2. Kapitel
Sowie Leslie Petruso vor der kleinen Bar im Ort geparkt hatte und hineingegangen war, fühlte sie sich etwas besser, etwas sicherer. Ihr gefiel, wie es hier aussah, so als würde der Raum sie zu einem einfacheren Leben einladen. Das war alles, was sie wollte, wirklich … etwas, das weniger kompliziert war. Sie musste nicht lange am Tresen warten, als auch schon ein großer, gut aussehender Barkeeper lächelnd vor ihr stand. „Was kann ich Ihnen bringen, Miss?“
„Wie sieht es mit einem Glas Merlot aus? Ich bin hier verabredet, aber wie ich sehe, ist er noch nicht da.“
Sofort wurde ihr der Wein serviert. „Jemand, den ich kenne?“, fragte der Barkeeper.
„Vielleicht. Paul Haggerty.“
„Einer meiner besten Freunde. Vor langer Zeit haben wir zusammen im Irak gedient. Ich bin Jack“, sagte er und reichte ihr die Hand.
„Hallo. Ich bin Leslie.“
„Sie sind mit Paul befreundet?“
„Das will ich hoffen. Er war mal mein Boss in Grants Pass. Einer von mehreren, sollte ich wohl sagen. Ich war Büroleiterin bei der Haggerty Construction.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen! Sind Sie zu Besuch hier?“
„Falls Paul es sich nicht anders überlegt hat, bin ich eigentlich hier, um als seine Sekretärin zu arbeiten. Büroleiterin. Was immer er braucht.“
„Also wirklich, es wurde ja auch Zeit, dass er noch jemanden einstellt! Seine Firma wächst immer weiter, denn er hat sich hier einen echt guten Ruf verschafft.“
„Sie sind die besten, die Haggertys.“
„Und wenn man vom Teufel spricht“, sagte Jack und wies mit dem Kinn zur Tür.
Lächelnd drehte sie sich um und erblickte Paul. Sie freute sich, ihn zu sehen, denn es war lange her. Seine geschäftlichen Besuche in Grants Pass waren seltener geworden, nachdem er seinen Firmenzweig nach Virgin River verlegt hatte. Mit seiner Frau und den Kindern besuchte er zwar nach wie vor seine restliche Familie, aber das schloss Leslie nicht ein.
Auf seine jungenhafte Art zog er sich den Hut vom Kopf und grinste sie an. Dann legte er ihr einen Arm um die Schultern und bückte sich, um ihr einen Kuss auf die Schläfe zu geben. „Gott, was freue ich mich, dich zu sehen! Wie geht es dir?“
Und verflucht, ihre Lippen fingen an, leicht zu zittern, sodass sie sie zusammenpressen musste, um nicht loszuheulen. Aber ihre Augen wurden feucht.
„Ach, komm schon, Liebes“, beruhigte er Leslie und drückte sie ein bisschen fester. „Jack, wie sieht’s aus mit einem Bier?“
„Kommt sofort.“
„Jetzt reg dich nicht auf. Wir werden hier etwas trinken, dann fahre ich dich zu dem Haus, das du gemietet hast. Dort lässt du dein Gepäck und den Wagen stehen, und wir fahren mit meinem Wagen zum Abendessen nach Hause. Vanni hat einen Braten gemacht, das ist ein Ereignis bei uns, weißt du. Hinterher fahre ich dich wieder zurück – in dein neues Heim.“
„Du musst dir nicht so viel Mühe machen, Paul. Ich kann selbst fahren.“
„Wenn man sich nicht auskennt, kann es schwierig sein, sich in diesen Bergen im Dunkeln zurechtzufinden. Damit kannst du morgen ohne jede Hilfe von Freunden anfangen. Deine Möbel sind eingetroffen, und weil es nicht so viel war, hat Vanni den Möbelpackern einfach gesagt, sie sollen die Kisten auspacken, und hat die Sachen verstaut. Das Bett ist frisch bezogen, und im Badezimmer liegen frische Handtücher. Du kannst ja alles wieder umräumen, so wie es dir gefällt.“
