×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Neue Hoffnung in Virgin River«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Neue Hoffnung in Virgin River« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Neue Hoffnung in Virgin River

Irgendwann wird es wieder aufwärtsgehen, davon ist Katie Malone überzeugt. Dieser Gedanke hat die junge Witwe die letzten Monate überstehen lassen, als sie zusammen mit ihren Zwillingen untertauchen musste. Jetzt, hier bei ihrem Bruder in Virgin River, hofft sie, ein wenig Kraft für einen Neuanfang zu schöpfen. Dabei helfen ihr die intensiven Gespräche mit Dylan Childress, einem Sommergast, dem sie immer wieder begegnet. Obwohl sie beide nicht an einer ernsten Beziehung interessiert sind, scheinen sie gegen die magische Anziehungskraft machtlos zu sein. Doch der Tag des Abschieds rückt immer näher … Hat Katie den Mut, auf die Stimme ihres Herzens zu hören?


  • Erscheinungstag: 01.08.2015
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 16
  • Seitenanzahl: 300
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956494277
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robyn Carr

Neue Hoffnung in Virgin River

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Barbara Minden

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Redwood Bend

Copyright © 2012 by Robyn Carr

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz, Michael Alberstat

ISBN eBook 978-3-95649-427-7

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Katie Malone kündigte ihren Job und packte ihre Habseligkeiten aus ihrem Häuschen in Vermont zusammen. Die letzten Jahre waren hart gewesen und die vergangenen Monate, in denen sie von ihrem Bruder Conner, ihrem einzigen Verwandten, getrennt war, schrecklich. Sie hatte sich tatsächlich dermaßen einsam gefühlt, dass sie sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, einen Vertrag bei einer Online-Partnerbörse zu unterschreiben.

Der Tiefpunkt war erreicht, als sie anfing, auf eine romantische Beziehung mit ihrem Chef zu hoffen, dem süßesten Kinderzahnarzt, den es gab, einem Mann, der sie noch nie auch nur ein einziges Mal geküsst hatte. Und warum? Es gab einen völlig logischen Grund dafür, dass er es bisher nicht getan hatte – er war schwul. Sie war der letzte Mensch, den er küssen wollte.

Es war höchste Zeit für sie, die Männer zu vergessen und ihre Unabhängigkeit mit einer Rückkehr nach Kalifornien auf Vordermann zu bringen.

Ein Kommentar ihres fünfjährigen Zwillingssohnes Andy traf sie mitten ins Herz und machte ihr bewusst, wie dringend ihre Familie einen Neustart brauchte. Sie war gerade dabei, eine Kiste für Kalifornien zu packen, da fragte Andy sie: „Müssen wir wieder im Dunkeln umziehen?“

Fassungslos betrachtete Katie ihn. Sprachlos. Während sie über Küsse und Einsamkeit nachdachte, sorgten sich ihre Jungen darüber, bei Nacht und Nebel flüchten zu müssen. An einen unbekannten, noch weiter von der Familie entfernten Ort als jetzt schon.

Sie drückte den kleinen Kerl fest an sich und beruhigte ihn. „Nein, Liebling! Ich bringe dich und Mitch zu Onkel Conner.“

Andy und Mitch waren ein perfektes Gespann, fünfjährige eineiige Zwillinge. Mitch, der alles mit anhörte, kam angerannt.

„Onkel Conner?“, fragte er.

„Ja“, erwiderte sie. Urplötzlich wurde ihr klar, was vor ihr lag. Sie musste ihre Familie zusammenführen und sich darum kümmern, dass ihre Söhne sich behütet und gut aufgehoben fühlten. „Erst machen wir aber noch einen kleinen Umweg. Wie hört sich Disney World für euch an?“

Die Jungen sprangen vor Freude herum und schrien: „Yeah!“, und: „Cool!“, bis ihr Freudentaumel in eine Keilerei auf dem Fußboden überging. Wie immer.

Katie verdrehte die Augen und packte weiter Umzugskisten.

Im vergangenen Winter hatte ihr Bruder eine verheerende Erfahrung gehabt, die zu einer Familienkrise geführt hatte. Hinter der Eisenwarenhandlung und Maßschreinerei, die ihrer Familie gehörte, war ein Mann ermordet worden. Conner hatte sofort die Polizei verständigt. Er avancierte zum einzigen Zeugen in einem Mordfall. Kurz nachdem eine Festnahme erfolgt war, wurde das Geschäft bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und jemand hinterließ Drohungen auf Conners Mailbox. Daher beschloss die Staatsanwaltschaft, dass es das Beste für die Familie sei, keinen Kontakt miteinander zu haben. Katie und die Jungen waren zu ihrer eigenen Sicherheit nach Vermont gezogen. Der Ort lag so weit wie möglich innerhalb des Landes von Sacramento entfernt. Conner hielt sich in einer winzigen Stadt im Norden Kaliforniens versteckt.

Nun war es vorbei. Der Mordverdächtige war getötet worden, bevor man ihn vor Gericht stellen konnte. Conner war nicht länger Zeuge und die Familie der Gefahr entronnen. Jetzt durften sie sich wieder um ihr Familienleben kümmern.

Conner hatte in Virgin River jemanden kennengelernt, Leslie, die Frau, die er liebte, und sich dort niedergelassen, um sich ein gemeinsames Leben mit ihr aufzubauen.

Katie hätte es gefallen, ihren Bruder zu überraschen, allerdings waren sie schon vor langer Zeit dazu übergegangen, regelmäßig miteinander zu telefonieren. Täglich sprach Conner, wenn auch nur kurz, mit den Jungs. Für die beiden kam er dem, was einem Vater entsprach, am nächsten und er war der Einzige, den sie hatten. Es war unmöglich, ihm ihre Reisepläne zu verheimlichen. Und selbst falls Conner keinen Verdacht schöpfte, würden die Jungs sicher alles ausplaudern.

„Es ist fast schon Sommer“, erzählte sie Conner. „Fast Juni, und wir dürfen uns jetzt, wo wir nicht mehr bedroht werden, wieder frei bewegen und wohnen, wo wir wollen. Ich muss dafür sorgen, dass meine Kinder so etwas wie Stabilität in ihrem Leben haben. Sie brauchen dich, Conner. Deshalb würde ich den Sommer gerne bei dir in Virgin River verbringen, wenn das für dich in Ordnung wäre. Ich werde mir natürlich eine eigene Wohnung mieten, doch die Jungs sollten in deiner Nähe sein.“

„Ich komme und hole euch ab“, bot er auf der Stelle an.

„Nein“, lehnte sie halbherzig ab. „Erst mache ich mit den beiden Urlaub; nur wir drei. Das haben wir uns verdient. Einige Tage Disney World. Dort lasse ich mein Auto verladen und wir fliegen nach Sacramento. Da kriegen wir den Wagen wieder und brechen auf nach Virgin River – das sind nur ein paar Stunden. Und ich mag es, durch die Landschaft zu fahren.“

„Ich treffe euch in Sacramento“, meinte er.

Katie holte tief Luft. Conners Beschützerinstinkt hatte sich seit dem Tod ihrer Eltern noch verstärkt. Er war immer für sie da und dafür liebte sie ihn, aber manchmal war er ihr zu bestimmend und sie hatte das Gefühl, ihm etwas entgegensetzen zu müssen. „Nein. Ich bin kein Kind mehr, sondern zweiunddreißig und stehe mit beiden Beinen im Leben. Und ich möchte Zeit mit meinen Kindern verbringen. Seit dem Umzug haben die beiden den Boden unter den Füßen verloren. Deshalb müssen wir dringend mal wieder ein bisschen Spaß miteinander haben.“

„Ich will euch bloß helfen“, entgegnete Conner.

„Und dafür liebe ich dich. Aber ich werde das auf meine Art und Weise tun.“

„Na schön.“

Conner gab nach! Katie verschlug es vor Überraschung einen Moment die Sprache. Schließlich sagte sie: „Wow. Wer bist du denn? Und was hast du mit meinem großen Bruder gemacht?“

„Sehr witzig.“

„Obwohl ich den größten Respekt vor dir habe, liebes Bruderherz, möchte ich den Verdienst für diese Veränderung deiner Leslie zuschreiben. Richte ihr aus, ich bin ihr was schuldig.“

Als Katie nach dem Vorfall im März nach Vermont geflohen war, hatte sie ihren Minivan und die Nummernschilder, über die sie hätte aufgespürt werden können, zurückgelassen. Der Wagen wurde verkauft. Conner hatte arrangiert, dass das neueste Modell eines Lincoln Navigator SUV in Vermont für sie bereitstand – ein Monsterfahrzeug, mit dem sie kaum einparken konnte.

