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Liebesglück in Virgin River

Menschen mit Obstkörben, spielende Kinder und Apfelbäume, soweit das Auge reicht: Die Apfelernte ist die schönste Zeit auf der Plantage von Tom Cavanaugh. Eigentlich hatte der Ex-Marine nie vorgehabt, den Familienbesitz zu übernehmen. Doch seit er nach Virgin River zurückgekehrt ist, verspürt er den Wunsch, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Vielleicht mit Darla, der Witwe seines verstorbenen Freundes, um die er sich nach ihrem schweren Verlust kümmert? Tom hat ganz genaue Vorstellungen, wie seine Zukünftige sein sollte - auf keinen Fall wie die zierliche Erntehelferin Nora Crane. Aber warum rührt die temperamentvolle alleinerziehende Mutter sein Herz auf eine Weise, die er bisher nicht kannte?


  • Erscheinungstag: 01.10.2015
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 17
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956494444
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robyn Carr

Liebesglück in Virgin River

Roman

Aus dem Amerikanischen von Barbara Alberter

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Sunrise Point

Copyright © 2012 by Robyn Carr

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz, Michael Alberstat

ISBN eBook 978-3-95649-444-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Am Schwarzen Brett der presbyterianischen Kirche in Virgin River hing ein kleiner Zettel:

Nora Crane lebte noch nicht lange hier. Sie studierte regelmäßig alle Anschläge, und nachdem sie die Notiz entdeckt hatte, erkundigte sie sich bei Reverend Kincaid, ob er etwas über diese Arbeit wusste.

„Nicht besonders viel“, antwortete er. „Die Ernte dauert ziemlich lange, und die Cavanaughs heuern neben ihrem fest angestellten Personal gern zusätzlich noch ein paar Leute an. Soweit mir bekannt ist, zahlen sie ziemlich gut. Die Arbeit ist sehr anstrengend, und in ein paar Monaten ist alles vorbei.“

Zahlen ziemlich gut. Das blieb hängen. Nora nahm ihre zweijährige Tochter Berry an die Hand; die neun Monate alte Fay saß in ihrer Rückentrage.

„Kannst du mir sagen, wie ich zu dieser Plantage gelange?“, fragte sie.

Er runzelte die Stirn. „Nora, das sind ein paar Meilen. Du hast kein Auto.“

„Ich muss dort hin und herausfinden, was sie zahlen und wie die Arbeitszeiten sind. Wenn es ein guter Job ist, der auch gut entlohnt wird, verdiene ich bestimmt genug Geld für die Kinderbetreuung in der neuen Kita. Das würde Berry so guttun! Sie kommt fast nie mit anderen Kindern zusammen und ist sehr schüchtern.“ Sie strich ihrer kleinen Tochter liebevoll übers Haar. „Es macht mir nichts aus, zu laufen. Hier in der Gegend habe ich auch keine Angst davor, mich mal mitnehmen zu lassen. Die Leute sind sehr großzügig. Und ein paar Meilen, das ist wirklich nichts. Ein gutes Training.“

Doch Noah Kincaids Stirnrunzeln vertiefte sich nur. „Nach einem langen Tag körperlicher Arbeit könnte der Heimweg anstrengend werden. Es ist harte Arbeit, Äpfel zu ernten.“

„Das ist pleite sein auch.“ Nora lächelte. „Ich wette, Adie würde sich über ein bisschen Geld fürs Babysitten freuen. Sie schafft es mehr schlecht als recht. Und sie kann wunderbar mit den Mädchen umgehen.“ Adie Clemens war Noras Nachbarin und Freundin. Obwohl sie schon eine alte Dame war, hatte sie die Mädchen gut im Griff, denn Berry war sehr brav, und Fay, die gerade erst angefangen hatte zu krabbeln, kam noch nicht weit. Adie kümmerte sich gern um sie, auch wenn sie sie nicht den ganzen Tag übernehmen konnte.

„Und was ist mit deinem Job in der Klinik?“, hakte Noah nach.

„Ich glaube, Mel hat mir den Job eher aus Freundlichkeit gegeben, als dass sie mich wirklich braucht. Doch natürlich werde ich mit ihr reden. Noah, hier sind nicht so viele Stellen. Ich muss nehmen, was kommt. Willst du mir nicht sagen, wie ich dort hingelange?“

„Ich werde dich fahren, dann können wir ja am Tacho ablesen, wie weit es ist. Aber ich weiß wirklich nicht, ob das eine so gute Idee ist.“

„Wie lange hängt der Zettel jetzt schon dort?“

„Tom Cavanaugh hat ihn heute Morgen aufgehängt.“

„Gut! Das bedeutet, dass es noch nicht viele Leute gesehen haben.“

„Nora, denk an deine kleinen Mädchen! Du willst doch nicht viel zu erschöpft sein, um dich um sie kümmern zu können.“

„Oh, Noah! Es ist nett von dir, dass du dich deswegen sorgst. Ich frage Adie jetzt, ob sie kurz auf die beiden aufpasst, damit ich mich auf der Plantage vorstellen kann. Sie sagt sicher Ja, sie ist ganz vernarrt in die Mädchen. Ich bin in zehn Minuten wieder da, wenn es dich wirklich nicht stört, mich zu fahren … Ich will dich nicht ausnutzen!“

Noah konnte nur schmunzelnd den Kopf schütteln. „Du bist wild entschlossen, was? Dabei erinnerst du mich an jemanden …“

„Ach ja?“

„Eine Person, die sich genauso wenig bremsen ließ wie du. Ich glaube, ich habe mich sofort in sie verliebt.“

„Ellie? Mrs Kincaid?“

„Ja, Mrs Kincaid“, bestätigte er lachend. „Du hast keine Ahnung, wie viel ihr gemeinsam habt. Aber das heben wir uns für ein anderes Mal auf. Nun mach schon! Frag Adie, dann bringe ich dich zur Plantage.“

„Danke!“, meinte Nora grinsend, lief aus der Kirche und die Straße hinauf.

Sie hätte niemals gedacht, dass sie der Frau des Reverend irgendwie ähnlich sein könnte. Ellie Kincaid war so schön und so selbstsicher und darüber hinaus die freundlichste Person, die ihr jemals begegnet war. Und so, wie er sie anschaute, betete Noah seine Frau an. Irgendwie war es lustig, zu sehen, dass der Reverend ein ganz normaler Mann war, in dessen Augen beim Anblick seiner Frau Verlangen lag, so als könnte er es gar nicht erwarten, mit ihr allein zu sein. Sie waren nicht nur ein hübsches Paar, sondern offensichtlich auch ein Mann und eine Frau, die in tiefer Liebe miteinander verbunden waren.

Nora ging direkt zu Adie Clemens’ Haustür.

„Bring mir nur ein paar Windeln und etwas Milchpulver“, bat Adie. „Und viel Glück!“

„Wenn ich den Job kriege und den ganzen Tag arbeiten muss, glaubst du, du könntest mir ein wenig unter die Arme greifen?“

„Ich werde tun, was ich kann. Wenn Martha mithilft, können wir dir sicher den Rücken freihalten.“

„Ich hasse es, alle bitten zu müssen, sich um mich zu kümmern, aber …“ Doch ob sie es nun hasste oder nicht, sie hatte kaum eine andere Wahl. Letztes Jahr war sie kurz vor Weihnachten mit den Kindern hier gelandet, nur mit den Sachen, die sie am Leib trugen. Es war Adie gewesen, die Reverend Kincaid darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Nora mit ihren Töchtern in Not war, und die erste Hilfeleistung erfolgte dann in Form eines Weihnachtskorbs mit Lebensmitteln. Durch die Freigebigkeit ihrer Nachbarn und des ganzen Orts wurde ihr Haushalt um ein paar notwendige Gegenstände erweitert: ein alter Kühlschrank, ein Teppich für den Fußboden, Bettlaken und Handtücher, Kleidung für die Kinder. Die Kirche organisierte regelmäßig einen Basar, und Ellie Kincaid suchte immer das Beste aus den abgelegten Kleidungsstücken für sie heraus. Noras Nachbarin Leslie, die drei Häuser weiter wohnte, erlaubte ihr, während ihrer Arbeitszeit die Waschmaschine und den Trockner zu benutzen, und auch Martha hatte sich angeboten, ihre Wäsche zu übernehmen. Nora würde niemals in der Lage sein, so viel Freundlichkeit zu erwidern, aber wenigstens konnte sie nun arbeiten, damit sie für sich selbst sorgen konnte.

Äpfel ernten? Nun, sie hatte Noah erklärt, sie wäre bereit, so gut wie alles zu tun.