„Ich wünschte, sie hätte sich nicht so viel Mühe gemacht.“
„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Sie ist so dankbar, dass du jetzt hier bist, denn sie hat viel von meinem Papierkram bearbeitet, die Sachen, die ich selbst nicht auf die Reihe gekriegt habe. Und schon dazu hat sie im Augenblick wirklich keine Zeit.“
„Sie ist dankbar? Oh, Paul, ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte, wenn du mir nicht den Job angeboten hättest, als dein Vater dich gefragt hat!“
„Ich hoffe, es wird dir nicht leidtun, wenn du mein Büro siehst. Wir werden noch ein paar Dinge ändern müssen, aber momentan bin ich damit in einem Bauwagen.“
„Danke, Paul.“ Sie trank einen Schluck und fügte dann mit zittriger Stimme hinzu: „Ich musste einfach von dort weg.“
Er ließ ihr einen Augenblick Zeit, bevor er fragte: „Wirklich so schlimm?“
„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mir gewünscht habe, den Kopf oben zu halten und alles an mir abperlen zu lassen. Ich habe versucht, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen, aber ich bin einfach nicht so stark, wie ich es gerne wäre.“
Paul hob ihr Kinn an und bemerkte ihren traurigen Blick. „Leslie, du traust dir zu wenig zu. Erstens bist nicht du diejenige, die schlecht dasteht – es ist Greg, der aussieht wie ein Idiot und Dummschwätzer. Und zweitens bist du eine tolle Frau, die in der Firma und in der Öffentlichkeit respektiert wird.“
„Es ist nett von dir, mir das zu sagen. Aber unsere Scheidung und seine Wiederverheiratung haben mich wirklich schwer belastet. Ich sehe sie überall! Wusstest du, dass sie jetzt das Baby bekommt, das er angeblich nie haben wollte? Mit mir nicht haben wollte, nehme ich an.“
Paul legte die Stirn an ihre. „Les, es tut mir leid.“
Sie zog sich zurück und reckte das Kinn. „Irgendwie muss ich es schaffen, mein Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. In Grants Pass war das unmöglich, denn Greg scheint zu glauben, dass wir gute Freunde bleiben können.“
„Darum werden wir uns kümmern. Im Nu wird es dir besser gehen. Leslie, es geht hier nicht um dein Versagen, es geht um seins.“
„Vom Verstand her ist mir das klar. Aber versteh bitte, es gibt noch weit mehr, als du ahnst, worüber ich hinwegkommen muss. Ich meine, mich hat nicht mal jemand zum Abschlussball an der Highschool eingeladen.“
Paul lachte über ihre letzte Bemerkung, als hätte sie einen Witz gemacht. Seit zehn Jahren arbeitete Leslie nun für die Männer der Familie Haggerty. Alle schätzten ihren wunderbaren Sinn für Humor und standen absolut auf ihrer Seite. Pauls Vater Stan, Gründer und Vorsitzender der Haggerty Construction, hatte sogar beschlossen, nie wieder mit Greg zusammenzuarbeiten. Aber seine Söhne hatten sich ihm widersetzt und darauf hingewiesen, dass es wirtschaftlich kurzsichtig sei, sich zu weigern, mit einem erfolgreichen Immobilienunternehmen Geschäfte zu machen. Und außerdem sei es eine Art von Diskriminierung. „Ja“, hatte Stan getobt. „Ich diskriminiere Blödsäcke!“
Leslie hätte ihn dafür knutschen können!