Wie vielleicht alle Mütter trauerte sie ihrem Minivan nach, der sich einfach handhaben ließ und sich wie eine Erweiterung ihres Körpers anfühlte. Doch es war ihr rasch gelungen, sich in den großen, spritfressenden SUV zu verlieben. Es gefiel ihr, sich wie die Königin der Straße vorzukommen – unverwundbar. In diesem Auto konnte sie alles und jeden überblicken. Sie war in der Lage, lange im Voraus zu sehen, was auf der Fahrbahn geschah, und sich entsprechend darauf einzustellen. Es war eine tolle Art, so ungehindert nach vorn zu schauen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen neuen Anfang zu begrüßen.

Katie brauchte nicht lange, bis sie so weit war, die Stadt zu verlassen. Am Montag ließ sie die Kisten von UPS abholen und rief in der Schule an, um dafür zu sorgen, dass man die Kindergartenberichte ihrer Jungen einscannte und sie ihr mailte. Dann lud sie den Vermieter ein, um ihm das Haus zu übergeben, und verschenkte alle leicht verderblichen Lebensmittel, die andernfalls weggeworfen worden wären, an die Nachbarn. Sie organisierte die Verladung ihres Lincoln in Orlando, sodass sie mit einem Abstecher nach Disney World nach Sacramento umziehen konnten.

Sie verstaute nicht nur das Gepäck im Kofferraum, sondern auch die Kühltasche und einen Picknickkorb sowie ihren pinkfarbenen Werkzeuggürtel, den ihr verstorbener Ehemann Charlie ihr geschenkt hatte und den sie überall mit hinnahm. Sie belud ihren Monster-SUV mit tragbaren DVD-Playern, Filmen, Tablets und Ladegeräten und machte sich mit ihren Kindern auf den Weg nach Süden.

Zunächst verlief die Autofahrt wunderbar, aber irgendwann wurden die Zwillinge zappelig. Sie zankten sich und nörgelten herum. Katie hielt an, sobald einer der Jungen zur Toilette musste, und fünfzehn Minuten später noch einmal, als der nächste so weit war. Alle paar Stunden veranstalteten sie ein Picknick auf einem Rastplatz, wo sie mit ihren Söhnen herumtobte, damit sie müde wurden. Doch die Einzige, die danach fertig zu sein schien, war sie. Zwischendurch reparierte sie einen nicht funktionierenden DVD-Player und verteilte kleine Snacks, danach lud sie die Kinder wieder in den Wagen ein, um weiterzufahren.

Sie fragte sich, wie Eltern vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, bevor es DVD-Player und Computerspiele gab, so etwas geschafft hatten. Wie hatten sie solche Reisen ohne große Autos mit ausklappbaren Konsolen, die gleichzeitig als Tische für Spiele und Erfrischungen dienten, überstanden? Ohne Autos, die über individuelle Heizung für jeden Sitzplatz und Klimaanlage verfügten? Wie hatten diese Pioniermütter das bewältigt? Hatte es damals überhaupt schon Isolierband gegeben?

Die meisten Frauen aus der heutigen Zeit hätten sich in Selbstmitleid gesuhlt, wenn man sie mit solchen anspruchsvollen, energiegeladenen Kindern alleine gelassen hätte. Doch so eine war sie nicht. Sie hasste Selbstmitleid. Dennoch hätte sie sich gewünscht, Charlie könnte sie sehen und alles erleben.

Katie war sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie ihn kennengelernt und geheiratet hatte. Sie hatten eine romantische, hingebungsvolle und leidenschaftliche, aber zu kurze Beziehung geführt. Er gehörte den Green Berets an – einer Spezialeinheit der Army. Als sie mit den Zwillingen schwanger war, wurde er nach Afghanistan versetzt und noch vor der Geburt der Jungen getötet.

Wie sehr sie sich wünschte, dass er sie nun hätte sehen können. Bevor sie in diese schwierige Situation geraten waren, waren die Kinder so lustig gewesen. Sie stellte sich vor, dass die Jungs genauso waren, wie ihr Vater als Kind gewesen war; auf jeden Fall ähnelten sie ihm sehr. Sie waren für ihr Alter ziemlich groß, wild, ehrgeizig, schlau, ein bisschen jähzornig und besitzergreifend. Sie hatten beide eine starke, gefühlvolle Ader, brauchten regelmäßige mütterliche Streicheleinheiten und sie liebten Tiere über alles, wie winzig auch immer die waren. Die Tränen, die ihnen bei Disney-Filmen wie Bambi kamen, probierten sie dennoch zu verbergen. Und falls einer von ihnen Angst kriegte, baute der andere ihn auf und tröstete ihn. Wenn man sie gemeinsam auf engem Raum einpferchte, wie zum Beispiel auf dem Rücksitz eines Autos, wollte jeder mehr Platz. Waren sie voneinander getrennt, wollten sie zusammen sein. Katie fragte sich, ob ihre Söhne jemals in der Lage sein würden, ohne einander zu duschen.

Und genau wie damals, als sie Charlie immer gebeten hatte, nicht dauernd die Badezimmertür offen stehen zu lassen, sehnte sie sich nach ein bisschen Privatsphäre im Bad. Seit sie krabbeln konnten, waren die Jungen ständig in ihrer Nähe, egal, was sie tat. In den letzten Jahren hatte sie ohne die Gesellschaft ihrer Kinder nicht einmal mehr baden können.

Ihr Leben war also in den vergangenen fünf Jahren keinesfalls leicht gewesen. Und das ihrer Kinder? Es schien ihnen nicht richtig bewusst zu sein, dass sie kein normales Familienleben führten – sie hatten eine Mutter, keinen Vater, aber Onkel Conner. Katie zeigte ihnen Fotos von ihrem Dad und erzählte ihnen immer wieder, wie begeistert er sich auf sie gefreut hatte, dass er dann jedoch zu den Engeln gegangen war … Ein Held, der zu den Engeln gegangen war …

Deshalb war Disney World eine gute Idee. Sie alle hatten sich diesen gemeinsamen Ausflug verdient.

Micky Maus schaffte es nicht, die Jungs zu ermüden. Im Gegenteil. Die drei Tage und Nächte in Disney World schienen sie noch zusätzlich aufzuputschen. Die Zwillinge zappelten den ganzen Weg nach Sacramento im Flugzeug herum, und weil sie so in ihrer Bewegung eingeschränkt gewesen waren, tobten sie anschließend im Hotelzimmer wie zwei Verrückte.

Gleich nach dem Frühstück brachen sie nach Virgin River auf. Doch während der Fahrt war es dunkel, trüb und regnerisch. Katie war enttäuscht. Sie wollte die Schönheit der Landschaft sehen, die Conner ihr beschrieben hatte – Berge, Mammutbäume, Klippen und weite Täler. Immer optimistisch, hoffte sie, dass das Grau des Himmels wenigstens eine einschläfernde Wirkung auf ihre Kinder haben würde.

Doch offensichtlich noch nicht.

„Andy hat Avatar, dabei bin ich jetzt dran mit Avatar!“

„Meine Güte, warum habe ich nicht gleich zwei davon gekauft?“, murmelte Katie.

„Jemand will Haue kriegen“, grummelte Mitch, der Anführer der beiden, vom Rücksitz aus.

Es war schwer, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn Charlie bei ihnen wäre. Er hatte nie viel Geduld gehabt und sich ziemlich vulgär ausgedrückt. Selbst Marines erröteten, wenn er den Mund aufmachte. Was das betraf, hätte Katie am liebsten nach hinten gebrüllt: Ich hab euch ins verdammte Disney World mitgenommen! Jetzt seht euch diesen beschissenen Film einfach gemeinsam an! Stattdessen drohte sie: „Wenn ich anhalten muss, um euren Streit zu schlichten, wird es sehr lange dauern, bis wir bei Onkel Conner eintreffen! Und dann müsst ihr sofort ins Bett!“

Die Brüder unternahmen großherzig einen Versuch, sich zu einigen, es endete allerdings mit Gemotze und Geschubse.

Sobald Katie vom Highway auf die schmale Serpentinenstraße abgebogen war, die um den Clear Lake herumführte, stellte die Fahrt sie vor weitere Herausforderungen. Ab und zu war es geradezu qualvoll. Sie passierte etwas, das aussah wie ein kleines Haus oder eine zerfallene Hütte, die einmal zu den Docks gehört hatte, und die nun, gleich neben der Straße, halb im See versunken war. Doch als sie langsamer wurde, erkannte sie, dass es sich um ein Wohnmobil handelte, das von der Fahrbahn abgekommen und ins Wasser gestürzt war. Katie drosselte die Geschwindigkeit noch mehr, konnte jedoch nicht anhalten, weil es nirgendwo einen Platz zum Wenden gab und hinter ihr schon die Sirenen der Helfer ertönten.

