besitzer hatten in jedem der beiden Zimmer ein Bett stehen. Der Stauraum ist begrenzt. Es sind nur kleine Zimmer, aber wenn man das Sofa unten auch noch ausklappt, können hier acht Personen übernachten. Die Besitzer wollten Platz für Besuche ihrer Kinder und Enkel haben. An der dem Hauptschlafzimmer gegenüberliegenden Wand steht ein Stoffschrank und unten unter der Treppe noch einer. Und Sie haben eine Doppelgarage.“

Aber nur ein paar ziemlich geschmacklose Drucke an der Wand, kein Anzeichen von Gemütlichkeit, natürlich keine Pflanzen, und die kleinen Lampen hängen auch schon ewig hier, dachte Laine.

„Ich habe eine Reinigungsfirma beauftragt, alles fertig zu machen. Der Teppich ist frisch shampooniert, die Bäder und Küchen sind geputzt, die Betten frisch bezogen, und es liegen auch ein paar frische Handtücher im Schrank. Der Teppich ist noch ziemlich neu. Ich weiß nicht, was Sie mit dem Haus vorhaben, doch es bietet genug Platz, um viele Menschen unterzubringen.“

Überrascht starrte Laine sie an. „Ich will hier wohnen.“

„Oh! Toll! Werden Sie denn auch hier arbeiten?“

„Vielleicht ein wenig vom PC aus. Ich mache gerade eine Art Sabbatical von meinem eigentlichen Job bei der Staatsbehörde, könnte aber von hier aus ein paar Nebenjobs erledigen. Sie wissen schon, Bürokram. Ich hatte eine ziemlich ernste Schulter-OP und mit meinen Urlaubstagen und den Zusatzleistungen und …“

„Ich hoffe, es war nicht die Rotorenmanschette“, fiel ihr Ray Anne ins Wort und bewegte ihre Schulter dabei von oben nach unten. „Das ist das Schlimmste! Ich hatte vor ein paar Jahren eine Operation. Es war höllisch. Inzwischen ist alles wieder gut, doch ich dachte, es würde ewig dauern, bis alles wieder in Ordnung ist!“

Devon blickte Laine an, enthielt sich allerdings eines Kommentars. Laine stand im Schlafzimmer und schaute auf die Bucht.

Sie dachte darüber nach, wie diese Wohnung mit einem hübscheren Sofa aussehen würde, mit einer kuscheligen Decke für winterliche Abende vor dem Kamin. Und wie ein paar kleine Tische, Designerleuchten, Gemälde an den Wänden und Bücher in den Bücherregalen wirken würden. Ihre eigenen Laken und Handtücher, ein paar ihrer Lieblingstöpfe und ihr Lieblingsgeschirr. Und die kleine Küchenplatte ihrer Mutter, ihr ganzer Schatz.

Sie drehte sich um und sah Ray Anne an. „Haben Sie die Besitzer gefragt, ob es sie stören würde, wenn ich die Möbel einlagere und meine eigenen Möbel benutze? Natürlich würde ich die Kosten für den Transport und die Lagerung tragen.“

„Sie sind einverstanden, solange ihre Sachen nicht beschädigt werden.“ Ray Anne hob die Schultern. „Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie sie jemals feststellen wollen, ob etwas von ihren Sachen beschädigt wurde. Das Zeug ist zweckmäßig, aber alt. Tatsächlich steht es Ihnen frei, zu tun und zu lassen, was Sie wollen, solange sie das Einlagern zahlen und die Möbel beim Auszug wieder dahin stellen, wo sie waren. Sie dürfen auch die Wände neu streichen, wenn Sie bei den vorgegebenen Farben bleiben oder sie am Ende wieder so streichen, wie sie waren.“ Dann senkte sie die Stimme, als ob sie Laine ein Geheimnis verraten wollte. „Wenn Sie ein paar der Wände neu streichen, was ich noch vor Anbruch der Nacht tun würde, versuchen Sie, keine zu dunklen Farben zu verwenden, damit sie später beim Auszug in der Lage sind, wieder alles in der Originalfarbe zu übermalen.“

Doch Laine hatte etwas anderes im Kopf. „Lassen Sie uns mal in der Küche nachsehen, was die Besitzer dagelassen haben, bevor meine Sachen eintreffen. Der Umzugswagen ist schon unterwegs und sollte in ein bis zwei Tagen hier sein.“

„Okay, aber es gibt im Ort auch jede Menge Möglichkeiten, etwas zu essen zu bekommen, bis Sie sich hier eingerichtet haben.“

Laine war schon auf dem Weg in die Küche und fing an, die Schranktüren zu öffnen. Sie entdeckte Teller, ein paar Töpfe, eine Pfanne, alle möglichen Küchenutensilien, ein paar Küchenhandtücher, grundlegende Dinge, die sich für eine Ferienwohnung eigneten. Das war in Ordnung. Sie schloss die letzte Schranktür, drehte sich um und lächelte Ray Anne und Devon an. „Das gefällt mir“, sagte sie. „Wenn Sie mir einfach die Adresse der nächstgelegenen Lebensmittelläden geben, mache ich Feuer und koche mir eine Suppe. Es sieht mir heute ganz nach einem Suppentag aus.“

Eric Gentry saß im Diner am Tresen und genoss ein spätes Frühstück. Neben ihm saß Cooper von der Strandbar und tat das Gleiche. Der Deputy des Sheriffs kam herein. Mac nahm den Hut ab und setzte sich neben Eric. Seine Frau Gina brachte ihm einen Kaffee, beugte sich über den Tresen und küsste ihn.

„Ich wurde hier noch nie so erstklassig bedient“, protestierte Cooper lächelnd. „Und dabei habe ich ein komplettes Frühstück bestellt.“

„Ja, mein Lieber, an dem Tag, an dem ich höre, dass du genauso bedient wirst wie ich, wirst du mit einem blauen Auge herumlaufen“, erwiderte Mac.

Eric lachte leise. Er hätte es niemals gewagt, so einen Kommentar abzugeben. Gina und er hatten eine gemeinsame Vergangenheit, und er wollte lieber kein blaues Auge riskieren.

„Mac“, tadelte Gina ihn mit einem lachenden Unterton in der Stimme.

„Was machst du eigentlich hier?“, wollte Mac von Cooper wissen. „Hast du Rawleys Kochkünste in deiner Strandbar da draußen satt?“

„Rawley kocht nicht“, erwiderte Cooper. „Manchmal wärmt er etwas auf, aber eben auch nur manchmal.“

„Deine Frau sagt, er kocht gut“, warf Gina ein.