Als sie Greg Adams geheiratet hatte, war sie dreiundzwanzig. Er hatte ein kleines Immobilienunternehmen aufgebaut, das ziemlich erfolgreich war und immer bekannter wurde, obwohl er damals erst dreißig war. Er war Mitglied in allen Freundschafts- und Kontaktgruppen, vom Rotary bis zur Handelskammer. Überall war er irgendwann einmal Vorsitzender gewesen. Er hatte vor, sich in den Stadtrat wählen zu lassen und vielleicht sogar Bürgermeister zu werden. Er sah unglaublich gut aus. Sehr sexy. Dass er sich für sie entschieden hatte, schien Leslie von Anfang an unfassbar. Und obwohl sie in Vollzeit für die Haggerty Construction arbeitete, war sie der „Junior League“ beigetreten, hatte ehrenamtlich für die „Library Volunteers“ gearbeitet … und überhaupt alles getan, wovon sie glaubte, dass es Greg helfen könnte, seine Pläne zu verwirklichen. Natürlich hatte Greg sie dazu ermuntert.
Und dann, nach acht Jahren Ehe, hatte sie erfahren, dass Greg eine Affäre mit einer siebenundzwanzigjährigen Anwältin hatte. Er selbst war achtunddreißig. Sofort hatte er reinen Tisch gemacht und ihr gestanden, dass es ihm zwar leidtäte, sie damit zu verletzen, er aber dennoch einen Neuanfang plante. Sein Leben habe sich auf eine Weise verändert, mit der er nie gerechnet hätte. Gleich am nächsten Tag, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, war er aus ihrem schönen Heim mit den vier Schlafzimmern ausgezogen und hatte die Scheidung eingereicht, während sie noch unter Schock stand.
Sie hatte das Haus und die Hypothek bekommen, die sie allein nicht tragen konnte. Fünfzig Prozent der Anteilswerte waren ihm zugesprochen worden. Unterhaltszahlungen erhielt sie nicht, denn wie es aussah, besaß dieser erfolgreiche Unternehmer kein Geld.
„Ha!“, hatte Stan Haggerty gebrüllt. „Das ist völliger Quatsch! Er hat massenhaft Kohle. Wahrscheinlich hat er alles versteckt!“
Anscheinend war es so, denn als nach der Scheidung das Haus verkauft und der Erlös geteilt war, konnte er sich auf einmal ein sehr großes und luxuriöses Haus in einem gehobenen Wohnviertel leisten, ein neues Auto und einen verschwenderischen Urlaub mit seiner neuen Lady auf Aruba. Ein Jahr nach der Scheidung feierte er eine protzige Hochzeit, zu der er die halbe Stadt eingeladen hatte, Leslie und ihre Eltern inklusive. Sie hatten darauf verzichtet und sich entschuldigt. Ein Jahr und vier Monate nach der Scheidung war der neuen Mrs Adams dann anzusehen, dass sie schwanger war.
Während der ganzen Zeit hatte Greg sie angerufen und regelmäßig besucht; sie sollte wissen, dass er sie immer lieben und respektieren werde, das sei ihm sehr wichtig. Er wollte, dass sie die guten Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, in Erinnerung behielten und beste Freunde blieben. Wenn sie vor lauter Demütigung, Entmutigung und Neid nicht völlig am Boden gewesen wäre, hätte sie vielleicht die Kraft aufgebracht, ihm die Augen auszukratzen.
Dann eröffnete er Leslie, dass Allison schwanger war. Er hoffte tatsächlich, sie würde sich für sie beide freuen, doch mit dieser Nachricht hatte sie ihren Tiefpunkt erreicht. Mehr konnte sie nicht ertragen. Sie war zu Stan gegangen und hatte ihm gesagt, es täte ihr schrecklich leid, aber sie müsse kündigen.
„Wo willst du denn hin?“, hatte Stan gefragt.