Noah hatte einen alten Pick-up, von dem Nora schätzte, dass er älter war als sie selbst. Definitiv mangelte es ihm an ordentlichen Stoßdämpfern. Als sie über die Straße holperten, die zum Highway 36 führte, kam ihr der Gedanke, dass es ihrer Wirbelsäule wahrscheinlich weniger zu schaffen machen würde, wenn sie zu Fuß ging. Allerdings während sie so fuhren, wurde ihr zunehmend bang wegen der Entfernung, die größer war als erwartet. Sie war nicht sicher, wie lange es zu Fuß dauern würde. Wenn sie die Plantage erreicht hatten, würde sie sich von Noah sagen lassen, wie viele Meilen es waren. Falls in dieser alten Blechkiste die Anzeige überhaupt funktionierte.

Sie bogen von der 36 ab, folgten einer Straße durch ein offen stehendes Tor und fuhren weiter über einen asphaltierten Weg, der auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt war. Die Schönheit lenkte Nora ab, denn der Anblick dieser Apfelbaumreihen, die in gleichmäßigem Abstand angelegt waren, hatte etwas so Unverfälschtes, Schlichtes. An den Zweigen hingen die Früchte in verschiedenen Reifestadien, einige noch klein und grün, während auf anderen schon ein Hauch von Rot erkennbar war. Am Ende der – wie es schien – langen Zufahrt befand sich ein weißes Märchenhaus mit roten Fensterläden und einer roten Haustür. Auf einer umlaufenden Veranda sah sie einen kleinen Tisch mit Stühlen. Nora konnte sich nicht einmal vorstellen, welcher Luxus es sein musste, nach einem harten Arbeitstag hier zu entspannen. In weiten Abständen ragten große Behälter am Weg auf, in denen vermutlich die Äpfel gesammelt wurden. Sie passierten einen Gabelstapler, der zwischen zwei Baumreihen abgestellt war, und ein Stück weiter parkte ein Traktor auf der Straße.

Als sie sich dem Haus näherten, bemerkte Nora, dass dahinter noch zwei große Gebäude waren, entweder Scheunen, sehr große Lagerschuppen oder … Sie warf einen Blick durch eine riesige offene Tür. Aha, das war der Unterstand für Maschinen und sonstige Farmgerätschaften. An einem der Gebäude hing das Schild „Cavanaugh Apples“.

Nora war in einem kleinen Haus auf einer belebten Straße in Berkeley groß geworden, und sie betrachtete das Anwesen der Cavanaughs mit einer Mischung aus Faszination und Neid. Wer an einem solchen Ort aufwachsen darf, hat großes Glück, dachte sie.

Vor einer Tür am Ende eines der Gebäude standen mehrere Pick-ups und vier Männer.

„Nora?“

Sie drehte sich um, da sie Reverend Kincaids Stimme hörte.

„Wahrscheinlich solltest du rübergehen. Während du dich mit Tom Cavanaugh unterhältst, werde ich Maxie einen Besuch abstatten, der Dame des Hauses. Sie ist fast immer in der Küche oder auf der Veranda.“

„Wohin muss ich denn?“, fragte sie, plötzlich sehr viel weniger selbstsicher.

Er wies auf die Männer. „Sieht aus, als wäre es dort.“

„Stimmt“, meinte sie, stieg aus dem Pick-up und sprang hinunter. Aber bevor sie die Tür zuwarf, blickte sie noch einmal hinein. „Falls ich eine Empfehlung brauche – gibst du mir eine?“

Sie sah, wie er wieder einmal die Stirn runzelte, und wusste, dass er sich fragte, wie um alles in der Welt sie einen solchen Job schaffen könnte. Schließlich lächelte Noah. „Selbstverständlich, Nora.“

Der Reverend fuhr ein Stück weiter, damit er näher am Haus auf der Zufahrt parken konnte. Nora ging zu den Männern. „Bewerben Sie sich auch als Erntehelfer?“

Alle vier drehten sich zu ihr um, aber nur einer nickte. Sie empfand eine gewisse Rivalität und betrachtete die Leute genauer. Einer der Männer war schon alt, das heißt, relativ alt. Er neigte zu einer Glatze, und das, was von seinen Haaren noch übrig war, wirkte flaumig und dünn. Doch er war groß, stand kerzengerade und schien breite, kräftige Schultern zu haben. Der andere schien noch ein Teenager zu sein, etwa sechzehn Jahre alt. Er sah gut aus und war muskulös. Bei dem dritten handelte es sich um einen kleinen Mexikaner, Mitte zwanzig, vital und lebhaft, und der vierte wirkte, als könnte er sein Vater sein. „Bin ich hier richtig, wenn ich mich bewerben will?“

Der ältere Mann runzelte die Stirn, der Teenager grinste, der ältere Mexikaner musterte sie von oben bis unten, als würden ihre Fähigkeiten allein von ihrer Körpergröße abhängen, und sie war klein. Der Junge, der sein Sohn hätte sein können, meinte: „Hier bist du richtig. Hast du schon mal Äpfel geerntet?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Darf ich dir einen Rat geben? Sag lieber, dass du’s schon mal gemacht hast.“

„Warum? Ist es so schwer, es zu lernen?“

Die Männer grinsten sich an. „Es ist schwer, es zu tun“, erklärte der Teenager. „Wenn er dich einstellt, zeig ich dir, wie’s geht.“ Danach betrachtete auch er sie von Kopf bis Fuß. „Bist du sicher, dass du das schaffst?“

Nora atmete tief durch. Sie würde alles tun, um für ihre Kinder sorgen zu können. Mel Sheridan und Reverend Kincaid hatten ihr geholfen, eine kleine Unterstützung vom County zu bekommen – Essensmarken und medizinische Versorgung. Aber das allein reichte nicht, um davon leben zu können. Mit ihren Teilzeitjobs in der Klinik und im Sommerprogramm der neuen Kita hatte sie sich zwar durchschlagen können, aber mit zwei kleinen Kindern reichte der Verdienst kaum aus.

Sie wollte ihr eigenes Geld verdienen, nur waren die Möglichkeiten dafür ziemlich rar.

„Ich bin stärker, als ich aussehe“, informierte sie ihn. „Wirklich. Doch ich kann nicht lügen und behaupten, ich hätte Erfahrung. Ich habe dieses …“ Dieses Abkommen mit Gott, dachte sie deprimiert. Nora versuchte alles, um vergangene Fehler wiedergutzumachen, da hatte sie nicht vor, weitere zu begehen. „Wenn ich mich zu etwas verpflichte, halte ich es auch ein. Aber für jeden Ratschlag bin ich dankbar. Seid ihr auch hier, weil ihr den Anschlag in der Kirche gesehen habt?“

„Wir sind jedes Jahr dabei“, erklärte der Teenager. „Ich pflücke schon Äpfel seit der Junior High. Jerome pflückt schon seit hundert Jahren.“ Er wies auf den älteren Mann. „Eduardo und Juan wohnen unten im Tal, doch die Apfelernte hier wird besser bezahlt als die Gemüseernte dort. Juans Frau hat ihr eigenes kleines Geschäft. Euch geht es zurzeit ziemlich gut, stimmt’s Juan?“

Der ältere mexikanische Gentleman nickte feierlich und wirkte sehr stolz. „Normalerweise arbeitet Tom irgendwo in den Obstbäumen, und Mrs Cavanaugh und ihr Vorarbeiter Junior stellen die Leute ein.“ Der Junge reichte ihr die Hand. „Übrigens, ich bin Buddy Holson.“

Lächelnd ergriff sie seine Hand und stellte sich vor: „Nora. Schön, dich kennenzulernen.“

Endlich wurde die Tür entriegelt und sprang einen Spaltbreit auf. Jerome ging als Erster hinein und war schon im nächsten Augenblick zurück. Anschließend betraten Eduardo und Juan gemeinsam das Gebäude, und auch bei ihnen dauerte es bloß eine Sekunde.

„Wir haben alle schon mal hier gearbeitet“, erklärte Buddy. „Die Leute, die regelmäßig kommen, haben sie bereits in den Akten. Viel Glück!“

„Danke. Hoffentlich sehen wir uns wieder.“

„Das hoffe ich auch, darauf kannst du wetten.“ Er tippte leicht an seinen Hut, und Nora erkannte, dass er sie wahrscheinlich für sehr viel jünger hielt, als sie war. Nie und nimmer würde er denken, dass sie tatsächlich bereits eine alleinerziehende Mutter sein könnte. „Du musst irgendwo hier in der Nähe wohnen.“

„In Virgin River“, sagte sie.

„Ich komme aus Clear River. Jetzt sollte ich lieber mal reingehen. Wir sehen uns.“ Und damit verschwand er hinter der Tür, kehrte allerdings schon eine Sekunde später zurück und schob ein Blatt Papier in seine Tasche. Zum Abschied lächelte er ihr freundlich zu und tippte noch einmal kurz an seinen Hut, dann schritt er zum letzten Pick-up, der dort abgestellt war.

