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Schicksalsstürme in Thunder Point

Als Buch hier erhältlich:

Als Kinder und Jugendliche waren Iris McKinley und Seth Sileski unzertrennlich - bis zu jenem verhängnisvollen Abschlussball. Seit siebzehn Jahren herrscht Funkstille zwischen ihnen. Daher Iris war es nur recht, dass Seth für eine Sportlerkarriere das kleine Thunder Point verließ. Jetzt kehrt Seth nach all den Jahren in seinen Heimatort zurück und Iris ist gezwungen, sich ihren Gefühlen für ihren einstigen Vertrauten und heimlichen Schwarm zu stellen …

"Robyn Carr schreibt wie immer ganz wunderbar über Figuren, die uns durch ihre menschlichen kleinen Schwächen nur noch sympathischer werden."
Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 10.07.2017
  • Aus der Serie: Thunder Point
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766337
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

In Seth Sileskis Kindheit war Thunder Point sein Spielplatz gewesen. Die Stadt vergötterte ihn bereits, als er noch ein sommersprossiger Flachskopf war. Er konnte am schnellsten laufen, hatte den kräftigsten Aufschlag, warf am weitesten und wickelte selbst die grantigsten Lehrer leicht um den Finger. Seine beiden älteren Brüder Nick und Norm Junior – liebevoll Boomer genannt – hatten ebenfalls eine fantastische Kindheit gehabt. Doch sie reichten nie an Seths Popularität heran. Aus dem beliebten Kind wurde der umschwärmteste Teenager der Stadt. Immer die besten Noten, Spitzensportler, gut aussehend und ein guter und loyaler Freund. Seth hatte alles gehabt. Dann, mit zwanzig, nahm sein Leben eine dramatische Wendung, und sein ganzes wunderbares Glück schien auf einmal wie weggeblasen.

In den Augen von Seths Vater Norm hatte sein privilegierter Sohn alles weggeworfen.

Jetzt war Seth angeschlagen nach Thunder Point zurückgekommen – und er war definitiv bescheiden geworden. Seit er die Stadt mit achtzehn verlassen hatte, lag ein langer Weg hinter ihm. Hätte ihm vor fünf Jahren jemand erzählt, dass er einmal nach Hause zurückkehren würde, hätte Seth ihn für verrückt erklärt. Doch nun war er wieder da. Inzwischen trug er die Uniform eines Deputys, war vierunddreißig Jahre alt und bemüht, etwas von dem alten Respekt zurückzugewinnen. Seth übernahm das Sheriff Department in Thunder Point von Mac McCain. Damit war er der verantwortliche Officer in Thunder Point. Mac war zum Lieutenant befördert worden und würde zukünftig im Hauptquartier in Coquille arbeiten.

In den letzten sechzehn Jahren war Seth regelmäßig in Thunder Point gewesen. Er hatte seine Mutter besucht und versucht, sich mit seinem Vater auszusöhnen. Und bei jeder Stippvisite hatte es ihn überrascht, wie wenig sich der Ort verändert hatte. Die Menschen veränderten sich, die Wirtschaft ging rauf oder runter, die Welt drehte sich weiter, aber Thunder Point in Oregon schien immer gleich zu bleiben. Der Linoleumfußboden im Diner war schon in seinen Kindertagen alt und rissig gewesen. Die Fast-Food-Restaurants waren dieselben wie damals. Waylan’s Bar war immer noch die einzige echte Spelunke in Thunder Point. Sie wirkte wie aus der Zeit gefallen. Waylan stellte immer noch Farbeimer an die Türen, um sie offen zu halten. Ganz so, als ob er vorhätte, die Bar neu zu streichen. Doch das war bis heute nicht geschehen.

Es war Mitte September. Die Schule hatte erst vor wenigen Wochen wieder angefangen. Unter den Schülern herrschte noch jede Menge Optimismus und Begeisterung. Diejenigen, die auf ihren Fahrrädern unterwegs waren, hielten sich nicht immer ganz korrekt am rechten Straßenrand, aber im polizeieigenen SUV auf die Hupe zu drücken brachte sie schnell wieder auf die richtige Spur.

Auch Iris McKinley, Seths frühere direkte Nachbarin und Kindheitsfreundin, benutzte immer noch das Rad, um zur Schule zu kommen. Inzwischen allerdings trug sie einen Rock und hatte eine Aktentasche im Fahrradkorb dabei. Die Kinder fuhren mit ihr um die Wette. Schulbusse schlängelten sich hupend an ihr vorbei, und die Kinder lehnten sich aus dem Fenster, damit sie ihr zuwinken konnten. Iris klingelte mit der Fahrradklingel und winkte zurück. Als ein Busfahrer ein langes Hupsignal ertönen ließ, wandte sie den Kopf und lachte. Sie hatte immer noch das wilde, ungezügelte Lachen von früher. Bevor sie Seth bemerkte, bog er von der Hauptstraße ab und fuhr zum Revier zurück.

Die Außenstelle der Hauptverwaltung vom Sheriff Department in Coquille war ein Zeichen dafür, dass sich doch etwas in Thunder Point verändert hatte. Obwohl das Sheriff Department schon immer sehr präsent gewesen war, weil es keine eigene Polizeistation in der Stadt gab, galt es erst seit zehn Jahren als offizielle Außenstelle. Die Arztpraxis, die gleich nebenan lag, war ebenfalls relativ neu, weshalb Seth hier zuerst anhielt. Er ging in das Gebäude und stand einer wunderschönen Frau an der Rezeption gegenüber. Mit ihren dunklen Haaren und den dunklen Augen hätte man sie glatt für Catherine Zeta-Jones halten können.

„Hallo“, sagte er lächelnd und reichte ihr die Hand. „Ich bin Seth Sileski, Ihr künftiger neuer Nachbar. Mac fängt in ungefähr einer Woche in Coquille an.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte die Frau. „Peyton Lacoumette, Arztassistentin. Und das ist Devon Lawson, unsere Office Managerin. Scott?“, rief sie. „Hast du kurz Zeit?“

Der Arzt kam in Jeans und Jeanshemd in den Empfangsbereich. „Hallo, ich bin Scott Grant. Sie sind also der Neue.“

Grinsend gab Seth ihm die Hand. „Seth Sileski. Ich bin nicht unbedingt neu hier. Norm ist mein Vater.“

„Im Ernst? Welcher seiner Söhne sind Sie? Er hat erzählt, dass er drei Söhne hat und keiner von ihnen in der Stadt wohnt.“

„Ich bin der Jüngste und war seit meiner Collegezeit nur hin und wieder zu Besuch hier.“

„Dann herzlich willkommen zurück“, meinte Scott. „Wir freuen uns, dass Sie da sind. Und wir sind verdammt stolz auf Mac – der in die Welt hinauszieht.“

„Das sind mächtig große Fußstapfen, in die ich da trete“, entgegnete Seth.

„Kannten Sie Mac schon vorher?“, erkundigte sich Peyton.

„Ja, aus dem Department. Ich habe ihn vor ungefähr acht Jahren getroffen, obwohl wir in unterschiedlichen Regionen des Landes gearbeitet haben. Er hat einen sehr guten Ruf. Bevor ich hier für alles zuständig sein werde … Ist da irgendwas, was Sie sich wünschen oder was Sie beunruhigt? Etwas, das Sie mir gern sagen wollen?“ Er lächelte. „Ich frage als Ihr neuer Nachbar und Polizist.“

Scott lachte. „Die Müllabfuhr holt mittwochs den Müll in der kleinen Gasse hinter den Läden ab. Ich muss mal überlegen, ob mir noch etwas einfällt.“

„Müll“, wiederholte Seth. „Gut zu wissen. Erlauben Sie, dass ich Sie etwas frage? Wie kommen Sie mit den jungen Leuten hier in der Stadt klar? Gibt es irgendwelche Probleme, über die ich im Bilde sein sollte?“

Scott schüttelte den Kopf. „Ich musste einmal ein paar wilde Jungs in der Notfallklinik in North Bend verarzten – Schlägerei bei einer unbeaufsichtigten Party. Ich hatte im gesamten letzten Jahr nie mit Verletzungen zu tun, deren Ursache rüpelhaftes Benehmen war. Mac hatte ein paar Einschüchterungsdelikte auf dem Tisch, ehe ich die Praxis eröffnet habe, aber ich kenne die Einzelheiten nicht. Ich hatte bisher nur mit dem üblichen Kram zu tun. Die Kinder hier aus der Gegend sind besser als die meisten anderen.“

„Das liegt größtenteils an strengen Eltern“, erklärte Seth. „Und daran, dass man hier sehr neugierig ist und die Nase in alles hineinsteckt.“

„Haben Sie Kinder im Teenageralter?“, fragte Peyton.