„Keine Ahnung. Ich muss einfach nur hier weg. Ich weiß, dass die Leute auf meiner Seite sind, dass sie finden, mir wurde Unrecht getan, aber das hält sie nicht davon ab, mich mitleidig anzusehen, und wahrscheinlich fragen sie sich, womit ich meinen Mann vertrieben habe. Das ist Gregs Stadt. Und ich glaube, beinahe jeder bewundert Greg dafür, dass er sich so sehr darum bemüht hat, sich im Guten zu trennen. Ich begegne Greg und Allison überall. Er küsst ihren Hals und tätschelt ihren kleinen Bauch. Deshalb kündige ich dir einen Monat vorher. Meine Wohnung ebenfalls, und ich werde mich in einer anderen Stadt nach einem neuen Job umsehen. Bitte versprich mir, dass du mir ein gutes Arbeitszeugnis ausstellst.“
Er hatte mehr getan als das. Er hatte ihr den Job bei Paul vermittelt. „Damit hast du mehr Zeit zu überlegen, dich zu erholen und wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht beschließt du sogar, wieder nach Grants Pass zurückzukehren. Dein Job bei der Haggerty Construction ist dir sicher. Genau genommen weiß ich gar nicht, wie wir es ohne dich schaffen sollen.“
Conner musste Jack recht geben, was die gefüllte Forelle betraf. Und während er sie genoss, beobachtete er die Leute in der Bar. Mit mehreren Gästen führte Jack fortlaufende Gespräche; oft scherzten sie herum und machten sich übereinander lustig wie alte Freunde. Offensichtlich war Jack in seiner Bar das Mädchen für alles: Er servierte zwei kleinen alten Ladys, einer vierköpfigen Familie und ein paar Männern am anderen Ende des Tresens das Essen, räumte die leeren Teller ab und versorgte alle mit Drinks. Nebenbei beugte er sich über einen Tisch und gab jemandem einen Tipp beim Cribbage, einem beliebten Kartenspiel. Und schließlich half er den kleinen alten Ladys aus der Bar und die Treppe hinunter.
Alles in allem schien es hier gar nicht so übel zu sein für einen, der irgendwo untertauchen musste. Der Ort hatte seinen Reiz. Es ging ruhig und freundlich zu, und das konnte er brauchen.
Das Paar am Tresen wirkte ziemlich emotional, fand Conner. Während sie sich unterhielten, hatten sie die Köpfe dicht zusammengesteckt, und wenn er sich nicht irrte, stand die Sonntagsschullehrerin ein paarmal kurz davor, in Tränen auszubrechen. Waren sie wirklich ein Paar? Die Art, wie er sie berührte, war freundlich, liebevoll. Vielleicht hatten sie gerade eine Krise oder so. Was auch immer es sein mochte, der Mann tröstete sie, das war offensichtlich. Nach etwa zwanzig Minuten warf er ein paar Scheine auf den Tresen, legte eine Hand an ihren Rücken und führte sie hinaus.
Den zermürbenden Schmerz der Verbitterung konnte Conner kaum ertragen. Wegen seiner Ex und weil er als Zeuge eines Verbrechens gezwungen war, sich zu verstecken, war ihm das verwehrt. Ihm war das zufriedene Gefühl nicht vergönnt, eine hübsche Sonntagsschullehrerin aus der Tür zu führen und dann weiter, irgendwohin, an einen ruhigen privaten Ort.
Sein Herz war schwer. Wie er sich doch danach sehnte.
„Kann ich Ihnen noch was bringen, Kumpel?“, fragte Jack.
„Nein danke. Sie hatten recht mit der Forelle. Einfach hervorragend. Machen Sie mir die Rechnung fertig.“
Jack legte ihm einen Zettel hin; Conner kramte sein Geld hervor und ging.
Auf dem Rückweg fuhr er an der Abzweigung zu den Ferienhäusern vorbei und folgte der Straße den Berg hinunter, bis er auf seinem neuen Handy die Balken sah, die ihm anzeigten, dass er hier Empfang hatte. Schließlich war das Signal stark genug, um es mit einem Anruf zu versuchen. Bei nächster Gelegenheit fuhr er an den Straßenrand und wählte die Nummer, die er sich bereits eingeprägt hatte. Sie meldete sich verschlafen. „Ach, Katie, ich habe dich geweckt …“
Katie hatte keinen neuen Namen gebraucht, denn sie war nicht die Zeugin. „Wir sollen doch nicht über Zeitzonen, das Wetter, Sehenswürdigkeiten, Namen oder sonst was reden.“
„Du könntest jederzeit eingeschlafen sein“, entgegnete er, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte. Sie ging immer früh schlafen und kuschelte sich ungefähr zur selben Zeit ins Bett, wenn ihre kleinen Jungs es taten, um sich nicht allzu einsam zu fühlen. „Mit den anderen Sachen wie Namen und so weiter könnte ich allerdings meine Schwierigkeiten haben.“
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie ihn.