Nora holte tief Luft und zog die Tür auf. Als der Mann hinter dem Schreibtisch den Kopf hob und sie anschaute, erschrak sie. Ohne eigentlich einen Grund dazu zu haben, hatte sie einen sehr viel älteren Mann erwartet, den Mann von Mrs Cavanaugh, die sich normalerweise um die Einstellungen kümmerte. Aber das hier war ein junger Mann. Und er war so attraktiv, dass es ihr fast den Atem verschlug. Er hatte breite Schultern, ein sonnengebräuntes Gesicht, braune Haare, ausdrucksvolle Augenbrauen und dunkelbraune Augen. Seine Gesichtszüge hätten unauffällig sein können, waren jedoch so perfekt zusammengefügt, dass er einfach fantastisch aussah. Ein Adonis, der so gefährlich gesund wirkte und eine Ausstrahlung besaß, auf die sie in der Vergangenheit schon einmal hereingefallen war. Wahrscheinlich wurde sie erst knallrot, bevor ihr Gesicht alle Farbe verlor. Mit solchen Männern hatte sie Pech gehabt, und sie hatte keinen Grund, anzunehmen, dass sich daran etwas geändert haben könnte.

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte er sich.

„Ich bin wegen des Jobs bei der Apfelernte hier.“

„Haben Sie Erfahrung als Erntehelfer?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich lerne schnell und bin fit. Ich habe Energie ohne Ende. Und ich brauche einen Job wie diesen.“

„Wirklich? Warum?“

„Reverend Kincaid hat gemeint, der Lohn sei ziemlich gut und die Arbeit auf eine relativ kurze Zeit beschränkt. Ich bin alleinerziehende Mutter, und eine Nachbarin hilft mir eine Weile mit den Kindern. Wenn die Ernte vorbei ist, kann ich in Virgin River auf zwei Teilzeitstellen zurückgreifen. Für mich klingt das perfekt.“

„Nun, es könnte länger dauern, als Sie vielleicht glauben. In den meisten Jahren fangen wir Ende August mit der Ernte an, und sie kann sich bis fast in den Dezember hineinziehen. Deshalb glaube ich, dass es für Sie wahrscheinlich nicht das Richtige …“

„Ich kriege das schon hin! In Virgin River gibt es jetzt eine neue Kindertagesstätte. Sobald ich es mir leisten kann, melde ich meine Mädchen dort an.“

„Wie alt sind Sie?“

„Dreiundzwanzig.“

Er schüttelte den Kopf. „Dreiundzwanzig und schon eine geschiedene Mutter?“

Einen winzigen Moment war ihr die Überraschung anzumerken, und sie richtete sich so gerade wie möglich auf. „Es gibt Fragen, die Sie nicht stellen dürfen“, informierte sie ihn. „So steht es im Gesetz. Wenn die Fragen mit der Arbeit nichts zu tun haben …“

„Das ist irrelevant. Ich fürchte, ich habe bereits genug Leute, alles Leute mit Erfahrung. Tut mir leid.“

Das ließ sie ihre Förmlichkeit vergessen. Sie blickte kurz zu Boden, danach hob sie den Kopf und schaute ihm in die Augen. „Gibt es denn keine Chance, dass noch etwas frei wird? Hier in der Gegend gibt es nicht besonders viele Jobs.“

„Hören Sie … Wie war Ihr Name?“ Er stand hinter seinem chaotischen Schreibtisch auf und bewies damit, dass er sogar noch größer war, als sie gedacht hatte.

„Nora Crane.“

„Hören Sie zu, Nora! Apfelernte ist Knochenarbeit, und ohne Sie beleidigen zu wollen, scheinen Sie mir für eine solche Aufgabe nicht kräftig genug zu sein. Im Allgemeinen stellen wir sehr muskulöse Männer und Frauen ein. Teenager oder zierliche Frauen haben wir noch nie genommen. Es ist einfach zu frustrierend für sie.“

„Buddy arbeitet schon seit der Junior High hier…“

„Er ist ein großer, kräftiger Junge. Manchmal muss man fünfzig Pfund Äpfel die Leiter runtertragen. Unsere Erntesaison ist extrem strapaziös.“

„Das schaffe ich schon! Ich trage meine neun Monate alte Tochter auf dem Rücken herum und meine Zweijährige auf dem Arm.“ Sie spannte die Muskeln an ihrem Oberarm. „Mutter sein ist nichts für Weicheier, und pleite sein auch nicht. Ich kann diesen Job erledigen. Ich will ihn machen.“

Schockiert starrte er sie einen Augenblick an. „Neun Monate und zwei Jahre?“

„Berry wird bald drei. Sie sind hübsch und klug, und sie sind schrecklich süchtig nach Essen.“

„Tut mir leid, Nora. Ich habe schon genug Leute. Möchten Sie Ihre Telefonnummer dalassen, falls sich doch noch etwas ergibt?“

„Die Kirche“, antwortete sie enttäuscht. „In der presbyterianischen Kirche von Virgin River können Sie eine Nachricht hinterlassen. Ich werde jeden Tag nachfragen. Zweimal am Tag.“

Sein Lächeln war nur angedeutet. „Ich rechne nicht damit, dass noch eine Stelle frei wird, aber falls doch – die Nummer habe ich.“ Er notierte sich ihren Namen und daneben einen Hinweis auf die Telefonnummer der Kirche. „Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, hier rauszukommen.“

„Natürlich. Ich musste es doch versuchen. Und wenn Sie irgendetwas hören, ganz egal wo …“

„Selbstverständlich“, erwiderte er, allerdings wusste sie, dass er es nicht so meinte. Er hatte nicht vor, ihr dabei zu helfen, einen Job zu finden.

Nora verließ das kleine Büro und ging zu Noahs Pick-up, um sich daran anzulehnen, während sie auf ihn wartete. Sie hoffte, dass sein Besuch bei Mrs Cavanaugh erfreulich verlief, denn sie hatte ihm grundlos Unannehmlichkeiten bereitet. Tom Cavanaugh hatte sie abgelehnt, weil sie zum Apfelernten nicht kräftig genug und ihrer Kinder wegen nicht zuverlässig genug war.

Nicht immer war es Nora im Leben so ergangen. Nun, es war schwierig gewesen, doch nicht so wie jetzt. Zum einen war sie keineswegs in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Obwohl sie nie erlebt hatte, wie es war, finanziell perfekt abgesichert zu sein, hatte sie stets genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und ordentliche, nicht allzu teure Kleidung gehabt. Eine Weile hatte sie das College besucht und genau wie die meisten anderen Studenten daneben gejobbt. Als einziges Kind einer verbitterten, alleinstehenden Mutter war ihre Kindheit nicht besonders glücklich verlaufen. Irgendwann hatte sie sich von den Avancen eines angesagten, aufregenden Minor-League-Baseballspielers einwickeln lassen. Sie hätte sich damals nicht einmal im Traum vorstellen können, dass er sich in einen knallharten Drogenfreak verwandeln würde, der sie und ihre zwei Kinder ohne Geld in einem winzigen Bergdorf sitzen lassen würde, nachdem er alles, was sie besaßen, verkauft hatte für sein … ähem … Hobby.

Obwohl es sie wirtschaftlich kaum hätte schlimmer treffen können, hatte sie das Glück gehabt, in Virgin River zu landen. Hier hatte sie ein paar gute Freunde gefunden und konnte mit der Unterstützung von Menschen wie Noah Kincaid, Mel Sheridan und ihren Nachbarinnen rechnen. Vielleicht würde es noch eine Weile dauern, aber mit noch etwas mehr Glück könnte sie es irgendwann schaffen und ihren Mädchen ein anständiges Zuhause bieten, in dem sie aufwachsen konnten.

Sie hörte, wie eine Tür zufiel, dem Klang nach eine Fliegengittertür mit Holzrahmen. Es folgte ein Lachen. Als sie hinschaute, entdeckte sie Noah und eine attraktive Frau mit dichten weißen Haaren, die sie kurz geschnitten in einer modernen Föhnfrisur trug. Mit ihrem ausladenden Busen und den etwas molligen Hüften war sie ein wenig rundlich; ihre Wangen waren gerötet, entweder von der Sonne oder vom Rouge, und ihre Augenbrauen hatte sie mit einem dunkelbraunen Stift nachgezogen. Sie trug Lippenstift, und ihr Lächeln ließ sie sehr jung und attraktiv aussehen. Nora hätte nicht sagen können, wie alt sie war. Achtundfünfzig? Vierundsechzig? Sie erinnerte sie an eine Gastgeberin aus einer Landküchen-Kochsendung. Schließlich lachte sie laut, wobei sie sich bei Noah anlehnte.