Sobald sie Humboldt County erreichten, bog sie auf den Freeway ein, der direkt in die Küstenstadt Fortuna und dann weiter nach Osten auf dem Highway 36 in die Berge führte. Das war eine gut ausgebaute, zweispurige Straße. Sowie sie in die Berge kam, raubte ihr der Anblick beinahe den Atem. Riesige Bäume ragten auf den Hängen scheinbar in die Wolken. Weitläufige Farmen, Ranches und Weinberge breiteten sich im Tal vor ihr aus. Sie konnte aber den Anblick nicht ausgiebig genießen, weil es weder Seitenstreifen noch Parkbuchten gab. Doch kaum war sie weitergefahren, fand sie sich auf einer Serpentinenstraße mitten in einem dichten Wald wieder, die mal nach links, nach rechts, rauf- oder runterführte. Die Bäume waren so hoch, dass sie das ohnehin spärliche Tageslicht abhielten. Die Scheinwerfer erwiesen ihr bei dem Regen einen eher schlechten Dienst.

Dann passierte es. Sie spürte einen dumpfen Schlag und hörte einen Knall. Der große Wagen geriet ins Schleudern, neigte sich schließlich nach links und machte ein Geräusch, das sich wie kathump, kathump, kathump anhörte.

Katie fuhr so dicht wie möglich an die Seite. Weil sie sich aber zwischen zwei Kurven befand und es nur ein kleines Stückchen geradeaus ging, ragte das Heck ein wenig auf die Straße. Das war einer der Gründe, weshalb sie solche SUVs eigentlich früher nicht besonders gemocht hatte.

„Bleibt im Auto sitzen“, befahl sie den Jungen und stieg vorsichtig aus dem Auto. Dabei achtete sie auf den Verkehr, der aus jeder Richtung um die Kurve biegen konnte. Der Regen fiel nun als stetiger Schauer, obwohl die Kronen der riesigen Pinien und Mammutbäume ihn etwas auffingen. Piniennadeln hielten die Nässe jedoch nicht gut ab und Katie schauderte. Das soll Juni sein, dachte sie. In Sacramento war es so warm gewesen, dass sie Jacken und Sweatshirts in den Koffern lassen konnten. Mit solch einem Temperatursturz in den Bergen hatte sie nicht gerechnet.

Sie ging in die Hocke und kauerte sich auf die Fersen, wobei sie angewidert auf den beschädigten Reifen, diesen Verräter, starrte. Platt wie eine Flunder, das Gummi komplett abgerieben. Welch ein Mist. Damit kam sie nirgendwo mehr hin. So viel stand fest.

Katie wusste zwar, wie man einen Reifen wechselte, lief aber dennoch erst einmal zurück und zückte ihr Handy. Bei einem Wagen dieser Größe bedeutete der Reifenwechsel eine echte Herausforderung, und vielleicht waren sie schon nahe genug an Virgin River, sodass Conner ihnen zu Hilfe kommen konnte.

Das war nicht der Fall, und in der Nähe gab es weder ein Lokal noch eine Tankstelle. Das verringerte ihre Optionen. „Mami wird jetzt den Reifen wechseln und ich will, dass ihr still im Auto sitzen bleibt. Kein Herumgezappel, in Ordnung?“

„Warum?“

„Weil ich den Wagen aufbocken muss, und wenn ihr herumzappelt, könnte er vielleicht herunterfallen und mich verletzen. Seid ihr in der Lage, ruhig zu bleiben? Ganz mucksmäuschenstill?“

Ernst nickten die Kinder. Katie konnte sie nicht aussteigen und am schmalen Highway im Wald herumtoben lassen. Sie schloss die Tür des SUV und ging nach hinten, um die Kofferraumklappe zu öffnen. Dort musste sie etwas Gepäck ausladen und den Picknickkorb verschieben, damit sie an den Wagenheber gelangen konnte. Anschließend versuchte sie, das Auto aufzubocken.

Das Erste, was getan werden musste, war eigentlich das Schwerste für eine Frau ihrer Körpergröße – sie musste die Radmuttern lösen. Obwohl sie mit vollem Körpereinsatz arbeitete, schaffte sie es nicht, auch nur eine einzige zu bewegen. Nicht einmal das geringste bisschen. Das war der Moment, in dem es von Nachteil war, nur eins fünfundsechzig groß und ein Leichtgewicht zu sein. Katie setzte Hände und Füße ein. Nichts. Sie stand auf, holte ein Zopfgummi aus der Hosentasche und band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Danach wischte sie sich die Finger an ihrer Jeans ab und probierte es erneut, wobei sie vor Anstrengung stöhnte. Immer noch nichts. Sie würde warten müssen, bis jemand auftauchte, der ihr …

Da hörte sie ein näherkommendes Grollen. Und weil dieser Tag sich bisher nicht unbedingt als einer der glücklichsten herausgestellt hatte, war es kein alter Rancher, der vorbeikam. Nein, es musste gleich eine Motorradgang sein. „Mist“, fluchte sie. „Na ja, Bettler dürfen nicht wählerisch sein.“ Sie winkte ihnen zu und vier von ihnen stoppten direkt hinter ihrem SUV. Der Fahrer des ersten Motorrads stieg ab und setzte seinen Helm ab, als er sich ihr näherte, während die anderen auf ihren kollernden Maschinen sitzen blieben.

Uih. Was war das für ein großer, angsteinflößender Kerl. Riesig, in Leder gekleidet und sehr behaart, sowohl im Gesicht als auch dort, wo er sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Wenn er sich bewegte, klirrte es – an seinen Stiefelabsätzen, am Gürtel und an seiner Lederjacke baumelten schwere Ketten. Er klemmte sich den Helm unter den Arm und sah zu ihr runter.

„Was’n los?“

„Platt“, erwiderte sie und schauderte. „Ich schaffe das schon, wenn Sie mir nur bei den Radmuttern helfen. Ich bin gut in Form, aber gegen das Drehmoment eines Kompressors komme ich nicht an.“

Er neigte den Kopf, hob eine Augenbraue hoch, vielleicht überrascht, weil eine Frau etwas über Drehmomente wusste. Dann ging er zum Reifen und hockte sich hin.

„Volltreffer“, meinte er. „Platter könnte er nicht sein. Ich hoffe, sie haben Ersatz dabei.“

„Unter der Ladefläche im Kofferraum. Wirklich, ich kann …“

Er stand auf und unterbrach sie: „Lassen Sie uns das mal schnell erledigen. Die Muttern auf dem Ersatzreifen werden genauso fest angezogen sein.“

„Danke, aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Wenn Sie mir einfach nur …“

Sie ignorierend, kehrte er zu seinem Motorrad zurück und verstaute den Helm. Dann nahm er ein paar Warndreiecke aus der Seitentasche und übergab sie den anderen Fahrern.

„Stu, bring eins zur letzten Kurve da oben an der Straße. Lang, du gehst die Straße runter zur nächsten Kurve und stellst dort eins auf. Dylan, du kannst mir beim Reifenwechsel helfen. Los geht’s.“

Katie hielt immer noch den Wagenheber in den Händen, als er zu ihr zurückkehrte. Charlie war schon nicht klein gewesen, doch dieser Mann toppte ihn eindeutig. Während sie so tropfnass vor ihm stand, fühlte sie sich winzig. Zwei der Biker fuhren mit den Warndreiecken weg. Der dritte, den er Dylan genannt hatte, bockte sein Motorrad auf, nahm den Helm ab und lief zu ihnen.

Achtung! Wahnsinnstyp! Sein schwarzes Haar war ein wenig zu lang, sein Kinn ein paar Tage nicht rasiert, sein Körper schlank und groß und seine Jeans über den Knien aufgeschlitzt. Er hatte einen stolzen Gang, streifte sich die Handschuhe ab, die perfekt zu seiner braunen Lederjacke passten, und stopfte sie hinten in die Hosentasche seiner hautengen Jeans. Es sah nicht so aus, als ob dort noch etwas anderes Platz hätte. Katie lenkte ihre Blicke zurück auf sein Gesicht. Es hätte auf ein Werbeplakat gehört.

„Wir machen es uns einfach“, sagte Nummer eins zu Dylan. „Was hältst du davon, wenn du das Gewicht ein wenig reduzierst.“ Er legte den Kreuzschlüssel mit leichtem Ruck an, löste die erste Mutter, die zweite und die dritte. Kinderspiel. Für ihn.