„Stimmt, er kocht für Sarah“, sagte Cooper. „Wenn sie in die Küche geht, fragt er sie sofort, was sie haben will. Jetzt, wo sie so beladen ist, kümmert sich Rawley wirklich rührend um sie.“

„Beladen?“, fragte Eric.

„Schwanger“, antworteten drei Menschen unisono.

„Verstehe.“ Er lehnte sich zurück und wischte sich den Mund an einer Serviette ab.

„Die Geschäfte laufen wohl gut“, wandte sich Mac an Eric. „Ich habe einen Dually mit Anhänger durch die Stadt fahren sehen. Er hatte einen alten Plymouth auf der Ladefläche.“

„Einen 1970er-Superbird“, erklärte ihm Eric. „Der braucht einen neuen Motor, eine neue Sitzbank und ein restauriertes Armaturenbrett. Ich glaube, wir werden auch das Dach neu machen müssen. Es ist noch aus Original-Vinylstoff, das wird nicht einfach.“

„Sitzbank? Keine Einzelsitze?“

Eric schüttelte den Kopf. „Nicht im Superbird. Ich vermute, dass man, wenn man einen fuhr, jede Menge Mädchen hatte. Und wenn man Mädchen hatte, wollte man schließlich, dass sie ganz nah neben einem saßen.“

„Woher kommt er?“, fragte Mac.

„Aus Südkalifornien.“

„Jemand bringt dir ein altes Auto aus Südkalifornien?“

Eric nippte an seinem Kaffee. „Tja, es ist ein Zweihunderttausend-Dollar-Klassiker. Der Eigentümer schafft ihn durch sechs Bundesstaaten her, weil er ordentliche Arbeit will. Ich habe schon viel für ihn gearbeitet. Er hat an die zwanzig Autos. Ich glaube, er ist da unten derjenige mit den meisten Oldtimern. Er macht selbst jede Menge Restaurierungsarbeiten und macht das großartig. Aber ihm fehlt die Ausrüstung, um einen Motorblock zu ersetzen, und dieses Auto ist sein Baby.“

„Sein Baby?“, fragte Gina.

„Er küsst das Auto jeden Abend, bevor er zu Bett geht. Vermutlich behandelt er seinen Wagen besser als seine Ehefrau.“

„Jungs und ihre Spielzeuge“, brummte Gina.

„Du bringst uns auf die Landkarte“, sagte Mac. „Stell dir vor – dieses Auto ist mehr wert als der gesamte Diner.“

Eric bemerkte zwei junge Frauen, die von der Klinik gegenüber über die Straße auf den Diner zukamen. Eine kannte er bereits. Sie hieß Devon und arbeitete als Sprechstundenhilfe bei dem neuen Arzt in der Praxis. Er hatte sie vor ein paar Monaten kennengelernt und hin und wieder gesehen. Die andere kannte er nicht. Sie trug eine tief in die Stirn gezogene Mütze, eine enge Yogahose, Jacke und Laufschuhe. Ihr blondes Haar hatte sie unter die Mütze gestopft. Es war nur zu sehen, wenn sie sich ein wenig drehte, um über etwas zu lachen, das Devon sagte.

Als sie in den Diner kamen, begrüßte Gina sie strahlend.

„Was ist denn hier los?“, fragte Devon. „Tagt der Club der mürrischen alten Männer?“

„Wie bitte?“, protestierte Cooper. „Ich bin doch nicht alt.“

„Er ist älter als ich“, sagte Mac.

Eric schwieg. Seine Blicke hingen an dem neuen Mädchen, und wenn ihm das passierte, hatte er einen Knoten in der Zunge.

„Laine, Cooper und Mac kennst du ja bereits. Aber bist du Eric schon einmal begegnet? Ihm gehören die Tankstelle und die Werkstatt am Ende der Straße. Eric, das ist meine Freundin Laine Carrington. Sie ist neu in der Stadt.“

Eric erhob sich. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Gleichfalls“, erwiderte sie. „Bitte setzen Sie sich doch. Wir holen uns nur rasch einen Kaffee.“ Sie schaute zu Gina. „Hast du nicht Pause?“

„Habe ich“, antwortete Gina. „Ich bringe euch den Kaffee.“

Als Devon und Laine auf eine Nische im hinteren Bereich des Diners zusteuerten, sah Eric ihnen hinterher. Schließlich richtete er seinen Blick schuldbewusst auf seine Kaffeetasse und war dankbar, dass Cooper und Mac darüber diskutierten, wie viel Geld sie für ein Auto ausgeben würden. Ein Zweihunderttausend-Dollar-Superbird kam in ihrer Unterhaltung nicht einmal vor.

Eric besaß selbst ein paar Klassiker, die er eigenhändig restauriert hatte. Er hatte sie irgendwo entdeckt und vorgehabt, sie nach dem Restaurieren wieder zu verkaufen, sich dann aber nicht mehr von ihnen trennen können. So etwas kam vor. Es gab Händler, und es gab Sammler. Und es gab Männer wie ihn, die versuchten, ein paar Dollar zu verdienen, und plötzlich zu Sammlern wurden.

Er unterhielt sich noch eine Weile mit seinen Freunden und zwang sich dabei, nicht unentwegt zur dunklen Nische hinüberzusehen. Mac stand auf, hinterließ der Kellnerin ein Trinkgeld und löste damit einen Lachanfall bei den Männern aus. Cooper legte einen Zehner für sein Sieben-Dollar-Frühstück auf die Theke.

Doch Eric ging zur Nische. „Gina, ich habe kein Kleingeld. Du bist zwar gut, aber nicht so gut.“

„Darüber könnten wir uns streiten, aber ich glaube, es geht schneller, wenn ich dir etwas rausgebe.“ Sie nahm ihm den Zwanziger aus der Hand und ging zur Kasse.

„War nett, Sie kennengelernt zu haben, Laine. Falls Sie mal ein paar Dellen ausgebeult oder raue Kanten geschliffen haben wollen, bin ich genau der Richtige für Sie“, sagte er. Als ihm auffiel, dass Laine und Devon ihn überrascht anschauten, zuckte er kurz zusammen. Doch die beiden Frauen lachten.

„Ich werde es im Hinterkopf behalten“, sagte Laine.