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin weder verheiratet noch habe ich Kinder, Ma’am. Nach Teenagern zu fragen, gehört zu den Dingen, die ich gern tue, wenn ich mir einen Eindruck von einer neuen Dienststelle verschaffen möchte. Die Stadt ist mir zwar nicht neu, aber die Leute sind es. Nach sechzehn Jahren sind einige neue Gesichter hinzugekommen. Im Moment bin ich noch in der Übergabephase mit Mac, der mein Supervisor ist. Hierzu gehört auch, dass ich mich Ihnen selbst vorstelle. Obwohl die Geschäfte in Thunder Point immer noch dieselben Läden sind wie früher, haben doch die Eigentümer und Angestellten gewechselt.“ Er deutete mit dem Kinn auf das Diner. „Wir sind nach der Schule immer ins Diner gegangen. Ich habe gehört, dass Stu immer noch den Laden führt und selbst am Herd steht, aber Gina jetzt für den Servicebereich zuständig ist. Als ich Kind war, hat Ginas Mom im Diner gearbeitet.“

„Inzwischen betreibt Carrie nebenan einen Delikatessenladen und macht die besten Sandwiches und Fertiggerichte, die hier zu haben sind“, informierte ihn Peyton.

„Bei Carrie und Stu schaue ich auch noch vorbei.“

„Wie sieht es mit dem Cliffhanger aus?“, erkundigte sich Peyton. „War Cliff schon da, als Sie klein waren?“

„Nein, sein Dad hat das Restaurant vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren gebaut. Ich habe keine Ahnung, wann Cliff den Laden übernommen hat. Irgendwann, nachdem ich weg war. Cliffs Familie gehören bei der Marina eine Menge Grundstücke. Mein Dad meinte immer, dass das Restaurant dort niemals laufen würde – zu teuer für diese Stadt.“

„Es ist jeden Abend gerammelt voll“, informierte ihn Scott. „Da gehen die Leute hin, wenn sie an einem Tisch mit Tischdecke essen wollen.“

„Ich bin auch schon ein oder zwei Mal dort gewesen“, sagte Seth. „Gutes Essen, nette Atmosphäre.“ Er holte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemds. „Ich setze meine Vorstellungsrunde fort. Hier sind meine Büro- und meine private Handynummer. Rufen Sie mich an, wann immer Sie wollen. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“

Peyton lachte, während sie die Karte entgegennahm. „Es macht mich wirklich fertig, wie freizügig man hier private Handynummern verteilt! Alle kennen die Nummern von Scott und Mac und nun auch noch Ihre. Ich bin Städte gewöhnt, wo man so etwas niemals tun würde.“

Der Arzt legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich. „Ich habe ihre Handynummer. Mit dem richtigen Anreiz könnte ich mich vielleicht überreden lassen, sie Ihnen zu verraten. Bis dahin rufen Sie einfach bei mir an, wenn Sie mich brauchen. Ich rufe Sie zurück.“

„Hey, das hier ist meine Stadt. Da möchte ich angerufen werden, wenn es Probleme gibt. Ich bin auf drei Arten zu erreichen – im Büro, übers Handy oder in Notfällen über die 911. Wenn Sie die 911 anrufen, landen Sie nicht bei der Mailbox, da geht der jeweilige diensthabende Deputy sofort ans Telefon. Zögern Sie nicht.“ Seth lächelte und tippte sich kurz zum Gruß mit zwei Fingern an die Stirn. „Auf Wiedersehen.“

Als Nächstes ging er ins Diner, um sich bei Gina zu melden. Sie waren miteinander aufgewachsen, aber nie in einer Klasse oder derselben Clique gewesen. Seth kannte Carrie mit Sicherheit besser als Gina. Carrie und seine Mutter Gwen waren uralte Freundinnen.

Nach dem Besuch bei Gina schaute er bei Waylan vorbei. Wenn da nicht immer noch dieselbe Truppe alter Jungs sitzt wie vor zehn Jahren, dachte er.

Seine nächste Anlaufstelle war der Blumenladen, der trotz neuer Besitzerin immer noch seinen alten Namen trug. Pretty Petals, was so viel wie bezaubernde Blüten bedeutete, hatte in Seths Kindheit und Jugend seiner Nachbarin gehört, einer alleinerziehenden Mutter und guten Freundin seiner Mutter. Rose McKinleys einziges Kind Iris war Seths beste Freundin aus Kindertagen. Vor einigen Jahren hatte Iris den Blumenladen nach dem Schlaganfall ihrer Mutter verkauft. Rose war nach ein paar Jahren Bettlägerigkeit gestorben.

Mindestens einmal pro Woche hatte Seth mit seiner Mom telefoniert, manchmal sogar noch öfter. Sie hatte ihn über das Leben in der Stadt auf dem Laufenden gehalten. Roses Tod hatte Gwen sehr getroffen. Sie waren fast im selben Alter. Rose war viel zu früh gestorben. Seit ihrem Tod hatte Gwen das Gefühl, dass ihre Zeit auf Erden nur geliehen war. Gwen war inzwischen fünfundsechzig.

Norm war zweiundsiebzig und so mürrisch und nachtragend wie immer. Zwar hatte er seine Tankstelle verkauft, sich aber dennoch nicht aus dem Berufsleben zurückgezogen. Er arbeitet nun für den neuen Besitzer. Gwen wollte den Ruhestand nutzen, um zu reisen und vielleicht ein oder zwei Kreuzfahrten zu machen, aber Norm war überhaupt nicht daran interessiert. Warum Gwen ihre Freizeit mit diesem alten Kauz verbrachte, war Seth ein Rätsel. Es tat ihm leid, dass seine Mutter die letzten Jahre ihres Lebens in dieser kleinen Stadt hocken musste, wo sie außer der Kirche, dem Kartenspiel und Bingo keinerlei Abwechslung hatte. Gwen vermisste ihre beste Freundin Rose bis heute.

Seth betrat das Blumengeschäft und nahm den Hut zur Begrüßung ab. Grace war eine attraktive, junge Frau. Seth vermutete, dass sie sich mit dem Laden einen Traum erfüllt hatte. Sie hatte ihn Iris abgekauft. Als er sich umsah, stellte er fest, dass sie den Laden ziemlich aufgemöbelt hatte.

„Na, Seth, wirst du jetzt in Thunder Point bleiben?“, fragte Grace.

„Ja, jetzt ist es so weit. Ich bin gerade dabei, mich den Einwohnern der Stadt vorzustellen oder mich bei ihnen zu melden. Einige kennen mich ja schon. Wie läuft das Geschäft?“

„Sehr gut.“ Grace strahlte.

„Gibt es deiner Meinung nach etwas, um das ich mich unbedingt kümmern sollte? In etwas weniger als einer Woche übernehme ich Macs Büro.“

„Keine Blumendiebe weit und breit. Jedenfalls soweit ich weiß. Und? Planst du, in die Stadt zu ziehen, jetzt, wo du hierbleibst?“

„Im Augenblick noch nicht.“ Er lachte. „Meine Mutter hat mir mein altes Zimmer angeboten, aber ich glaube …“ Er schüttelte den Kopf. „Es fühlt sich vermutlich nicht unbedingt nach Junggesellenbude an, wenn man noch bei Mom und Dad wohnt.“ Ganz davon abgesehen, dass sein Vater ihm nicht angeboten hatte, bei ihnen zu wohnen. „Aber keine Frage, ich würde dort immer sehr gut essen.“

„Vielleicht kannst du einfach nach Feierabend regelmäßig zum Essen bei deiner Mutter reinschneien, bevor du nach Hause in deine Junggesellenbude fährst.“

„Das ist eine Idee. Eigentlich sollte ich jetzt gleich dort vorbeifahren … und ihr einen kleinen Blumenstrauß mitbringen. Hast du etwas Passendes da?“

Grace nahm einen Strauß aus einem Eimer. „Gefällt dir dieser Herbststrauß? Ich kann ihn dir etwas billiger verkaufen. Ich habe ihn schon gestern gebunden und noch nicht verkauft.“

„Das macht ihn natürlich doppelt attraktiv“, erwiderte Seth lächelnd und holte sein Portemonnaie aus der Tasche. „Hast du Iris in letzter Zeit mal getroffen?“, setzte er beiläufig hinzu, ohne Grace direkt anzublicken.