Als Dylan auf sie zukam, fielen ihr sofort seine faszinierenden blauen Augen auf. Er ignorierte sie und fing an, den Kofferraum ihres SUV auszuräumen – zuerst den großen schweren Koffer, dann einen kleineren und schließlich die Kühltasche. Währenddessen bewegte sich der aufgebockte Wagen höher. Dylan machte eine Pause. Mit der Kühltasche in der Hand blickte er an ihr hinunter.

Sie folgte seinen Blicken. Na toll. Ihr weißes T-Shirt war völlig durchnässt und klebte an ihrem Körper. Ihr hübscher Spitzen-BH war jetzt durchsichtig. Ihre Brustwarzen, die aussahen wie zwei braune Pistolenkugeln, zielten genau auf ihn. Er schaute hoch und betrachtete sie stirnrunzelnd. Danach stellte er die Kühltasche ab, zog seine Lederjacke aus, legte sie ihr um die Schultern und schloss die Jacke.

Nett, dachte sie. Eine kleine Wet-T-Shirt-Darbietung auf einer verlassenen Straße für eine Motorradgang. „Danke“, murmelte sie und trat einen Schritt zurück, damit er den Kofferraum vollständig leer räumen konnte, um den Ersatzreifen unter der Ladefläche hervorzuholen.

„Sie müssen ein Schlagloch erwischt haben oder so was“, meinte der erste Motorradfahrer. „Dieser Reifen ist Schrott.“

Katie kuschelte sich in die Lederjacke, die einen angenehmen Geruch nach Moschus kombiniert mit Regen und Wald ausströmte. Sie war innen schön trocken, aber außen triefnass. Okay, vielleicht waren die Männer keine Hells Angels, sondern nur ein paar Verrückte, die gerne bei Regen eine Spritztour machten.

Während Dylan den Ersatzreifen zu seinem Kumpel rollte, holte Katie aus dem oben liegenden Koffer ein dunkles Sweatshirt mit Schalkragen heraus. Sie packte die Lederjacke ins Auto und schlüpfte in das Shirt. Dann sah sie an sich herunter. Besser.

Kurz nachdem sie sich umgezogen hatte, kam Dylan mit dem nutzlosen Reifen nach hinten. Sein langärmliges T-Shirt klebte inzwischen an seinem muskulösen, gut geformten Brustkorb. Seine Schultern- und Oberarmmuskeln waren vom Tragen des schweren Reifens merklich angespannt. Lieber Himmel, was für ein Körper! Der Mann sollte nicht draußen im Regen herumfahren, sondern als Model arbeiten oder mit den Chippendales auftreten.

Halt, rief sie sich zur Ordnung. Eine Augenweide, aber ich habe den Männern abgeschworen. Ich konzentriere mich auf meine Zukunft und meine Familie.

Sobald er den Reifen abgelegt hatte, griff sie nach der Jacke und hielt sie ihm hin. „Hier“, sagte sie. „Danke.“

„War mir ein Vergnügen. Schwer zu glauben, dass Juni ist.“

„Das habe ich auch schon gedacht.“

Plötzlich tat er etwas völlig Unerwartetes. Er legte die Jacke in den Kofferraum, streifte sich das nasse Shirt ab und zog sich die Jacke über seinen nackten Oberkörper. Ihr klappte leicht die Kinnlade herunter und ihr Blick haftete auf seinem Body, bis er den Jackenreißverschluss zuzog. Als sie zu ihm aufsah, zwinkerte er ihr lächelnd zu, ging zu seinem Motorrad, steckte das Shirt in eine Seitentasche und kam zurück. Währenddessen wurde der Wagen auf den neuen Reifen heruntergelassen.

Dylan fing an, den SUV zu beladen, und sie war eine Sekunde lang wie hypnotisiert. Doch dann schüttelte sie sich und half ihm, wobei sich ihre Blicke immer mal wieder trafen. Oh Gott, er hat Conners Augen – kristallblaues Funkeln unter dichten, dunklen Wimpern. Auch sie hatte blaue Augen, doch es war eher ein gewöhnliches Blau, während Conners (und Dylans) in Richtung Lavendel ging, atemberaubend intensiv. Paul-Newman-Augen, pflegte ihre Mutter zu sagen. Und dieser Kerl hatte auch solche Augen! Ihre Eltern mussten noch ein Kind der Liebe gezeugt und es auf irgendwelchen Kirchenstufen ausgesetzt haben oder so etwas Ähnliches.

Nein. Warte. Sie kannte ihn – die Augen, sein Name. Es war zwar lange her, aber sie hatte ihn schon mal gesehen. Nicht persönlich, allerdings im Fernsehen und auf dem Titel diverser Zeitschriften. Andererseits war er sicher nicht … Doch, der böse Junge aus Hollywood. Was war seitdem aus ihm geworden?

„Wenn Sie wollen, können Sie jetzt wieder einsteigen“, meinte Dylan. „Drehen Sie die Heizung auf. Ich hoffe, Sie müssen nicht mehr weit fahren.“

„Ich bin fast da“, erwiderte sie.

Er stellte die Kühltasche in den Kofferraum und den schwersten Koffer, anschließend nahm er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, trocknete sich das regennasse Gesicht und wischte sich die schmutzigen Hände damit ab. „Sie haben ein paar blinde Passagiere im Auto“, sagte er und schaute in den Wagen.

Sie blickte ebenfalls in den SUV. Identische braune Augenpaare linsten über den Rücksitz zu ihnen herüber. „Meine Jungs“, erklärte sie.

„Sie sehen nicht alt genug aus, um solche Kinder zu haben.“

„Im Moment fühle ich mich wie mindestens fünfzig“, entgegnete sie. „Schon mal eine Reise mit fünfjährigen Zwillingen gemacht?“

„Kann ich nicht behaupten.“

Natürlich nicht, er war ein umwerfender, göttlicher Kerl, frei wie ein Vogel und hier draußen im Wald, um Jungfrauen zu rauben oder um sie zu retten. Wow.

„Sie können weiter, Miss“, sagte nun der große Motorradfahrer, der um den SUV herumkam und seine Lederhandschuhe anzog.

Jesus, selbst die Handschuhe waren mit Ketten verziert.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Die Radmuttern schaffen mich jedes Mal.“

„Ich würde einer Lady in Not niemals meine Hilfe verweigern. Meine Mutter würde mich umbringen. Und das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was meine Frau sagen würde!“

„Sie sind verheiratet?“, fragte Katie, und bevor sie sich beherrschen konnte: „Und haben eine Mutter?“

Dylan brach in Gelächter aus und schlug dem großen Mann auf den Rücken. „Hinter Walt steckt viel mehr, als man mit bloßem Auge sehen kann, Miss … ich habe Ihren Namen nicht verstanden …“

Sie streckte ihre eisige Hand aus. „Katie Malone.“

„Ich heiße Dylan.“ Er reichte ihr ebenfalls die Hand.

Sie würde sich noch lange fragen, wieso um alles in der Welt er nach einem Reifenwechsel im eiskalten Regen so warme Finger hatte.

„Und das ist Walt, der Straßenrand-Samariter.“ Dann wandte er sich an Walt. „Ich fahre zurück und hole Lang. Auf dem Weg nach oben sammeln wir Stu ein.“

„Bei Ihnen sollte jetzt alles in Ordnung sein, Katie“, meinte Walt. „Springen Sie in den Wagen, sagen Sie den kleinen Kerlen, sie sollen sich anschnallen, drehen Sie die Heizung auf und fahren Sie vorsichtig.“

„Richtig. Ja. Hören Sie, darf ich Ihnen etwas für Ihre Bemühungen bezahlen? Ich bin mir sicher, es hätte mich mindestens hundert Dollar gekostet, wenn ich den Reifen hätte wechseln lassen.“

„Seien Sie nicht albern“, erwiderte er, wobei er sie mit seiner Wortwahl überraschte.

Sie wirkte nicht wie das Vokabular, das zu einem großen, angsteinflößenden Mitglied einer Motorradgang passte.

„Wenn Sie gekonnt hätten, hätten Sie dasselbe für mich getan. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie den Reifen so schnell wie möglich ersetzen, damit Sie einen Ersatz dabeihaben.“

„Machen Sie immer Spritztouren im Regen?“, fragte sie.

„Wir waren schon unterwegs, als es anfing. Aber es gibt mit Sicherheit schönere Tage für so einen Ausflug. Wenn es noch schlimmer runtergekommen wäre, hätten wir unter einem Baum oder so Schutz suchen müssen. Man möchte nicht von einem Berg rutschen. Seien Sie vorsichtig.“ Danach wandte er sich ab und stapfte zu seiner Harley zurück.