2. Kapitel

Obwohl Laine beim Tragen schwerer Gegenstände und Aufhängen der Bilder in ihrem neuen Haus Hilfe brauchte und dadurch alles etwas länger dauerte, fühlte sie sich darin sehr schnell zu Hause. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich intensiv auf eine Sache zu konzentrieren. In weniger als einer Woche standen alle Möbel am richtigen Platz. Dank der Hilfe von Devon und ihrem Verlobten Spencer war bald alles so eingerichtet, wie sie es sich gewünscht hatte. Laine ließ die Möbel der Hauseigentümer einlagern. Dazu wurden sie in den Umzugswagen eingeladen, der ihre Möbel gebracht hatte. Alles, was sich auf Schulterhöhe oder niedriger abspielte, konnte Laine selbst regeln. Aber über Kopf konnte sie nur mit dem linken Arm arbeiten. Sie war inzwischen richtig gut mit dem linken Arm! Trotzdem versuchte sie auch, ihren rechten Arm etwas mehr zu bewegen und zu belasten, und widmete sich dieser Übung mit Hingabe.

Dieses Haus war anders als das Stadthaus in Virginia – sie würde es zu ihrem Zuhause machen. In ihrem Stadthaus in Virginia hatte sie sich nur aufgehalten. Obwohl sie dort ihre eigenen Sachen gehabt hatte, hatte sie das Haus in all den Jahren, die sie darin gelebt hatte, nur gemietet. Sie war viel gereist, hatte verdeckte Ermittlungen geführt und in den Ferien und an den Wochenenden hatte sie ihren Bruder und dessen Familie besucht. Ihr Stadthaus war jahrelang nur eine provisorische Lösung gewesen. Und Laine war so oft weg, wie sie da gewesen war. Doch das Haus in Thunder Point – das Haus mit diesem Traumausblick – sollte ihr Zuhause werden. Es würde ein Jahr lang ihr Refugium sein. Das hatte sie sich verdient.

Es war Samstagnachmittag, und zur Abwechslung schien einmal die Sonne. Der Tag war wie dazu geschaffen, um durch die Stadt und über den Strand zu joggen.

Während Laine lief, wanderten ihre Gedanken zu ihrem letzten Einsatz zurück. Sie hatte fast alle Frauen und Kinder durch ein Loch im Zaun aus der Kommune geschleust. Dass Jacob ihr zuletzt auf die Schliche gekommen war, hatte ihren anfänglichen Erfolg jedoch total zunichtegemacht. Jacob hatte Laine zusammengeschlagen, an einen Stuhl gefesselt und in seinem Haus eingesperrt. Dann hatte er auch noch Devons dreijährige Tochter Mercy ausfindig gemacht, entführt und zurück ins Lager der Kommune gebracht. Später, als alles vorbei war, hatte das FBI erfahren, dass er dazu einfach im Computer nach Devons Adresse gesucht hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war Laine bereits seine Gefangene gewesen. Genau wie Mercy wenig später auch. Jacob hatte vorgehabt, mit seiner Tochter, allem Geld und allen Unterlagen, deren er habhaft werden konnte, zu fliehen. Er wollte das Gelände in Brand stecken, alles bis auf die Grundmauern niederbrennen und alle außer Mercy zurücklassen. Er legte Feuer im Lagerhaus, wo das Marihuana lagerte. Dabei nahm er in Kauf, dass sich das Feuer zu einem unkontrollierten Brand entwickelte. Er nahm in Kauf, dass ein solcher Brand das ganze Tal in Mitleidenschaft gezogen hätte. Mehr noch, er hoffte sogar, dass die Polizei so lange mit dem Brand beschäftigt sein würde, bis er entkommen war.

Laine hatte es geschafft, sich und Mercy zu befreien, war dabei aber in die Schulter geschossen worden. Bis Rawley, Spencer, Cooper und Devon aufgetaucht waren, war sie wegen des enormen Blutverlusts beinahe bewusstlos gewesen.

Natürlich hatte Laine Devon und Mercy aus der gemeinsamen Zeit in der Kommune gekannt, aber sie kannte die Männer nicht, die sie gerettet hatten. Wer sie waren, hatte sie erst später erfahren, als es ihr wieder besser ging.

Sie joggte am Strand entlang. Als sie in Coopers Strandbar ankam, war sie ziemlich außer Atem. Der Besitzer des Lokals saß auf der Terrasse in der Sonne. Sein Laptop stand aufgeklappt vor ihm, und er war damit beschäftigt, sich irgendetwas genauer anzusehen.

„Hallo!“, begrüßte sie ihn. „Wie geht es mit dem Hausbau voran?“

Cooper hob den Kopf und lächelte sie an. „Wurde auch Zeit, dass du meine Strandbar mal besuchst. Der Hausbau verläuft zum Glück planmäßig. Sarah hat langsam genug davon, in nur einem Zimmer mit mir zu wohnen.“

„Wann kommt das Baby?“, fragte Laine.

„Im Juli. Wir sollten spätestens Ende Juni umziehen.“

„Das ist wunderbar, Cooper“, sagte sie.

„Wie sieht’s mit deiner Wohnung aus?“, fragte er.

„Gut. Meine Sachen sind schon da, und die Umzugsleute haben die Möbel der Eigentümer ins Möbellager gebracht. Mit Devons und Spencers Hilfe habe ich mich schon ziemlich gut eingerichtet. Ich muss nur noch ein paar Dinge wegräumen.“

„Ich habe gehört, du hast eine tolle Aussicht.“

„Oh ja. Eine große Terrasse, eine große Küche und ein paar Kamine. Wenn ich nicht jeden Tag glücklich bin, liegt es bestimmt nicht an diesem Haus. Ist Rawley vielleicht da?“

„Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er dabei, Lebensmittel zu verstauen. Er müsste in der Küche sein.“

„Danke. Wir sehen uns später noch.“

Laine ging durch die Bar in die Küche. Rawley kauerte am Boden und war dabei, ein Regal umzuräumen. „Hallo, Fremder“, begrüßte sie ihn.

Er erhob sich und drehte sich zu ihr um. Er trug verschlissene Jeans, Stiefel, ein dickes Hemd über einem T-Shirt und eine rote Baseballkappe. Sie wusste, dass er Anfang sechzig war. Er wirkte ein bisschen älter, weil er dünn und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen war. Als er sie erkannte, blitzten seine Augen auf. Er verzog leicht einen Mundwinkel und deutete mit dem Kinn auf ihren rechten Arm. „Wie geht’s dem Flügel?“, fragte er.

