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Happy End in Virgin River

Als Buch hier erhältlich:

Die Bücher zur beliebten Netflix-Serie

Ex-Marine Mike Valenzuela ist seinen Freunden nach Virgin River gefolgt. Nach einer Verletzung im Dienst erscheint ihm das kleine Bergdorf der perfekte Ort zu sein, um sich von den körperlichen und seelischen Blessuren zu erholen. Insgeheim hofft er, hier das große Glück zu finden – vielleicht mit Brie Sheridan? Auch sie kämpft mit der Vergangenheit, und ihre Wunden gehen noch viel tiefer als seine. Mike ist entschlossen, ihr beizustehen und einen Platz in ihrem Herzen zu erobern.

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.«
The Library Journal


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745752304
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Lange vor Sonnenaufgang war Mike Valenzuela bereits aufgestanden und hatte sein Gepäck im Jeep verstaut. Nach Los Angeles war es weit, und er wollte früh aufbrechen, denn je nach Verkehrslage in der Bay Area würde die Fahrt von Virgin River aus etwa acht bis zehn Stunden dauern. Er verriegelte sein Wohnmobil, das nun sein Zuhause war und das er auf dem Gelände von Jacks Bar-Restaurant geparkt hatte. Jack und Preacher würden ein Auge darauf halten, aber Mike rechnete eigentlich nicht mit Problemen, was einer von mehreren Gründen war, weshalb er sich dazu entschlossen hatte, hier zu leben. Es war ruhig. Ein kleiner, friedlicher, wunderschöner Ort und nichts, das seinen Seelenfrieden störte. Davon hatte Mike in seinem früheren Leben genug gehabt.

Bevor er sich entschlossen hatte, auf Dauer in Virgin River zu bleiben, war er oft zum Jagen und Fischen in dieses Bergdorf im Humboldt County gekommen, um sich mit seinem ehemaligen Marinetrupp zu treffen, der noch immer fest zusammenhielt. Damals war er Sergeant im LAPD gewesen, dem Los Angeles Police Department, Abteilung für Bandenkriminalität, bis dies alles ein Ende fand, als während eines Einsatzes auf ihn geschossen wurde. Drei Kugeln hatten ihn getroffen, und er hatte schwer darum kämpfen müssen, seinen Körper wieder in den Griff zu bekommen. Dazu waren Preachers kräftige Mahlzeiten nötig gewesen und auch die Hilfe von Jacks Frau Mel, die ihn mit physiotherapeutischen Übungen für seine Schulter unterstützte. Nach sechs Monaten war er jetzt so gut wie ganz wiederhergestellt.

Seit seinem Umzug nach Virgin River war er nur ein einziges Mal nach Hause gefahren, um seine Eltern und seine Geschwister mit ihren Familien zu besuchen. Eine Woche hatte er nun eingeplant, je einen Tag für die Hin- und Rückfahrt und fünf Tage für diese Bande von lachenden, tanzenden Mexikanern. Wie er seine Familie kannte, würde es ein einziges Fest ohne Pause werden. Von früh bis spät würden seine Mutter und seine Schwestern in der Küche stehen und seine Brüder dafür sorgen, dass immer ausreichend cerveza im Kühlschrank lag, während Freunde der Familie und Kollegen aus dem Department vorbeischauten. Er freute sich auf eine schöne Zeit, eine großartige Heimkehr nach seiner langen Genesung.

Drei Stunden war er bereits unterwegs, als sein Handy klingelte. Der Lärm erschreckte ihn, denn Virgin River war gänzlich ohne Handyempfang, sodass ein Telefonanruf das Letzte war, womit er rechnete.

„Hallo?“, meldete er sich.

„Du musst mir einen Gefallen tun“, platzte Jack ohne Einleitung heraus. Seine Stimme klang rau, als sei er noch nicht ganz wach. Wahrscheinlich hatte er vergessen, dass Mike in den Süden unterwegs war.

Mike warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Nicht mal sieben. Er lachte. „Ja klar, aber ich bin schon fast in Santa Rosa, da dürfte es ein wenig schwierig werden, mal eben nach Garberville zu düsen und dir Eis für die Bar zu besorgen, aber hey …“

„Mike, es geht um Brie“, unterbrach ihn Jack. Brie war Jacks jüngste Schwester, seine Kleine, sein Liebling. Und auch für Mike war sie etwas Besonderes. „Sie ist im Krankenhaus.“

Mike geriet auf dem Highway regelrecht ins Schlingern. „Bleib dran“, rief er. „Leg nicht auf.“ Er lenkte den Wagen von der Straße hinunter auf ein sicher wirkendes Stück vom Seitenstreifen. Dann holte er einmal tief Luft und sagte: „Sprich weiter.“

„Sie wurde irgendwann letzte Nacht überfallen“, erklärte Jack. „Zusammengeschlagen. Vergewaltigt.“

„Nein!“, stöhnte Mike. „Was?“

Jack wiederholte sich nicht. „Mein Vater hat mich gerade erst angerufen. Mel und ich packen bereits und werden so schnell wie möglich aufbrechen. Hör zu, ich brauche jemanden, der sich in der Strafverfolgung auskennt, im Strafrecht, und der mir erklärt, wie es jetzt weitergeht. Den Kerl, der das getan hat, haben sie nicht. Also wird doch wohl eine Fahndung eingeleitet, richtig?“

„Wie schlimm ist sie verletzt?“, fragte Mike.

„Mein Dad hatte nicht gerade viele Details, aber sie ist nicht mehr in der Notaufnahme und liegt jetzt mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt im Dämmerzustand in einem Zimmer. Keine Operation. Kannst du dir mal ein paar Nummern aufschreiben? Und lässt du bitte dein Handy an, damit ich dich erreichen kann? Dir Fragen stellen kann? Solche Sachen?“

„Natürlich. Ja“, antwortete Mike. „Gib mir die Nummern.“

Jack diktierte ihm die Telefonnummern vom Krankenhaus, Jacks Vater Sam und auch die von Mels altem Handy, das sie auf dem Weg nach Sacramento aufladen wollten und dann bei sich haben würden.

„Gibt es schon einen Verdächtigen? Kannte sie den Kerl?“

„Ich weiß nichts, außer, in welchem Zustand sie sich befindet. Wenn wir unterwegs das Telefon aufgeladen haben und aus den Bergen und den Redwoods raus sind, werde ich meinen Dad anrufen und hören, was er mir sonst noch sagen kann. Jetzt muss ich los. Ich muss zu ihr.“

„Sicher“, stimmte Mike ihm zu. „Okay. Ich werde mein Handy rund um die Uhr in der Tasche behalten, und ich werde das Krankenhaus anrufen und schauen, was ich herausfinden kann.“

„Danke. Das weiß ich zu schätzen“, sagte Jack und legte auf.

Mike blieb auf dem Seitenstreifen stehen und starrte geraume Zeit nur hilflos das Telefon an, während er in Gedanken wiederholte: Nicht Brie. Oh Gott, nicht Brie!

Ihm schossen Erinnerungen an gemeinsame Zeiten durch den Kopf. Vor ein paar Monaten war Brie nach Virgin River gekommen, um ihren neuen Neffen kennenzulernen, Jacks und Mels Baby. Mike hatte sie zu einem Picknick am Fluss eingeladen. Es war ein ganz besonderer Platz, wo der Fluss breit, aber zu flach war, um für Angler interessant zu sein. An einen Felsblock gelehnt hatten sie am Ufer ihr Essen verzehrt, während sie dem Wasser lauschten, das leise flüsternd über die Steine lief. Junge Liebespaare und Teenager kamen oft an diesen Ort, und der große alte Fels am Flussufer hatte manch wunderbare Dinge gesehen und wahrte viele Geheimnisse. Tatsächlich waren ein paar davon seine eigenen, denn an diesem Tag hatte er lange Bries Hand gehalten, und sie hatte sie ihm nicht entzogen. Zum ersten Mal war ihm aufgefallen, wie sehr er von ihr angezogen war. Ein Schwarm. Mit siebenunddreißig Jahren schien es ihm der Schwarm eines alten Mannes zu sein, aber verflucht, er litt dieselben Qualen wie ein Sechzehnjähriger.

Vor ein paar Jahren schon war Mike ihr erstmals begegnet, als er zu ihrem Bruder Jack nach Sacramento gefahren war, der kurz vor seinem letzten Irakeinsatz Urlaub hatte und seine Familie besuchte. Damals hatte Mike keine Ahnung gehabt, dass man seine eigene Reserveeinheit aktivieren und er Jack dort wiedersehen würde, um ein zweites Mal unter seinem Kommando zu dienen. Natürlich war Brie, die kurz zuvor einen Polizeibeamten aus Sacramento geheiratet hatte, auch dort gewesen. Nett, hatte Mike damals gedacht. Sie war Staatsanwältin im Bezirk Sacramento, der Hauptstadt des Bundesstaates. Mit ihren ein Meter sechzig war sie klein und wirkte mit ihrem langen braunen Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, wie ein Mädchen. Aber sie war kein Mädchen. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie damit, hartgesottene Kriminelle hinter Schloss und Riegel zu bringen, und sie hatte den Ruf, zu den härtesten Staatsanwälten des Bezirks zu gehören. Von Anfang an hatte Mike ihre Intelligenz und ihren Mut bewundert, von ihrer Schönheit ganz zu schweigen. Damals, in seinem früheren Leben, bevor auf ihn geschossen wurde, hätte er sich von der bloßen Präsenz eines Ehemanns eigentlich nicht sonderlich entmutigen lassen, aber sie waren frisch verheiratet und Brie war total verliebt. Ein anderer Mann existierte für sie überhaupt nicht.