2. KAPITEL

Als Katie Virgin River erreichte, sah sie ihren Bruder vor dem Haus auf der Veranda auf und ab gehen. Er hatte ihr gesagt, dass die Haustür unverschlossen wäre, falls sie vor fünf Uhr ankommen sollte. Und nun war er schon da. Sie hatte den SUV kaum geparkt, da sprangen die Jungen aus dem Wagen und rannten zu ihrem Onkel. Er hob sie mit Schwung hoch und nahm jeden in einen Arm. Allein dieser Anblick bewirkte, dass die Anspannung, die sie gespürt hatte, sich komplett in Luft auflöste und sie beinahe geschwächt zurückließ. Conner war stark und aufrecht wie eine große, treue Eiche.

Katie ging die Verandastufen hinauf. „Warum bist du denn schon da?“, fragte sie.

„Ich konnte mich nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren, daher bin ich lieber nach Hause gefahren, um auf euch zu warten.“

„Ach, Conner“, sagte sie, ihre Stimme zitterte ein wenig.

Er betrachtete sie skeptisch. „Was ist los, Katie?“

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, fröstelte stattdessen aber nur. Schließlich krächzte sie: „Ich bin im Regen stecken geblieben.“

„Kommt, wir gehen rein. Ich hole das Gepäck. Wir können reden, sobald die Jungen beschäftigt sind.“

Eine Stunde später, nachdem Katie heiß geduscht und sich entspannt hatte und die Jungs im Wohnzimmer beim Fernsehen eingeschlafen waren, schenkte Conner ihr einen Kaffee ein.

„Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte er.

„Sehr viel besser. Ich hatte einen Platten. Deshalb bin ich im Regen hängen geblieben, der, nebenbei bemerkt, im Wald wirklich eisig kalt vom Himmel fällt. Zum Glück hielt eine Motorradgang an und wechselte mir den Reifen.“

„Motorradgang?“

„Eine Gruppe von Motorradfahrern“, versuchte sie es noch mal. „Nicht die Hells Angels, Conner. Nur ein paar Biker, die eine Ausfahrt im Regen gemacht haben, was wiederum die Frage aufwirft … Egal. Ich hätte den Reifen selbst wechseln können, aber es gelingt mir nie, diese Muttern zu lösen. Es waren sehr nette Männer, offensichtlich unfähig, auf den Wetterbericht zu hören.“

Conner saß ihr am schmalen Küchentisch gegenüber. „Was ist los, Katie? Du hattest davon gesprochen, in Vermont zu bleiben. Mir gefiel die Idee noch nie, und ich finde es so viel besser, aber es war ein ziemlich plötzlicher Meinungsumschwung.“

„Ja, weil ich unausgeglichen bin. Deshalb. Ich hatte mir selbst eingeredet, dass ich jemanden wie Keith finden müsse, meinen alten Chef. Obwohl er nie etwas Tolleres zu mir gesagt hat als: ‚Gute Seezunge. Katie, du könntest ein Restaurant aufmachen‘.“ Sie schüttelte den Kopf. „Der Umzug nach Vermont war nicht total schlecht. Ich habe ein paar neue Freunde gefunden, den Jungs hat es in der Schule gefallen, die Nachbarn waren großartig. Aber ich wollte einfach nicht mehr länger alleine sein und fing an nachzudenken. Ich muss einen Mann finden, der ihnen ein guter Vater sein kann. Und stell dir vor, was ich beinahe gemacht hätte …“

„Was denn?“

Katie trank einen Schluck Kaffee. „Keith ist ein ganz außergewöhnlicher Mann und ich wette, es gibt weit und breit keinen besseren Vater. Er kann sehr gut mit Kindern umgehen. Und als meine Frustration ihren Höhepunkt erreicht hatte, also wirklich auf ihrem höchsten Level war, weil ich immer noch nichts unternommen hatte, hintertrug mir Keiths Schwester Liz, dass er schwul ist. Da ihn der Gedanke nervös macht, wie die konservative Gemeinde einen schwulen Kinderarzt behandeln würde, behält er es lieber für sich. Ich habe mich also so verzweifelt nach Gesellschaft gesehnt, dass ich mich beinahe auf eine Beziehung mit einem Mann eingelassen hätte, der sich nicht körperlich zu mir hingezogen fühlt. Nicht im Geringsten. Kein bisschen. Nüscht.“

Conner lehnte sich zurück. „Ich dachte mir schon, dass er irgendwie zu nett war, doch ich hätte ihn nicht für schwul gehalten. Nicht, dass ich da über Expertenwissen verfüge.“

„Ich auch nicht. Aber um dir zu zeigen, wie durcheinander ich war … ich vermisse Liz inzwischen mehr als Keith. Und dann …“ Sie brach mitten im Satz ab und starrte in ihre Tasse.

„Und dann?“, drängte er sie.

„Als ich schließlich aufzuräumen und zu packen anfing, fragte mich Andy, ob wir schon wieder bei Nacht und Nebel umziehen müssten, und da wusste ich, dass ich noch ein paar ungeklärte Dinge erledigen muss. Mit mir selbst. Mit meiner Familie. Die Jungs … sie sind so robust, da vergisst man schnell, dass sie in unruhigen Verhältnissen leben, aber dringend Stabilität brauchen.“

Conner schnaubte leicht gereizt. „Meine Schuld“, murmelte er. „Diese verdammte Gerichtsverhandlung …“

„Ich ignoriere deinen Kommentar. Weder du noch ich sind dafür verantwortlich. Wir haben das, was wir zu regeln hatten, ganz gut hinbekommen. Aber ich brauche eine Veränderung. Charlie war mir total ergeben, er war der engagierteste Mann, den ich kenne – mir gegenüber, der Army gegenüber, seinen Kumpels bei den Special Forces gegenüber. Und er wollte mich in jedem Sinne des Wortes haben. Das ließ er mich stets spüren. Das vermisse ich. Ich vermisse ihn immer noch so sehr, dass ich beinahe einen Fehler gemacht hätte, der nicht nur mich, sondern auch die Jungs betroffen hätte. Ich muss eine bessere Lösung finden.“

„Du machst das großartig, Katie.“ Conner drückte ihr die Hand.

„Danke, ich muss es allerdings schaffen, ganz alleine großartig zu sein. Für die Jungen ist es in Ordnung, wenn sie von dir abhängig sind, doch ich muss ein bisschen mehr Eigenständigkeit entwickeln. Ich will dich als Bruder, aber nicht als Mann, an den ich mich andauernd anlehne. Ich werde mich in Zukunft stärker auf mich selbst verlassen. Bis ich das bewerkstelligt habe, bin ich eine gefährliche Single-Frau auf der Jagd. Weißt du, was ich meine?“

„Nicht so richtig.“

„Aber ich weiß genau, was du meinst“, sagte jemand anders.

Katie sprang erschrocken auf und verschüttete ein wenig Kaffee. In der Küchentür stand eine Frau mit einer locker über die Schulter geworfenen Handtasche und braunen Einkaufstüten in den Händen.

„Hallo, ich bin Leslie“, stellte sie sich lächelnd vor und deponierte die Tüten auf dem Tisch.

„Ich habe dich gar nicht kommen hören.“ Conner stand auf, um ihr einen Kuss zu geben.

„Draußen vor der Tür steht ein fremder Wagen und im Wohnzimmer liegen zwei schlafende Jungen, deshalb war ich ganz besonders leise.“ Sie drückte Katie rasch an sich und sagte: „Ich weiß, was du meinst. Ich habe mich vor einem Jahr exakt genauso gefühlt.“

Die freie Straße oder hoch oben in der Luft, bei Regen und Sonnenschein, das waren zwei von Dylan Childress Lieblingsorten zum Nachdenken. Tatsächlich hatte er so vor Jahren Walt kennengelernt. Walt war durch Payne, Montana, gekommen, wo er und Lang ihr eigenes kleines Flugunternehmen und einen Luftcharter-Service betrieben. Sie waren einen Tag in der Gegend herumgefahren. Er hatte Walt ein paar seiner bevorzugten Bergstrecken abseits großer Straßen und die schönsten Aussichtspunkte gezeigt, und er hatte Walt in seiner Bonanza, einem sechssitzigen Flugzeug, mitgenommen, um ihm eine andere Perspektive und neue Aussichten zu verschaffen, und das hatte Walt gefallen. Danach war Walt nach Sacramento zurückgekehrt, um sich um die Eröffnung einiger Harley-Davidson-Franchiseläden zu kümmern. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug waren sie in Kontakt geblieben, und Walt war ganz wild darauf, sich bei ihm zu revanchieren.