„Geht so“, erwiderte sie und bewegte automatisch die Schulter. „Ich bin jetzt wieder gut in Schuss.“

„Was machst du hier?“, fragte er. „Musst du nicht herumspionieren?“

Laine lächelte, blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich freistellen lassen. Ich brauche noch mehr Zeit, bevor ich …“ Sie räusperte sich. „Ich bin keine Spionin. Ich …“ Rawley lächelte sie an, hakte den Daumen in die Gürtelschlaufe seiner Jeans und stützte sich auf das linke Bein. „Na ja, jedenfalls momentan nicht so richtig. Ich arbeite als Ermittlerin. Und ich wäre froh, wenn wir den FBI-Ball ein bisschen flach halten könnten.“

„Wie du willst, Mädelchen“, sagte er. „Gute Arbeit“, ergänzte er noch.

„Du hast mir das Leben gerettet.“

„Nicht wirklich. Ich bin im Lager gewesen, um Mercy zu finden. Ich glaube, es war Spencer, der dir das Leben gerettet hat. Er ist mit dir auf dem Arm über die Nebenstraße gejoggt und hat die Blutung deiner Schulterwunde mit der Faust gestoppt. Ja, er ist der Mann, der dich gerettet hat. Ich bin bloß ein alter Vet. Aber ich hab mich an das kleine Mädchen gewöhnt und wollte nicht, dass irgendein Verrückter es seiner Mutter wegnimmt.“

„Bloß ein alter Vet …“, wiederholte Laine lächelnd. „Ein Green Beret mit zwei Purple-Heart-Orden, einem Stern in Bronze und in Silber …“

„Schönfärberei“, meinte er schulterzuckend. „Das sind die Nebenprodukte des Am-Leben-Bleibens.“

„Du bist der höchstdekorierte Mensch, den ich kenne.“

„Es war eine schlimme Zeit damals, aber wir haben alle unser Bestes gegeben. Und es gibt Gerüchte, dass du auch ein bisschen Schönfärberei abbekommen hast.“

Sie nickte. „Ich wurde nominiert und für einen Preis vorgeschlagen. Du weißt, solche Dinge brauchen Zeit.“

Er grinste sie an. „Für welchen Preis genau wurdest du nominiert?“

„FBI-Auszeichnung. Das zählt bei meinen Leuten ziemlich viel. Aber das gehört zu den Dingen, die ich gern für mich behalte. Ich wäre dir dankbar, wenn du das auch machen würdest.“

„Kein Problem, Mädelchen. Ich war nie der Typ, der sich mit so etwas brüstet.“

„Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich weiß, du warst nicht allein, aber ich habe sämtliche Protokolle gelesen. Alle sind sich einig, dass der Plan, Mercy und alle anderen, die noch im Lager waren, herauszuholen, von dir stammt. Kommst du zum Abendessen zu mir? Damit ich mich mit einem Essen bei dir bedanken kann? Ich koche sehr gern.“

„Könnte sein“, antwortete Rawley. „In dieser Jahreszeit ist es immer bewölkt und nass, da ist nicht viel los. Da kommt Cooper auch allein klar. Aber ich bin keine dolle Gesellschaft …“

„Wie wäre es, wenn ich auch noch Devon, Spencer und Mercy einlade? Das wollte ich sowieso. Sie haben mir sehr beim Umzug geholfen.“

„Klingt gut.“ Rawley griff in die Hosentasche und fischte ein Handy heraus. „Hab jetzt auch eins von diesen Dingern. Cooper hielt es nicht aus, nicht jede Sekunde zu wissen, wo ich stecke. Jetzt ruft er dieses Ding an. Normalerweise gehe ich nicht ran. Aber da sind auch Spiele und Bücher und eine Taschenlampe drauf. Kein schlechter Apparat. Willst du die Nummer?“

Er war ein echtes Original. Und zwar durch und durch – und mitnichten der alte Trampel, der er vorgab zu sein. Eigentlich war Rawley beinahe genial, aber er kämpfte schon seit Jahren mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, sodass er seinen Intellekt nie so weit hatte entwickeln können, wie es möglich gewesen wäre. Er nannte ihr seine Nummer, und Laine nickte kurz.

„Willst du sie nicht irgendwo aufschreiben?“, fragte er.

„Ich habe sie im Kopf. Ich rufe dich an. Und hör mal … Rawley, ich kann es kaum mit Worten beschreiben. Wenn du nicht ins Gelände eingedrungen wärst und die Rettungsaktion geleitet hättest, wie du es gemacht hast, dann …“

„Manche Dinge entpuppen sich später als Schicksal, Mädelchen“, erwiderte er und grinste breit. „Zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort. Glück.“

„Und Können“, ergänzte sie. „Und Mut.“

Er schaute etwas verlegen zu Boden. „Mut. Irgendwie komisch, womit man dasteht, wenn es keinen Ausweg gibt. Ich setze lediglich einen Fuß vor den anderen. Mehr nicht. Bin froh, dass es geklappt hat. Bist du mit diesem beschädigten Flügel in der Lage, ein Kajak zu paddeln?“

„Im Frühling. Ich rufe dich in den nächsten ein, zwei Tagen wegen des Essens an.“

„Klingt gut. Du gehörst aber nicht zu diesen Vegetariern, oder?“

Laine lachte. „Nein. Ich mag herzhaftes Essen mit Fleisch.“

„Das ist ein Segen. Ich stehe nicht gern hungrig vom Tisch auf.“ Rawley grinste sie noch einmal an.

Laine konnte nicht anders. Sie musste ihn umarmen. Er mochte zwar wie ein dürrer alter Mann aussehen, aber unter ihrer Wange und in den Armen spürte sie harte Muskeln. Sie verharrte einen Augenblick lang in dieser Position und bemerkte, dass er seinen langen Arm um sie schlang, während er ihr mit der anderen Hand sanft über den Kopf strich. Dann ließ sie ihn los.

„Ich würde sagen, du warst hier die Mutige“, sagte er. „Du hättest nach dem Schuss verbluten können.“

„Ich bekomme eine Medaille“, erinnerte sie ihn. „Nebenprodukt des Am-Leben-Bleibens.“

Er lächelte. Es wirkte melancholisch.