Als Mike sie dann kurz nach der Geburt von Jacks Sohn in Virgin River wiedersah, versuchte sie gerade, sich von einer schmerzhaften Scheidung zu erholen. Ihr Mann hatte sie für ihre beste Freundin verlassen, und Brie war am Boden zerstört. Einsam. Zutiefst verletzt. Am liebsten hätte Mike sie sofort in die Arme geschlossen und getröstet, denn auch er litt. Aber Brie, von der Untreue ihres Mannes niedergeschmettert, war entschlossen, ihr Herz nicht noch einmal aufs Spiel zu setzen, und wollte von Männern nichts mehr wissen, schon gar nicht von einem weiteren Playboy, der in seinem Leben mehr als genug Frauen gehabt hatte. Noch etwas anderes erschwerte die Sache: Sie war Jacks kleine Schwester, und der verhielt sich ihr gegenüber dermaßen beschützerisch, dass es schon beinahe lächerlich war. Und Mike selbst war auch längst nicht mehr der getriebene, leichtsinnige Latino Lover. Er war ein Krüppel. Sein Körper funktionierte einfach nicht mehr richtig.

Gerade mal zwei Wochen war es jetzt her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Mit dem Rest ihrer Familie war sie nach Virgin River gekommen, um bei der Rahmenerrichtung von Jacks neuem Haus zu helfen. Gleich am Tag darauf wurden dann Preacher und seine Frau Paige in diesem Rahmenwerk getraut. Bei der Hochzeitsfeier hatte Mike – für einen Mann, der vor sechs Monaten noch kaum hatte laufen können – mit Brie eine ganz schön flotte Sohle auf den Tanzboden gelegt. Es war ein fantastisches Fest mit massenhaft guter alter Hausmannskost und aufflammenden Barbecues. Auf dem Fundament von Jacks unfertigem Haus hatte man einfach die Stühle an den Rand gerückt, eine Band aufgestellt und die Holzbalken mit Blumengirlanden geschmückt. Lachend hatte er Brie in den Armen gehalten und sie mit Hingabe herumgewirbelt, und immer, wenn es das Tempo zuließ, hatte er seine Wange an ihre gelegt und ihr zum Spaß verschwörerisch zugeflüstert: „Dein Bruder sieht uns ganz finster an. Ich frage mich, was wohl der Grund dafür sein mag.“ Sie lachte.

„Ich glaube, er will nicht, dass du einem Mann nahekommst, der ihm selbst so ähnlich ist“, spekulierte Mike.

Das schien sie mächtig zu erheitern. Sie legte den Kopf zurück und lachte ein wenig zu laut. „Bilde dir nur nichts ein“, wiegelte sie ihn ab. „Mit deinem großen Erfolg bei Frauen hat das gar nichts zu tun. Du bist ein Mann, der sich seiner kleinen Schwester nähert. Das reicht.“

„Aber du bist kein Baby mehr“, erwiderte er und zog sie näher an sich. „Und ich glaube, es macht dir viel zu viel Spaß, ihn anzustacheln. Weißt du denn nicht, dass er in seinem Zorn gefährlich ist?“

Unverkennbar hielt sie ihn ein wenig fester. „Nicht für mich“, flüsterte sie.

„In dir steckt ein Teufel“, sagte er und küsste sie todesmutig auf den Hals.

„Und in dir ein Narr“, konterte sie und neigte den Kopf ein klein wenig zur Seite, um ihm mehr von ihrem wunderschönen sinnlichen Hals zu bieten.

In früheren Zeiten hätte er einen Weg gefunden, um mit ihr allein zu sein. Er hätte sie verführt und auf eine Weise geliebt, von der sie später geträumt hätte. Aber drei Kugeln hatten ein paar Dinge entschieden. Dazu wäre er heute nicht mehr in der Lage, selbst wenn es ihm gelungen wäre, sie den Argusaugen ihres Bruders zu entziehen. Also sagte er nur: „Du legst es darauf an, dass ich mir noch ein paar Kugeln einfange.“

„Oh, ich bezweifle, dass er dich tatsächlich erschießen würde. Aber seit Ewigkeiten habe ich keine dieser altmodischen Hochzeitsprügeleien mehr erlebt.“

Beim Abschied hatte er sie kurz umarmt, und ihr süßer Duft war ihm zu Kopf gestiegen, als er ihre Wange an seiner fühlte, die Arme um ihre Taille legte und sie an sich drückte. Es war etwas mehr als eine rein freundschaftliche Geste. Sie war zweideutig. Und – sie hatte sie erwidert. Er nahm an, dass ihr das Flirten einfach Spaß machte. Dass sie es genoss, das Feuer ein wenig zu schüren. Aber für ihn bedeutete es sehr viel mehr als das. So wie Brie ihn unruhig machte und seine Gedanken fesselte, lag es nahe, dass sie ihm Herz und Seele auf diese machtvolle Art rauben könnte, die ihn alle Frauen seiner Vergangenheit vergessen ließ. Wenn er denn dazu fähig wäre, Liebe mit ihr zu machen. Aber das konnte er ihr wirklich nicht mehr bieten, auch wenn es ihn nicht davon abhielt, an sie zu denken, sich nach ihr zu sehnen.

Mike konnte es nicht länger ertragen, über das Bündel an Übermut und Beherztheit nachzudenken, das sich da jetzt gebrochen und vergewaltigt in einem Krankenhaus befand. Sein Herz lag in tausend Stücken und litt mit ihr, er konnte es nicht erwarten zu erfahren, dass für sie alles wieder in Ordnung kommen würde.

Er stellte den Gang seines Geländewagens auf Drive, sah sich über die Schulter um und fuhr wieder auf den Highway. Er gab Vollgas und zog im schnellen Verkehr quer über zwei Fahrspuren, um die Ausfahrt nach Sacramento noch zu erwischen.

Als Mike zwei Stunden später das Bezirkskrankenhaus erreichte, wählte er die Nummer von Sams Handy und teilte ihm mit, dass er angekommen war und gern wissen wollte, wo er sie finden könnte. Eine Staatsanwältin, die das Opfer eines Verbrechens geworden war, würde sich nicht auf einer normalen Station befinden. Zweifellos wurde sie bewacht.

Sam kam zum Eingang des Krankenhauses und streckte ihm die Hand entgegen. „Mike. Gut, dass du gekommen bist. Ich weiß, dass Jack dir das hoch anrechnen wird.“

„Ich war auf dem Weg in den Süden und sowieso ganz in der Nähe. Brie ist für mich eine besondere Freundin. Ich werde alles tun, was ich tun kann.“

Sam drehte sich um und ging zu den Fahrstühlen. „Leider bin ich mir nicht sicher, was du tun kannst. Sie wird wieder in Ordnung kommen. Physisch. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was eine Frau durchmacht, wenn sie so etwas erlebt …“

„Sag mir, was du bisher in Erfahrung bringen konntest“, bat ihn Mike. „Kannte sie den Täter?“

„Oh ja. Erinnerst du dich noch an dieses schreckliche Verfahren, mit dem sie um die Zeit, als Jacks Sohn zur Welt kam, befasst war? Der Serienvergewaltiger? Dieser ganze Medienzirkus? Er war es. Sie hat ihn für die Polizei identifiziert.“

Mike blieb stehen und runzelte die Stirn. „Ist sie sich da sicher?“, fragte er. Für jemanden, der gerade erst mit einem Freispruch davongekommen war, wäre so etwas eine völlig kranke, riskante Aktion. Brie hatte dieses Verfahren verloren, und es war eine schwere Niederlage für sie gewesen, zumal sie gleich auf ihre Scheidung folgte. Als würde der Himmel auf sie einstürzen. Hinzu kam, dass Männer wie dieser sich eigentlich nicht so verhielten. Üblicherweise machten sie sich aus dem Staub und sahen zu, dass sie einen großen Abstand zu allen gewannen, die den Mut besaßen, sie zu verfolgen, so wie Brie es getan hatte.

„Sie ist sich sicher“, antwortete Sam.

Mike konnte nicht anders, er musste sich einfach wundern. Hatte sie einen Schlag auf den Kopf erhalten? Halluzinationen? Ein traumabedingter vorübergehender Realitätsverlust? „Welche Verletzungen hat sie?“, fragte er.

„Ihr Gesicht ist böse zugerichtet, sie hat zwei gebrochene Rippen und dann die üblichen …“ Sam zögerte. „Die üblichen Verletzungen einer Vergewaltigung. Du weißt schon.“

„Ich weiß“, bestätigte Mike. Hautrisse, Blutungen, blaue Flecken. „Wurde sie schon von einem forensischen Vergewaltigungsspezialisten untersucht?“

„Ja, aber sie will auch mit Mel sprechen. Verständlicherweise.“

„Natürlich.“ Jacks Frau Mel war die Krankenschwester und Hebamme in Virgin River, aber sie verfügte auch über jahrelange Erfahrungen aus ihrer Arbeit in einem riesigen Traumazentrum in L. A. Was Körperverletzungen und sexuelle Übergriffe anging, war sie eine Expertin, und wenn sie sich auf der medizinischen Seite schlaumachen konnte, dann würde Mike die polizeiliche Ebene abdecken. „Heute Morgen um sieben habe ich es von Jack erfahren. In zwei oder drei Stunden müssten die beiden hier sein, je nachdem, wie schnell sie von dort wegkommen konnten.“

Mike sah einen uniformierten Beamten des Sacramento Police Departments vor dem Eingang zu einem Zimmer stehen. Zweifellos lag Brie dort. „Also lass mich mal mit ein paar Leuten reden und sehen, ob ich etwas herausfinden kann. Aber erst einmal will ich die Familie begrüßen.“ Er ging zu einer großen Ansammlung von Leuten im Wartebereich am Ende des Flurs. Es waren die drei anderen Schwestern von Jack, ihre Männer und ein paar seiner Nichten. Mike wurde umarmt, und man dankte ihm. Dann machte er sich an die Aufgabe, mit den Krankenschwestern zu sprechen, und von dem Wachmann vor dem Zimmer erhielt er die Telefonnummer des Detectives, der für den Fall zuständig war. Aber alles, was der Detective ihm im Augenblick sagen konnte, war, dass der Verdächtige noch frei herumlief. Der Arzt war bereit, über ihre Verletzungen zu sprechen. Das war alles. Aber wie es aussah, würde sie physisch wieder gesund werden, auch wenn sie schrecklich zugerichtet worden war.