Nun war die Zeit gekommen. In Montana gab es nur wenige Monate im Jahr, in denen Dylan, Lang und Stu, der Chef ihrer Werkstatt für Wartungsarbeiten, das Motorradfahren genießen konnten. Sie nahmen sich ein paar Tage im Sommer frei und belohnten sich einmal im Jahr mit einer Motorradtour. Die Harleys waren günstig im Unterhalt, und normalerweise zelteten sie. Dylan hatte begonnen, sich Gedanken darüber zu machen, ob es vielleicht das letzte Mal war, dass sie sich diesen jährlichen Ausflug zu dritt erlauben konnten, weil das Geschäft nicht gut lief. Deshalb hatte er sich mit Walt in Verbindung gesetzt und ihn nach schönen Strecken in Kalifornien gefragt. Walt hatte darauf bestanden, die Tour zu organisieren und sie zu begleiten.

Sobald sie bei den Ferienhütten, die Walt für sie reserviert hatte, eingetroffen waren, wollten sich die Fahrer nur noch aufwärmen, trocknen und etwas Ordentliches essen. Doch zunächst einmal mussten sie einchecken, was bedeutete, dass sie ihren Vermieter kennenlernten, ihm die Hand schüttelten und entschieden, wer sich mit wem eine Hütte teilte. Es gab ein wenig Gemecker, als es um die Frage ging, wer von ihnen die Ausziehcouch nehmen musste, denn Männer konnten um nichts in der Welt gemeinsam in einem Bett schlafen.

Sofern es ihn betraf, waren Luke Riordans Hütten am Fluss genau das Richtige, und Dylan nahm mehr als glücklich mit dem Sofa vorlieb. Ziemlich erleichtert, dass er nicht auf dem nassen Waldboden zelten musste.

Wenn er oder einer der anderen Piloten einen Charterflug übernahm, der aus Payne wegführte, weil Passagiere in Butte, Helena oder sonst einer Stadt abgeholt werden mussten, waren sie regelmäßig in schönen Hotels oder Lodges untergebracht. Das bisschen Luxus war den Piloten garantiert, weil die Art von Kunden, die sich einen Jet charterten, es sich erlauben konnten, ein Hotelzimmer für sie zu bezahlen. Aber Dylan war ein im Grunde einfacher Mensch, der es vorzog, sich in einem rustikaleren Umfeld zu entspannen. Das traf auf diese Behausung eindeutig zu.

Sie vier bewohnten zwei Hütten. Dylan teilte sich seine mit Walt, was hieß, dass es Lang überlassen blieb, sich Stus Klagen anzuhören. Stu war unzufrieden, weil er in letzter Zeit keine guten Verabredungen mehr gehabt hatte. Walt, der ungefähr die Statur eines Gorillas hatte, bekam das Bett.

Walt hatte die Hütten von Luke Riordan, einem Ex-Army-Hubschrauberpiloten gemietet, der ebenfalls eine Harley besaß und jede Menge Tipps über die Gegend und landschaftlich reizvolle, anspruchsvolle Touren auf Lager hatte. Es gab einiges, auf das Dylan sich freute – vielleicht sogar ein bisschen Angeln im Fluss, der an den Hütten entlangfloss. Dann würde man herausfinden, ob er mit denen in Montana vergleichbar war. Er war auch neugierig auf das Bar- und Grillrestaurant, das Walt häufig erwähnte und wegen der Atmosphäre hoch lobte. Und er freute sich auf die anspruchsvollen Bergstrecken und die abgeschiedene Unterkunft und hoffte, dass ein bisschen Zeit bliebe, um mit Luke über das Fliegen zu sprechen. Er wäre gerne einmal ein paar Stunden in einem Black-Hawk-Hubschrauber mitgeflogen.

Als die Männer Luke erzählten, dass sie ihre Sachen trocknen, sich waschen und dann wieder auf die Motorräder steigen wollten, um zum Abendessen nach Virgin River zu fahren, sagte der: „Bei dem Wetter? Nehmt lieber meinen Geländewagen. Meine Frau und ich bleiben heute Abend zu Hause.“

„Das ist schrecklich kameradschaftlich von dir, Luke“, sagte Walt. „Ich werde sorgsam mit deinem Wagen umgehen.“

„Schon klar, Mann. Das letzte Mal, als du hier warst, hast du den Motor für mich gewartet. Seitdem schnurrt er wie ein Kätzchen. Das weiß ich sehr zu schätzen.“

Es dauerte ungefähr dreißig Minuten, bis sie ihr Gepäck in die Zimmer gebracht, geduscht und sich in den Geländewagen gesetzt hatten, um in die Stadt zu fahren, genug Motorrad für einen Tag. Walt saß am Steuer und sprach den ganzen Weg lang über den Koch, der seine Menüs nicht groß im Voraus plante, sondern servierte, wonach ihm gerade der Sinn stand. Und dass er Stadtbewohner und Besucher gleichermaßen mit Essen versorgte und sehr stolz auf seine Kochkünste war.

„Ich schätze, an einem nasskalten Tag wie heute gibt es eine Suppe oder einen Eintopf – es wird sicher etwas ganz Besonderes sein.“

Dylan und Lang hatten wohlhabende Jagdgesellschaften zu den teuersten Lodges überall in den USA und Kanada geflogen, aber keiner von ihnen war auf Jacks Bar vorbereitet. Sie war einfach, doch stilvoll – gut konstruiert und sehr gut erhalten. Die Einrichtung bestand aus dunklem, glänzendem Holz, die Tiertrophäen an den Wänden sprachen für das heimische Wild, und die Atmosphäre war auf eine eigene, unaufdringliche Art erstklassig. Obwohl es noch ein Dutzend freier Tische gab, setzten sich die vier an den Tresen. Der Barmann streckte Walt sofort die Hand hin.

„Hey, ich hatte mich schon gefragt, wann du wieder mal kommst. Sind das deine Leute?“

„Meine Jungs“, stellte Walt sie vor und deutete auf jeden Einzelnen von ihnen. „Dylan, Lang, Stu. Wir sind vor einer Stunde angekommen, vielleicht auch weniger. Sag Guten Tag und dann erzähl mir, was in der Küche vor sich geht.“

„Ich bin Jack“, stellte der Barmann sich schmunzelnd vor. „Und dem Mann mit dem Appetit kann ich nur sagen, dass du nicht enttäuscht sein wirst. Es mag aussehen wie ein normaler Tag in Virgin River, aber am Ende werdet ihr glücklich sein. Es regnet, also gibt es Suppe. Ihr müsst Preacher einfach vertrauen – es ist eine dicke, sahnige Bohnen-Speck-Suppe, mit bestem Schinken und Zwiebeln und geheimen Zutaten. Er streut gerne ein wenig Cheddarkäse obendrauf – macht die Suppe sämig und gehaltvoll. Und er hat heute Brot gebacken – er hält es warm. Wenn es regnet, backt er. Da ist er so vorhersehbar wie meine Oma. Der Kuchen des Tages ist ein Apfelkuchen mit Äpfeln, die noch bei ihm herumlagen. Für Süßmäulchen, die nichts mit Apfelkuchen anfangen können, gibt es einen Schokoladenkuchen, der euch die Schuhe ausziehen wird. Will jetzt jemand ein Bier oder etwas anderes trinken?“

„Bohnensuppe?“, murmelte Stu leise.

„Hast du nicht verstanden, was der Mann gesagt hat? Du musst Preacher vertrauen“, sagte Dylan. Dann lachte er. „Meine Großmutter hat mich praktisch von Bohnensuppe ernährt. Nicht so eine, wie wir sie hier bekommen werden; sie war kaum in der Lage, eine Dose zu öffnen. Das Einzige, was sie kochen konnte, waren Rühreier, Toast und aufgewärmte Suppe.“ Er schüttelte lachend den Kopf. „Sie hat die Hotdogs frittiert, aber sie hat immer Fleisch gekauft, damit ich genügend Proteine bekam.“

„Du hattest eine sehr ungewöhnliche Kindheit.“

„Du machst dir keine Vorstellung“, erwiderte Dylan.

Als er sagte, dass ihn seine Großmutter praktisch mit Bohnensuppe aufgezogen hatte, meinte er nicht seine frühe Kindheit, sondern später, als sie ihn nach Montana geholt hatte, um ihn bei sich aufzunehmen. Sie musste Nerven aus Drahtseilen gehabt haben, denn er war damals ein verkorkster, verwöhnter, arroganter, aufsässiger fünfzehnjähriger Junge gewesen. Nicht einfach nur ein anstrengender Teenager, sondern ein Star. Wie sie es geschafft hatte, ihn wieder in die Normalität zurückzuholen, gehörte zu den großen Mysterien des Universums.