„Ich sehe sie jede Woche. Mindestens einmal, oft aber noch häufiger. Sie mag frische Blumen. Das ist eine Gewohnheit, die man sich nur schlecht abgewöhnen kann. Manchmal kommt sie rein und stellt sich selbst etwas zusammen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mir schon gewünscht habe, sie würde hier arbeiten. Sie hat Talent. Das wären dann genau zehn Dollar.“

„Zehn? Mensch, du ziehst dem Gesetz ja das letzte Hemd aus!“

„Ich hoffe, ich muss niemals andere Waffen einsetzen“, erwiderte Grace lachend. „Willkommen zu Hause, Seth. Schön zu wissen, dass du in Zukunft auf uns aufpassen wirst.“

„Ich tue mein Bestes. Lass mich wissen, wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann. Egal, um was es geht. Außer Blumen binden.“ Er reichte ihr seine Visitenkarte – und noch eine zweite Karte. „Eine für den Laden und eine für zu Hause“, erklärte er und hoffte insgeheim, dass die zweite Karte in Iris’ Hände gelangen würde.

Er wünschte, er könnte wieder Kontakt mit Iris aufnehmen. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten Fußball und Softball miteinander gespielt, waren gemeinsam zum Angeln oder an den Strand gegangen, oder sie hatten stundenlang Videospiele bei ihm oder ihr gespielt. In der Junior High und der Highschool hatten sich ihre Wege dann getrennt. Seth war in allen Sportmannschaften gewesen, und Iris hatte sich um Mädchenkram gekümmert und ihrer Mutter im Blumenladen geholfen. Dennoch war sie immer seine engste Freundin gewesen, auch wenn er das in gemischten Runden niemals zugegeben hatte. Er hatte Iris alles erzählen können. Alles. Wenn er Probleme in der Schule hatte, wegen Football frustriert oder an den Hausaufgaben gescheitert war. Sogar wenn er ein Mädchen gemocht hatte, das ihn nicht mochte. Sie sprachen auf ihren Veranden miteinander, am Telefon oder wo auch immer sie sich in der Stadt begegneten. Wenn ihre Zimmer im ersten Stock einander gegenübergelegen hätten, hätten sie sich vermutlich aus den Fenstern gelehnt, um miteinander zu sprechen. Doch im letzten Schuljahr hatte es ein Missverständnis gegeben. Es hatte etwas mit dem Prom, dem Highschool-Abschlussball zu tun. Seth erinnerte sich nicht mehr an Einzelheiten. Iris war wütend auf ihn gewesen, weil er nicht mit ihr zum Ball gegangen war. Doch er hatte damals eine feste Freundin gehabt und wollte natürlich mit ihr zu der Veranstaltung gehen. Kurz vor dem Prom hatten er und seine Freundin einen Riesenstreit und trennten sich sehr unschön. Danach hatte Seth ein paar Bier getrunken und sich wie üblich an Iris gelehnt, um ihr von seinen Problemen zu erzählen. Er hatte ein spektakuläres Jahr hinter sich gehabt und konnte ab Herbst mit einem vollen Football-Stipendium die Universität von Oregon besuchen. Wie konnte dieses Mädchen es wagen, einfach kurz vor dem Ball mit ihm Schluss zu machen? Seth erinnerte sich nur noch vage an alles, aber er wusste noch, dass er Iris gegenüber ein paar lahme Ausflüchte benutzt hatte. Sätze wie: Ich wollte ohnehin lieber mit dir hingehen. Am nächsten Tag kam er dann wieder mit seiner Freundin zusammen. Er hatte angenommen, dass Iris sich für ihn freuen und ihn verstehen würde. Es war nur ein blöder Streit gewesen.

Doch Iris hatte kein Verständnis dafür gehabt. Seth erinnerte sich offenbar nicht mehr so genau an alle Einzelheiten wie Iris. Jedenfalls war das das Ende ihrer Freundschaft gewesen. Das Thema Mädchen und Abschlussbälle beinhaltete etwas Mysteriöses, ihm gänzlich Rätselhaftes, denn er hatte Iris nie zuvor so wütend erlebt. Nicht einmal, als sie ihn als Kind ein paar Mal gehauen hatte, war sie jemals dermaßen wütend gewesen. Seth hatte sich seit der Sache mit dem Prom mindestens hundertmal bei ihr entschuldigt, allerdings war sie fertig mit ihm. Sie würde ihm nie wieder bei den Hausaufgaben helfen oder sich sein Gejammer wegen irgendwelcher Mädchengeschichten anhören. Sie würde ihn nie mehr aufmuntern oder bei seinen Vorhaben unterstützen und dann am Abend des Abschlussballs allein bei ihrer Mutter hocken. Vorbei. Erledigt. Such dir eine andere Dumme, die deine Freundin sein will.

Seitdem gingen sie nur noch sehr förmlich miteinander um. Als er mit zwanzig einen Autounfall hatte, hatte Iris ihm eine Genesungskarte ins Krankenhaus geschickt. Nachdem ihre Mom gestorben war, kam Seth nach Hause, um seine Mutter zur Beerdigung zu begleiten. Er hatte damals den größten Blumenstrauß gekauft, den er sich leisten konnte. In den letzten Jahren waren sie einander ein paar Mal zufällig über den Weg gelaufen. Sie hatten höflich Neuigkeiten ausgetauscht, sich Komplimente gemacht und weiter … nichts.

Seth hatte sich sehr um Iris bemüht. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, sprach sie direkt an und fragte: „Iris, werden wir jemals wieder Freunde sein?“

„Wir sind Freunde“, hatte sie erwidert.

„Ich meine echte Freunde. So wie früher.“

Das wollte sie nicht einmal in Erwägung ziehen. „Nein. Ich fürchte nicht.“

„Warum?“

Sie seufzte. „Weil du dich immer auf mich verlassen konntest, es sich aber herausstellte, dass ich umgekehrt nicht auf dich zählen kann. Für so eine Art Freundschaft stehe ich nicht mehr zur Verfügung.“

Jetzt war er wieder da. Die Polizei in dieser Stadt zu leiten würde harte Arbeit bedeuten. Mac hatte ihm gesagt, dass er sich darauf vorbereiten sollte, permanent in Rufbereitschaft zu sein, egal, ob er nun tatsächlich im Dienst war oder nicht. Möglich, dass sofort vier Deputys zur Verfügung standen, wenn sie in der Stadt gebraucht wurden. Vielleicht sogar ein ganzes Sheriff Department. Die Hauptverwaltung lag nicht so weit von Thunder Point entfernt. Doch als Supervisor durfte man ihn zu jeder Zeit anrufen, falls man ihn brauchte. Seth verstand. Er wusste, was ihn erwartete.

Neben der Arbeit hatte Seth noch zwei weitere große Projekte vor sich. Er wollte irgendwie mit seinem Vater Frieden schließen, und er wollte Iris zurückhaben. Er musste einen Weg finden, den beiden zu beweisen, dass er zwar ein unzuverlässiger, unbedachter Teenager gewesen war, inzwischen aber nicht mehr zu dieser Art von Männern gehörte.

Iris platzte an einem Samstagmittag gegen eins ins Diner und setzte sich an die Theke. Sie trug Laufhosen und – schuhe, eine Fleeceweste, ein langärmliges T-Shirt und eine Baseballmütze. Ihr dickes kastanienbraunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Warst du laufen?“, fragte Gina.

„So was in der Art. Ich will Spencer dieses Wochenende treffen, und er meinte, er sei den ganzen Tag da. Also dachte ich, dass ein Strandlauf in seine Richtung eine gute Idee wäre. Jetzt habe ich Hunger und träume von einem Sandwich mit Schinken, Tomaten und Salat. Dazu Pommes und ein Schokoladenshake.“

„Stu macht ein tolles Schinken-Tomaten-Salat-Sandwich mit Pommes“, erwiderte Gina. „Arbeitest du eng mit Spencer zusammen?“

„Es ist erst seine zweite Saison, aber wenn er mich eher als Freundin betrachtet und nicht als Beratungslehrerin, können wir die Footballmannschaft gut unterstützen. Wenn ich weiß, wo die Jungs schulisch stehen, kann ich mich um Nachhilfelehrer für sie kümmern, bevor jemand Schwierigkeiten wegen seiner Noten kriegt.“

„Bekommt ihr die Nachhilfelehrer von der Highschool?“

„Einige. Andere sind aus der Stadt. Scott übernimmt mindestens einen Schüler in Naturwissenschaften oder Mathematik. Ich kann mich auch um ein paar kümmern. Laine Carrington wird ebenfalls in einigen Bereichen als Nachhilfelehrerin einspringen, einschließlich Spanisch. Lou McCain unterrichtet Englisch in der Mittelstufe, also steht sie als Englisch-Nachhilfelehrerin ebenfalls zur Verfügung. Sie ist bereit, uns bei ein paar Schülern zu helfen. Und es beteiligen sich auch noch ein paar andere Leute. Manche von ihnen regt es ein bisschen auf, wie viel Aufmerksamkeit wir den Sportlern widmen, doch das ist deren Problem. Ich bin für alle Schüler da. Nachhilfelehrer gibt es überall. Sogar unter den Schülern. Ich hätte dich auch gefragt, doch frisch verheiratet und mit vier Kindern …“ Iris lachte. „Und natürlich habe ich die übliche Anzahl von Footballspieleranfragen nach schönen Mädchen. Ich fürchte, sie werden enttäuscht werden.“

„Haben die Jungen denn generell einigermaßen gute Noten?“, fragte Gina.