Es dauerte noch fast drei Stunden, bis Jack und Mel mit Baby David eintrafen. Jack umarmte seinen Vater und sah dann erstaunt zu Mike. „Du bist hier?“

„Ich war ganz in der Nähe“, erklärte er, „und dachte, ich komme lieber mal her, denn wenn ich helfen kann, ist es besser, ich bin vor Ort.“

„Oh Mann, damit hatte ich nicht gerechnet“, sagte Jack.

„Was soll’s, du hast für mich mehr getan“, wehrte Mike ab. „Und du weißt, dass ich Brie sehr gernhabe.“ Er wandte sich an Mel und streckte die Arme aus, um ihr den kleinen David abzunehmen: „Mel, sie möchte dich sehen, sobald du hier bist.“

„Natürlich“, sagte Mel und reichte ihm das Baby.

„Ich glaube, Brie will mit Mel über die Beweissicherung für die Vergewaltigung sprechen und hören, was sie davon hält“, fügte er für Jack erklärend hinzu. „Geh und umarme deine Schwestern. Wenn du damit fertig bist, wirst du sie sehen können.“

„Hast du schon mit ihr gesprochen?“, wollte Jack wissen.

„Nein. Nur die Familie. Aber ich habe mit ein paar Leuten geredet und versucht, so viele Fakten wie möglich herauszubekommen.“

„Gott“, stöhnte Jack und drückte Mikes Arm. „Danke, Mike. Das hatte ich nicht von dir erwartet.“

„Das hättest du aber tun sollen.“ Mike lachte und schubste Klein David auf dem Arm ein wenig hoch. „So halten wir es doch miteinander. Richtig?“

Fast volle zwölf Stunden lang hatte Jack im Bezirkskrankenhaus am Bett seiner Schwester gewacht. Gegen elf Uhr morgens war er angekommen, und jetzt war es elf Uhr nachts. Fast den ganzen Tag über hatte sich die Familie vor der Tür auf dem Flur aufgehalten, aber gegen Abend waren sie nach und nach heimgefahren, denn Brie war außer Gefahr und hatte Beruhigungsmittel bekommen. Mike hatte Mel und das Baby zu Sam gebracht, aber Jack hatte Brie nicht allein lassen wollen. Die ganze Familie hing an Brie, aber Jack hatte die tiefste Verbindung zu ihr.

Es brach Jack das Herz, seine kleine Schwester so zu sehen. Ihr Gesicht war völlig entstellt von all den grauenhaften Prellungen und Schwellungen. Der Arzt hatte jedoch versichert, dass es sehr viel schlimmer aussah, als es war. Sie würde keinen bleibenden Schaden davontragen und wieder so schön sein wie früher. Alle paar Minuten streckte Jack die Hand nach ihr aus und strich ihr sanft über das hellbraune Haar oder berührte ihre Hand. Hin und wieder schien sie im Schlaf zu kämpfen, trotz der Beruhigungsmittel. Wären da nicht diese Rippenbrüche gewesen, hätte Jack sie während dieser Kämpfe in seine starken Arme genommen. Stattdessen beugte er sich über ihr Bett, streichelte ihr Gesicht dort, wo es nicht geschwollen war, küsste sie zart auf die Stirn und flüsterte: „Ich bin bei dir, Brie. Du bist jetzt in Sicherheit, Baby. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.“

Kurz vor Mitternacht fühlte er, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und sah hoch in Mikes schwarze Augen.

„Geh nach Hause, Jack. Ruh dich etwas aus. Ich werde bei ihr bleiben.“

„Ich kann sie nicht verlassen“, erwiderte Jack.

„Ich weiß, dass du das nicht willst. Aber ich habe ein wenig geschlafen“, schwindelte Mike. „Sam hat mir ein Zimmer in seinem Haus zur Verfügung gestellt. Ich werde hier sitzen bleiben, für den Fall, dass sie aufwacht, was wahrscheinlich nicht geschehen wird. Und dann haben wir auch noch den Cop auf dem Gang da draußen. Geh und ruh dich etwas aus, damit du morgen für sie da sein kannst.“

„Wenn sie wach wird und ich nicht gleich hier bin …“

„Sie flößen ihr starke Sedativa direkt durch den Tropf ein, um sie durch die Nacht zu bringen“, sagte Mike sanft. „Es ist in Ordnung.“

Jack lachte ein wenig. „Nachdem auf dich geschossen wurde, habe ich eine Woche lang jede Nacht an deinem Bett gesessen.“

„Genau. Und jetzt ist es Zeit, dass ich mich revanchiere. Geh heim zu deiner Frau, und morgen sehen wir uns ganz früh wieder hier.“

Es überraschte Mike, dass Jack tatsächlich ging, denn er gehörte zu den Männern, die tagelang im Erschöpfungszustand ausharrten, um für die Menschen da zu sein, die sie liebten. Mike übernahm seinen Platz auf dem Stuhl neben Bries Bett und saß Wache. Ihr zerschlagenes Gesicht schockierte ihn nicht. Er hatte Schlimmeres gesehen. Aber es schmerzte ihn im Innern, und er konnte sich nicht vorstellen, welches Ungeheuer zu so etwas fähig war.

Die ganze Nacht über kamen und gingen die Krankenschwestern, überprüften die Infusion oder maßen ihren Blutdruck, und manchmal brachten sie Mike aus ihrem Pausenraum einen Kaffee mit, der sehr viel besser schmeckte als das, was die Maschinen hier ausspuckten. Wenn er darum bat, blieb eine Schwester bei Brie sitzen, während er schnell über den Flur lief … eine Reaktion auf den Kaffee. Aber Brie rührte sich nicht, abgesehen davon, dass sie manchmal eine Unruhe überkam und sie sich dann krampfhaft hin und her warf.

Mike hatte gefallene Soldaten aus der Schusslinie gezogen; er hatte neben sterbenden Männern gesessen, während ihm die Kugeln von Heckenschützen um den Kopf flogen. Aber nichts ließ sich mit dem vergleichen, was er jetzt empfand, während er auf Brie hinabschaute, die auf diese Weise geschlagen war. Wenn er über ihre Vergewaltigung nachdachte, stieg eine Wut in ihm auf, die er vorher nicht gekannt hatte. Obwohl sie eine schöne und starke Frau war, tauchte in seiner Vorstellung immer wieder auch das Bild der verletzlichen Frau auf, die er vor ein paar Monaten zu einem Picknick eingeladen hatte. Eine hübsche junge Frau, die gerade von ihrem Mann verlassen worden war und darunter litt, dass er sie betrogen hatte. Und Mike dachte, dass man schon ein Idiot sein musste, um sie aufzugeben. Er begriff es nicht.

Dieser Prozess gegen den Vergewaltiger war eins der schwierigsten Verfahren ihrer Laufbahn gewesen. Sie hatte Monate gebraucht, um eine Anklage wegen Serienvergewaltigung gegen den Verdächtigen vorzubereiten. Die forensischen Indizien waren stark, aber am Schluss war die einzige Zeugin, die sie nicht hängen ließ, eine Prostituierte mit einem schlechten Ruf, und der Kerl wurde freigesprochen. Ihn hatte Brie, als sie wieder bei Bewusstsein war, der Polizei als ihren Vergewaltiger benannt.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden drehte sie Mike ihr verschwollenes Gesicht zu und öffnete die Augen … oder versuchte es. Eins blieb unter einer dicken Prellung zum Teil geschlossen. Er rutschte näher. „Brie“, flüsterte er. „Ich bin es, Brie. Ich bin bei dir.“

Sie verdeckte ihr Gesicht mit den Händen und rief: „Nein! Nein!“

Vorsichtig fasste er ihre Handgelenke. „Brie! Ich bin es. Mike. Es ist in Ordnung.“

Aber sie ließ nicht zu, dass er ihr die Hände vom Gesicht zog. „Bitte“, wimmerte sie mitleiderregend. „Ich will nicht, dass du siehst, wie …“

„Liebes, ich habe dich bereits gesehen“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Ich sitze schon seit Stunden hier. Lass los. Es ist in Ordnung.“

Endlich erlaubte sie ihm, ihre Hände langsam von dem zerschundenen Gesicht wegzuziehen. „Warum? Warum bist du hier? Du solltest nicht hier sein!“

„Jack wollte, dass ich ihm dabei helfe zu verstehen, wie die Ermittlungen laufen. Aber ich wollte hier sein. Brie, ich wollte für dich hier sein.“ Sanft strich er ihr über die Stirn. „Es wird alles wieder gut mit dir.“

„Er … er hat meine Waffe …“

„Das weiß die Polizei, Liebes. Du hast nichts falsch gemacht.“

„Er ist so gefährlich. Ich habe versucht, ihn zu kriegen. Und genau deshalb hat er das auch getan. Ich hatte vor, ihn lebenslänglich hinter Gitter zu bringen.“

An Mikes Kiefer pulsierten Muskeln, aber seine Stimme blieb leise. „Es ist okay, Brie. Es ist jetzt vorbei.“

„Haben sie ihn gefunden?“, fragte sie. „Haben sie ihn festgenommen?“

Oh, wie sehr wünschte er, sie würde nicht danach fragen. „Noch nicht.“

„Weißt du, warum er mich nicht umgebracht hat?“, fuhr sie fort, während ihr eine Träne aus dem geschwollenen Auge trat und über den Rücken ihrer blau verfärbten Nase nach unten lief. Liebevoll wischte er sie ab. „Er hat gesagt, er will nicht, dass ich sterbe. Er will, dass ich noch einmal versuche, ihn zu kriegen, und noch einmal zusehe, wie er davonkommt. Er hat ein Kondom benutzt.“

„Ach, Liebes …“

„Ich werde ihn kriegen, Mike.“

„Bitte … denk jetzt nicht darüber nach. Ich will die Schwester rufen, damit sie dir noch ein Beruhigungsmittel gibt.“ Er drückte auf den Knopf, und die Krankenschwester erschien sofort. „Brie braucht etwas, um wieder einschlafen zu können.“

„Aber sicher“, sagte sie.