Nora stieß sich vom Wagen ab und richtete sich auf, denn sie kamen auf sie zu. Sie lächelte schüchtern. Sie war ziemlich verunsichert, nachdem sie gerade den Job nicht ergattern konnte.

„Nora, das ist Maxie Cavanaugh. Sie ist die Besitzerin der Obstplantage und der Cidre-Produktion.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Nora“, meinte Maxie freundlich und reichte ihr die Hand. Nora bemerkte, dass ihre Finger an den Gelenken leicht arthritisch gekrümmt waren, aber ihre Nägel waren manikürt und leuchtend rot. „Sie werden also Äpfel für uns ernten?“

„Also, nein, Ma’am. Ihr Sohn hat bereits genügend Erntehelfer und konnte mich nicht mehr brauchen.“

„Mein Sohn?“, wiederholte Maxie und lachte. „Mädchen, das ist mein Enkel Tom! Ich habe ihn großgezogen. Also … was hatte mir Reverend Kincaid noch erzählt? Sie haben zwei kleine Töchter und momentan nur einen Teilzeitjob?“

„Ja, Ma’am, doch ab Herbst kann ich mehr Stunden übernehmen, da sie in der neuen Schule eine Vollzeitkraft benötigen. Und für die Kindertagesstätte bekomme ich dann auch einen Nachlass. Aber es ist eine nagelneue Schule, und wie es scheint, sind noch alle möglichen Zulassungen nötig, weshalb wir vorläufig noch keine Unterstützung vom County erhalten. Daher war ich ganz begeistert von dem gut bezahlten Job, der mir ein paar … Aber Sie haben schon genug Erntehelfer …“

„Ich wette, wir haben noch Platz für einen mehr.“ Maxie lächelte. „Warten Sie eine Minute!“ Und damit schritt sie über den Hof zu der großen Scheune mit dem kleinen Büro.

Nora schaute Noah in die Augen. „Großmutter?“, fragte sie. „Wie alt ist sie?“

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete er achselzuckend. „Sie sprüht vor Leben, nicht wahr? Das hält sie jung. Sie hat die Kirche immer großzügig unterstützt, obwohl sie nicht sehr oft den Gottesdienst besucht. An Sonntagen hat sie immer das meiste zu tun, sagt sie, und sollte das einmal nicht der Fall sein, hebt sie sich diese Tage zum Ausschlafen auf. Die ganze Woche über arbeitet Maxie hart.“

„Und das ist ihr Enkel?

„Ja. Sie muss früh angefangen haben. Ich glaube, Tom ist um die dreißig.“

„Was wird sie ihm sagen? Er wollte mich nicht einstellen. Er hat nur einen Blick auf mich geworfen und erklärt, dass ich nicht kräftig genug sei, was Blödsinn ist, aber … Andererseits traust du mir den Job ja auch nicht richtig zu, da du glaubst, dass es zu viel für mich ist.“

„Jetzt ist es eine Sache zwischen Maxie und Tom. Und ich kann mich auch mal geirrt haben. Warten wir ab, was passiert.“

Nachdem Nora gegangen war, blieb Tom Cavanaugh noch eine Weile an dem alten Schreibtisch im Büro der Scheune sitzen, in der auch die Apfelpresse untergebracht war. Er war bestürzt und enttäuscht. Als sie hereingekommen war, hatte er sie für einen Teenager gehalten und vermutet, dass Buddy hinter ihr her war. Sie sah so verdammt süß aus mit ihrem Pferdeschwanz, dem hübschen Gesicht und dem zierlichen Körper. Nachdem sie ihm dann gestanden hatte, dass sie dreiundzwanzig war und zwei Kinder hatte, war es ihm nicht gelungen, seine Überraschung zu verbergen. Noch schlimmer: Hätte sie ihm nur ihr Alter genannt, ohne zu erwähnen, dass sie alleinerziehende Mutter war, hätte er ihr Avancen gemacht, die auf ein Date hinausgelaufen wären. Eingestellt hätte er sie nicht; es wäre viel zu problematisch, eine Angestellte zu haben, die ihm wohlige Schauer durch den Körper jagte. Was möglicherweise irgendwann auf Liebe unter den Apfelbäumen hinauslief, und das war streng verboten. Jedenfalls meistens.

Tom war auf dieser Obstplantage aufgewachsen. Ihm war bewusst, wie leicht es war, sich unter Apfelblüten und bei der Herbsternte zu verlieben. Maxie hatte ihn immer davor gewarnt, wie leichtsinnig es war, sich auf so etwas einzulassen; aus dem puren Glück könnte, wenn es schiefging, schnell der pure Rechtsstreit werden, meinte sie. Aber Vorträge hin oder her: Seine erste intime Erfahrung mit einem Mädchen hatte Tom in einer schwülen Sommernacht auf dieser Plantage erlebt, kurz bevor er zum College ging. Er musste noch immer lächeln, wenn er daran dachte.

Und sein Lächeln wurde noch breiter, als er das junge Mädchen aus seiner Vergangenheit in seiner Fantasie mit Nora ersetzte.

Verdammt, diese kleine Nora strahlte Sinnlichkeit aus. Ihre strahlenden Augen, die weichen, vollen Lippen, die Sommersprossen auf ihrer Nase … Einfach ganz sein Typ – wenn sie nicht geheiratet und zwei Kinder zur Welt gebracht hätte und mit dreiundzwanzig schon wieder geschieden wäre. Er suchte nach einer anderen Frau, beständig, klug und mit unumstößlichen moralischen Grundsätzen. Maxie hatte genau einmal geheiratet, nämlich seinen Großvater. Sie war verwitwet, seit Tom das College besuchte, hatte nie wieder geheiratet oder Interesse an Männern gezeigt, nachdem sein Großvater gestorben war. Nicht, dass es in Virgin River viele Männer gäbe, die sie in Betracht gezogen hätte. Außerdem lebte Maxie schon seit Langem nur für das Geschäft, den Ort und ihre vielen Freunde.

Die Bürotür ging auf, und wie aufs Stichwort stand seine Großmutter dort, die er schon immer Maxie genannt hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und verzog den Mund. „Du hast dieses Mädchen nicht eingestellt, obwohl sie verzweifelt einen Job braucht. Sie hat Kinder, die sie ernähren muss.“

„Sie wiegt nicht mehr als eine Fliege!“

„Wir stellen die Leute nicht nach ihrem Gewicht ein. Und wir können es uns leisten, wohltätig zu sein. Ich werde ihr jetzt mitteilen, dass sie einen Job hat. Wann willst du mit der Ernte beginnen?“

„Maxie …“

„Wann?“

„Ich halte das für keine gute Idee, Maxie. Sie könnte die Männer bei der Ernte ablenken.“

Maxie funkelte ihn an, und Tom wusste sofort, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war und genau wusste, um wen er eigentlich so besorgt war. Aber sie sagte nichts. „Okay, dann ziehen wir es ihr vom Gehalt ab, dass sie so attraktiv ist. Wann?“

„Ich denke, am vierundzwanzigsten August. Höchstwahrscheinlich. Aber, Maxie …“

„Abgemacht. Sie ist ein gutes Mädchen. Reverend Kincaid legt seine Hand für sie ins Feuer, und ich wette, sie arbeitet härter als alle anderen. Junge Mütter können sehr entschlossen sein. Zum Teufel, Tom, ich ernte immer noch Äpfel, und ich bin vierundsiebzig! Du könntest etwas großzügiger sein.“

Und damit verließ sie sein Büro.

2. KAPITEL

Es waren drei Komma vier Meilen bis zur Obstplantage der Cavanaughs. Nora machte einen Probelauf, bei dem sie feststellte, dass das, was sie für eine großartige Idee gehalten hatte, in diesem Fall eine ihrer schlechteren gewesen war. Sie dachte daran, Geld für ein gebrauchtes Fahrrad abzuzweigen, denn auf dem Hinweg ging es mehr als drei Meilen bergab bis zu einer leichten Erhebung nahe am Fluss. Und auf dem Rückweg ging es dann drei Komma vier Meilen bergauf. Bis zur Plantage konnte sie es in knapp einer Stunde schaffen, aber der Anstieg zurück nach Virgin River war eine andere Sache. Auf dem Heimweg würde ihr ein Fahrrad wenig helfen, vor allem, wenn ihre Beine müde waren.

Aber statt für ein Fahrrad gab sie das bisschen Geld, das sie zusammenkratzen konnte, lieber für die Gummistiefel aus, die Maxie ihr empfohlen hatte. Nora besaß einen kleinen gebrauchten Kindersportwagen mit Schirm, den sie Adie für das Baby geben konnte. Adie Clemens hatte nicht die Kraft, um Fay auf dem Rücken herumzutragen, denn die Kleine wog bereits mehr als acht Kilo.