„Du hast unterwegs schon einige Menschen verloren, stimmt’s, Rawley?“, fragte Laine.

Er hob eine graue Augenbraue. „Ein paar. Du nicht?“

Sie nickte bloß, war aber nicht bereit, weiter darüber nachzudenken oder die Einzelheiten zu erzählen. Zehn Jahre beim FBI, davon eine Menge verdeckter Ermittlungsarbeit. Da hatte sie eine Menge Leute verloren. Plötzlich wusste Laine, worauf Rawley hinauswollte – er hätte diese Menschen lieber wiedergehabt, als Medaillen zu bekommen.

Sie schlug ihm sachte auf den Oberarm. „Danke“, sagte sie sehr leise. „Ich rufe dich an. Und du wirst ganz sicher nicht hungrig nach Hause gehen.“

„Dann ist ja gut.“

Während Laine die Strandbar durchquerte, dachte sie, dass alte Soldaten leise abtraten. Es war für sie offensichtlich, dass Rawley seine Zeit in der Army gut genutzt hatte, aber sie hatte ihn auch völlig ausgezehrt. Echte Helden sprachen nie über ihre Heldentaten. Er war einer von einer Million.

Ich habe meine Zeit beim FBI ebenfalls gut genutzt, dachte sie.

Als sie auf die Terrasse zurückkehrte, hatte Cooper den Laptop zusammengeklappt und die Füße aufs Geländer gelegt. „Ich nehme an, du hast ihn gefunden.“

„Habe ich, danke.“

Er schob ihr eine Flasche Wasser über den Tisch zu. „Läufst du auch in die Stadt zurück?“

Sie schraubte den Verschluss auf, um einen Schluck zu trinken. „Nur über den Strand. Dann werde ich die Gunst der Stunde nutzen und mich auf meine Terrasse setzen und die Sonne genießen, obwohl ich noch ein paar Dinge zu erledigen hätte. Es ist zwar noch kalt, aber die Sonne fühlt sich gut an.“

„Möchtest du einen Rat, Laine? Kauf dir einen dieser kleinen Kamine für die Terrasse. Die geben zwar nur wenig Hitze ab, sind aber gemütlich.“

„Gute Idee“, sagte sie.

„Ich werde auf meiner Terrasse einen Kamin installieren“, erzählte Cooper. „Und auch ein Schattenplätzchen – der Sonnenaufgang ist nicht nur atemberaubend, er blendet auch. Und eine Markise, denn es ist ganz schön nass hier und unmöglich, das zu ignorieren. Ob Regen oder Sonnenschein, ich möchte immer mittendrin sein. In Wahrheit baue ich eigentlich eine Terrasse, an der zufällig noch ein Haus hängt.“

Sie lachte. „Wie lange kennst du Rawley schon?“

„Erst seit gut einem Jahr. Er gehörte irgendwie zum Haus und dem Grundstück dazu. Ben hat ihn entdeckt und hierher mitgebracht. Ben war mein Freund. Er hat mir das Grundstück hinterlassen. Rawley hat ein paar Jahre bei Ben gearbeitet.“

„Schön, einen Mitarbeiter zu haben, der das Geschäft kennt.“

Cooper lachte. „Mach dir nicht vor, dass er für mich arbeitet. Er macht ziemlich genau das, was ihm gefällt. Lässt sich so selten wie möglich sehen, und wenn er mir sagt, dass ich etwas tun soll, dann tue ich das normalerweise auch.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mädelchen.“

„Ist es so, als ob man einen Vater um sich hätte?“

„Mein Vater ist nicht annähernd so störrisch, aber vom Alter her passt es“, erwiderte Cooper. „Rawley ist ein interessanter Typ. Ein echtes Original. Wirklich ruhig. Doch er ist in der Lage, tiefe Bindungen aufzubauen – zum Beispiel zu Devon und Mercy. Sie sind jetzt seine Familie. Und da Devon keine eigene Familie hat, ist das gut. Was das betrifft, hat Spencer auch keine eigene Familie mehr.“

„Aber du hast eine Familie?“

„Jede Menge. Alle in oder aus der Nähe von Albuquerque. Eltern, Schwestern, Schwager, deren Kinder. Plus einen eigenen Sohn – Austin. Spencer und ich teilen uns einen Sohn.“ Laine sah einen Augenblick erschrocken aus, und Cooper erklärte es ihr. „Spencer hatte meine Exverlobte geheiratet. Sie ist letztes Jahr gestorben, und wir haben uns erst unmittelbar davor kennengelernt. Wie sieht es bei dir aus?“

„Ich habe vor ein paar Jahren meine Mutter verloren, aber mein Vater und mein Bruder wohnen in Boston. Ich stehe meinem Bruder sehr nah. Er ist verheiratet und hat zwei Mädchen, die ich vergöttere. Obwohl ich sie wegen meiner Arbeit nicht oft genug gesehen habe.“

„Und du bist nicht an der East Coast?“

„Ich brauchte eine Veränderung“, erklärte sie. „Dieser Ort hat etwas Besonderes. Als ich undercover auf der Farm lebte, habe ich mich trotz der erschwerten Bedingungen ein wenig in die Gegend verliebt. Jetzt möchte ich etwas mehr davon sehen. Außerdem wollte ich die Menschen kennenlernen, die alles aufs Spiel gesetzt haben, um mich aus diesem Lager herauszuholen. Plus: Mein Bruder ist ein sehr beschäftigter Mann. Und jetzt, wo ich Zeit habe, besuche ich ihn vielleicht einmal. Langer Flug, aber was soll’s? Ich spreche mehrfach pro Woche mit ihm. Ich nehme an, wir sind alle daran gewöhnt, so weit entfernt von der Familie zu wohnen. Und hey – du bist schließlich auch nicht in den Bergen von Mexiko.“

„Das ist nicht weiter überraschend. Ich bin von zu Hause weg, als ich zur Army gegangen bin. Seitdem bin ich nicht mehr zurückgezogen. Die wirkliche Überraschung ist, dass ich jetzt hier wohne! Bis ich nach Thunder Point kam, war ich eher so etwas wie ein Vagabund. Und jetzt bin ich Landbesitzer.“

Laine stand auf ihrer Terrasse und sah sich um, als ihr Telefon klingelte. Ihr Handy lag auf der Küchenablage, und sie ging hinein, um es zu holen. Ein Festanschluss war in diesem Haus überflüssig. Als sie sah, dass es ihr Bruder war, erhellte sich ihre Miene. „Pax!“, rief sie. „Wie geht’s dir?“