„Ich werde ja doch nur wieder aufwachen“, wandte Brie ein. „Und ich werde doch nur immer wieder dieselben Gedanken haben.“

„Versuche zu schlafen.“ Mike beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich werde hier neben deinem Bett bleiben. Und vor der Tür sitzt ein Polizist. Du bist vollkommen sicher.“

„Mike“, flüsterte sie, und einen ganzen Moment lang hielt sie seine Hand fest. „Hat Jack dich darum gebeten zu kommen?“

„Nein“, antwortete er und strich ihr zärtlich über die Stirn. „Aber als ich hörte, was dir zugestoßen war, musste ich kommen“, flüsterte er. „Ich musste einfach.“

Sie erhielt ihr Beruhigungsmittel durch die Infusion, und als es zu wirken begann, schloss sie langsam wieder die Augen. Ihre Hand rutschte aus seiner, und Mike lehnte sich im Stuhl zurück. Dann setzte er die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. So weinte er leise.

Jack war noch vor Sonnenaufgang wieder im Krankenhaus, ohne dass er sonderlich ausgeruht wirkte. Aber er hatte geduscht und sich rasiert. Unter seinen Augen, die von innen beängstigend hell funkelten, lagen dunkle Ringe. Mike hatte Schwestern, die er liebte; er konnte sich vorstellen, welcher Zorn in Jack brodelte.

Mike ging mit Jack vor die Tür von Bries Zimmer, wo sie leise miteinander sprachen. Er berichtete ihm, dass die Nacht ruhig verlaufen war und Brie sich vermutlich etwas erholt hatte. Während sie dort standen, betrat der Arzt, der mit der Krankenschwester im Schlepptau seine Runde machte, das Zimmer. Mike nutzte die Gelegenheit, um der Männertoilette einen Besuch abzustatten. Als er in den Spiegel schaute, stellte er fest, dass er viel schlimmer aussah als Jack. Er musste sich duschen und rasieren, aber er wollte sie nicht verlassen. Bald würden weitere Familienmitglieder zurückkehren, allerdings glaubte er nicht, dass Brie lange im Krankenhaus bleiben müsste.

Als er wieder zu Bries Zimmer zurückgehen wollte, sah er, dass Jack vor der Tür mit einem Mann sprach. Genau genommen stand Jack so nahe vor dem Mann, dass er ziemlich bedrohlich wirkte. Der Polizist, der für Sicherheit zu sorgen hatte, trat auf die beiden zu und bedeutete ihnen mit den Händen, sie sollten sich trennen. Dann erkannte Mike, dass es Bries Ex war, Brad, und dass Jack ihn wahrscheinlich – einfach schon aus Prinzip – binnen Sekunden umbringen würde.

Mike machte sich schnell auf die Beine. „Uhhh“, raunte er und schob sie erst mit einem Arm, dann mit seinem ganzen Körper auseinander. „Uhhh“, wiederholte er. „Das lassen wir mal lieber bleiben. Kommt schon.“

Über Mikes Schulter hinweg blaffte Jack seinen Exschwager an: „Was zum Teufel willst du hier?“

Gemein starrte Brad ihn an. „Auch ich freue mich, dich zu sehen, Jack.“

„Du hast hier nichts zu suchen“, erwiderte Jack viel zu laut. „Du hast sie verlassen. Du hast nichts mehr mit ihr zu tun.“

„Hey.“ Brad wurde zunehmend zornig. „Ich habe nie aufgehört, mich für Brie zu interessieren. Und das werde ich auch nie. Ich werde sie besuchen.“

„Das glaube ich aber nicht“, drohte Jack. „Sie ist nicht in der Verfassung, sich jetzt auch noch mit dir auseinanderzusetzen.“

„Du bist nicht für die Besucherliste zuständig, Jack. Das hat Brie zu entscheiden.“

„Hört auf damit“, mahnte Mike sie eindringlich. „Nicht hier.“

„Frag ihn, ob er mit mir vor die Tür geht“, konterte Jack.

„Ja, ich werde …“

„Uhhh“, wiederholte Mike einmal mehr und erweiterte den Abstand zwischen den beiden Männern. „Hier jedenfalls nicht!“

Brad rückte näher und drückte gegen Mike an, senkte aber vorsichtig die Stimme. „Ich weiß, dass du wütend bist, Jack. Im Allgemeinen und auf mich. Ich mache dir da keinen Vorwurf. Aber wenn du dich mit mir anlegen willst, wird es für Brie nur noch schlimmer. Und dieser Officer hier wird dir einfach Handschellen anlegen.“

Jack knirschte mit den Zähnen und drückte von der anderen Seite gegen Mike, der zunehmend Schwierigkeiten hatte, die beiden auseinander zu halten. „Ich habe tatsächlich Lust, jemanden zu verprügeln“, stieß Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Im Augenblick kommst du mir gerade recht. Du hast deine Ehefrau verlassen. Du bist gegangen, während sie die Ermittlungen gegen dieses Schwein führte. Hast du überhaupt eine Vorstellung, was du ihr damit angetan hast?“

Oje, dachte Mike. Jeden Augenblick konnte es zwischen den beiden zum Knall kommen, hier, mitten auf dem Krankenhausflur. Mike war zwar gute eins achtzig groß und kräftig, aber sowohl Brad als auch Jack waren größer, breiter und wütender als er und hatten im Übrigen keine Schulterverletzung, die sie daran hindern könnte. Mike würde den Kürzeren ziehen, wenn sie sich vergaßen und anfingen, aufeinander einzuschlagen.

„Ja“, verkündete Brad. „Ja, das weiß ich! Und ich will, dass sie weiß, dass ich mir immer noch Sorgen um sie mache, wenn ihr etwas zustößt. Wir sind zwar geschieden, aber wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Und vieles davon ist eine gute Vergangenheit. Wenn ich jetzt etwas für sie tun kann …“

„Hey!“, rief Mike dem Cop zu. „Hey! Kommen Sie her!“

Endlich mischte sich nun auch der Polizist ein und stellte sich neben Mike zwischen Brad und Jack. „Also gut, meine Herren“, sagte er. „Ich habe meine Befehle. Vor Ms. Sheridans Tür wird es keine Rauferei geben. Wenn Sie das in Ruhe besprechen wollen, darf ich Sie bitten, dies am Ende des Flurs zu tun.“

Oh, kein guter Vorschlag, dachte Mike. Wenn sie zum Ende des Flurs gingen, würden sie nicht miteinander sprechen. Vorsichtig schob er Jack ein paar Schritte zurück. „Tief durchatmen“, redete er ihm zu. „Das willst du doch gar nicht.“

Jack bedachte Mike mit einem finsteren Blick. „Bist du dir da sicher?“

„Halt dich zurück“, sagte Mike mit so viel Autorität in der Stimme, wie er aufbringen konnte.

Genau in diesem Augenblick trat eine Schwester aus Bries Zimmer, und Brad stürzte sich so schnell auf sie, dass Jack ihn nicht daran hindern konnte. „Ma’am, ich bin der geschiedene Mann von Ms. Sheridan. Brad. Ich bin auch Kriminalbeamter“, erklärte er ihr, „allerdings nicht dienstlich hier. Würden Sie sie fragen, ob sie mich sehen will? Bitte!“

Die Schwester machte eine Kehrtwende und ging wieder ins Zimmer zurück.

„Was will der denn hier?“, fragte Brad, wobei er mit den Augen und einer Kinnbewegung andeutete, dass Mike gemeint war.

Oh, das war dein Fehler, dachte Mike sofort und versteifte sich. War Brad verrückt geworden? Sich mit dem Mann anzulegen, der Jack davon abhielt, ihn kaltzumachen? Er merkte, wie er selbst anfing, die Fäuste zu öffnen und zu schließen. Der Ex will wissen, warum ein anderer Mann hier ist? Er verlässt seine Frau für eine andere, aber kein Mann darf dort anfangen, wo er aufgehört hat? Tatsächlich lächelte Mike, allerdings kühl. Mut hat er, dachte er. Ich sollte einfach zulassen, dass Jack ihn verprügelt.

„Er ist ein Cop“, antwortete Jack, indem er die Wahrheit ein wenig dehnte. „Ich habe ihn darum gebeten herzukommen. Um zu helfen.“

„Er kann gehen“, erwiderte Brad. „Wir brauchen seine Hilfe nicht.“

Das war’s. Sofort schoss Mike einen Schritt auf Brad zu, wurde aber von einer kräftigen Hand an seiner schlimmen Schulter gebremst, die ihn zurückzog. Mehr brauchte er nicht, um wieder zu sich zu kommen; das wollte er Brie nicht antun. Aber sollten sie sich irgendwo anders begegnen, wie zum Beispiel auf dem Parkplatz, dann könnte er nichts versprechen. Im Augenblick hatte er ebenso große Lust wie Jack, Brad zusammenzufalten.

Die Schwester kam aus dem Zimmer zurück und wandte sich an Brad: „Wenn der Arzt fertig ist, können Sie hineingehen.“

Immerhin besaß Brad so viel Vernunft, sich jetzt nicht in die Brust zu werfen. Allerdings vermied er auch nicht den Augenkontakt mit den beiden anderen Männern.