„Es geht mir gut. Ich bin bereit, die Sache hinter mich zu bringen und wieder ein normales Leben zu führen.“
„Vielleicht wird es nie wieder normal sein, hast du schon einmal daran gedacht?“
„Woran sollte ich sonst denken? Vielleicht werden die Dinge nicht mehr so sein wie früher, aber es könnte sich alles normalisieren. Vielleicht werden wir woanders leben, aber bevor die Jungs vergessen haben, wie ich aussehe, werden wir das hinter uns haben und können wieder aufbauen. Erzähl mir von dir, Andy und Mitch. Alle wohlauf?“
„Namen“, erinnerte sie ihn lachend. „Besser, als ich gedacht hätte. Ich habe einen guten Job bei einem süßen, alleinstehenden Zahnarzt. Wer weiß? Vielleicht wird ja was draus, und du kommst hierher zu mir.“
„Wer weiß“, antwortete er lachend.
„Hast du schon einen Job?“
„Morgen. Das wurde alles längst für mich geregelt.“
„Sagst du mir, ob es dir dort gefällt?“
„Natürlich. Ja. Hör zu, ich weiß nicht genau, wie viel ich sagen darf, aber falls ich mich nicht melde, wenn du mich anrufst, liegt das an der schlechten Funkverbindung. Ich habe …“ Fast hätte er eine Internetverbindung gesagt, bremste sich jedoch. „Aber ich werde auf jeden Fall Kontakt mit dir aufnehmen. Auf die eine oder andere Art.“
„Okay, halt mich nur auf dem Laufenden. Wenn ich Hilfe brauche, werde ich mich eh nicht an dich wenden. Sie haben mir andere, schnellere Möglichkeiten an die Hand gegeben. Mach dir bitte keine Sorgen. Wir sind gut versorgt.“
„Ich werde mir keine Sorgen machen …“
„Kannst du mir einen Gefallen tun? Such dir einige nette Freunde, okay? Nun musst du endlich nicht mehr sechzehn Stunden am Tag arbeiten, um auch noch mich und die Jungs über Wasser zu halten. Also nutze die Gelegenheit und sieh es einfach an wie einen Urlaub.“
„Aber sicher.“ Urlaub? Ich verstecke mich vor einem Mörder, der mit Gangstern und Auftragskillern in Verbindung steht. Ich wurde von meiner Familie getrennt und habe nichts mehr außer der großen Frage, wo wir noch einmal neu anfangen werden. Toller Urlaub.
„Ich weiß nicht genau, wo du bist, aber wo auch immer das sein mag, es muss Sachen geben, die die Leute dort unternehmen. Finde es heraus. Geh mal raus auf ein Bier. So etwas machst du sonst nie. Und lade eine Frau ein …“
„Ein Date? Das glaube ich nicht …“
„Du hast dir etwas Spaß verdient, wenn es schon nicht das wahre Glück sein kann. Ich meine, komm schon, es ist nur für eine kurze Zeit.“
„Spaß? Wir werden sehen. Glück auf keinen Fall. Das letzte Mal, als ich mich glücklich gefühlt habe, bin ich dafür hart bestraft worden.“
„Ganz wie du willst. Dann sei halt so miesepetrig wie möglich.“
„Ich werde versuchen, diese kurze Zeit zu genießen, okay? Denn wenn es endlich vorbei ist, werde ich von vorn anfangen. Liebes, ist bei dir und den Jungs wirklich alles in Ordnung? Seid ihr glücklich? Sie haben doch nicht etwa Angst?“