„Ich habe zwei Anrufe von dir verpasst. Tut mir leid. War eine volle Woche. Jede Menge Operationen.“

„Kein Problem. Wir haben eine Vereinbarung; nach deiner Arbeit kommen zuerst deine Frau und deine Kinder – und dann komme ich. Ich bin sehr geduldig.“

„Wie ist es da draußen?“

„Hitzewelle“, erwiderte sie lachend. „Zehn Grad und sonnig. Ich habe gerade überlegt, wo auf der Terrasse ich am besten einen tragbaren Kamin hinstelle. Damit ich mich einkuscheln und die Nacht draußen verbringen kann. Was macht Mutter Natur bei euch?“

„Du siehst keine Nachrichten, nehme ich an.“

Tatsächlich war sie von den Bostoner Nachrichten immer besessen gewesen. Angefangen beim Wetter bis hin zu aktuellen Veranstaltungen und Verbrechen. Ihre Familie wohnte in Boston, und sie dachte ständig an sie. Trotzdem sagte sie: „Nein, wenn es sich vermeiden lässt, nicht.“

„Wir bereiten uns auf einen Nordoster vor. Sieht nach sechzig Zentimetern Schnee heute Nacht aus. Die Straßen und Flughäfen werden vermutlich geschlossen, und alle bleiben zu Hause und sehen sich alte Filme an, bis der Strom ausfällt.“

„Außer dir.“

„Ich habe erst morgen Nacht Bereitschaft. Heute werde ich dem Schnee beim Fallen zusehen und den Wind heulen hören.“

„Wie geht es Missy und Sissy und Miss Perfekt?“, fragte Laine.

Ihr Bruder lachte laut und erwiderte: „Irgendwann wird mir Genevieve gegenüber einmal Miss Perfekt entschlüpfen, und dann liefere ich dich ans Messer. Das schwöre ich dir. Hier geht es allen gut. Missy hat in sechs Wochen ihr erstes Schulkonzert und übt Tag und Nacht Cello. Es ist fast genauso groß wie sie und hört sich an wie die Brunftzeit der Elchfarm bei uns um die Ecke. Und Sissy bereitet sich gerade auf eine Frühjahrs-Tanzveranstaltung vor, was für sechsjährige Mädchen zauberhaft ist. Gott sei Dank hat sie sich kein Musikinstrument ausgesucht. Sonst würde ich wohl anfangen, im Krankenhaus zu übernachten.“

Seine achtjährige Tochter, die sie Missy nannten, hieß eigentlich Melissa. Die sechsjährige Catherine wurde Sissy genannt – wie Sister. Und Genevieve hatte den heimlichen Spitznamen Miss Perfekt, weil sie als Frau und Mutter unschlagbar war. Sie beklagte sich nie auch nur im Geringsten. Es war beinahe unnatürlich. Genevieve war mit einem Haufen Kinder, jeder Menge Verantwortung und einem meist abwesenden Mann geschlagen und nahm das dennoch alles mit einem fröhlichen Lächeln an. Laine fragte sich oft, wie sie das machte. Kannte ihre Schwägerin keine Grenzen?

Genevieve hatte zwei Schwestern, mit denen sie dermaßen eng verbunden war, dass kein Blatt Papier dazwischenpasste. Sie war eine liebende und aufmerksame Mutter, eine treue Frau, eine hingebungsvolle Freundin, geliebte Tochter und für Laines Geschmack ein wenig zu häuslich veranlagt. Außerdem hatte sie Laine den besten Freund weggenommen, ihren Zwillingsbruder Pax. Genevieve benahm sich Laine gegenüber wundervoll, aber Laine wurde trotzdem nicht richtig warm mit ihr. Sie waren nicht gerade Freundinnen. Aber Laine hatte insgesamt nur wenige Freundinnen. Es war ihr anscheinend unmöglich, sich enger auf jemanden einzulassen als auf Pax.

„Und Senior?“

„Ihm geht es genauso gut wie uns. Du hast vermutlich nichts von ihm gehört, oder?“

„Nein. Ehrlich gesagt, überrascht mich das auch nicht. Ich hatte ihn gebeten, mich erst wieder anzurufen, wenn er bereit ist, sich dafür zu entschuldigen, dass er so ein Arsch war, oder mir etwas Positives zu sagen hat. Ich glaube, dass eher Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, als dass ich seinen Namen auf meinem Display lese.“

„Du nimmst ihn zu ernst“, meinte Pax. „Lern einfach, nicht auf ihn zu achten. Nicke, sage nichts und mach einfach, was du willst.“

„Das kann ich nicht“, erwiderte sie. „Du kommst damit immer durch. Bei deinen Entscheidungen ist er nie so kritisch …“

„Doch, ist er. Aber es ist mir egal. Er hat bei mir nichts zu melden. Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass bei dir schon lange niemand mehr etwas zu melden hat. Das ist schon ungefähr seit deinem siebten Lebensjahr so.“

„Er regt mich auf“, erwiderte sie. „Er glaubt, wir müssten seine Worte wie Honig in uns aufsaugen und ihm dankbar sein, dass er sich unseretwegen überhaupt die Mühe gemacht hat, die Zunge zu bewegen.“

„Fang nicht wieder damit an“, riet ihr Pax. „Es ist vorbei. Du bist umgezogen. Ich wünschte bloß, du wärst nicht so weit weg. Richte dir doch bitte Skype auf dem PC ein, und sprich mit den Mädchen. Sie vermissen dich.“

„Er behandelt dich anders als mich“, beharrte Laine, unfähig, das Thema zu wechseln. „Er ist sehr stolz auf dich!“

„Er glaubt, ich hätte seinen Rat befolgt und wäre nur deshalb Arzt geworden. Das stimmt so aber nicht. Ich mache nur, was ich machen wollte. Und er erzählt mir immer noch, wie man arbeitet, obwohl er keine Ahnung von Kinderchirurgie hat. Ich versuche ihm so wenig wie möglich zu erzählen, aber ich nehme ihn auch nie ernst. Aber genug davon, erzähl mir lieber, was so Neues und Aufregendes in deiner kleinen Stadt passiert.“