„Darf ich dir mal eine Frage stellen?“, sprach Jack ihn an, wobei er versuchte, seine Stimme zu beherrschen, denn er wollte vermeiden, dass ihn der uniformierte Polizist vor die Tür setzte. „Warst du in der Nacht, als es passierte, im Dienst?“

„Nein.“

Jack knirschte mit den Zähnen. „Dann wärst du also in der Nacht zu Hause gewesen, wenn du sie nicht wegen einer anderen Frau verlassen hättest. Vielleicht hättest du darauf gewartet, dass sie heimkommt. Vielleicht irgendwo im Haus, wo du ihre Schreie gehört hättest. So viel zu eurer guten Vergangenheit.“

„Hey“, begann Brad, der eindeutig vorhatte, das Argument zu widerlegen. Jack wandte sich jedoch von ihm ab und ging ein paar Schritte den Flur hinunter. In diesem Moment kam dann allerdings der Arzt aus dem Zimmer geeilt und lief an den drei Männern vorbei, ohne den Blick von der Krankenkarte zu heben. Brad reckte das Kinn, warf kurz einen bösen Blick in Jacks Richtung und ging zu Brie.

Mike stieß die Luft aus. „Das wäre jetzt richtig hässlich geworden“, bemerkte er, ging zu dem Stuhl vor Bries Tür und setzte sich. Jack lief unruhig auf und ab, wobei er sich einige Schritte von der Tür entfernt hielt.

Mike stützte die Ellbogen auf die Knie und kratzte sich seinen juckenden Bart. Dann bemerkte er, dass der Cop sich neben ihn gestellt hatte.

„So etwas muss aber auch schwer sein“, wandte er sich an Mike und deutete auf Jack, der die Fäuste an den Seiten geballt mit pochendem Kinn nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand.

Mike drehte den Kopf und sah zu dem jungen Officer hoch. Dann warf er einen Blick auf seinen besten Freund. Für Jack war es die reinste Folter, zumal er sich so hilflos fühlte. „Nichts kann einen darauf vorbereiten, dass so etwas einer Frau zustößt, die man liebt“, sagte er leise. „Gar nichts.“

Noch an diesem Nachmittag wurde Brie aus dem Krankenhaus entlassen, und sie kehrte ins Haus ihres Vaters zurück. Sam und Jack fuhren sie, während Mike ihnen in seinem eigenen Wagen folgte und besorgte Beobachtungen anstellte. Während seiner Laufbahn bei der Polizei hatte er nicht gerade mit sehr vielen Vergewaltigungsopfern zu tun gehabt, aber einigen war er schon begegnet. Und noch nie hatte er eine Frau gesehen, die sich so stoisch verhielt, so abgeklärt. Nachdem sie alle bei Sam eingetroffen waren, ging sie gleich in ihr Mädchenzimmer und rief Jack, er solle kommen, um den Spiegel abzudecken.

Das Abendessen ließ sie sich auf einem Tablett in ihr Zimmer bringen. Der Reihe nach schauten ihre Schwestern vorbei und besuchten sie dort, blieben aber nicht lange. Die fünf Geschwister der Familie Sheridan waren alle verheiratet, außer Brie. Zwei der Schwestern waren älter als Jack, eine ein paar Jahre jünger als er, und dann kam Brie, die mit elf Jahren Abstand zu ihm das Schlusslicht bildete. Ihre drei älteren Schwestern hatten die Familie um insgesamt acht Töchter vergrößert, während Jack und Mel mit dem kleinen David den einzigen Jungen beisteuerten. Wenn also die Familie komplett zusammenkam, war es eine Menge, die kaum zu handhaben war. Ein wimmelndes Gedränge mit viel Lärm und Lachen. Bei früheren Besuchen hatte Mike es selbst erlebt, und es war gar nicht so viel anders als im Haus der Valenzuelas. Heute jedoch nicht. Heute war es im Haus still wie ein Grab.

Mike blieb zum Abendessen mit Sam, Jack und Mel, das sehr ruhig verlief.

„Wahrscheinlich solltest du lieber nach L. A. weiterfahren“, meinte Jack, als der Tisch abgeräumt war.

Schulterzuckend antwortete Mike: „Es ist mir egal. Ich kann auch noch ein bis zwei Tage bleiben und sehen, ob sich irgendwas ergibt.“

„Ich möchte dich nicht aufhalten.“ Jack ging nach draußen in den Patio, und Mike folgte ihm. „Ich kann dich anrufen, wenn sich etwas tut.“

Sam gesellte sich mit einem Tablett und drei Gläsern zu ihnen. In jedem Glas befand sich ein Schluck bernsteinfarbener Flüssigkeit, und er stellte das Tablett auf den Gartentisch. Ohne etwas zu sagen, bedienten sich die Männer und tranken schweigend. Im Juni war die Luft im Sacramento Valley schwül, feucht und beinahe erdrückend. Ein paar Minuten später erhob sich Sam und sagte Gute Nacht. Dann leerte auch Jack sein Glas und ging ins Haus. Eine nach dem anderen wurden drinnen die Lampen gelöscht, bis Mike nur noch das Licht aus der Küche blieb. So erschöpft, wie er war – ihm war nicht nach Schlaf zumute. Er holte sich noch einen kleinen Schluck und setzte sich wieder in den Patio, wo er die Kerze auf dem Tisch anzündete.

Die ganze Familie befindet sich in einem Schockzustand, dachte er. Sie laufen auf Zehenspitzen herum und betrauern Bries verlorene Unschuld. Jeder unter diesem Dach hier leidet entsetzlich; jeder physische Schlag, dessen Zeichen sie trägt, hat auch sie getroffen.

„Du solltest wohl lieber gehen.“

Er hob den Kopf und sah Brie, die in der offenen Tür zum Patio stand. Sie trug noch immer dieselbe Kleidung, die sie auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause getragen hatte. „Brie“, sagte er und stand auf.

„Ich habe mehrmals mit den Detectives gesprochen. Jerome Powell, der Vergewaltiger, konnte bis New Mexico verfolgt werden, dann hat sich die Spur verloren“, erklärte sie sehr geschäftsmäßig. „Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass er mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit entkommen konnte … und den Staat verlassen hat. Ich werde sofort mit Beratungsgesprächen und Gruppentherapie beginnen. Und ich habe beschlossen, eine Zeit lang nicht mehr zu arbeiten. Jack und Mel bestehen darauf, eine Woche zu bleiben, aber du solltest fahren. Besuche deine Familie.“

„Möchtest du nicht herkommen und dich zu mir setzen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde jeden Tag mit dem Bezirksstaatsanwalt sprechen und sehen, ob er etwas Neues für mich hat. Natürlich werde ich hier im Haus bleiben. Falls ich irgendwie Hilfe aus dem Police Department brauchen sollte, habe ich ja meinen Ex, der sich sehr schuldig fühlt. Und sehr hilfsbereit ist.“ Sie holte Luft. „Ich wollte mich von dir verabschieden. Und dir dafür danken, dass du versucht hast zu helfen.“

„Brie“, sagte er und ging mit ausgebreiteten Armen einen Schritt auf sie zu.

Sie aber hob eine Hand, und der Blick, mit dem sie ihn anschaute, ließ ihn bleiben, wo er war. Während sie weiterhin die Hand gegen ihn richtete, schüttelte sie den Kopf. „Du verstehst“, warnte sie ihn, ihr nicht zu nahe zu kommen, sie nicht zu berühren.

„Natürlich“, antwortete er.

„Fahr vorsichtig“, sagte sie noch und verschwand dann schnell im Haus.

2. KAPITEL

Eine Woche später kehrten Mel und Jack nach Virgin River zurück und nahmen ihre Alltagsroutine wieder auf. Mel ging jeden Morgen zu Doc, wo sie tagsüber das Baby bei sich hatte. Wenn sich etwas Dringendes ergab, konnte sie den Kleinen immer zu Jack in die Bar bringen, oder wenn Jack einmal nicht konnte, waren Paige, Preacher oder Mike mehr als bereit, sich um ihn zu kümmern. Meistens konnte man damit rechnen, dass David die halbe Stunde, die Mel für die Untersuchung einer Patientin brauchte, ruhig und zufrieden war, solange er nur seinen Hüpfsitz hatte und weder hungrig war noch die Windeln voll hatte. Noch immer machte er zweimal am Tag ein ausgedehntes Nickerchen, eins am Morgen und eins am Nachmittag.

Mel war noch keine zwei Wochen aus Sacramento zurück, als ein Mädchen im Teenageralter in die Praxis kam und nach ihr fragte. Carra Jean Winslow war fünfzehn und lebte in Virgin River, aber Mel hatte sie noch nie zuvor gesehen. Tatsächlich kannte Mel auch die Eltern des Mädchens nicht, selbst nachdem sie nun schon mehr als ein Jahr in diesem Dorf lebte und arbeitete. Als sie sah, wie jung und verängstigt sie war, führte Mel sie erst einmal ins Untersuchungszimmer, bevor sie danach fragte, worum es ging. Wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen ohne seine Eltern kam, weder hustete noch schniefte und mit der Hebamme sprechen wollte, schienen die Möglichkeiten doch ziemlich begrenzt und eindeutig zu sein.

„Ich habe gehört, dass es eine Pille gibt, die verhindert, dass man schwanger wird. Sie wissen schon, wenn man Sex hatte.“ Carra sprach sehr leise und schaute dabei auf ihre Füße.

„Du meinst die Notfall-Geburtenkontrolle. Aber die wirkt nur dann, wenn der Geschlechtsverkehr erst vor ganz kurzer Zeit stattgefunden hat.“

„Vorgestern Nacht“, flüsterte das Mädchen schwach.

„Das müsste gehen“, versuchte Mel sie lächelnd zu beruhigen. „Hast du irgendwelche Probleme? Schmerzen? Blutungen? Irgendwas?“

„Blutungen. Es hat etwas geblutet.“

„War es das erste Mal?“, fragte Mel mit einem freundlichen Lächeln. Das Mädchen nickte. „Bist du schon einmal gynäkologisch untersucht worden?“

Carra schüttelte den Kopf und blickte wieder zu Boden.