„Ja, doch mitunter muss nur ein schweres Fach dazukommen, um einen Spieler ins Aus zu torpedieren. Und wenn es eines gibt, das ich über Highschool-Jungs gelernt habe, dann, dass sie eher sterben würden, als jemanden um Hilfe zu bitten. Darum behalten wir die Noten sorgfältig im Auge. So sind Footballspieler, die Gefahr laufen, wegen ihrer schlechten Noten aus dem Team zu fliegen, viel besser auszumachen.“

„Wie bist du eigentlich dazu gekommen, Beratungslehrerin zu werden?“, erkundigte sich Gina.

„Ich dachte, dass ich etwas zu bieten hätte, weil ich es in der Highschool selbst nicht so leicht hatte. Vor allem mit den Mädchen.“

„Wegen der Noten?“

„Himmel, nein“, erwiderte Iris lachend. „Wegen anderer lebensnotwendiger, wichtiger Dinge – zum Beispiel so etwas wie Haare.“ Sie seufzte. „Ich war linkisch, nicht besonders beliebt, einsam … wie viele Mädchen. Und auch Jungen. Sogar Footballspieler.“

Das Glöckchen aus der Küche läutete, und Gina drehte sich um, um Iris ihr Sandwich zu holen. „Wo wir gerade von Footballspielern sprechen. Ein alter Footballstar ist wieder in der Stadt. Seth Sileski“, erzählte sie, nachdem sie zurück war.

„Hmm …“, murmelte Iris, die ihren ersten Bissen kaute. „Hörte ich bereits. Ich bin ihm zufällig beim Tanken begegnet.“

„Warst du während der Highschool nicht mal mit ihm zusammen?“

„Oh Gott, nein! Er war der beliebteste Junge der Schule. Der Ballkönig und der Star der Footballmannschaft. Er war mit den hübschen Mädchen zusammen.“ Sie biss noch einmal von ihrem Sandwich ab.

Gina lachte. „Bitte entschuldige Iris, aber du bist wunderschön.“

„Sei nicht albern. Inzwischen sehe ich vielleicht ein kleines bisschen besser aus als früher, aber damals? Uah. Seth und ich waren Nachbarn. Wir wuchsen Tür an Tür auf und waren miteinander befreundet. Ich half ihm in Englisch und Biologie und bei den Vorbereitungstests fürs College, was ihm vollkommen egal war, weil er für die Zukunft auf eine Footballkarriere setzte.“

„Wie lief denn sein Vorbereitungstest?“

Iris grinste. „Spitze.“

„Gut für dich! Große, doofe Sportler. Was wurde eigentlich aus seiner großartigen Footballkarriere? Es scheint, als ob sie ziemlich schnell wieder vorbei war.“

„Autounfall“, erklärte Iris kauend. „Er war ein gutes Jahr bei den Ducks und schmiss dann das College, um einen Profivertrag bei den Seahawks zu unterschreiben. Dort hat er eine Saison gespielt oder, besser gesagt, meistens zugeschaut, und dann hatte er einen ziemlich heftigen Autounfall. Das war das Ende seiner Footballkarriere.“ Iris biss noch einmal ab. „Wir versuchen, den jungen Spielern zu vermitteln, dass Bildung wichtig ist. Footballkarrieren sind leider sehr vergänglich. Und unvorhersehbar.“

„Ich hatte davon gehört, kannte allerdings keine Einzelheiten.“

„Soweit ich weiß, war es ein Unfall.“

„Und deshalb hinkt er jetzt und hat eine Narbe?“, fragte Gina.

Iris nickte. Sie spießte ein paar Pommes auf. „So schlimm hinkt er gar nicht“, meinte sie schließlich. „Er hat mir nie erzählt, was genau passiert ist.“

Aber Gwen Sileski hatte es erzählt. Sie hatte Rose und Iris alles über Seth erzählt. Er hatte sich die Knochen im rechten Bein gebrochen und etliche Nägel, Platten und Schrauben eingesetzt bekommen, damit das Bein gerettet werden konnte. Und das waren nicht die einzigen Verletzungen gewesen. Er hatte Riesenglück, dass er überhaupt noch lebte; doch sein rechtes Bein war leicht verkürzt. Seitdem trug er einen Keil im Schuh. Von Gwen wusste Iris auch, dass er zwar keine Schmerzen mehr hatte, aber viele Therapiestunden und Training nötig gewesen waren, um es so weit zu schaffen. Kaum vorstellbar, wie schwer die körperliche Polizeiprüfung für ihn gewesen sein musste.

„Diese Narbe … verleiht seinem Aussehen etwas Besonderes, findest du nicht auch?“, fraget Iris.

Gina lächelte. „Damit man Seth nicht mehr gern anguckt, wäre noch viel mehr als eine Narbe nötig.“ Sie strich sich mit dem Finger über eine unsichtbare Linie an der Wange.

„Ich weiß“, sagte Iris und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Erinnerst du dich daran, wie er in der Highschool ausgesehen hat? Was für ein Herzensbrecher.“

„Ich bin mit fünfzehn mal wegen so eines Herzensbrechers schwach geworden“, erinnerte Gina Iris. „Zu der Zeit meines Lebens waren sie überall. Aber ich gebe zu, dass ich nicht so sehr auf euch Jüngere geachtet habe. Ich erinnere mich besser an den Seth der letzten zehn oder zwölf Jahre, wenn er in die Stadt kam und manchmal auf einen Burger oder einen Kaffee hereinschneite. Gwen ist bestimmt begeistert, dass ihr Sohn zurück ist.“

„Ich glaube schon“, meinte Iris. „Hör zu, kannst du mir den Rest bitte einpacken? Ich glaube, ich kann nicht mehr.“

„Klar. Ich kann dir auch den restlichen Shake noch mitgeben.“

„Mit dem beschäftige ich mich noch ein bisschen. Erzähl mir doch ein wenig von deinem Eheleben und deiner neuen Familie, während du mir die Reste einpackst.“

„Das ist sehr kompliziert“, erwiderte Gina. „Wir haben zwei College-Neulinge, meine Tochter und Macs Tochter. Sie arbeiten beide nebenbei in Teilzeit und bewerben sich für die Uni im nächsten Frühling. Macs Terminplan wird sich durch die neue Stelle erheblich ändern. Er muss mindestens ein Jahr lang auch nachts arbeiten. Dann gibt es noch eine Elfjährige und einen Dreizehnjährigen, die beide in allen möglichen Clubs und Mannschaften Mitglied sind. Außerdem nehmen sie an allen möglichen Kursen teil. Das heißt viel Fahrerei. Meine College-Mädchen helfen mir zwar sehr viel, doch ihre Zeit ist wegen des Studiums und ihrer Nebenjobs begrenzt. Aber das Leben als Mrs. Mac?“ Sie schenkte Iris ein breites Lächeln. „Ich wusste nicht, dass ich so glücklich sein kann.“

Iris schlürfte den Rest des Shakes mit dem Strohhalm aus dem Becher. „Du hast dir viel Zeit gelassen, den richtigen Mann zu finden.“

„Ich weiß. Oder er hat sich viel Zeit gelassen. Wen kümmert das jetzt noch? Mac war es wert, dass ich so lange auf ihn gewartet habe. Bist du eigentlich mit jemandem zusammen, Iris?“

„Im Moment nicht. Es hat ein paar Männer gegeben, von denen ich dachte, dass sie das Potenzial hätten. Aber am Ende zog ich meine eigene Gesellschaft dann doch vor.“ Iris stand auf und griff nach ihrer Geldbörse, während Gina ihr den Rest des Sandwiches und die Pommes fertig machte.

„Und die Gesellschaft deiner Highschool-Schüler“, neckte Gina sie.