Sie hatten ein System entwickelt, um das Babysitten zu organisieren. Frühmorgens, wenn die Kinder noch schliefen, würde Adie die drei Häuser weiter zu Nora kommen, ihnen Frühstück machen, sie anziehen und in die Kindertagesstätte bringen, wobei sie die kleine Fay im Sportwagen schieben konnte. „Auf diese Weise kommst du zu deinem täglichen Spaziergang, auch wenn ich nicht da bin, um dich daran zu erinnern“, sagte Nora und lächelte die alte Dame liebevoll an. „Dein Blutdruck und dein Cholesterinspiegel haben sich sehr verbessert, seit wir damit angefangen haben.“

Adie zog eine Grimasse. „Oh ja, Ma’am“, frotzelte sie.

Das frühe Aufstehen war kein Problem für die alte Dame; sie war ohnehin daran gewöhnt. Sie würde um fünf Uhr mit einem Buch oder ihrer Zeitung und einer Tasse Tee rüberkommen. Das war perfekt, denn Nora wollte besonders früh auf der Plantage eintreffen, weil sie beweisen wollte, dass sie alles tat, um ihre Arbeit gut zu machen. Sie hatte sich ausgerechnet, dass sie, wenn auch mit Mühe, die Kindertagesstätte bezahlen und Adie noch zwanzig Dollar in der Woche für ihre Hilfe geben konnte. Mit ihrer Sozialrente hangelte Adie sich gerade mal so eben von einem Monat zum anderen. Sie hatte zwar gesagt, dass sie kein Geld dafür haben wollte, aber Nora wusste, es würde ihr helfen; Adie konnte wahrhaftig etwas mehr Geld gebrauchen.

Und dann kam das richtige Wunder. Reverend Kincaid teilte ihr mit, dass es ihm gelungen sei, ein „Teilstipendium“ für die Kindertagesstätte zu arrangieren. Nora schossen die Tränen in die Augen. Offenbar hatte die Kirche es übernommen, einigen der berufstätigen Mütter im Ort bei der Versorgung ihrer Kinder unter die Arme zu greifen, damit sie arbeiten konnten. Es war ein ordentlicher Preisnachlass, wodurch es für Nora wesentlich leichter wurde, alles zu stemmen. „Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass du dich uns anschließen und anderen helfen wirst, wenn du erst einmal auf eigenen Beinen stehst“, erklärte Reverend Kincaid.

„Darauf kannst du dich verlassen! Ich kann es kaum glauben, wie dieser Ort mir immer wieder eine Chance gibt. Verdient habe ich es jedenfalls nicht.“

„An dieser Einstellung werden wir noch arbeiten müssen. Du hast es genauso verdient wie jeder andere.“

Als sie sich an ihrem ersten Arbeitstag vor dem Morgengrauen von Adie verabschiedete, sagte sie: „Ich lasse mir auf der Obstplantage eine Telefonnummer geben, damit du mich anrufen kannst, falls es Probleme gibt.“ Allerdings war sie sich keineswegs sicher, was sie tun würde, wenn ein solcher Anruf tatsächlich käme. Wo würde sie dann sein? Irgendwo draußen in den Bäumen, weit weg von Haus und Büro? Und wenn es wichtig war, würde sie dann nach Hause laufen? Den Berg hinauf? „Im Notfall solltest du natürlich Mel Sheridan in der Klinik anrufen, okay?“

„Ich wünschte, du würdest dir nicht so viele Sorgen machen“, winkte Adie ab. „So schwach, wie ich aussehe, bin ich nicht! Ich habe sämtliche Telefonnummern und bringe die Kinder um neun in die Kita. Martha und ich holen sie dort gemeinsam um fünf Uhr ab und nehmen sie auf einen kleinen Imbiss mit nach Hause. Vermutlich wirst du ja dann auch gleich oder ein bisschen später heimkommen.“ Sie lächelte zuversichtlich. „Wir schaffen das schon!“, fügte sie hinzu.

Anders als Maxie Cavanaugh, die aussah, als würde sie ewig leben, wirkte Adie manchmal sehr alt und zerbrechlich. Allein die Nachricht, dass Martha mit anpacken würde, beruhigte Nora etwas.

Ihr Plan war, vor Sonnenaufgang und vor allen anderen Arbeitern auf der Plantage zu sein. Das war nicht leicht. Es war beängstigend, im Dunkeln den Berg hinunterzugehen, während der Nebel um sie herum immer dichter wurde, je weiter sie nach unten kam. Überall hörte sie es rascheln, heulen, knarren. Die Vögel wachten gerade erst auf, und sie war sich nicht sicher, wer sonst noch da draußen unterwegs war, sich in den Bäumen versteckte und an sein Frühstück dachte. Ihr graute davor, von einem wilden Tier gefressen zu werden, deshalb hielt sie den Kopf gesenkt und lief, so schnell sie konnte.

Endlich kam das Tor zur Obstplantage in Sicht, und sie entspannte sich einen Augenblick. Als sie dort ankam, brannten im rückwärtigen Teil des großen Hauses ein paar Lichter, aber sonst rührte sich nichts. Nora ging zu dem Gebäude, in dem das Büro untergebracht war, setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Tür. Sie wollte Mr Cavanaugh beweisen, dass sie bereit war, jede Mühe auf sich zu nehmen, und der Wunsch wurde ihr erfüllt. Gefolgt von einem Hund mit goldfarbenem Fell stapfte er von der hinteren Veranda seines großen Hauses herunter und tauchte im Nebel vor ihr auf, als er auf die Scheune zuging. Sie stand vom Boden auf.

Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen. „Was machen Sie denn hier?“

„Haben Sie den Starttermin verlegt?“, erwiderte sie.

„Nein, aber wir ernten die Äpfel nicht im Dunkeln, es sei denn, es droht Frost.“

„Ich … ich wollte Ihnen nur zeigen, dass ich den Job ernst nehme.“

„Wie es aussieht, kann ich mich darauf verlassen, dass Sie hier untätig herumstehen, bis die anderen eintreffen. Schließlich haben Sie noch nie bei der Ernte geholfen und kennen sich auf dem Gelände nicht aus.“

Oh, er ist aber mürrisch, dachte sie. Ihm kann man es nur schwerlich recht machen. Nun, dank ihrer Mutter wusste sie, wie man mit solchen Menschen umging. „Gibt es etwas, das ich hier tun kann, bis die anderen kommen?“

„Können Sie Kaffee kochen?“, fragte er.

„Kann ich“, antwortete sie, war sich aber keineswegs sicher, ob sie auch guten Kaffee kochen konnte. „Wo ist die Kanne?“

„Im Pausenraum hinter dem Büro.“

Und sofort dachte sie: Ich bin so ein Idiot. Es gibt hier einen Pausenraum, einen Raum, in dem man etwas essen kann! Und an Essen hatte sie nicht einmal gedacht. Nun ja, heute würde sie sich ein oder zwei Äpfel stibitzen und morgen ein Sandwich einpacken. Im Pausenraum stand eine große Kanne für dreißig Tassen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Löffel Kaffeepulver auf eine Tasse Wasser kamen, und hoffte aufs Beste.

„Lieber Himmel!“, rief Tom Cavanaugh aus. „Glauben Sie, dass Sie auch genug Kaffee für dieses Gebräu verwendet haben? Darin bleibt ja der Löffel stehen!“

„Mein Dad hat ihn immer gerne stark getrunken“, behauptete sie und straffte die Schultern, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob ihr Vater überhaupt Kaffee getrunken hatte.

„Gehen Sie ins Haus!“, wies er sie an. „Maxie ist in der Küche. Bitten Sie sie um Sahne und Zucker.“

Nein. Bitte nicht. Nein. Wenn Sie nichts dagegen haben. „Natürlich“, sagte sie.