Manchmal fühlte er sich wie eine Figur aus einer Erzählung von Charles Dickens. Gute Zeiten, schlechte Zeiten … Er hatte damals gedacht, aus seiner Schauspielerkarriere, seiner Rolle, dem krassen öffentlichen Leben gerissen und in einen Hundertseelenort in Montana gebracht zu werden, sei die Hölle. Andererseits hatte sich endlich einmal jemand um ihn gekümmert, sich auf ihn konzentriert. Sich Sorgen um ihn gemacht. Als Adele ihm das erste Mal Bohnen serviert hatte, hatte er die Suppe ausgespuckt. Außer sich vor Wut. Er war daran gewöhnt, dass für ihn alles vom Feinsten war. Die Leute hatten sich ein Bein ausgerissen, um ihn glücklich zu machen, weil sie viel Geld mit ihm verdienten, wenn er glücklich war.

Es hatte Jahre gedauert, bis ihm bewusst geworden war, dass auch Adele nicht gerade eine Leidenschaft für Bohnensuppe oder frittierte Hotdogs hatte. Sie war ihr ganzes Erwachsenenleben ein Megastar gewesen, und sie wusste alles über verwöhnte Mistkerle – Kinderstars. Außerdem war ihm irgendwann aufgegangen, dass sie ihn so lange mit Bohnensuppe gefüttert hatte, bis er sich endlich bei ihr dafür bedankte.

„Das ist wahrscheinlich die beste Suppe, die ich je gegessen habe“, sagte er zu Jack.

„Ich weiß. Wenn hier in der Gegend jemand ein Schwein oder ein anderes Tier verschenkt, geht das meistens an die Klinik, wo meine Frau als Hebamme arbeitet. Wir haben auch einen Arzt, aber Mel, meine Frau, bringt ihren Anteil normalerweise zu Preacher, weil sie nicht besonders gut kochen kann und ich meine Familie hier essen lasse. Es handelt sich überwiegend um Spenden von Patienten – wir haben ein interessantes Versicherungssystem. Leute, die einen Arzt oder Mel brauchen, sorgen dafür, dass sie ihren Wohlstand regelmäßig mit allen teilen. Deshalb fängt Preacher immer sofort an, darüber nachzudenken, wie er alles verarbeiten kann, damit es lange reicht, wenn eine neue Lieferung eintrifft. Es gibt eine Menge Menschen, um die er sich kümmern will. Und abends geht er nicht eher ins Bett, bis er das beste Resultat erzielt hat. Mel mag das Allerbeste sein, was mir je passiert ist, doch Preacher folgt gleich an zweiter Stelle. Er ist derjenige, der es möglich macht, dass das hier funktioniert.“

„Ist Virgin River Ihre Heimatstadt?“, fragte Dylan.

„Nö. Ich bin mehr oder weniger ein Großstadtkind. Nach zwanzig Jahren bei den Marines brauchte ich aber mal etwas Ruhe.“

„Sie waren im Krieg?“

„Beinahe ständig“, antwortete Jack. „Ein paar Männer, mit denen ich diente, haben sich hier niedergelassen. Sind Sie aus Sacramento?“

Dylan schüttelte den Kopf. „Aus einer kleinen Stadt oben im Norden – Payne, Montana.“

„Wie sind Sie an Walt geraten?“, wollte Jack wissen.

„Walt kam durch Montana und wir haben uns kennengelernt. Er war auf einer Art Solotour durch die USA unterwegs. Montana ist eine der schönsten Gegenden, also habe ich ihn mit rauf in die Berge genommen. Wir waren sogar einmal schneller als ein Elch.“

„Komm bloß nicht auf die Idee, einen Elch niedlich zu finden“, sagte Walt. „Der Mistkerl konnte mich nicht leiden. Dylan hat mich mal mit seinem kleinen Flugzeug mitgenommen“, erzählte er. „Da habe ich ihm versprochen, ihm auch mal mein Land zu zeigen.“

„Wir suchten jemanden, der uns eine Tour zusammenstellt, die uns an interessante Orte führt, also abseits der üblichen Strecken. Mit großartigen Aussichtspunkten.“

„Nun, hier findet ihr sicher interessante Aussichten“, bestätigte Jack. „Und was macht man so in Payne, Montana?“

Über Dylans Gesicht huschte ein Lächeln, weil er an ein Gespräch dachte, das Adele mit einem Immobilienmakler geführt hatte, nachdem sie ihn, den verkorksten fünfzehnjährigen Jungen, nach Payne geholt hatte. Sie hatte den Makler gebeten: „Finden Sie etwas mit eingebauten Haushaltspflichten für uns.“

„Ich betreibe ein kleines Charterflugunternehmen“, beantwortete er die Frage des Barmannes. „Einen Miniflughafen.“

Jack betrachtete ihn verwundert. „Und für so etwas gibt es Nachfrage in Payne?“

„So einigermaßen. Doch die Geschäfte gehen wie überall auf der Welt ziemlich schlecht. Als sie noch gut liefen, übernahmen wir nicht nur den Shuttle-Service zu den großen Flughäfen, sondern holten unsere Passagiere ab, um sie hinzufliegen, wohin sie wollten. Wir hatten eine Menge Geschäftskunden, die sich von uns zu Tagungen bringen ließen. Oder Gruppenausflüge. Manchmal kamen wir uns vor wie ein kleiner Regionalflughafen, der sehr gefragt war. Wir waren dafür bekannt, Jagdgesellschaften zu fliegen, Rockbands und Basketballmannschaften. Da sind wir flexibel.“

„Sie sind Pilot?“

„Unter anderem. Stu ist der Chef der Wartungsabteilung. Lang fliegt ebenfalls und kümmert sich um den Ausbildungsbereich des Unternehmens. Wir geben Flugstunden, unterrichten an den Instrumenten et cetera. Es gibt noch weitere Mitarbeiter, die zum Unternehmen gehören. Scheint so, als hätten wir alle andere Dinge zu tun, als dauernd auf der Straße unterwegs zu sein.“

„Klingt nach einer Menge Spaß“, sagte Jake. „Wenn man davon existieren kann.“

„Wir leben in Payne, Montana, Mann“, sagte Dylan. „Wir haben fünfzehnhundert Einwohner. Solange wir das Benzin für die Flugzeuge, Stroh für die Pferde und Öl für die Türscharniere bezahlen können, brauchen wir nicht viel zum Leben.“

„Was halten eure Frauen davon?“

„Lang ist als Einziger von uns verheiratet, und seine Frau arbeitet nicht nur in unserer Firma mit, sondern sie versucht auch noch, sein Arbeitspensum zu steigern, damit er nicht so oft zu Hause ist. Fünf Kinder. Sie ist nicht so scharf auf ein sechstes.“

Lang lehnte sich nach vorne auf den Tresen und grinste. „Was soll ich sagen? Es braucht nicht viel, um mich glücklich zu machen.“

Dylan lachte. Es gab nicht viele Menschen, die wussten, wie sehr er Lang um die Fähigkeit beneidete, sich ein glückliches Zuhause zu schaffen und normale, gut erzogene Kinder und eine normale, solide Frau an seiner Seite zu haben. Bei seiner eigenen Herkunft, seiner irren, nicht zusammenpassenden Hollywood-Familie, hatte er schon seit Langem akzeptiert, dass seine genetischen Anlagen diese Möglichkeit vermutlich ausschlossen. Adele war die einzig Vernünftige und Normale in seiner Familie. „Ich brauche sogar noch weniger, um glücklich zu sein“, sagte er.

„Ich hätte gedacht, dass ein Single wie Sie sich in einer größeren Stadt, die mehr Möglichkeiten bietet, besser aufgehoben fühlen würden“, sagte Jack.

„Ich komme klar und werde immer in Payne bleiben. Alleine.“

Jack wischte über den Tresen. „Ja, so was Ähnliches habe ich auch mal behauptet. Passen Sie auf. Diese Worte mussten schon härtere Männer zurücknehmen.“

„Meinen Sie sich, Jack?“, fragte Dylan. „Sie haben Ihre Worte zurücknehmen müssen?“

„Junge, und wie, würde meine Frau jetzt sagen.“

Katie wurde rasch bewusst, dass ihr Besuch in Virgin River eine ihrer besseren Ideen war. Sie brauchte nur einen Tag für diese Erkenntnis. Mehr nicht. Hier, so hatte sie gedacht, würde sie nicht ständig zu Conner rennen, aber sie entdeckte noch viel mehr. Als sie ihre zukünftige Schwägerin Leslie kennenlernte, hatte sie ihre Familie gefunden. Conner und Leslie waren noch nicht offiziell verlobt, aber die Chemie zwischen ihnen stimmte offensichtlich. Sie gaben sogar zu, dass sie bereits über das Heiraten gesprochen hatten. Doch da sie beide Scheidungserfahrung hatten, gingen sie es langsam und gemächlich an.