„Sie halten mich auf Trab. Aber ich gucke nach einem etwas älteren, gesetzten Modell. Sagen wir um die fünfunddreißig, Single, sexy und wirklich an mir interessiert …“

Wie aufs Stichwort betrat Seth Sileski den Raum. Der heiße Seth. Hohe Wangenknochen, kantiges Kinn, Schlafzimmerblick, weiße Zähne und eine dünne Narbe, die quer über seine Wange verlief. Iris öffnete überrascht den Mund, und Gina lachte nur.

„Hallo Ladies“, begrüßte er sie und nahm den Hut ab. „Iris, wie stehen die Chancen, dass du dich von mir zum Kaffee einladen lässt?“

„Tut mir leid. Ich habe es eilig. Ich habe noch ein paar Dinge vor, die keinen Aufschub dulden. Eigentlich bin ich schon jetzt zu spät dran.“ Hastig schnappte sie sich die Schachtel mit den Resten ihres Sandwiches. „Danke Gina. Wir sehen uns.“

„Warum hast du es immer genau dann wahnsinnig eilig, wenn wir uns treffen?“, fragte Seth.

„Ist bestimmt nur ein Zufall. Nächstes Mal, Seth. Ich muss jetzt los.“ Sie lächelte ihn an und marschierte schnurstracks auf den Ausgang zu. Dann verschwand sie im Jogging-Tempo die Straße hinunter.

Warum? fragte sie sich. Warum zum Teufel muss er ausgerechnet hierher zurückkehren? Ist das die Idee eines Racheengels, der mir einen langsamen und qualvollen Tod wünscht? Was habe ich bloß getan, um das zu verdienen?

Hatte sie in der Highschool nicht schon genug durchgemacht?

2. Kapitel

Iris war schon seit ihrem vierten Lebensjahr in Seth verliebt. Als sie sechs gewesen waren, hatte er sie einmal geküsst, und sie hatte ihn gehauen. Schon damals wusste sie, dass sie ihn für immer lieben würde. Als die anderen Kinder sie ausgelacht hatten, weil sie nach einer Blume benannt worden war, hatte Seth sie verteidigt. Er hatte Robbie Delaney geboxt, als der gesagt hatte, Iris sähe aus wie eine Nebelkrähe. Natürlich hätte sie Robbie sonst selbst verhauen, aber es war dennoch schön, dass Seth sie verteidigt hatte. Wenn ihr lockiges Haar auf der einen Seite platt am Kopf anlag und auf der anderen total abstand, machte sich Seth zwar darüber lustig, entschuldigte sich aber auch gleich darauf wieder bei ihr. Sie spielten oft Vater, Mutter, Kind – bis seine älteren Brüder ihn einmal dabei ertappten und ihn damit aufzogen. Danach wollte Seth entweder nur noch Astronaut oder Außerirdischer sein.

Als sie älter waren, nicht sehr viel älter, halfen sie in den familieneigenen Betrieben mit. Seth an der Tankstelle und Iris im Blumenladen, den ihre Mutter ganz allein führte. Seth half ihnen manchmal bei den schweren Aufgaben, wenn er sich von der Sileski Tankstelle, wo alle Söhne von Norm ihre Pflichten hatten, freimachen konnte. Von seinen Eltern wusste er, dass Rose nicht viel mit ihrem Blumengeschäft verdiente. Deshalb lehnte er es ab, sich von ihr bezahlen zu lassen. Er brachte ihr regelmäßig den Müll weg, obwohl täglich mindestens eine Tonne Müll anfiel. Aber er schwang auch den Feudel, putzte Regale, lieferte Blumen mit seinem Fahrrad aus. Manchmal half er Iris sogar, Sträuße zu binden. Doch er achtete immer darauf, dass ihn niemand dabei sah. Außerdem behauptete er immer, dass er Iris nur half, damit sie schneller Doom oder Super Mario spielen konnten.

Später, in der Highschool, behauptete er, wann immer er bei ihnen aushalf, dass er Iris schneller loseisen wollte, damit sie ihm bei den Hausaufgaben helfen konnte. Sie war ihm in der Schule immer etwas voraus. Als sie im zweiten Jahr der Oberstufe waren, kam Iris nicht in die Cheerleader-Gruppe. Sie war am Boden zerstört. Seth ließ sie sich bei ihm ausweinen. Ihre Tränen erschütterten ihn ziemlich, denn Iris weinte sonst fast nie. Nicht einmal, wenn sie einen Softball ins Gesicht bekam!

Der Familie Sileski ging es finanziell sehr gut. Blumenläden in kleinen Städten waren nicht gerade gute Einnahmequellen. Benzin dagegen brauchte jeder. Blumen galten eher als Luxus. Außerdem gab es in der McKinley-Familie keine Männer … bis auf Seth. Er mähte das Gras und war derjenige, den man rief, wenn etwas Schweres getragen, bewegt oder hochgehoben werden musste. Da Gwen und Rose beste Freundinnen waren, freuten sie sich, dass Seth hin und wieder aushalf.

Iris war der Mensch, mit dem Seth alles besprach. Seine Brüder hatten nicht viel Zeit für ihren Baby-Bruder, außer wenn sie vor Stolz beinahe platzten, weil er großartig Football spielte. Seth und Iris gingen den Weg zur Schule nie gemeinsam – und auch während der Unterrichtszeiten blieben sie mit ihren gleichgeschlechtlichen Freunden zusammen. Sie waren nur Freunde. Gute Freunde und Nachbarn. Abgesehen von der Schule und Seths unzähligen Verabredungen und Trainingsstunden verbrachten sie viel Zeit miteinander. In der Oberstufe hatte Iris mehr Freundinnen als üblich gehabt, weil Seth neben ihr wohnte und alle Mädchen scharf auf ihn waren. Seth hatte seine Kumpel, aber wenn es um vertrauliche, wichtige Dinge ging, vertraute er sich Iris an. Er erzählte ihr selbstverständlich auch alle möglichen Dinge über Mädchen, für die er schwärmte, und bat Iris andauernd um Rat. Manchmal arrangierte er sogar Doppelverabredungen – eine ganz besondere Qual für Iris.

Dann, im Frühling ihres letzten Oberstufenjahrs, als Seth Sassy zum Prom eingeladen hatte, hatten er und Sassy eine kleine Krise. Sue Marie Sontag – allen als Sassy bekannt, weil sie so frech war – hatte Seth betrogen. Sie war mit Robbie Delaney ausgegangen und hatte sich von ihm an die Brüste fassen lassen. Anschließend stritten sich Seth und Sassy wie verrückt und machten Schluss miteinander.

Seth war vor Schmerz und Wut am Boden zerstört. Er landete auf einer Party, wo er seinen Kummer mit ein paar Bier hinunterspülte. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Durch einen wundersamen Zufall war Iris auch auf dieser Party. Normalerweise lud man sie nicht auf coole Partys ein. Sie hatte nichts getrunken. Nicht weil sie eine Spaßbremse gewesen wäre, sondern weil sie Angst davor hatte, was die coolen Mitschüler mit ihr anstellen könnten, wenn sie betrunken war. Darüber hatte sie eine Menge wilder und beängstigender Geschichten gehört.

Doch Seth taumelte auf der Party herum und brabbelte die ganze Zeit, dass Sassy ihn betrogen und verlassen hatte. Als er fiel, half seine gute alte Freundin Iris ihm auf. „Lieber Himmel, du bist schrecklich“, hatte sie gestöhnt. „Komm, ich bring dich hier weg. Du bist komplett dicht.“

Sie lud ihn in den Lieferwagen des Blumenladens ihrer Mutter. „Ich kann noch nicht nach Hause. Sonst krieg ich Ärger“, murmelte Seth.

„Ja, weil du sternhagelvoll bist. Sehr schlau.“

Im Wagen schüttete er ihr dann sein Herz aus. Er konnte einfach nicht glauben, was Sassy ihm angetan hatte. Dass sie mit einem anderen Jungen ausgegangen war und sich von ihm hatte betatschen lassen. Und dann war der Typ auch noch jemand, den Seth bis dahin für einen Freund gehalten hatte!

Iris konnte nicht glauben, dass Seth nicht gewusst hatte, dass Sassy die Schülerin in der Oberstufe war, die sich am häufigsten die Brüste betatschen ließ.

Seth war völlig betrunken und Iris hatte ihm, wie üblich, den Arsch gerettet. Sie war mit ihm zur Lieblingsstelle vieler Jugendlicher gefahren. Einem Aussichtspunkt in der Nähe vom Highway 101, wo man ungestört knutschen konnte. Dort hatte sie den Wagen mit dem Firmenlogo geparkt und ihm zugehört, wie er sich über sein Pech bei den Mädchen beklagte.

Bis sich plötzlich etwas verändert hatte.