„Wir vermissen dich. Es fällt ihnen schwer zu verstehen, warum wir nicht mit dir zusammen sein können. Aber das weißt du ja. Die Schule hier ist nett, und obwohl sie noch nicht lange hier sind, haben sie schon angefangen, Fußball zu spielen. Ein paarmal haben sie auch schon Freunde auf einen Film und Pizza mit nach Hause gebracht. Mein Boss ist unkompliziert und flexibel. Ich habe das Gefühl, dass ich für ihn eine zusätzliche Hilfe bin, und er bekommt mich wirklich billig. Vielleicht zahlt er mein Gehalt nicht einmal selbst, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie gähnte. „Wir werden das alle unbeschadet überstehen.“
Für T-Ball, Schwimmunterricht oder Fußball war immer Conner zuständig gewesen, und es schmerzte ihn furchtbar, so unerreichbar zu sein. „Du warst schon immer die Optimistin von uns beiden“, sagte Conner und wischte sich über die brennenden Augen. Wenn sie das überstanden hatten – und davon ging er aus –, würden sie alle in diesem großen Drama neue Rollen spielen, neue Identitäten haben, neue Wohnorte. Aber dann könnten sie wieder zusammen sein. „Ich glaube, ich bewundere dich mehr als irgendjemanden sonst, den ich kenne.“
„Ach, das ist nett von dir. Und ich habe es gar nicht verdient.“
Aber so war es. Sie hatte in ihrem Leben wirklich einiges durchgemacht, aber sie ging damit nicht um wie mit einer Belastung. Wenn sie litt, dann litt sie, kam darüber hinweg und gewann ihre sonnige Lebenseinstellung zurück.
„Lass uns nicht alle Minuten verbrauchen“, sagte sie. „Uns geht es gut, dir geht es gut. Das nächste Mal will ich mit dir sprechen, wenn du deinen Job hast … und denk daran, du hast versprochen, dir etwas zu suchen, das dir Freude macht.“
„Wird gemacht. Bin schon dabei.“ Auf einmal wünschte er sich, eine Frau zu treffen, die sich auf eine unverbindliche Sache mit ihm einließ. Nur um dem Ganzen die Schärfe zu nehmen. Aber was würde ihn dann noch von Samantha unterscheiden?
Paul wollte eigentlich nie ins Vermietungsgewerbe einsteigen, aber da der Immobilienmarkt im Keller und die Zinssätze niedrig waren, hatte er ein paar kleinere Objekte im Ort erworben, die sonst in die Zwangsvollstreckung gegangen wären, erklärte er Leslie. Wenn der Markt sich wieder erholt hatte, wollte er sie mit Gewinn verkaufen. In der Zwischenzeit vermietete er eins der mittlerweile renovierten Häuser an Leslie. Über neunzig Quadratmeter standen ihr zur Verfügung und das Haus war einfach fantastisch. Außerdem war die Miete verdächtig niedrig angesetzt.
„Irgendwann in den nächsten Wochen werde ich dir jemanden schicken, der dir den Vorgarten aufräumt, ein paar Grasnarben auf die blanken Stellen legt und am Weg entlang ein paar Blumen pflanzt. Wenn es ein bisschen trockener geworden ist, habe ich vor, eine neue Zufahrt zu gießen und einen ordentlichen überdachten Carport mit Stauraum anzubauen. Ehe man sichs versieht, ist es mit diesem Regen im März vorbei, und die Sonne scheint. Wenn du den Frühling hier erlebst, wird es dir den Atem verschlagen, so schön ist es.“
Das kleine Haus mit zwei Schlafzimmern wirkte einladend und befand sich in einer ruhigen und freundlichen Nebenstraße. Die Häuser auf beiden Seiten waren einfache, schlichte, niedrige Gebäude. Manche waren in einem besseren Zustand als andere, aber schon auf den ersten Blick hatte sie das Gefühl, in eine gute Nachbarschaft zu kommen, und das war alles, was Leslie wollte.