„Ich würde gern mal nachschauen und mich davon überzeugen, dass alles mit dir in Ordnung ist. So schlimm, wie du glaubst, ist es gar nicht.“ Sanft fasste Mel sie am Arm. „Wie stark sind die Blutungen?“

„Nicht besonders stark. Ein bisschen … es wird auch schon besser …“

„Und wie fühlst du dich? Dort?“

Die Kleine zuckte mit den Schultern. „Noch etwas wund. Nicht schlimm.“

„Das ist gut. Da du dich für diese Notfall-Geburtenkontrolle interessierst, nehme ich mal an, dass ihr kein Kondom benutzt habt …“

„Nein“, antwortete Carra.

„Also gut, das schaffen wir schon. Könntest du dich bitte ausziehen und diesen Umhang hier umlegen?“

„Meine Mom … Niemand weiß, dass ich hier bin.“

„Das geht in Ordnung, Carra. Es bleibt unter uns. Ich bin nur an deiner Gesundheit interessiert. Okay?“

„Okay.“

„In ein paar Minuten bin ich wieder da. Zieh alles aus, nimm nur den Umhang.“

Armes Ding, dachte Mel. Ihr taten diese jungen Mädchen leid, die planlos und ohne Vorsichtsmaßnahmen in so etwas hineinstolperten. Und damit waren fast alle jungen Mädchen beschrieben. Aber wenigstens war sie gekommen, und so konnte weiteres Unglück verhindert werden. Sie gab Carra die Zeit, die sie brauchte, um sich zu entkleiden, ließ sie aber auch nicht so lange warten, dass sie nervös werden konnte. Dann ging sie wieder ins Untersuchungszimmer.

„Als Erstes wollen wir dir mal den Blutdruck messen und dein Herz abhorchen“, begann sie munter.

„Ich werde Sie selbst bezahlen müssen“, erklärte Carra. „Ich will nicht, dass meine Eltern etwas davon erfahren.“

„Carra, in dieser Praxis hier nehmen wir die Geheimhaltung sehr ernst. Darauf kannst du dich verlassen“, beruhigte Mel sie. „Es wird sich alles finden.“ Sie legte ihr die Blutdruckmanschette an, wobei ihr am Oberarm des Mädchens ein paar kleine blaue Flecke auffielen. „Du hast hier ein paar Prellungen“, sagte sie.

„Das ist nichts. Das kommt vom … Volleyball. Da geht es manchmal etwas rau zu.“

„Sieht aus, als hätte da jemand fest zugepackt“, deutete Mel an.

Das Mädchen zuckte mit den Achseln. „Das kommt vor.“

Mel untersuchte den Blutdruck, der normal war. Sie horchte das Herz ab, sah sich ihre Augen an, prüfte die Pupillen. Abgesehen von einem nervösen Herzschlag schien Carra in guter Verfassung zu sein. Mel zeigte ihr das Spekulum, erklärte, wie es funktionierte, und half ihr dabei, das Becken in die richtige Position zu bringen. „Immer schön langsam, die Füße hierher, und jetzt rutsch noch ein Stückchen weiter runter. Genau so. Versuch dich zu entspannen, Liebes, und schön die Knie auseinander. Danke. Es wird nichts Schlimmes passieren, also hol tief Luft und versuch locker zu bleiben und gleichmäßig zu atmen.“

„Okay“, sagte Carra und fing an, leise zu weinen.

„Jetzt wird nicht geweint“, redete Mel ihr freundlich zu. „Alles wird in Ordnung kommen, weil du mich sofort aufgesucht hast.“ Vorsichtig schlug sie die Knie des Mädchens weiter auseinander und erstarrte. Ihre Schamlippen waren verletzt und geschwollen; an den Innenseiten ihrer Schenkel waren blaue Flecken, die denen an ihren Oberarmen auffallend ähnlich sahen. Unverkennbar war da ein Daumenabdruck zu erkennen und die Finger. Oh, verdammt. Mel erhob sich und sah Carra über den Faltenwurf des Umhangs hinweg ins Gesicht. „Carra, ich kann sehen, dass du sehr wund bist. Du hast blaue Flecken, bist geschwollen, und einen kleinen Riss erkenne ich auch. Ich würde gerne fortfahren und mir das noch genauer anschauen, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist. Aber nur, wenn du das schaffst. Bist du einverstanden?“

Carra kniff zwar die Augen fest zusammen, nickte aber.

„Ich mache es so vorsichtig wie möglich“, sagte Mel, zog sich die Handschuhe an, legte aber das Spekulum beiseite. „Ich werde nur mal deine Vagina und den Uterus abtasten, Carra. Das Spekulum will ich lieber nicht benutzen, weil du so wund bist. Jetzt hol mal tief Luft, und dann atme ganz langsam wieder aus. So ist’s gut. Es wird nur eine Minute dauern. Nicht verkrampfen. Entspanne deine Muskeln, Carra. Genau so, sehr gut. Sag mir, tut es weh, wenn ich hier drücke?“

„Nicht besonders.“

Warum kommt so etwas nur immer auf einmal? dachte Mel. Brie habe ich noch längst nicht vergessen! Und Carras Scheidenwände waren verletzt und wund. Völlig zerschunden. Ihr Hymen war nicht mehr intakt und an den Rändern rissig. Schnell brachte sie ihre Untersuchung zu Ende, und auch wenn sie nicht für die Beweissicherung bei einer Vergewaltigung ausgerüstet war, so hatte sie doch immerhin einen sterilen Tupfer zur Hand, mit dem sie einen Vaginalabstrich machen konnte. Für eine DNA-Bestimmung könnte es allerdings längst zu spät sein.

„Okay, Carra, warte, ich will dir helfen, dich wieder hinzusetzen.“ Mel streifte sich rasch die Handschuhe ab und half Carra dabei, sich auf dem Tisch aufzurichten. „Ich mache mir Sorgen darum, was mit dir passiert ist, Carra. Wie es aussieht, wurdest du verletzt. Möchtest du darüber reden?“

Carra schüttelte den Kopf, wobei ihr ein paar dicke Tränen aus den Augen liefen. Sie war ein reizloses Mädchen mit einem länglichen Gesicht, buschigen, ungezupften Brauen und einem kleinen Akneproblem. Und dazu kam jetzt auch noch jede Menge Reue, Angst und Nervosität.

„Es bleibt unter uns“, redete Mel ihr liebevoll zu. „Es geht nicht nur um die blauen Flecken, Carra. Deine Vagina sieht ganz wund aus. Rissig. Es ist kein schwerwiegender Schaden. Das wird wieder heilen. Aber bei allem, was ich sehe …“

„Ich war es doch selbst. Es ist meine Schuld.“

„So etwas wie das ist niemals die Schuld einer Frau“, erklärte Mel. Dabei benutzte sie ganz bewusst das Wort Frau, auch wenn Carra noch ein Mädchen war. „Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist, und dann sehen wir weiter.“

„Aber Sie werden mir doch diese Pille geben?“, fragte Carra verzweifelt.

„Natürlich. Wir werden nicht zulassen, dass du schwanger wirst. Oder krank.“

Carra holte tief Luft, aber das hatte nur zur Folge, dass der Tränenfluss sich noch verstärkte. „Es war einfach so, dass ich es mir erst anders überlegt hatte, als es schon zu spät war. Das ist alles. Also bin ich auch selbst schuld daran.“

Mel legte ihr eine Hand aufs Knie. „Erzähl mal von Anfang an. Immer schön der Reihe nach.“

„Das kann ich nicht“, wehrte Carra ab.

„Natürlich kannst du das, Liebes. Ich werde einfach nur zuhören.“

„Wir hatten beschlossen, es zu tun. Dann war er total aufgeregt. Hinterher hat er gesagt, dass es ihm leidtut. Wir hatten ja schon damit angefangen … da konnte er sich nicht mehr bremsen.“

„Das hätte er sehr wohl gekonnt“, erwiderte Mel. „Ich kann die blauen Flecken sehen, die seine Finger hinterlassen haben. Danach sieht es ganz so aus, als hätte er dich festgehalten und dir die Beine auseinandergedrückt. Ich sehe die Spuren, und ich sehe die Tränen. Lass dir von mir helfen.“

„Aber ich wollte es doch.“

„Das weiß ich, Carra. Bis zu dem Moment, wo du nicht mehr wolltest. Und das hast du ihm doch gesagt, nicht wahr?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte es.“

„Wenn du ihm irgendwann Nein gesagt hast, Carra, ist es eine Vergewaltigung. In deinem Fall ein sogenanntes Date-Rape.“

In flehender Haltung beugte Carra sich vor. „Aber ich habe doch Sachen mit ihm gemacht. Viele Sachen. Und ich wollte es doch auch.“

„Hattest du jemals zuvor Geschlechtsverkehr?“ Carra schüttelte den Kopf. Nein. „Du kannst bis zur letzten Minute noch immer Nein sagen, Carra. So steht es im Gesetz. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, was du vorher mit ihm getan hast. Sag mir … ist er ein Freund von dir? Oder jemand, den du erst seit Kurzem kennst?“

„Von der Schule her kenne ich ihn schon lange, aber erst seit zwei Wochen ist er mein Freund.“

Und dann haben sie schon „viele Sachen“ gemacht? überlegte Mel. „Carra, er ist da ziemlich schnell vorgeprescht. Denk mal darüber nach. Zwei Wochen. Ein wirklich zielstrebiger Kerl. Wie alt ist er?“

„Nein“, blockte Carra ab und schüttelte den Kopf. „Nein, mehr werde ich Ihnen nicht erzählen. Ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Es war nicht seine Schuld. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ihm tut es leid.“

„Also gut, hör zu. Nicht aufregen. Wenn du deine Meinung änderst und darüber reden möchtest, ruf mich einfach an. Oder komm vorbei. Egal wann. Lass uns eine verlässliche Verhütungsmethode für dich finden und …“

„Nein. Das mache ich nie wieder“, erklärte Carra, presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Oh, sie ist vergewaltigt worden, dachte Mel. Klingt ganz so, als hätte es nicht mal viel von einem Date gehabt. „Carra, wenn du dich weiterhin mit diesem Jungen, diesem Mann triffst, wird es wieder geschehen.“

„Das mache ich nie wieder“, versicherte Carra mit Nachdruck. „Ich brauche nur diese Notfallpille. Das ist alles.“

„Im Augenblick ist das alles“, sagte Mel. „Ich möchte aber, dass du in ein bis zwei Wochen wiederkommst, damit wir dich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen und sicherstellen können, dass alles gut verheilt ist. Heute, so kurz nachdem du dich der Gefahr ausgesetzt hast, ist es zu früh, um festzustellen, ob du dir etwas eingefangen hast. Aber das ist wirklich wichtig. Wirst du kommen?“

Dies versprach Carra schließlich, aber von Verhütungsmaßnahmen wollte sie nichts wissen. In einem sehr geschäftsmäßigen Ton fragte sie Mel: „Wie viel macht das?“

„Vergiss es, Carra. Das geht aufs Haus. Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Jederzeit. Tag und Nacht. Ich schreibe dir die Nummer von hier auf und auch meine Nummer zu Hause. Okay?“

„Danke“, sagte sie kleinlaut.