„Warum sind wir beide nicht zusammen, Iris? Wir würden uns so etwas niemals antun. Du bist sowieso das einzige Mädchen, das ich je geliebt habe. Du bist jedenfalls das einzige Mädchen, an das ich je geglaubt habe und dem ich je vertraut habe. Du warst schon immer meine beste Freundin. Ich gehe mit dir auf den Ball. Das hätten wir sowieso von Anfang an machen sollen.“

Er kuschelte sich an sie. Kurz schoss Iris durch den Kopf, ihn von sich wegzuschubsen. Aber es war das erste Mal, dass er etwas ihrer Meinung nach Vernünftiges zu diesem Thema gesagt hatte. Sie waren tatsächlich schon immer beste Freunde gewesen. Schon immer besser miteinander ausgekommen als mit irgendjemand anderem. Und sie würden einander tatsächlich niemals hintergehen. Wenn sie zusammen zum Prom gehen würden, müsste Seth sich keine Gedanken machen, ob sie mit anderen Jungs flirten, knutschen oder herummachen könnte. Sie hätten viel Spaß. Und sie würde ihn die ganze Nacht zum Lachen bringen. Natürlich wusste sie nicht, ob sie sich ein Kleid für den Ball leisten konnte. Aber darum würde sie sich später kümmern. Seth, die Liebe ihres Lebens, hatte ihr endlich gesagt, dass er ebenso empfand wie sie. Iris wusste, dass sie die Richtige für ihn war. Endlich.

Er hatte sie geküsst. Nicht nur auf den Mund, sondern richtig. Iris erbebte. Dann war Seth im wahrsten Sinne des Wortes auf sie geklettert, doch das Lenkrad war ihnen im Weg gewesen.

„Komm“, hatte er gemeint und sie vom Fahrersitz auf den Beifahrersitz gezogen. Er machte ihr Platz, griff nach unten, um Rücksitz und Rücklehne so weit wie möglich nach hinten zu verstellen. Als sie lagen, gab er ihr noch einen heißen, feuchten und wundervollen Kuss, während er mit den Händen überall gleichzeitig zu sein schien. Er drängte sich ihr entgegen, und es fühlte sich alles so gut an, dass sie beinahe instinktiv ihre Hüften gegen ihn presste.

Für einen Moment überlegte sie, ihn aufzuhalten. Sie sollte ihm sagen, dass er betrunken war. Doch dieses Gefühl in ihrem Inneren erfüllte ihren ganzen Körper, und sie ließ sich von ihrem Verlangen überwältigen.

„Du bist die einzig Wahre für mich“, flüsterte er und küsste ihren Hals und ihre Schultern, schob ihre Bluse zur Seite, um den Ansatz ihrer Brüste küssen zu können. Sie wusste noch, dass er als Nächstes ihre Brustwarzen leckte. Dann nahm er sie in den Mund und brachte Iris völlig um den Verstand. Bis zu diesem Augenblick hatte sie absolut keine Ahnung von der magischen Wirkung ihrer Brüste gehabt. Es war ihr vorgekommen, als ob ein straff gezogener Seidenfaden ihre Brustspitzen mit ihren intimsten Stellen verband. Fantastisch!

Iris war noch nie mit einem Jungen so weit gegangen. Sie wusste, dass sie im Vergleich zu anderen Mädchen in dieser Hinsicht etwas hinterherhinkte. Sie war nicht oft mit Jungen zusammen gewesen – und schon gar nicht mit jemandem, der sich mit Seth vergleichen ließe. Sie würde diesen Abend, an dem der Junge, den sie seit Jahren liebte, endlich bemerkt hatte, dass sie füreinander geschaffen waren, nie vergessen.

Seth hatte an ihrer Shorts herumgenestelt und versucht, ihre Hose zu öffnen. Iris war nicht ganz sicher, ob ihm wirklich klar war, was er vorhatte. Sie dachte, dass er nur mit der Hand in ihren Slip gleiten wollte, obwohl sie lieber mit den wunderbaren Trockenübungen weitergemacht hätte. „Komm, Liebes“, raunte er und küsste sie wieder. „Ich brauche dich.“

Iris war immer für Seth da. Sie ging mit ihm durch dick und dünn. Wenn er sie brauchte, war sie da. Sie erwiderte seinen Kuss und spürte, wie er ihr die Shorts herunterzog. Und die Unterwäsche gleich mit. Dann fühlte sie ihn. Fühlte, wie er sich forschend gegen sie drückte. Schließlich stöhnte er und sagte Dinge wie Oh Gott und Oh, du lieber Gott und oh, oh, oh Gott … Dann erbebte er keuchend und erschlaffte ein wenig.

Er brauchte lange, bis er sich wieder erholt hatte, aber dann strich er ihr über die Wange, küsste sie süß auf den Mund und richtete sich auf. Er stützte sich mit einem Knie am Fahrersitz ab und zog sich die Hose hoch. Nachdem sie wieder in ihre Shorts geschlüpft war, half er ihr und machte ihr Platz, damit sie wieder auf den Fahrersitz klettern konnte. Sobald sie über die Mittelkonsole gekrabbelt war, fing sie an, ihre Kleidung zu ordnen. Dabei hatte sie gemurmelt: „Wow, ich kann nicht glauben, dass wir das getan haben. Ohne Gummi oder so was. Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“

Dass sie weitermurmelte, was ihr durch den Kopf schoss, war Ausdruck ihrer Freude darüber, dass Seth dasselbe für sie empfand wie sie für ihn. Sie hätte gern noch mehr Küsse und Streicheleinheiten von ihm genossen.

Iris rückte sich die Shorts zurecht, knöpfte sich die Bluse zu und schaute Seth an. Er schlief.

Iris wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken und Seth endgültig aus ihren Gedanken verbannen. Sie rief Grace an. „Hast du Lust, mit mir nach North Bend zu fahren? Vielleicht tanzen gehen?“

„Erstens wäre ich nicht einmal, wenn du mich an Marionettenfäden halten würdest, in der Lage zu tanzen. Zweitens bin ich schon den ganzen Tag auf den Beinen und habe Blumen für eine Hochzeit in Bandon ausgeliefert. Für zwei Hochzeiten. Außerdem wirken zwei Frauen an einem Samstagabend in einer Bar, als wollten sie sich abschleppen lassen. Oder sie werden irrtümlich für ein Pärchen gehalten.“

„Ich habe nicht grundsätzlich etwas dagegen, mich abschleppen zu lassen“, sagte Iris.

„Ich schon“, erwiderte Grace. „Bist du heute Abend ein bisschen kribbelig?“

„Ich würde einfach gern etwas unternehmen. Das ist alles. Du warst auch schon mal unternehmungslustiger.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, dass du vielleicht eher etwas weniger unternehmungslustig warst.“

Grace hatte den Blumenladen komplett umgebaut. Sie hatte Dinge getan, an die Rose nie auch nur im Ansatz gedacht hätte. Sie hatte in den benachbarten Städten Gutscheine verteilt und Anzeigen im Internet geschaltet. Außerdem hatte sie eine PR-Firma aus North Bend mit der PR für ihren Laden beauftragt. Von einem Blumenhändler, für den sie früher in Portland gearbeitet hatte, bekam sie eine tolle Produktmappe. Und seit sie ein paar Hausfrauen als Teilzeitkräfte eingestellt hatte, war sie außerdem in der Lage, auch große Veranstaltungen mit Blumen zu beliefern. Iris freute sich, dass Grace und nicht sie den Blumenladen betrieb. Aber Erfolg machte auch müde.

„Ich sag dir mal, an was ich so denke“, erklärte Grace. „Ich gehe jetzt mit dir zu Coopers, wo wir etwas trinken und uns den Sonnenuntergang ansehen. So viele späte Sonnenuntergänge werden wir in diesem Jahr nicht mehr zu sehen bekommen …“

„Es ist doch erst September!“, warf Iris ein.

„Ich bin aber schon dabei, mir Blumengestecke für den Herbst auszudenken und einen Weihnachtskatalog zusammenzustellen. Ehe du dich versiehst, geht die Sonne um halb fünf unter, und ich stehe immer noch im Geschäft. Wenn du willst, fahre ich auf dem Nachhauseweg bei Cliff vorbei und hole eine Muschelsuppe. Aber verlang nicht von mir, tanzen zu gehen!“

„Du bist ein Weichei! Ich bin heute gelaufen und alles.“

„Sieht so aus, als wärst du nicht genug gelaufen …“

Sie gingen zu Coopers an den Strand. Das war vermutlich ohnehin besser. Coopers Strandbar war lässig und entspannt. Ihr Lehrerkollege Troy Headly von der Highschool, mit dem sie eine kurze Beziehung gehabt hatte, stand hinter der Theke. Er arbeitete nebenbei als Teilzeitkraft für Cooper. Troy erzählte ihnen, dass Cooper nicht da war, weil die Oregon Ducks heute gegen Kalifornien spielten. Er war mit Sarah zum Spiel nach Eugene gefahren. In der Strandbar war es zwar voll, aber nicht hektisch. Für einen Samstagabend war es sogar ziemlich ruhig. Iris und Grace saßen an der Theke und behielten die Terrasse im Auge. Sie waren bereit, jederzeit aufzuspringen, um einen Tisch zu ergattern, sobald einer frei wurde. Als ihr Wein kam, stupste Grace sie plötzlich an. Sie stürmten zu einem leeren Tisch.