„Lass mich die Blumen pflanzen. Das wird mir helfen, mich einzuleben. Ich wollte schon immer einen kleinen Garten haben, aber bei der Arbeit und dem Leben in einem Apartment …“
„Du kannst hier machen, was du willst, Les. Tu so, als wäre es dein Haus.“
„Aber dein Angebot mit den Grasnarben und der Zufahrt nehme ich gern an, wenn du willst. Es wäre schön, den Wagen nicht immer auf der Straße parken zu müssen.“
„Wird gemacht.“
Ihre Sorgen darüber, Pauls Frau könnte sie bemitleiden, weil sie ihren Job in Grants Pass aufgegeben hatte, um ihrer demütigenden Scheidung zu entfliehen, waren völlig verschwendet gewesen. Während des Essens wurde der Grund, weshalb sie nach Virgin River gekommen war, nicht einmal erwähnt. Vanni war vielmehr wirklich nur dankbar, dass Paul endlich eine Vollzeitkraft hatte, die ihm half und obendrein auch schon früher für ihn gearbeitet hatte und das Geschäft kannte. Die Tatsache, dass sie schon lange eine Freundin der Familie Haggerty war, machte alles noch besser.
Als Leslie sich an diesem Abend in ihrem kleinen Mietshaus ins Bett kuschelte, fühlte sie sich entspannt wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Und sie wusste genau, warum. Es war der Abstand von ihrer Vergangenheit. Wenn sie morgen aus dem Haus ging, sich im Ort umschaute oder sich bei ihrem neuen Job meldete, wenn sie einkaufen ging oder sich ein Glas Wein bei Jack gönnte, würde sie weder Greg und Allison noch einem ihrer früheren Freunde über den Weg laufen. Es war, als wäre sie auf einem anderen Kontinent.
Am nächsten Morgen wachte sie erholt auf, machte sich einen Kaffee und trug ihn im Bademantel auf die vordere Veranda. Die Baumspitzen waren noch im frühen Morgennebel versteckt, der wie eine Decke über dem kleinen Ort lag, aber sie konnte Stimmen hören – Nachbarn, die sich begrüßten, Autos, die gerade ansprangen, Kinder, die lachten oder schrien und wahrscheinlich auf dem Weg zur Schule oder zur Bushaltestelle waren. Es war noch sehr früh. Als sie geduscht und Jeans und eine weiße Kragenbluse mit Pullover angezogen hatte, kämpfte die Sonne gerade darum, den Nebel zu durchbrechen.
Paul hatte ihr von einem schicken Outfit abgeraten, denn der Trailer, in dem er sein Büro untergebracht hatte, sah ziemlich wüst aus. Im Büro der Haggerty Construction war sie gewöhnlich in der üblichen Geschäftskleidung erschienen, also entweder Rock oder Stoffhose, denn an einem normalen Arbeitstag hatte sie mit Verkäufern, Kunden, Dekorateuren, Investoren und Projektentwicklern zu tun gehabt. Hier draußen würde sie außer Paul selbst aber wahrscheinlich nur Leuten aus dem Bautrupp begegnen.
Sie nahm sich einen Kaffeebecher für die Fahrt mit und folgte seiner Wegbeschreibung. Und da war er auch schon, der Trailer. Er stand auf einem großen Grundstück mit zwei Häusern, die sich noch im Bau befanden, und eigentlich war er ein kleines Mobilhaus. Wahrscheinlich wurden die Schlafzimmer als Büroräume genutzt, es gab eine Küche und ein Bad, vermutete Leslie.
Neben dem Trailer stand ein Pick-up, und das war nicht Pauls. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Viertel vor sieben, ziemlich spät in der Baubranche. Natürlich galt das nicht für die Büroangestellten, aber der Bautrupp legte in der Regel los, sobald sie Licht hatten. Und nun stand sie hier und hatte versucht, Paul mit ihrem frühen Erscheinen zu beeindrucken, aber anscheinend war er gar nicht mehr da.