Nach alledem zerriss es Mel das Herz, als sie sah, dass ihre Patientin mit dem Fahrrad davonfuhr. Das Mädchen war nicht mal alt genug fürs Autofahren. Und stehend trat sie in die Pedale, denn mit dem Sattel wäre ihr empfindlicher Schritt nicht klargekommen.

Mike Valenzuela rief Brie an. Er konnte nicht anders. Es war jetzt zwei Wochen her, dass er ihre Stimme zuletzt gehört hatte. Und auch wenn Jack mehr als bereit dazu war, ihn über die Genesung seiner Schwester auf dem Laufenden zu halten und ihm mitzuteilen, wie sie am Telefon klang, brauchte Mike mehr als das. „Wie geht es dir?“, fragte er sie.

„Einigermaßen stabil. Irgendwie gereizt und nervös“, antwortete sie. „Aber schließlich ist es ja auch noch nicht so lange her.“

„Und körperlich?“, hakte er nach.

„Ich … Ah … ich denke, das Schlimmste ist überstanden. Die blauen Flecken verblassen allmählich. Aber es ist schon erstaunlich, wie lange es dauert, bis zwei Rippen geheilt sind.“

„Jack sagt, du wurdest für längere Zeit von der Staatsanwaltschaft freigestellt.“

„Hat er dir auch erzählt, warum ich darum gebeten hatte?“

„Nein. Und du musst es mir auch nicht sagen, wenn es dir unangenehm ist.“

„Damit habe ich kein Problem“, sagte sie kühl. „Ich habe die Freistellung beantragt, weil ich so nicht arbeiten kann. Wenn es möglich ist, dass ich einen Vergewaltiger strafrechtlich verfolge und er davonkommt.“ Sie lachte bitter. „Auf meine Kosten!“

„Oh Brie“, sagte er verständnisvoll. „Gott, es tut mir so leid. Es muss schrecklich für dich sein.“

„Wenn ich die Gelegenheit dazu erhalte, wenn sie ihn finden, werde ich ihn versenken. Ich werde dafür sorgen, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt. Das schwöre ich bei Gott.“

Mike holte tief Luft. „Du bist eine der tapfersten Frauen, die ich je kennengelernt habe. Ich bin stolz auf dich. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann …“

„Es ist nett von dir anzurufen“, sagte sie etwas weicher. „Außer der Familie gibt es nicht viele, die den Mut dazu haben. Ich schätze, sie fürchten sich vor dem, was sie vielleicht zu hören bekommen. Weiß Jack davon?“

Es wird nicht lange dauern, bis Jack davon erfährt, dachte Mike. Sam hatte den Anruf angenommen und nach seinem Namen gefragt, bevor er ihn an sie weiterleitete. „Ich rufe dich nicht an, weil du Jacks Schwester bist, sondern weil du meine Freundin bist und ich wissen wollte, wie es dir geht. Es interessiert mich eigentlich wenig, ob Jack damit einverstanden ist, solange du es bist.“

„Ich bin damit einverstanden. Normalerweise amüsiert mich seine beschützerische Art einfach nur. Oder ich ärgere mich darüber. Aber im Augenblick ist das anders. Schon allein zu wissen, wie er ist, bedeutet so etwas wie einen Schutzschild für mich.“

„Wenn du meine Schwester wärst, würde ich mich auch beschützerisch verhalten. Das geht mir ja schon so, selbst wenn ich nicht viel mehr tun kann, als anzurufen und mit dir zu sprechen. Ich denke, es ist zum Teil das, was in allen vorgeht, die irgendwie mit einem Verbrechen zu tun haben, Brie. Alle reagieren darauf – angefangen vom Opfer bis zu seinen Freunden und der Familie. Das gehört zum Heilungsprozess dazu. Ich konnte sehen, wie auch meine Freunde und meine Familie das durchgemacht haben. Es war einer der Gründe, weshalb ich hier raufgekommen bin, denn es fing an, mich zu bedrücken. Ihr Bedürfnis, dass ich gesund werde, damit sie sich wieder besser fühlen können.“

„Das vergesse ich immer wieder“, sagte sie. „So egozentrisch bin ich inzwischen geworden. Du bist ja auch das Opfer eines Verbrechens.“

„Im Moment sollst du auch ganz egozentrisch sein. Du musst dich selbst schützen und dich ausschließlich darauf konzentrieren.“

„Und das hast du gemacht?“

„Ohhh.“ Er lachte. „Ich wünschte, du hättest mich sehen können. Der Tag fing damit an, dass ich steif vor Schmerzen aus dem Bett gekrochen bin. Dann habe ich erst mal mein entzündungshemmendes Mittel eingenommen, mir die Schulter und die Leiste gekühlt, mir Mels Proteindrinks reingewürgt, von denen einer Made schlecht werden kann, und schließlich habe ich meine Übungen gemacht. Mit Einpfundgewichten. Die sind so leicht, wiegen praktisch nichts, und ich hätte dabei fast geheult vor Schmerzen. Danach musste ich mich erst mal wieder hinlegen. Zwei Monate habe ich gebraucht, um mal ein Sit-up zu schaffen. Und Mel hat jeden Tag physiotherapeutische Übungen mit mir gemacht. Aber immer erst am Nachmittag und auf keinen Fall, bevor ich noch ein Bier trinken konnte, um dem Schmerz die Spitze zu nehmen. Du weißt ja, sie ist klein, aber lass dich nicht täuschen. Sie kann einem einen verletzten Muskel dehnen und drücken und schinden, dass du wie ein Baby um Gnade flehst. Mein ganzes Leben hat sich nur darum gedreht, meinen Körper wiederzugewinnen.“

„Ich wünschte, bei mir ginge es nur um den Körper“, flüsterte sie.

„Auch ich hatte Albträume“, gestand er leise und fast unwillig. „Ich will, dass du weißt, dass ich sie jetzt nicht mehr habe.“ Dabei dachte er, dass ihr noch gar nicht so recht klar war, wie viel sich letztlich um ihren Körper drehte. Wenigstens wusste er ein wenig darüber Bescheid, was Vergewaltigungs- und Verbrechensopfer durchmachten. Es würde lange dauern, bis Brie eine gesunde sexuelle Beziehung haben könnte.

Später war Mike einigermaßen erstaunt, dass Jack seinen Anruf bei Brie gar nicht erwähnte. Das konnte nur eins bedeuten, dass nämlich weder Brie noch Sam ihm etwas davon gesagt hatten, und Mike war sich nicht sicher, warum. Er dachte kurz daran, es ihm selbst zu erzählen, denn seine Besorgnis ließ sich ohne Weiteres erklären. Momentan hatte er einiges mit Brie gemeinsam, und vielleicht wäre er in der Lage, ihr eine gewisse Unterstützung zu bieten. Letztendlich aber sagte er nichts. Er hatte nicht das Bedürfnis nach einer solchen seltsamen Dreierkonferenz, nur um mit Jack seine Gefühle für Brie abzuklären. An seinen Gefühlen für sie hatte sich nichts geändert, abgesehen davon, dass sie momentan beide angeschlagen waren.

Mitte Juli war es feucht und neblig, und Mike rief Brie alle zwei Tage an. Jack sagte immer noch nichts. Die Art, wie sie seine Anrufe entgegennahm, gab Mike das Gefühl, dass sie sich ein wenig darauf freute. Selten sprachen sie über das Verbrechen und ihre Genesung, sondern eher über alltägliche Dinge. Seinen Angelsport, die Bücher, die sie las, oder was sie sich im Fernsehen ansah, das Wetter, Sam, ihre Schwestern und Nichten oder über die Briefe, die Ricky – ein Junge aus dem Dorf, den Jack und Preacher unter ihre Fittiche genommen und in der Bar beschäftigt hatten – aus dem Basistraining des United States Marine Corps, des USMC, nach Hause schrieb.

Aber sie erzählte ihm auch von den Phobien, die sie neuerdings entwickelt hatte – die Dunkelheit, öffentliche Orte, Geräusche in der Nacht, die sie früher wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen hatte. Ihr Haus stellte sie zum Verkauf, denn sie hatte nicht die Absicht, noch einmal allein dort zu wohnen. Zwar glaubte sie daran, irgendwann auch wieder stark genug zu sein, um allein leben zu können, aber nicht mehr da, wo es passiert war.

„Gehst du denn überhaupt einmal aus?“, fragte er sie.

„Beratungsgespräche, Gruppensitzungen. Der gelegentliche Einkaufstrip mit Dad. Irgendwie werde ich bald etwas daran ändern müssen, aber vorläufig will ich mich einfach nur sicher fühlen. Und das ist schon ziemlich viel verlangt.“

Trotz dieser neuen Ängste konnte er an Bries Stimme erkennen, dass sie zunehmend an Kraft gewann. Immer wieder lachte sie, und der Klang ihrer Stimme beruhigte ihn sehr. Er neckte sie, erzählte ihr Witze und spielte ihr am Telefon sogar etwas auf der Gitarre vor, sodass sie ihm sagen konnte, dass er sich verbessert hatte.