Als sie draußen saßen, stützte Iris die Füße am Terrassengeländer ab und lächelte. „Ich frage mich, was arme Leute machen.“

Grace lachte. „Sie trinken ein Glas Wein bei Coopers.“

Grace war ziemlich jung für eine selbstständige Ladenbesitzerin. Sie hatte vorher für einen bekannten Floristen gearbeitet. Als sie eine kleine Erbschaft ausgezahlt bekam, hatte sie sich nach einem eigenen Laden umgesehen. Es war für eine so junge Frau ein ehrgeiziges und riskantes Unternehmen, ihr gesamtes Kapital dafür einzubringen. Doch Grace wusste, was sie tat. Sie hatte vorher schon einmal ein Geschäft geführt, inklusive Buchhaltung, Einkauf und Verwaltung aller Verträge. Sie sparte Geld, um den kleinen Raum über dem Laden in eine kleine Wohnung für sich umzuwandeln. Iris war sehr froh, dass Grace ihr den Laden abgekauft hatte. Die beiden Frauen hatten sich beinahe auf Anhieb miteinander angefreundet. Sie verband eine Menge Gemeinsamkeiten: Beide nahmen ihre jeweilige Arbeit sehr ernst, gingen nicht oft mit Männern aus und lebten allein und ohne Familie.

Thunder Point war Iris’ Familie. Die Kinder, für die sie verantwortlich war, waren ihre Kinder.

Sie genoss es, eine Freundin zu haben, mit der sie auch schweigen konnte. Grace war beinahe so etwas wie eine Schwester für sie. Sie sprachen nur wenig, während die Sonne hinter dem Horizont versank. Höchstens hier und da mal eine Bemerkung über die Woche und ihre besonderen Herausforderungen. Und wie schön sich der Sonntag anfühlen würde. Zufrieden betrachteten sie die rotorange Sonne, den Ozean und die großen Felsen vor ihnen. Dann wurde der Himmel allmählich dunkel.

„Wie sieht es mit Abendessen aus?“, fragte Grace.

„Hab nicht so viel Hunger“, erwiderte Iris. „Eine Suppe bei Cliff reicht mir.“

„Und was hältst du von noch einem Glas Wein und einer von Carries Pizzen? Cooper hat noch ein paar im Kühlschrank. Troy könnte sie uns im Ofen aufbacken.“

„Auch gut“, antwortete Iris.

„Ich hol uns noch ein paar Tortilla Chips mit mexikanischer Salsa und noch einen Wein. Hey, ist das nicht unser Neuer?“

Unten am Strand joggte jemand an der Brandungszone entlang. Das war er. Seth. Was machte er dort? Er wohnte doch gar nicht hier. Und doch war es ganz eindeutig Seth. Iris erkannte ihn an seinem hellen Haar und der leichten Rechtsneigung wegen seines Hinkens. Er trug eine eng anliegende Laufhose und ein ärmelloses T-Shirt. Um die Hüften hatte er eine Jacke geschlungen.

„Ja, ich glaube, das ist er“, beantwortete sie Graces Frage.

„Ich bin gleich zurück“, sagte Grace.

Also ist er zum Joggen hier, dachte Iris. Welch unglaubliche Hingabe und Disziplin es erfordern musste, die körperliche Fitness trotz der Probleme mit dem Bein zu erhalten. Seth war Polizist. Er durfte nicht der Langsamere oder Schwächere sein. Dem Aussehen seiner Arme und Schultern nach zu urteilen, bestand sein Training nicht nur aus Laufen. Er war so bildschön.

In der Nähe seiner Wohnung in Bandon gab es offenbar keine so gute Laufstrecke. Seth erreichte den Anleger direkt unterhalb von Coopers Strandbar. Iris erwartete eigentlich, dass er sich umdrehen und zurück in die Stadt joggen würde. Aber nein. Die Hände in die Hüften gestützt, lief er noch ein wenig im Kreis, um sich abzukühlen. Dabei schaute er zur Terrasse hoch und lächelte.

Mist! dachte sie. Gibt es denn keinen Gott da draußen? Was zum Teufel soll das? Seth ging noch ein wenig hin und her, während er sich mit einem Handtuch, das er sich um den Nacken geschlungen hatte, das Gesicht abtrocknete. Und natürlich kam er anschließend die Treppe hoch. Als er die Terrasse betrat und Iris’ Tisch ansteuerte, kehrte Grace mit einem Glas Wein für Iris und einer Tüte Nachos aus der Bar zurück.

„Hallo, Seth“, begrüßte sie ihn.

„Hallo, ihr beiden. Ist der Stuhl besetzt?“, fragte er und deutete auf einen Stuhl an ihrem Tisch.

„Nein, bitte setz dich zu uns. Kann ich dir etwas aus der Bar mitbringen, wo ich schon mal auf den Beinen bin?“

„Wasser wäre toll, danke.“

Grace verschwand erneut. Iris runzelte die Stirn und sah ihn missbilligend an. Was sie wirklich ankotzte, war, dass Seth sie anlächelte. Es war genau das Lächeln, an das sie sich erinnerte. Sein „unwiderstehliches“ Lächeln.

Grace brachte das Wasser, stellte noch etwas mexikanische Salsa auf den Tisch und verschwand noch einmal. Seth zog sich die Jacke über.

„Ich glaube nicht, dass es dir gelingen wird, Iris“, sagte er.

„Was?“

„Mich die ganze Zeit zu meiden. Mir aus dem Weg zu gehen. So zu tun, als hättest du woanders etwas Wichtiges zu tun oder Verabredungen, zu denen du sonst zu spät kommst. Deine ganzen Ausreden. Früher oder später wirst du mit mir reden müssen.“

„Oh, hat dir noch niemand erzählt, dass ich umziehe?“

Seth lachte schallend, öffnete die Wasserflasche und stürzte die Hälfte mit wenigen Schlucken hinunter. „Nein, hat niemand erwähnt.“

„Bist du eigentlich immer überall?“, fragte sie ihn. „Du wohnst nicht hier! Was machst du also an einem Samstagabend hier? Warum rennst du am Strand herum?“

„Ich musste heute noch ziemlich viel Papierkram erledigen und habe meine Laufsachen mitgenommen. Ich wollte mal sehen, was abends so am Strand los ist – an einem Samstagabend.“

„Nach den Spielen bevölkern üblicherweise die Kids den Strand“, informierte sie ihn, als ob er sich nicht selbst daran erinnerte.

„Ich weiß. Ich habe mir das gestern Abend von Coopers Parkplatz aus angesehen. Kam mir alles ziemlich vertraut vor. Und ziemlich harmlos. Wenn ich mich richtig erinnere, war jeder Abend, an dem wir nicht arbeiten oder lernen mussten, Partyabend.“

„Du hast also beschlossen, sie auszuspionieren.“

„Na ja, ich dachte, ich sehe mir einfach alles einmal an. Und sorge dafür, dass sie mich sehen – nicht weit weg, für den Fall, dass jemand Hilfe braucht. Iris, wir müssen über diesen Groll sprechen, den du jetzt schon seit über fünfzehn Jahren gegen mich hegst.“

Sie beugte sich zu ihm. „Zwei Dinge, Deputy. Erstens – wir haben bereits einige Male darüber gesprochen. Und zweitens – ich hege überhaupt nichts. Ich kümmere mich bloß um meine eigenen Angelegenheiten.“ Sie griff sich einen Nacho und zerbiss ihn. Krachend.

„Quatsch. Du vergisst, dass ich dich gut kenne. Es braucht ziemlich viel, um dich wirklich zu verärgern, und du bist jetzt schon seit dem Abschlussball stinksauer auf mich. Dabei habe ich dir schon mindestens hundert Mal gesagt, dass es mir leidtut. Ich war ein blöder unsensibler Teenager und bereue wirklich sehr, dass ich deine Gefühle verletzt habe. Ich hatte keine Ahnung, was mich das später kosten würde. Oder dich, wenn man es so betrachtet.“ Er trank sein Wasser aus.