„Ich habe eine Wand gestrichen“, sagte sie und seufzte schwach. „Zum größten Teil mit meinem linken Arm. Und ich werde auch noch die andere Wand streichen. Aber ich glaube, das ist schon alles. Ich musste einen Freund bitten, die Bilder aufzuhängen. Ich habe noch keine Kraft im Arm, vor allem, wenn ich über Kopf arbeite. Außerdem habe ich, seit wir letzten Dienstag telefoniert haben, drei Bücher gelesen. Heute war der erste Tag, der schön genug war, um laufen zu gehen. Aber ich schwöre, dass mir bei der Kälte die Schrauben in meiner Schulter wehtun.“

„Du weißt, dass es nicht an den Schrauben liegt …“

„Es fühlt sich aber so an.“

Laines Eltern waren Ärzte gewesen. Schon ihre Großeltern beiderseits waren Ärzte gewesen. Sie hatte zwei Cousinen, die Ärztinnen geworden waren. Lauter erfolgreiche Männer und Frauen. Laine war nicht die erste Carrington oder Wescott, die einen anderen Beruf gewählt hatte. Trotzdem war Dr. Paxton Carrington senior erschüttert gewesen, als seine Tochter im Hauptstudium von Medizin zu Kriminologie wechselte. „Glaub mir, du willst nicht in der Welt der Handwerker leben“, hatte er gesagt. Welt der Handwerker? Es war beinahe unmöglich, ohne einen höheren Abschluss zum FBI zu kommen.

Ihre Mutter dagegen hatte gesagt: „Du musst eine Arbeit finden, die du leidenschaftlich gern tust. Das Wichtigste im Leben ist, herauszufinden, wofür du morgens gern aufstehst. Eine Arbeit, die du auch ohne Bezahlung machen würdest, etwas, das dein Herz höherschlagen lässt. Ich bin nicht Ärztin, weil mein Vater Arzt war. Und ich bin mir verdammt sicher, dass ich erst recht nicht Ärztin geworden bin, weil mein Mann einer ist. Und es könnte mir nicht gleichgültiger sein, welchen Beruf sich meine Kinder aussuchen. Na ja, wenn du dich entscheiden würdest, obdachlos und drogenabhängig zu werden, hätte ich vielleicht etwas einzuwenden …“

„Aber bist du nicht stolzer auf Pax? Einen Medizinstudenten mit Auszeichnung?“, hatte Laine gefragt.

„Ich schaue auf das, was vor dir liegt, Laine. Und ich finde das alles sehr aufregend. Ich wünschte, ich könnte wenigstens einen Tag lang in deiner Haut stecken!“

„Aber Dad hasst meine Arbeit!“

„Tut er das? Er glaubt vielleicht, dass er besser weiß als du, was gut für dich ist. Doch ich bin hier, um dir zu sagen, dass du der einzige Mensch bist, der diese Entscheidung treffen darf. Und es spielt keine Rolle, was jemand anderes will.“

„Aber gib doch zu, dass Dad stolzer auf Pax ist!“, hatte Laine insistiert.

„Da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß aber tatsächlich, dass Pax alles macht, wie es im Buche steht. Er tut genau das, was euer Vater von ihm erwartet. Das ist viel einfacher und bequemer. Du, mein Liebes, bist eine Herausforderung für deinen Vater.“

Während der gesamten Zeit am College, während des Hauptstudiums, während ihrer frühen Jahre beim FBI hatte ihre Mutter es kaum erwarten können, dass sie anrief. Sie interessierte sich für alle möglichen kleinen, spannenden Einzelheiten der Fälle, an denen Laine arbeitete oder von denen sie gehört hatte.

Senior hatte gesagt: „Was denkt sich dieses Mädchen eigentlich? Sie verschwendet ihre Zeit mit der Unterwelt! Dem Abschaum der Gesellschaft!“

Als Laine ihrem Vater Weihnachten erzählt hatte, dass man sie für eine Auszeichnung vorgeschlagen hatte, weil sie in Ausübung ihres Amtes Menschenleben gerettet hatte, hatte er lediglich gesagt: „Als ob so eine Medaille dich würdigen würde! Ärzte retten täglich Menschenleben.“

Danach hatte sie Boston in einem Wutanfall verlassen und sich geschworen, dass sie mit ihm fertig war.

Laine vermisste ihre Mutter sehr.

Eric war täglich dankbar, dass er Gina McCain gefragt hatte, ob sie damit leben könnte, wenn er nach Thunder Point zöge. Thunder Point war klein. Und Eric war beinahe jeden Tag in dem Diner, in dem Gina arbeitete. Die Hälfte der Zeit war auch ihr Mann dort. Die Geschichte mit Eric und Gina lag lange zurück. Damals war sie noch auf der Highschool gewesen und er gerade von der Schule geflogen. Ihre Beziehung war kurz, aber für sie beide gleichermaßen denkwürdig gewesen.

Im Oktober hatte Eric die einzige Tankstelle des Orts gekauft und zwei Monate damit verbracht, sie auf den neuesten Stand zu bringen und um eine Werkstatt zu erweitern. Die ganze Zeit hatte er im Motel gewohnt – im Coastline Inn. Das Motel war nichts Besonderes, aber sauber und günstig. Morgens gab es Kaffee umsonst, aber es gehörte kein Café oder Restaurant dazu. Nur der Diner und McDonald’s boten Frühstück an, es sei denn, Eric wäre zum Strand gefahren, um bei Cooper in der Strandbar zu frühstücken. Da er aber weder Zeit noch die Energie hatte, gleichzeitig nach einem Haus zu suchen und ein kleines Unternehmen aufzuziehen, hatte er sich einen kleinen Kühlschrank und einen Toaster gekauft und sich im Motelzimmer einigermaßen praktisch eingerichtet. Morgens ging er in die Rezeption des Motels, um sich eine große Tasse Kaffee und die Zeitung zu besorgen. Anschließend fuhr er zur Tankstelle. Um etwas Anständiges zu frühstücken, ging er in der Pause zum Feinkostladen oder in den Diner. Eric war kein großer Freund von Fast Food, das er häufiger essen musste, als ihm lieb war.

Als Eric heute in den Diner kam, stand die junge Frau, die neu in der Stadt war, bei Gina am Tresen. Sie schien schon mit dem Frühstück fertig zu sein und lächelte ihn an.

„Hey, Mr. Gebrauchtwagen, genau der Mann, den ich sehen wollte!“, empfing sie ihn.

„Na, so eine Begrüßung höre ich nicht jeden Tag“, erwiderte er.