Als sie die Tür des Trailers öffnete, sah sie einen Mann, der an einer Art Küchentisch, einer große Sperrholzplatte, die von zwei Sägeböcken getragen wurde, saß. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee, und er schien irgendwelche Pläne durchzublättern, stand jedoch auf, als Leslie eintrat. „Hi. Ich bin Dan Brady, einer von Pauls Bauführern. Er ist zu einem Trupp auf einer anderen Baustelle gefahren und hat mich gebeten, hier auf Sie zu warten. Richten Sie sich am besten gleich ein. Sein Büro ist am Ende vom Flur“, erklärte er und deutete in die Richtung. „Er wird Sie in dem Zimmer nebenan unterbringen wollen, da steht auch schon ein Schreibtisch, allerdings ein alter und ziemlich schmutziger. Sie werden ihn reinigen müssen, und wahrscheinlich muss auch ein Keil unter einen der Füße geschoben werden.“ Er reichte ihr die Hand.
Leslie musste – über den Dreck und das Chaos um sie herum – lächeln. Überall waren Schlammspuren. Auf dem Küchentresen stand eine Kaffeemaschine für dreißig Tassen, die mit Fingertapsern übersät war. „Ich bin Leslie Petruso. Lassen Sie mich raten, die Männer trinken ihren Kaffee hier drin.“ Sie ergriff seine Hand und schüttelte sie.
„Vor allem, wenn es kalt ist. Bei schönem Wetter sitzen sie während ihrer Pause lieber hinten auf ihren Pick-ups oder sonst wo im Freien. So schlimm wie jetzt bei dem Regen sieht es normalerweise nicht aus. Ich hoffe, Sie sind nicht total schockiert.“
Sie lachte. „Ich arbeite seit zehn Jahren für eine Baufirma, da musste ich hin und wieder auch mal eine Baustelle besuchen. Freut mich, Sie kennenzulernen, Dan.“
Er wies auf ihren Becher, indem er das Kinn vorschob. „Wie wär’s mit einem heißen Kaffee?“
„Danke.“ Leslie reichte ihm den Becher und Dan füllte nach. „Also, hat Paul gesagt, was ich tun soll?“
„Er meinte, Sie wüssten schon, was zu tun ist. Seinen Laptop hat er immer bei sich im Wagen, aber auf seinem Schreibtisch liegt ein Terminplaner. Ich warte auf jemanden, der mit mir an der Innenausstattung in diesen beiden Häusern arbeitet, und Paul kommt, wann er kommt. Werden Sie sich zurechtfinden? Dann kann ich nämlich weiterarbeiten.“
„Darauf können Sie wetten. Machen Sie sich um mich keine Sorgen.“
Er lächelte sie an. „Willkommen an Bord, Leslie. Wir freuen uns alle, wenn Paul bei der Erledigung des ganzen Papierkrams etwas Unterstützung bekommt.“
„Damit hinkt er wohl leicht hinterher?“ Sie lachte.
„Er ist Bauunternehmer. Im Büro ist er kaum zu halten. Ich bin in dem Haus links, falls Sie mich brauchen.“
„Keine Sorge! Ich werde mal auf Pauls Schreibtisch herumschnüffeln und sehen, ob ich daraus irgendwie schlau werde.“
„Nur zu.“ Dan verabschiedete sich mit einem Salut.
Nachdem er gegangen war, schaute sich Leslie ein wenig um. Dabei konzentrierte sie sich nicht auf Pauls Schreibtisch, nicht einmal auf sein Büro. Dazu war noch Zeit genug. Erst einmal inspizierte sie alle Schränke und Wandschränke im Trailer. Und irgendwie geschah es ganz spontan: Sie wischte das Spülbecken aus, was zur Folge hatte, dass sie dann auch den Tresen abschrubbte. Das wiederum brachte sie dazu, den Küchenboden zunächst auszukehren, dann feucht zu putzen. Und dann wirbelte sie wie verrückt mit Putztuch und Wischmopp durch den ganzen Trailer.
Als Paul gegen zehn auftauchte, waren die Schlammspuren und Fingertapser verschwunden. Selbst die Dreißig-Tassen-Kaffeemaschine aus rostfreiem Stahl erstrahlte in neuem Glanz. Und der Kaffee darin war frisch. „Wahnsinn.“ Paul sah sich begeistert um.