Iris sah hinter ihm Grace, die auf einem Barhocker an der Bar saß und mit Troy über irgendwas lachte. Vermutlich gab sie Iris Zeit, um sich mit Seth auszusprechen, während sie auf ihr Essen wartete. Grace wusste von der Sache mit dem Abschlussball und dass Iris stinkwütend auf Seth war. Sie wusste aber trotzdem nicht alles.

„Ich weiß nicht, was Mädchen mit dieser Prom-Nacht haben“, fuhr Seth fort. „Du warst absolut verrückt. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass du so ein Mädchen sein kannst. Schluchzend und nachtragend. Sonst hast du mich verhauen, Herrgott noch mal.“

„Da habe ich mich wohl für das Falsche entschieden“, murmelte sie und hob ihr Weinglas.

Er grinste. „Ich bin jetzt Gesetzeshüter, Ma’am. Passen Sie auf, welche Drohungen Sie aussprechen.“

„Warum bist du heute Abend nicht mit einer dünnen Blondine unterwegs? Wie sonst auch?“

„Ich glaube nicht, dass ich hier in der Gegend so jemanden finde. Wohnt Sassy immer noch in der Stadt?“

„Ja. Brauchst du mich, um dich mit ihr in Verbindung zu setzen?“

„Nein danke“, erwiderte er. „Sie ist nie weggezogen? Das überrascht mich. Sie wollte eigentlich weg. Wie geht es ihr so?“

Iris trank einen Schluck Wein. „Sieht so aus, als hätte sie ein paar Kilo zugenommen.“

„Das freut dich bestimmt.“

„Und sie hat einen Zahn verloren“, ergänzte sie und deutete auf einen ihrer vorderen Schneidezähne. „Hier.“

Seth legte den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass die Leute sich nach ihm umdrehten.

„Hör auf!“, zischte Iris ihn an. „Du machst dich zum Deppen!“

„Du hasst sie also immer noch? Ich fühle mich geehrt.“ Er stieß seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Ich glaube, ich hole mir ein Bier und bestelle mir eine dieser kleinen Pizzen.“

„Musst du nicht nach Hause?“

Er schüttelte grinsend den Kopf, verschwand an die Bar, schnappte sich ein Bier und kehrte insgesamt viel zu schnell wieder zurück. „Du bist offensichtlich noch nicht bereit, deine Wut zu begraben. Aber du warst wirklich gut zu meiner Mom. Eine gute Nachbarin und Freundin. Rose zu verlieren, war für sie vermutlich fast so schlimm wie für dich. Deshalb ist sie sehr dankbar, dich in ihrem Leben zu wissen, und ich bin es auch. Wenigstens hat sich deine Wut nicht auf sie übertragen. Danke dafür.“

„Deine Mom ist wunderbar. Ich habe sie sehr gern.“

„Das ist sehr nett, Iris“, sagte Seth ernst. „Ich habe übrigens noch ein Anliegen. Ich würde gern zusammen mit dir überlegen, ob wir nicht ein paar Spezialprogramme für die Highschool entwickeln können. Ein paar Ideen dazu habe ich schon.“

„Ich erwarte von dir nur, dass du mich wissen lässt, wenn es an meiner Schule Ärger gibt. Ich tue dasselbe. Wir zeigen vor den Abschlussbällen und den Prüfungen keine dieser grauenhaften Filme von schrecklichen Autounfällen mehr. Du weißt schon, diese schrecklichen Sachen als Versuch, den Kindern irrsinnige Angst einzujagen, damit sie nicht trinken, bevor sie mit dem Auto fahren und so …“

„Das entspricht nicht dem, was mir vorschwebte.“

„Was schwebte dir denn so vor?“

„Vielleicht ein paar wahre Geschichten darüber, wie man im Leben erfolgreich wird. Wie man es schafft, nicht schon vor dem einundzwanzigsten Lebensjahr tot oder verkrüppelt zu sein. Wie man jeden Tag Spaß am Leben hat? Wie man in drei einfachen Schritten Millionär wird? Nein, im Ernst, wenn ich erst einmal weiß, womit ich ihre Aufmerksamkeit errege, kann ich sie, glaube ich, auch fesseln.“

Iris entspannte sich ein wenig. „Ich würde mir Ihre Vorschläge gern einmal anhören, Deputy.“

„Schön“, sagte er. „Und ich würde gern versuchen, mich mit dir zu versöhnen.“

„Das ist nicht nötig.“

„Ich würde es aber trotzdem gern versuchen“, beharrte Seth. „Was brauche ich dafür, Iris?“

„Ein Wunder“, antwortete sie trocken.

Er verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. „Dann mache ich mich gleich an die Arbeit.“

Grace kehrte mit Troy zurück, der zwei Pizzen trug. „Deine Pizza ist in einer Minute fertig, Seth“, verkündete er.

Als sie zu dritt am Tisch saßen, drehte sich ihre Unterhaltung um eher allgemeine Themen. Troy kam mit Seths Pizza und einem Bier für sich selbst an ihren Tisch. Zu viert erzählten sie sich Geschichten über die Stadt, die Einwohner, alte Zeiten und die Gegenwart. Troy genoss es, sich lustige Geschichten aus Iris’ Kindheit anzuhören. Es war ziemlich eindeutig, dass er in sie verliebt war. Nach kaum zehn Minuten lachten sie miteinander, als ob sie schon ein Leben lang miteinander befreundet wären. Sie lachten beinahe Tränen.

Später im Bett weinte Iris zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie weinte um alles, was sie verpasst hatte, alles, was sie verloren hatte, und alles, was ihrer Meinung nach unerreichbar für sie war.

Sie hatte Seth so vermisst.

An jenem bedeutenden Freitagabend hatte Iris ihren Freund Seth um kurz nach Mitternacht geweckt und nach Hause gebracht. Er bedankte sich bei ihr fürs Fahren und verschwand im Haus. Sie hatte etwas mehr als nur ein „Gute Nacht“ erwartet, es aber dabei belassen. Immerhin war Seth angeschlagen. Aber etwas später hatte sie ihre Mutter geweckt und sich zu ihr aufs Bett gesetzt, um ihr zu erzählen, dass Seth mit seiner Freundin Schluss gemacht und sie zum Abschlussball eingeladen hatte.

„Als Freunde?“, hatte Rose gefragt.

Wenn deine Mutter und dein Freund sich sehr mögen und man gewissermaßen Tür an Tür wohnt, musste man, wie Iris in jenem Augenblick erkannte, sehr vorsichtig sein.

„Vielleicht ein bisschen mehr“, erwiderte sie und blickte schüchtern zu Boden. Schüchtern war kein Wort, mit dem man Iris üblicherweise in Verbindung brachte, da sie in der Highschool gelernt hatte, ihre Komplexe zu kompensieren. Sie war in der Lage, ein Selbstvertrauen vorzutäuschen, das sie gar nicht wirklich hatte.

Iris wusste, dass Rose es sich eigentlich nicht leisten konnte, ihr ein Kleid für den Ball zu kaufen. Doch das Fest stand vor der Tür und Pretty Petals war sonntags geschlossen. Also fuhren sie so früh wie möglich los. Sie wollten sich einfach nur umsehen, um zu entscheiden, ob sie wegen der größeren Auswahl nach North Bend fahren mussten. Doch sie fanden sofort etwas Passendes und verliebten sich in das Kleid. Iris hätte nicht gedacht, dass sie jemals etwas finden würde, in dem sie sich nicht fett oder blass oder blöd vorkam. Mit diesem Kleid war das anders. Es war dunkelrot und schmal geschnitten, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, das ihre Größe ein Vorteil war. Es kostete sie jedes Quäntchen Willenskraft, um nicht sofort nach nebenan zu laufen, um Seth davon zu erzählen.

Als sie am Montag in die Schule kam, konnte sie ihr Strahlen kaum verbergen. Die Bücher an die Brust gedrückt, marschierte sie direkt auf Seth zu, der an seinem Spind stand.

„Hallo“, begrüßte sie ihn.

„Iris! Du wirst es nicht glauben. Sassy und ich sind wieder zusammen! Wir haben lange geredet und beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Also – wir gehen zusammen zum Ball.“

Iris erstarrte. Sie öffnete erschrocken den Mund. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

„Was ist?“, fragte Seth. „Ich meine, sie hat schon ein Kleid und alles. Und sie möchte wirklich eine zweite Chance.“

„Erinnerst du dich nicht?“, fragte sie leise, bevor sie es verhindern konnte. „Du erinnerst dich nicht!“

„Was ist?“, wiederholte er.

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