Anstatt zu gehen, fiel sie in einen Laufschritt. Dann klopfte sie an die Fliegengittertür. „Kommen Sie herein, Nora“, rief Maxie. Sie saß im Morgenmantel am Küchentisch, trug Pantoffeln an den Füßen und trank ihren eigenen Kaffee. Vor ihr lag eine aufgeschlagene Zeitung, in der sie das Kreuzworträtsel löste. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich soll Sahne und Zucker für den Kaffee holen. Bis jetzt habe ich heute alles falsch gemacht. Ich bin zu früh gekommen und habe einen Kaffee gemacht, der zu stark ist.“

Maxie lachte. „Ach wirklich? Gießen Sie einfach ein oder zwei Tassen weg und füllen heißes Wasser nach. Dann sollte er Ruhe geben. Was war falsch an Ihrem Arbeitszeitbeginn?“

„Ich schätze, ich war zu früh hier, und weil ich mich nicht auskenne, bin ich zu nichts zu gebrauchen, außer ihm seinen Kaffee zu verderben.“

Maxies Miene war nicht zu deuten. „Hört sich ganz so an, als wäre da jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden. Ich würde bei einem Angestellten so etwas eher bewundern. Natürlich nur den Teil mit der frühen Ankunft. Morgen werden Sie wissen, wo Sie alles finden. Und er kann sich seinen Kaffee selbst kochen.“ Sie wies auf den Tresen. „Dort finden Sie Sahne und Zucker. Die hat Tom übrigens vergessen.“ Nora holte das Kännchen und die Zuckerdose, und Maxie sagte: „Wahrscheinlich werde ich langsam taub, aber ich habe kein Auto gehört.“

Nora drehte sich wieder zu ihr um. „Ich habe keinen Wagen.“

Maxie sah sie ruhig an. „Verstehe. Zu Fuß ist das ein ganz schön weiter Weg, nicht wahr?“

„Drei Komma vier Meilen.“ Nora lächelte. „Meine Zeit war echt gut. Morgen werde ich später kommen, denn so früh am Morgen scheint Mr Cavanaugh nicht in der Stimmung für Gesellschaft zu sein.“

Maxie grinste. „Regeln Sie das mit dem Kaffee so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Es ist normal, dass man bei einem neuen Job in den ersten Tagen nicht immer alles hundertprozentig richtig macht. Sie werden es schon schaffen.“

„Ich will’s versuchen. Und danke für den Job. Ich weiß, dass ich es Ihnen zu verdanken habe, dass er mich doch noch genommen hat, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich …“

„Vor sehr langer Zeit, viele Jahre bevor Sie zur Welt gekommen sind, hatte ich keinen Pott zum Pinkeln und kein Fenster, aus dem ich ihn hätte ausschütten können. Damals hat mich eine alte Frau zum Apfelpflücken eingestellt, und es war die beste Arbeit, die ich je hatte. Ich hoffe, dass sich für Sie auch alles zum Guten wendet.“

Nora lächelte. „Ich danke Ihnen, Mrs Cavanaugh!“

„Ein für alle Mal: Ich bin Maxie. Und das ist wirklich gern geschehen.“

Die kniehohen Gummistiefel waren eine ausgezeichnete Investition gewesen, um trockene Füße zu behalten, denn unter den Bäumen war der Boden manchmal sehr aufgeweicht. Nora trug die Stiefel über ihren Tennisschuhen. Aber es war kalt auf dem feuchten Boden, und vor allem frühmorgens trugen die Gummistiefel wenig dazu bei, ihre Füße warm zu halten. Sie hatte eiskalte Zehen. In der Mittagspause zog sie sich Stiefel, Tennisschuhe und Socken aus und versuchte sie warm zu reiben.

Die anderen Erntehelfer – allesamt Männer – trugen ihre Gummistiefel über teuren Schnürstiefeln mit Stahlkappe und mussten sich die Füße nicht reiben, um ihre Zehen wiederzubeleben.

Nora hatte Probleme mit Händen, Füßen, Armen und Schultern. Vom Schleppen des Stoffbeutels, den sie sich über die Schultern schlang, hatten sich Blasen an den Händen gebildet, und nach ein paar Tagen Apfelpflücken sprangen diese Blasen auf, bluteten und taten höllisch weh. Wenn sie nicht aufpasste, riss sie sich obendrein die Hände an den Holzkisten und Behältern auf. Die Männer trugen die meiste Zeit Handschuhe; sie hatte keine Handschuhe, und ihre Hände mussten einiges einstecken. Dazu passend hatte sie Blasen an den Fersen, einfach deshalb, weil sie mehr lief als im Leben zuvor, und obgleich sie sich mit Pflastern wappnete, rieb sie sie zu schnell auf. Trotz ihrer guten körperlichen Verfassung litten ihre Schultern, ihr Rücken und ihre Beine, wenn sie einen Sack mit mehr als zwanzig Kilo Äpfeln auf dem Buckel eine Leiter hinuntertrug. In der rechten Schulter hatte sie tierische Schmerzen vom Pflücken, aber sie wagte es nicht, deshalb langsamer zu werden. Es tat ihr nur einfach alles weh.

Nora musste sich anstrengen, um mit den Männern Schritt halten zu können. Sie war ihnen nicht ebenbürtig, das war offensichtlich. Aber Buddy lobte hin und wieder ihre Bemühungen und sagte, dass sie sich für eine Anfängerin gut hielt. Natürlich war klar, dass Buddy sich mit ihr verabreden wollte, aber das versuchte sie zu ignorieren, denn dazu würde es niemals kommen.

Nach dem ersten Tag war es zwar nicht mehr stockdunkel, wenn sie zur Arbeit ging, aber sie machte sich im Morgengrauen auf den Weg, und die vielen Tiergeräusche machten ihr nach wie vor zu schaffen. Es gelang ihr, die Plantage zu erreichen, wenn es gerade richtig hell geworden war, damit sie Kaffee machen konnte; das hatte sie inzwischen perfektioniert. Jeden Tag packte sie sich ein Sandwich ein; die Äpfel gingen aufs Haus. Sie ging immer als Letzte und kam gegen sechs Uhr nach Hause.

Wenn sie dort ankam, hatten Adie und Martha mit vereinten Kräften die Kinder bereits von der Tagesstätte abgeholt, sie gebadet und gefüttert. Es war eine so große Hilfe, dass es Nora vor Dankbarkeit jedes Mal fast zu Tränen rührte.

„Adie, du musst völlig erschöpft sein“, sagte sie. „Sie schaffen sogar mich!“

„Es geht mir gut“, erwiderte die alte Dame. „So fühle ich mich nützlich. Ich werde gebraucht. Aber ich wäre die Erste, die zugibt, dass sie in der Wanne kaum zu bändigen sind. Sie baden wirklich gern.“

„Gott sei Dank gibt es noch Martha!“ Nora versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ein wenig Mühe hatte, das Baby in den kleinen Sportwagen zu setzen, aber zum Glück achtete Adie nicht darauf.

„Weißt du, was einfach wundervoll ist? Sie sind immer ganz begeistert, wenn ich zur Kita komme, um sie abzuholen“, erzählte Adie fröhlich weiter, während Nora ihre Kinder fertig anzog, um sie mit nach Hause zu nehmen. „Die Betreuer sagen, dass es den Mädchen dort sehr gut gefällt. Sie essen gut und schlafen gut, und sie scheinen sich dort sehr wohl zu fühlen.“

Wichtiger noch als das zusätzliche Einkommen war, dass ihre Mädchen in einem sicheren Rahmen Umgang mit liebevollen Erwachsenen und anderen Kindern hatten. „Ist Ellie Kincaid manchmal dort?“, fragte Nora.

„Ich sehe sie jeden Morgen. Ich glaube, sie ist so etwas wie die offizielle Schirmherrin der Kita. Sie nimmt die Kinder in Empfang und macht jeden Tag einen großen Wirbel, wenn sie kommen. Ich habe mich bereit erklärt, bei der Snack-Ausgabe zu helfen, und passe auf, wenn sie ihr Nickerchen halten.“

„Oh, Adie, du bist unbezahlbar!“

„Warum nicht? Ich habe Zeit. Und ich liebe Kinder.“

In dieser ersten Woche bekam Nora von Tom Cavanaugh nicht viel zu sehen, und wenn, dann redeten sie nicht miteinander oder hatten auch nur Augenkontakt, obwohl sie früh genug eintraf, um sicherzustellen, dass sein Kaffee fertig war. Es war ihr nur recht, denn sie war nicht bereit, sich von ihm als schwach einstufen zu lassen, nur weil sie wunde Hände und einen Muskelkater hatte, weshalb sie sich langsamer bewegte und manchmal vor Schmerzen wand. Sie sah ihn, wenn er sich hin und wieder mit anderen Erntehelfern unterhielt, die vollen Behälter mit dem Gabelstapler abtransportierte oder auch im Gebäude der Apfelpresse. Aber weder arbeiteten sie zusammen noch plauderten sie miteinander. Warum auch?

Er beklagte sich nie wieder über den Kaffee. Und er dachte jeden Morgen an Sahne und Zucker.

Am Ende der Woche war sie so müde, dass sie glaubte, jeden Augenblick umzufallen und einen Monat lang schlafen zu können. Mr Cavanaugh erklärte den Erntehelfern, dass sie sich aussuchen konnten, ob sie am Wochenende arbeiten oder lieber freinehmen wollten. Es war nicht so, dass sie sich in einer kritischen Erntephase befanden wie etwa bei einer Überreifung der Äpfel oder drohendem Frost. Aber er zahlte einen Überstundenzuschlag, weshalb Nora sich dann auch eintrug, obwohl sie so steif war, dass sie ihre Finger kaum noch bewegen oder ihren rechten Arm – ihren Pflückarm – heben konnte. Sie hoffte, dass Adie und Martha ihr bei den Kindern helfen würden, eventuell auch Ellie Kincaid oder eins der Mädchen im Ort, die als Babysitter arbeiteten. Überstunden, das klang verlockend.