Während es draußen den ganzen Abend weiterregnete, blieben Katie und Leslie noch lange in Decken gehüllt im Wohnzimmer sitzen und sprachen über Gott und die Welt. Die Jungen schliefen im Gästezimmer, und sie würde die Couch nehmen.

„Conner spricht oft darüber, dass er eine Menge Zeit mit den Zwillingen versäumt hat, weil er immer so viel arbeiten musste. Das will er künftig unbedingt ändern“, sagte Leslie. „Wir hoffen, du hast es nicht eilig, wieder wegzufahren. Es war ein anstrengender Frühling für alle – ihr habt euch beide eine Pause verdient.“

„Genau meine Meinung“, pflichtete Katie ihr bei. „Wegen der Arbeit und der Schule muss ich wahrscheinlich woanders hinziehen. Diese Stadt ist ein bisschen zu klein für uns, aber ich werde mich nicht sehr weit von euch entfernen. Die Jungs brauchen dich und Conner in ihrem Leben. Und ich bleibe zwar in der Nähe, habe jedoch nicht vor, dir und Conner andauernd auf die Nerven zu gehen.“

„Mach einfach langsam. Conner möchte den Jungs das Angeln beibringen, sie zum Camping mitnehmen, mit ihnen herumstrolchen und das Zusammensein mit ihnen zur Abwechslung nur genießen.“

„Und was glaubt er, was ich machen soll, während er mit ihnen herumstrolcht?“, fragte Katie.

„Was du willst. Wir haben eine neue Schule. Bevor sie im Herbst den Betrieb aufnimmt, bieten sie dort ein Ferienprogramm an, ein Sommercamp. Es ist sehr flexibel, man kann täglich hingehen, du musst dich jedoch nicht verpflichten, die Jungen jeden Tag hinzubringen. Es würde ihnen aber ermöglichen, Spielkameraden zu finden. Und dir würde es ein bisschen Freizeit bescheren, wovon du sicher seit ihrer Geburt nicht allzu viel hattest.“

„Ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte.“

„Warte, bis du das süße kleine Häuschen gesehen hast, das Conner für dich gefunden hat – du wirst das Gefühl haben, im Urlaub zu sein. Tu einfach so, als wärst du es!“

Der nächste Morgen dämmerte hell und klar herauf. Es blies eine frische, morgendliche Brise. Katie und Conner luden das Gepäck, das sie am Abend vorher ausgeladen hatte, wieder in den Kofferraum des SUV, dann fuhr sie ihm hinterher. Raus aus der Stadt über eine lange Allee, bis sie schließlich bei einem Briefkasten in einen schmalen Weg einbogen. Und dort, in den hellen Sonnenstrahlen, die durch die Zweige hoher Bäume fielen, stand eine zauberhafte kleine Finnhütte mit einer großen Veranda. An der Balustrade hingen Töpfe voller roter Geranien und auf der Veranda standen weiße Adirondack-Holzstühle.

Katie stieg langsam aus dem SUV aus und ging erstaunt auf die Hütte zu. Überall sah man blühende Sträucher, üppige Farne, eine Menge großer Pinien und sogar ein paar Mammutbäume. Die Jungs sprangen sofort aus dem Auto und umrundeten das kleine Häuschen, während Katie wie gelähmt davor stehen blieb. Die A-Form schien von einer Aura aus Sonnenlicht umgeben zu sein. Das Finnhäuschen wirkte wie verzaubert.

„Jungs!“, rief Conner. „Geht nicht in den Wald! Bleibt in der Nähe der Hütte! Sie werden nicht auf mich hören, oder?“

„Conner“, sagte Katie nach Atem ringend. „Wie hast du diesen Ort gefunden?“

„Es ist Jacks Häuschen. Ihm gehört auch das Restaurant in der Stadt. Jetzt hör zu, siehst du diese Sträucher ringsherum? Flieder und Hortensien und ein Haufen anderer Sachen, auch Brombeeren, die du pflücken darfst, sobald sie reif sind. Aber denke daran, dass Bären ebenfalls Brombeeren mögen …“

Katie machte große Augen. „Jungs! Kommt her! Sofort!“

„Wir gehen mal die Bärenregeln durch“, sagte Conner. „Hier gibt es manchmal auch Hirsche und Rehe. Bestimmt wollt ihr wissen, wie man mit denen umgeht, denn während der Brunftzeit ist es nicht ratsam, ihnen ins Gehege zu geraten. Hirschkühe und Rehkitze sind nicht so das Problem. Sie rennen vermutlich weg, wenn ihr ihnen begegnet, aber ein brunftiger Hirsch könnte die Störung persönlich nehmen, falls ihr wisst, was ich meine.“

„Welches männliche Wesen würde so etwas nicht persönlich nehmen?“, murmelte Katie. „Wie lange, glaubst du, dauert es, bis sich die Jungs im Wald verirren?“

„Du musst aufpassen, dass das nicht passiert. Hör zu, falls du dich hier draußen nicht wohlfühlst …“

„Bis jetzt liebe ich es. Dürfen wir uns auch drinnen umsehen?“

„Es ist nicht abgeschlossen. Geh und schau dir alles an. Laut Jack hat dieser Ort eine ganz schöne Geschichte. Bevor sie heirateten und in ein größeres Haus zogen, wohnte seine Frau hier. Außerdem wurde ihr erstes Kind hier geboren. Danach lebten andere hier, der Letzte war der Arzt aus der Stadt. Wir haben gerade seine Unterkunft fertiggestellt und ihm beim Umzug geholfen. Und hier haben wir erst vor Kurzem die Wände frisch gestrichen …“

Katie blieb stehen und sah ihren Bruder an. „Conner, ich liebe dieses Häuschen. Und ich liebe Leslie. Die Stadt werde ich bestimmt ebenfalls sehr mögen, doch du verstehst, dass ich für die Jungs etwas finden muss, wo wir ständig wohnen können, mit den richtigen Schulen, Sportprogrammen und so was allem.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber kannst du dich nicht einfach erst einmal hier orientieren? Dir wenigstens ein paar Wochen Zeit lassen, um die Gegend kennenzulernen?“

Das ließ sich einrichten. Nach dem Besuch in Disney World und einer langen Fahrt von einer Küste zur anderen war Katie mehr als reif für eine Pause. Sie musste ihr Leben in Ordnung bringen, damit die Kinder zur Ruhe kamen. Und dann musste sie einen Job finden, bei dem sie sich vorstellen konnte, eine lange Zeit darin zu arbeiten. Die Jungs würden im Herbst in die erste Klasse kommen. Bis dahin hätte sie den Nestbau gerne abgeschlossen. Hier? In der Nähe?

Sie fand die Hütte innen genauso perfekt wie außen – zwei Schlafzimmer im Erdgeschoss, die durch ein Bad voneinander getrennt lagen, ein Loft im oberen Stockwerk. Der Rest des Erdgeschosses bestand aus Wohnzimmer und Küche, die genau die richtige Größe für eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Jungen hatte. „Es scheint nur eine wichtige Sache zu fehlen“, sagte sie zu ihrem Bruder. „Wo ist der Fernseher?“

„Ich vermute, der ist mit dem Arzt ins neue Haus umgezogen. Jack sagte, du hast hier draußen einen Satellitenanschluss, also regeln wir das noch. Wir machen am Wochenende eine Einkaufstour in der nächsten größeren Stadt und kaufen einen Fernseher.“

„Entweder das, oder sie müssen einen kalten Entzug von Xbox und Wii machen, und das halte ich vermutlich nicht aus.“

„Womit haben wir eigentlich als Kinder gespielt?“, fragte Conner. „Hatten wir auch dieses ganze elektronische Zeug?“

„Atari und Nintendo. Und danach, glaube ich, haben wir sofort angefangen, im Laden zu arbeiten. Apropos, gibt es hier in der Nähe eine Eisenwarenhandlung?“

„An der Küste in Fortuna und Eureka. Und das hat mich schon auf einen Gedanken gebracht.“

„Ach?“

Autor

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Miniserien

Virgin River