Jack allerdings war zu still. Mike konfrontierte ihn damit und fragte, wie er mit der Situation zurechtkam. „Ich will sie einfach zurückhaben, Mann“, erklärte Jack düster. „Brie war immer so voller Lebensenergie.“

Mike drückte Jacks Arm. „Sie wird zurückfinden. Sie hat das Zeug dazu.“

„Ja, ich hoffe, du hast recht.“

„Ich habe recht“, versicherte ihm Mike. „Brauchst du mich morgen? Ich denke daran, mal die Küste runterzufahren und mich dort etwas umzuschauen.“

„Nein. Viel Spaß.“

Normalerweise hätte Mike überhaupt kein Problem damit gehabt, nach Sacramento zu fahren, ohne Jack zu informieren. Aber diesmal waren die Umstände anders, und er war kein Idiot – Jack würde es wissen wollen. Dennoch sagte er ihm nichts davon, und genau genommen hatte er sogar seine Fährte verwischt, indem er vorgab, sich mal einen Tag lang in der Gegend umzusehen. Er stand auf, bevor Jack in aller Herrgottsfrühe anfing, hinter der Bar Holz zu hacken, ein Ritual, an dem er auch im Sommer festhielt, wenn es gar nicht nötig war, den Kamin anzuzünden. Und noch vor dem Morgengrauen machte Mike sich auf den Weg und erreichte die Stadt über Ukiah gegen zehn Uhr morgens.

Nachdem er geklingelt hatte, sah er einen Schatten hinter dem Türspion und hörte, wie der Riegel beiseitegeschoben wurde, dann ging die Tür auf. „Mike?“ Es war Sam. „Mit dir hatte ich nicht gerechnet.“

„Ich hielt es für besser, vorher nicht anzurufen, Sir. Ich dachte …“

Brie trat hinter der Ecke hervor und stellte sich hinter ihren Vater. „Mike?“, fragte sie gleichermaßen erstaunt.

Er lächelte. „Gut siehst du aus“, stellte er erleichtert fest. „Fantastisch. Du siehst fantastisch aus. Ich wollte gerade sagen, dass ich nicht angerufen habe, weil ich dachte, dass ich dich vielleicht für ein Weilchen aus dem Haus locken kann, wenn ich einfach hier auftauche. Hätte ich angerufen, wären dir sicherlich tausend Ausreden eingefallen.“

Tatsächlich trat sie einen Schritt zurück. „Ich weiß nicht …“

„Was hältst du von Folsom? Die Berge genießen, durch die Geschäfte bummeln, ein kleines Mittagessen und dann vielleicht noch auf einen Sprung bei dem einen oder anderen Weingut vorbeischauen. Nur ein paar Stunden. Nur ein wenig frische Luft schnappen und vielleicht eine kleine Übung, dich der Öffentlichkeit zu stellen. Irgendwann einmal wirst du in die Welt zurückkehren müssen.“

„Vielleicht aber noch nicht so früh …“

„Es ist nur deshalb früh, weil du es noch nicht getan hast. Du wirst in Sicherheit sein, Brie.“

„Natürlich, aber …“

„Brie“, schaltete Sam sich ein. „Du solltest die Gelegenheit nutzen. Mike ist ein trainierter Beobachter, ein Cop mit jahrelanger Erfahrung. In besseren Händen kannst du gar nicht sein.“

Mit einem leichten Nicken wandte Mike sich respektvoll an Sam: „Danke, Sir. Sie sind herzlich eingeladen, uns zu begleiten.“

Sam lachte. „Nein, ich glaube, das lasse ich mal lieber bleiben. Aber es ist eine gute Idee, Brie.“ Er nahm ihre Hand und rieb sie zwischen seinen Händen, als wollte er sie wärmen. „Du solltest zumindest mal für eine oder vielleicht auch zwei Stunden rausgehen. Mike ist den ganzen Weg hergefahren …“

Mit Augen, in denen es vielleicht sogar ein wenig blitzte, sah sie Mike eindringlich an. „Jack hast du aber nichts davon erzählt, dass du das vorhast, stimmt’s?“ Es war keine Frage.

„Natürlich nicht. Er hätte doch nur versucht, mir das auszureden. Solltest du jemanden brauchen, der dich aus dem Haus loseist, dann möchte er derjenige sein.“ Er grinste. „Das Risiko konnte ich nicht eingehen.“

Einen Moment lang schien sie darüber nachzudenken. Schließlich sagte sie: „Dann ziehe ich mich wohl besser mal um.“

„Nein, nicht nötig. Folsom ist kein bisschen schicker als deine Shorts. Lass uns einfach losziehen. Wir bleiben nur so lange draußen, wie es für dich in Ordnung ist.“

„Dad …?“

„Das ist eine gute Idee, Brie. Geh einen bisschen raus. Geh essen, trink ein Glas Wein. Wenn du nach Hause kommst, werde ich hier sein.“

Mike half ihr in den Wagen und startete den Motor. Wie nicht anders zu erwarten, war Brie sehr still. „Vielleicht wird es dich ein Weilchen stressen, aber ich glaube, das wird sich legen“, versuchte er sie zu beruhigen. Weitere Minuten herrschte Stille im Wagen. „Nach einem Trauma verkriechen wir uns in uns selbst. Wir werden sehr schweigsam und unterdrücken unsere Gefühle.“ Wieder kam kein Gespräch in Gang. Sie starrte nur vor sich hin und hielt mit einer Hand den Sicherheitsgurt umklammert, während sie die andere schützend über den Bauch legte.

„Ich kam als viertes von acht Kindern zur Welt und hatte drei ältere Brüder“, plauderte Mike, als sie ins Vorgebirge der Sierras gelangten. „Als ich schließlich in den Kindergarten kam, hatte ich auch noch drei jüngere Schwestern, sodass meine Mutter wirklich sehr beschäftigt war. Bei uns zu Hause regierten noch diese altmodischen Traditionen und Werte. So hatte mein Vater zwar die größte Mühe, uns alle satt zu machen, hielt sich bei so vielen Söhnen aber für den größten Champion, und ich bin mir sicher, er hätte noch mehr gewollt. Aber es war ein lautes, verrücktes Haus, und als ich in die Schule kam, war mein Englisch anfangs nicht besonders gut, denn bei uns zu Hause und in der Nachbarschaft wurde nur Spanisch und ein wenig sehr schlechtes Englisch gesprochen. Heute ist mein Vater ein erfolgreicher Mann, aber damals galten wir als arm.“ Er sah zu ihr hinüber. „Gleich in der ersten Woche an der Schule wurde ich von größeren Kindern verprügelt. Ich hatte Prellungen im Gesicht und an anderen Stellen, aber ich wollte niemandem sagen, was geschehen war.“ Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. „Nicht einmal meinen Brüdern, die mir noch mehr blaue Flecken versprachen, wenn ich ihnen nicht sagen würde, wer es war und warum. Monatelang habe ich überhaupt nicht mehr gesprochen.“

Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. „Durch die Arbeit mit Kindern, die Opfer von Missbrauch waren, habe ich gelernt, dass so etwas nicht ungewöhnlich ist. Dass man so still wird. Ich habe auch gelernt, dass es in Ordnung ist, sich erst einmal zu orientieren, bevor man anfängt zu sprechen.“

„Was hat dich dazu bewegt, wieder etwas zu sagen?“, fragte sie.

Mike lachte in sich hinein. „Keine Ahnung, ob ich das noch alles richtig im Kopf habe, aber ich glaube, meine Mutter hat sich mal mit mir an den Küchentisch gesetzt und gesagt: ‚Wir müssen darüber sprechen, was mit dir passiert ist, Miguel. Ich kann dich so lange nicht wieder in die Schule schicken, bis ich es weiß. ‘ Irgendwie so etwas. Der ausschlaggebende Punkt war jedenfalls, dass sie mir nicht erlauben wollte, zurückzugehen, und diese Jungs mich dann für einen Feigling gehalten hätten, auch wenn ich Angst davor hatte, noch einmal verprügelt zu werden. Hohlköpfiges Machodenken, sogar damals schon.“ Er lachte.

„Hat deine Mutter es den Lehrern erzählt?“, fragte sie.

„Nein.“ Wieder lachte er. „Sie hat es meinen Brüdern erzählt. Sie hat ihnen gesagt: ‚Wenn Miguel mir auch nur mit einem einzigen blauen Fleck nach Hause kommt, setzt es erst mal von mir eine Tracht Prügel, dann von eurem Vater.‘“

„Na, das ist ja ziemlich brutal“, meinte Brie.

„Die alte Welt. Traditionen.“ Er grinste. „Keine Sorge, Brie. Es wurde viel mehr damit gedroht, als dass wir wirklich verprügelt wurden. An Schläge kann ich mich gar nicht erinnern. Mein Vater hat uns zwar schon mal mit dem Gürtel den Hintern versohlt, uns aber niemals dabei verletzt. Bei meiner Mutter war es der Kochlöffel. Und das war nicht so ein Weichei-Kochlöffel, wie ihr Gringos ihn kennt, sondern ein Löffel, so lang wie ihr Arm. Lieber Himmel, wenn er die Gürtelschnalle öffnete oder sie den Löffel aus dem Regal nahm, sind wir wie der Teufel gerannt. Die nachfolgende Generation der Valenzuelas hat diese Art der Kindererziehung aufgegeben. Übrigens, sie wurde auch nicht in Mexiko erfunden. Es war diese Generation. Damals verstieß es nicht gegen das Gesetz, sein Kind zu schlagen, wenn es etwas angestellt hatte.“

Einen Augenblick lang sagte sie nichts. Dann fragte sie: „Waren es lateinamerikanische Frauen, die du geheiratet hast?“

Gespannt sah er sie an. „Ja. Beide Male. Nun, eher Misch-Mexikanerinnen.“

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