Als sie an diesem Freitagnachmittag auf ihrem Heimweg allein war und die lange Strecke den Berg hinaufstieg, erlaubte sie sich, die Zügel ein wenig zu lockern. Ihr ganzer Körper schmerzte, und das mit der Aussicht auf weitere sieben lange Tage Arbeit. Es fiel ihr schwer, ihre kleinen Mädchen in die Arme zu nehmen; es tat ihr weh, sie hochzuheben. Es gab Stellen an ihren Händen, die anfingen zu bluten, wenn sie sie nicht verband. Falls Adie und Martha es nicht geschafft haben sollten, die beiden zu baden, bevor sie nach Hause kam – Nora wusste nicht, wie sie es bewerkstelligen sollte. Was ihre eigene tägliche Dusche anging, so brannten Seife und Wasser derart stark, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Auch würde sie bald jemanden bitten müssen, an einem Abend Waschmaschine und Trockner benutzen zu dürfen, denn der Berg Schmutzwäsche wuchs immer mehr an, und sie hatten kaum noch etwas anzuziehen.

Weil niemand sie sehen konnte, tat sie etwas, das sie sehr lange nicht mehr getan hatte. Zum ersten Mal seit Monaten weinte sie. Sie sagte sich, dass es eine gute Arbeit war, und dass sie froh sein sollte, sie zu haben. Ihre Hände würden heilen und Hornhaut bilden, Arme und Beine würden Muskeln aufbauen und stärker werden. Sie brauchte nichts weiter als Mut und Zeit. Schließlich hatte sie die Arbeit nicht angenommen, weil sie leicht war.

Als sie den Motor eines Fahrzeugs hörte, hatte sie keine Ahnung, wer das sein könnte. Sie ging immer als Letzte der Mannschaft, damit niemandem auffiel, dass sie zu Fuß unterwegs war. Für sie war es eine Frage des Stolzes; sie wusste, dass sie in Not war, und es fiel ihr schwer genug, ihren Kindern zuliebe Almosen anzunehmen. Rasch wischte Nora sich die Tränen von den Wangen und schob ihre wunden Hände vorn in die Tasche ihrer Kapuzenjacke. Den Blick zu Boden gerichtet, hielt sie sich am Straßenrand und ging schneller. Und der Pick-up fuhr an ihr vorbei.

Aber dann wurde er langsamer, hielt an und fuhr wieder zurück. Tom. Weil das Glück in letzter Zeit nicht auf ihrer Seite war. Wie überhaupt in den letzten dreiundzwanzig Jahren.

Selbstverständlich war es ein neuer, großer, teurer Pick-up. Und natürlich hatte sie ihn schon vorher gesehen. Auf der Seite befand sich der Schriftzug Cavanaugh Apples, er hatte eine erweiterte Fahrerkabine, und auf der Ladefläche standen viele Apfelkisten. Sie hielt die Augen weiter zu Boden gerichtet, schniefte gegen die Tränen an und konnte nur hoffen, dass keine Spuren davon auf ihren Wangen zu sehen waren. Sie war viel zu verlegen, um sich dabei ertappen zu lassen, wie sie vor lauter Selbstmitleid weinte, schon gar nicht von ihm.

Er ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. „Nora?“, rief er.

Sie blieb stehen und blickte auf. „Ja?“

„Muskelkater?“

„Ein bisschen“, antwortete sie schulterzuckend. Oh, selbst dieses Schulterzucken tat weh! „Es ist das erste Mal für mich“, fügte sie hinzu, als müsste sie das erklären. „Mir fehlen noch ein paar Muskeln.“

Tom wandte kurz den Blick ab, sah dann aber schnell wieder zu ihr zurück. „Lassen Sie mich mal Ihre Hände sehen.“

„Warum?“

„Kommen Sie schon, zeigen Sie her“, kommandierte er. Sie zog die Hände aus der Tasche, spreizte die Finger, hielt die Handflächen jedoch nach unten. Ungeduldig verdrehte er die Augen. „Drehen Sie sie um, Nora!“

„Wozu?“

„Ich wette, Sie haben sie in der Tasche versteckt, weil sie Risse, Blasen oder sonst was haben. Los jetzt, umdrehen.“

Sie stöhnte verärgert und wandte den Blick ab, während sie ihre Hände umdrehte.

Nun klang seine Stimme etwas weicher. „Tun Sie mir den Gefallen und heben einmal den rechten Arm.“

Aus purem Stolz hob sie ihn ganz hoch.

„Kommen Sie, steigen Sie ein.“

Sie riss den Kopf hoch. „Was?“

„Steigen Sie ein! Ich weiß, was dagegen zu tun ist“, erklärte er. „Glauben Sie etwa, es ist das erste Mal, dass ich so etwas sehe? Bisher haben sie nichts anderes getan als Windeln gewechselt. Ihre Hände und Schultern waren nicht auf Bäume, Behälter, Leitern und schwere Säcke eingestellt. Ihre Schultermuskeln sind vom Pflücken und Tragen überlastet. Steigen Sie ein, ich werde Sie verarzten. Das hätten Sie mir sagen müssen.“

Sie zögerte, aber allein die Vorstellung, dass er diese Schmerzen vertreiben könnte, reichte ihr. Sie öffnete die schwere Tür des Pick-ups, was höllisch wehtat, zog sich hoch und stieg ein.

Mit einigen Schwierigkeiten gelang es Tom Cavanaugh, auf der schmalen Fahrbahn zu wenden, dann fuhr er zurück zum Haus und dem Büro. Er sah sie an. „Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?“

Nora starrte nur geradeaus. „Sie wollten mich nicht einstellen. Ihre Großmutter hat Sie dazu überredet. Und Sie waren nicht besonders freundlich. Ich dachte, Sie würden mich einfach feuern.“

„Weil Sie Blasen an den Händen und Muskelkater haben? Lieber Himmel! Sehe ich wirklich so aus, als wäre ich ein solcher Unmensch?“

„Sie haben gesagt, Sie glauben nicht, dass ich für den Job geeignet wäre. Ich wollte nicht, dass Sie recht behalten.“

„Hören Sie mir zu. Sie haben den Job, und ich kann sehen, dass Sie Ihr Bestes geben.“ Als sie ihn wütend anfunkelte, fügte er hinzu: „Okay, Sie machen das ziemlich gut. Aber es ist gefährlich, auf einer Farm oder Plantage mit Wunden herumzulaufen, ohne sie zu behandeln. Sie müssen darauf achten. Sie sind doch Mutter, nicht wahr? Ihre Kinder würden Sie doch auch nicht mit einer Wunde herumlaufen lassen, die sich entzünden könnte, wenn man nichts dagegen tut. Habe ich recht?“

„Ich helfe stundenweise in der Klinik aus. Wenn es sich entzündet hätte, hätte ich mich dort gemeldet.“

„Dann könnten Sie vielleicht schon zu lange gewartet haben, und das wäre schlecht für uns beide. Lassen Sie uns eine Vereinbarung treffen, Sie und ich. Von jetzt an werden Sie mir Bescheid sagen, wenn Sie ein Problem haben.“

Im Stillen musste sie sich eingestehen, dass ihr das sehr schwer fallen würde. Aber zu ihm sagte sie: „Okay.“

Er hielt vor der hinteren Veranda. „Kommen Sie in die Küche“, forderte er sie auf, ohne darauf zu warten, dass sie ihm folgte. Bevor sie überhaupt aus dem Pick-up steigen konnte, war er bereits über die Verandatreppe in die Küche verschwunden. Als sie dort eintraf, hatte er eine Schublade geöffnet, aus der er allerlei Utensilien holte und auf den Tresen legte. „Setzen Sie sich einfach an den Tisch, gleich hier.“

Sie setzte sich und wartete nervös.