„Ich habe gehört, Sie haben einen guten Ruf, was Schönheitskosmetik betrifft. Nun frage ich mich, wie es bei Ihnen unter der Motorhaube aussieht.“

Er zog die Brauen hoch. Das war eine tolle zweideutige Anspielung. Eric setzte sich und bekam sofort einen Kaffee. „Ich war Mechaniker, bevor ich der Mann für alle Fälle wurde“, erklärte er ihr lächelnd.

Laine lachte über sein Wortspiel. „Ich habe da einige Arbeiten, die erledigt werden müssten. Kann ich einen Termin mit Ihnen vereinbaren?“

„Sie brauchen keinen Termin. Fährt das Auto noch?“

„Ja. Aber ich bin damit quer durchs Land gefahren. Von Virginia bis hierher. Sie braucht einen Ölwechsel und eine Inspektion.“ Laine hob die Schultern. „Ich bin mir sicher, sie ist sehr müde und vielleicht ein wenig wund.“

Er grinste. Nur Sammler klassischer alter Autos wussten einen Autobesitzer zu schätzen, der seinem Auto ein Geschlecht und vielleicht sogar einen Namen gab. „Wohnen Sie hier in der Gegend?“

Sie lachte. „Schauen Sie sich um, Eric. Hier wohnen alle in der Gegend.“

Sie erinnert sich also an meinen Namen. Oder vielleicht hat Gina ihn ihr gesagt. „Stimmt. Bringen Sie den Wagen einfach vorbei, wenn Sie ihn für ein paar Stunden entbehren können. Dann kümmere ich mich gleich darum.“ Zu Gina sagte er: „Kannst du Stu bitten, mir drei Eier mit ein paar grünen Chilis und etwas Cheddar zu machen?“

„Schon unterwegs. Mit ein paar Bohnen als Beilage?“

„Da muss ich passen. Lieber Toast, bitte. Und sind vielleicht noch ein paar Pommes übrig, die Stu noch nicht verkohlt hat?“

„Ich sag dir was. Weil du es bist, werde ich sie einfach ein paar Mal auf dem Grill wenden. Denn Gott weiß, was passiert, wenn Stu Hand anlegt. Dann sind sie am Ende vermutlich wirklich verkohlt.“

„Du bist ein Schatz“, erwiderte er.

Als Gina Laines leeren Teller abräumte und in die Küche brachte, fragte Laine: „Sind Sie jeden Tag hier?“

Er schüttelte den Kopf. „Obwohl, eigentlich fast immer. Wenn es nicht wegen Gina wäre, würde ich von Kaffee und Kuchen leben.“

„Tatsächlich?“

„Ich bin auch neu in der Stadt. Ich habe die Tankstelle gekauft. Da gab es so viel zu tun, bis ich sie unter einem neuen Namen und nach dem Umbau wiedereröffnet habe, dass ich im Coastline-Motel wohne. Dagegen sieht das Motel 6 aus wie ein Fünfsterneluxushotel. In den nächsten Tagen muss ich mich ernsthaft nach einem Haus oder einer Wohnung umsehen. So wie es ist, ist es aber trotzdem ganz praktisch. Und ich gehe gern zu Fuß zur Arbeit …“

„Ein Automann, der gern zu Fuß geht …“

„Es gibt genügend andere Orte, wohin ich fahren muss. Obwohl wir im Eiltempo arbeiten, bin ich immer noch damit beschäftigt, die Tankstelle mit einer Werkstatt aufzumöbeln. Der vorige Besitzer hat keine Reparaturarbeiten gemacht, und für eine Werkstatt braucht man Platz. Ich habe einen ziemlich großen Kundenkreis, der klassische Autos sammelt.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Was machen Sie, Laine?“

„Schulterübungen“, antwortete sie. „Ich hatte vor drei Monaten eine Schulteroperation. Es ist schon wieder viel besser, aber ich bin noch nicht ganz wiederhergestellt. Ich habe beschlossen, mir eine Weile freizunehmen und mal etwas Neues auszuprobieren.“

„Also arbeiten Sie gar nicht?“

„Ich arbeite am Computer, aber das versuche ich zu vermeiden, wo ich kann. Ich habe ein bisschen Recherchearbeit gemacht. Sie wissen schon, Langweilerkram. Daten, Statistiken, Personenüberprüfungen, Steuerunterlagen, diese Art von Dingen.“

„Für eine große Firma?“

„Ja. Die größte. Das FBI.“ Sie grinste ihn an.

„Das klingt wirklich … langweilig.“

Sie lachte. „Ich weiß. Und traurigerweise bin ich auch noch gut. Aber falls jemand aus meiner alten Dienststelle anrufen und um Hilfe bitten würde, müsste man mir einen Zeitausgleich bezahlen. Ich habe meine Rechenaufgaben gemacht und glaube, ich bekomme mit ein paar Monaten Reha und Urlaub – bei ein bisschen Zusatzarbeit von zu Hause aus -ein freies Jahr hin.“

„Ich war eine Zeit lang mit einer Frau zusammen, die Webseiten entworfen und gehostet hat. Sie hat den Computer kaum verlassen …“

„Der Typ Frau bin ich nicht. Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe keine Probleme, mich vom Computer zu entfernen. Die Zentrale zu verlassen bedeutet, dass ich nicht mehr herumreise oder jemanden führe. Die Techniker oder Researcher zu führen und am Computer zu unterweisen hat mir nie großen Spaß gemacht. Vielleicht fällt mir während meiner Auszeit etwas Neues ein, womit ich mein Geld verdienen kann.“

Den Ellbogen auf dem Tresen abgestützt, fragte Eric: „Wie gut können Sie mit einem Schraubenschlüssel umgehen?“

„Besser, als Sie glauben.“

Gina brachte Erics Frühstück.

„Ich lasse Sie essen“, sagte Laine. „Und ich bringe meinen Wagen in den nächsten Tagen mal vorbei.“

„Großartig“, sagte er und beobachtete, wie sie den Laden verließ.

Als er sich umdrehte, starrte Gina ihn an. „Hast du Sie gebeten, mit dir auszugehen?“

„Natürlich nicht.“

„Warum nicht?“, fragte sie. „Das willst du doch ganz offensichtlich.“

„Das weißt du doch gar nicht“, meinte er, bevor er sich eine Gabel Rührei in den Mund schob.

„Deine schönen grünen Augen strahlten, als du sie am Tresen stehen sahst.“

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