Tom füllte warmes Seifenwasser in eine Rührschlüssel, legte ein Handtuch über ihren Schoß und stellte ihr die Schlüssel auf die Knie. „Ich weiß, es wird brennen, aber ich möchte, dass Sie Ihre Hände kurz darin einweichen, um sie ganz sauber zu bekommen. Beißen Sie einfach die Zähne zusammen und tun Sie es bitte.“

Nora wäre eher gestorben, als sich auch nur das geringste Unbehagen anmerken zu lassen. Als sie ihre Hände in das Wasser tauchte, biss sie sich auf die Unterlippe, um nicht zusammenzuzucken, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen stiegen. Er bemerkte es nicht, denn er hatte ihr den Rücken zugekehrt, während er seine Erste-Hilfe-Ausrüstung heraussuchte. Schließlich trug er alles zum Tisch. Darunter befanden sich eine altmodisch aussehende Zinnkanne, eine Tube, etwas Verbandszeug, ein weiteres Handtuch, eine kleine Schüssel mit Löffel und Gummihandschuhe. Er bürstete und trocknete seine Hände ab, als hätte er vor, sie zu operieren. Schließlich zog er einen Stuhl heran, setzte sich vor sie und spreizte seine langen Beine, sodass sich ihre Knie dazwischen befanden.

„Wir kennen uns noch nicht, also lassen Sie mich ein paar Dinge erklären. Mit Ausreden kann ich nichts anfangen, aber echte Probleme vor mir zu verbergen ist keine gute Idee. Wenn Sie für mich arbeiten, müssen Sie aufrichtig sein. Haben Sie das verstanden?“

„Ich bin immer aufrichtig, und ich brauche diese Arbeit“, erwiderte sie beleidigt und defensiv. „Ich habe genauso eine Familie zu versorgen wie die Männer.“

„Na schön. Aber die Männer haben schon lange als Holzfäller und Landarbeiter gearbeitet. Ihre Hände sind rau und schwielig. Hart wie Leder. Und sie haben mittlerweile kräftige Muskeln.“ Er zeigte ihr seine eigenen Schwielen, nahm aber Gott sei Dank davon Abstand, seine Muskeln spielen zu lassen. Dann nahm er ein Handtuch und wies auf die Schüssel. „Lassen Sie mich einmal Ihre rechte Hand sehen.“

„Das sind doch nur Blasen“, sagte sie, ohne zu erwähnen, dass ihre Fingergelenke so steif waren, dass sie sie gar nicht bewegen mochte.

„Wenn Sie nichts dagegen unternehmen, werden sie lange Zeit nicht heilen. Ich kann etwas dagegen unternehmen.“ Er reichte ihr das Handtuch. Sie hob die Hand, und er tupfte sie sehr vorsichtig trocken. Es war nicht allzu schlimm – ein paar Blasen und zwei Schnitte von den rauen Holzbrettern einer Apfelkiste. Dann fragte er nach der linken Hand, und sie legte sie ins Handtuch. Die Schüssel stellte er auf den Tisch.

„Lassen Sie Ihre Hände jetzt noch etwas trocknen und legen Sie sie dabei mit den Handflächen nach oben aufs Handtuch“, wies er sie an. Er selbst machte sich daran, etwas von der schmierigen Masse aus der Zinnkanne mit der Salbe aus der Tube zu vermischen. „Das ist Euterfett und eine Salbe, die Veterinäre manchmal benutzen, um …“ Sie zuckte sichtlich zurück, und er lachte leise. „Maxie schwört darauf, vor allem bei Arthritis. Sie wirkt Wunder.“

Als er seine Masse fertig gemischt hatte, trug er von dieser Salbe vorsichtig etwas auf die wunden Stellen in ihrer Handfläche auf. Er tauchte seine Fingerspitzen in die Mischung, und seine Berührung war so zart, dass sie innerlich bebte. Sie hatte damit gerechnet, dass es wehtun würde, aber es fühlte sich angenehm und leicht an; mit geschlossenen Augen genoss sie seine Fürsorge. Gott sei Dank sagte er nichts. Auch sie schwieg. Es war so lange her, dass sie auf diese Weise berührt worden war, an das letzte Mal konnte sie sich schon gar nicht mehr erinnern. Und wie seltsam, dass es jemand tat, den sie hasste.

Nun ja, vielleicht hasste sie ihn nicht gerade, aber sie mochte ihn nicht besonders. Entweder hatte er sich ihr gegenüber feindselig verhalten oder sie komplett ignoriert.

Er verband ihre Hände und zog die Gummihandschuhe darüber. Genau in diesem Moment kam Maxie mit dem gelben Hund in die Küche. Offensichtlich kannte sie das Prozedere, denn sie lächelte und fragte. „Soll ich weitermachen, Tom?“

„Ich komme zurecht.“ Er schüttelte sich zwei Tabletten in die Handfläche und reichte sie Nora. „Die müssen Sie gegen den Muskelkater nehmen. Es ist nur ein rezeptfreies entzündungshemmendes Schmerzmittel, aber ich gebe Ihnen eine Flasche davon mit nach Hause. Ich fürchte, dieses Wochenende werden Sie auf die Überstunden verzichten müssen, denn Sie müssen sich erholen, sonst wird alles nur schlimmer. Ich gebe Ihnen alles mit, was Sie brauchen – Euterfett, Salbe, Verbandszeug, einen Eisbeutel, noch ein paar Gummihandschuhe. Ziehen Sie die Handschuhe an, wenn Sie schlafen gehen. Und tragen Sie sie, wenn sie wieder zur Arbeit kommen. Lassen Sie die Salbe auf Ihren Händen. Morgens und abends wechseln Sie den Verband und tragen die Salbe neu auf. Nehmen Sie alle vier Stunden eine Tablette, und Ihre Muskeln werden sich wieder erholen.“

Dann drückte er etwas Creme aus der Tube auf seine Fingerspitzen und schob sie im Nacken unter ihr T-Shirt. Ohne das geringste Anzeichen von Verlegenheit ließ er den dünnen Träger ihres BHs über die Schulter gleiten und fing an, die Salbe auf ihrer Schulter und dem Schulterblatt einzumassieren.

„Oh, das wird Ihnen guttun“, sagte Maxie. „Wenn es mit meinen Händen ganz schlimm wird, benutze ich diese Creme auch. Sie wirkt Wunder.“

Seine großen schwieligen Hände fühlten sich auf ihrer Schulter und am Rücken so fest an, so sanft, so wundervoll. Er massierte sie in langsamen, kreisenden Bewegungen mit den Fingerspitzen. Der reinste Luxus! Es dauerte nur ein paar Minuten, um die Salbe einzureiben, und als er damit fertig war, ging er zur Gefriertruhe, wo er einen Eisbeutel holte, den er ihr vorsichtig auf die Schulter legte.

„Und jetzt Eis. Dann sind Sie wieder wie neu“, sagte er. „Wenn sie Montag zur Arbeit kommen, tragen Sie Arbeitshandschuhe. Ich werde Ihnen ein paar geben.“ Auf einmal stand ein Glas Wasser vor ihr, damit sie ihre Pillen einnehmen konnte. „Wie sieht es mit Ihren Füßen aus? Blasen?“

„Mit meinen Füßen ist alles in Ordnung.“ Sie waren wund und voller Blasen, aber Nora wollte nicht, dass er ihre Füße berührte. Obwohl der Gedanke etwas für sich hatte. Das Gefühl, wie er mit seinen rauen Händen vorsichtig die Salbe auf ihre schmerzenden Füße strich, könnte himmlisch sein.

Er nahm eine kleine braune Tasche und packte alles ein, von der Salbe bis hin zu den Handschuhen, und gab sie ihr. „Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.“

Sie stand auf. „Ich kann genauso gut laufen.“

Er grinste. „Ich fahre nach Virgin River, Nora, und ich nehme Sie mit. Vielleicht sollten Sie sich einmal umhören, ob nicht jemand in Ihre Richtung fährt und Sie mitfahren können. Fragen Sie doch Buddy! Er wäre mehr als glücklich, Ihnen …“

„Wir sollten Buddy nicht ermuntern. Und es macht mir nichts aus, zu laufen“, beharrte sie. „Ich bin schnell.“

Tom hielt ihr die Tür auf. „Wenn Sie einem Berglöwen begegnen, sind Sie sogar noch schneller.“

Wie angewurzelt blieb sie stehen und sah ihn an. „Sehr witzig.“

Er zog nur eine Augenbraue hoch und lächelte.

„Bis Montag, Maxie“, verabschiedete sie sich.

„Schönes Wochenende, Nora!“

3. KAPITEL

Nora gefiel es gar nicht, auf die Überstunden verzichten zu müssen, weil sie am Wochenende zu Hause blieb. Aber sie ging mit ihren Mädchen auf den Spielplatz der Grundschule, wo sie Fay in der Babyschaukel anschubste, während Berry sich auf der Rutsche und am Klettergerüst vergnügte. Sie tröstete sich damit, dass weitere Überstunden anfallen würden, wenn sie so weit wiederhergestellt war, dass sie sie annehmen konnte, ohne einen Schaden fürs Leben davonzutragen.

Es war noch so früh, dass sie überrascht war, Noah Kincaid zu sehen, der auf sie zukam. „Hey“, rief sie ihm zu. „Kleiner Morgenspaziergang?“

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