×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Liebeserwachen in Virgin River«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Liebeserwachen in Virgin River« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Liebeserwachen in Virgin River

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Die Erfolgsromane zu der herzerwärmenden Netflix-Serie »Virgin River«

Als Jillian beruflich wie privat übel mitgespielt wird, beschließt sie, einfach ins Blaue draufloszufahren. Doch dann erinnert sie sich an das ruhige und abgeschiedene Städtchen Virgin River, in dem sie einen traumhaften Urlaub mit ihrer Schwester verbracht hat. Spontan entscheidet Jillian, dass der kleine Ort der perfekte Platz ist, um Abstand von ihren Sorgen im Silicon Valley zu gewinnen. Womit sie nicht gerechnet hat, ist, dass sie auf Colin Riordan trifft und plötzlich Romantik in der Luft liegt. Aber ist sie bereit, wieder jemanden in ihr Herz zu lassen?

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.« Library Journal

»Die Virgin-River-Romane sind so mitreißend, dass ich mich auf Anhieb mit den Charakteren verbunden gefühlt habe.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber


  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 12
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703061
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Martha Gould, die ich sehr bewundere und schätze.
Vielen Dank für die stete Unterstützung und den unermüdlichen Beistand.

PROLOG

Jillian Matlock fühlte sich in der Geschäftswelt wohl wie ein Fisch im Wasser, und ihre Fähigkeit, jederzeit Überraschungen und Herausforderungen meistern zu können, war legendär. Nach vielen erfolgreichen Jahren im Management hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dass man sie noch betrügen, in eine Falle locken oder gar zu Fall bringen könnte.

So wunderte sie sich an einem hektischen Montagmorgen auch nur kurz, warum Kurt Conroy nicht zur Arbeit erschienen war. Kurt war PR-Direktor und Jillian, die die Unternehmenskommunikation für den Softwarehersteller Benedict Software Systems in San José leitete, seine Vorgesetzte. Und sie und Kurt hatten eine Beziehung, auch wenn in der Firma niemand etwas davon wusste. Gestern Abend hatte sie noch mit ihm gesprochen, und er hatte kein Wort darüber verloren, dass es ihm nicht gut ginge oder er etwas Privates erledigen müsste.

Im Moment hatte sie ohnehin Wichtigeres zu tun, denn ihr Boss Harry Benedict, Vorstandsvorsitzender und Hauptgeschäftsführer des Unternehmens, hatte sie gerade angerufen und zu sich ins Büro gebeten. In ihrer Position war das nichts Ungewöhnliches und gehörte zur Routine; jede Woche hatte sie mehrere persönliche Besprechungen mit Harry. Er war ihr Boss, ihr Mentor und ihr Freund.

Höflich klopfte sie zweimal an, trat ein, und schon war auch die Frage nach Kurts Abwesenheit geklärt. Er saß vor dem Schreibtisch des Chefs.

»Na, guten Morgen auch«, wandte sie sich an Kurt. »Ich hatte mich schon gewundert, wo du steckst. Du hast mir nicht gesagt, dass du dir den Vormittag freinehmen willst.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, bis ihr auffiel, dass Kurt ihr nicht in die Augen schauen konnte und Harry ein düsteres Gesicht machte. Aber auch nachdem sie schon auf dem zweiten Besucherstuhl Platz genommen hatte, war ihr immer noch nicht klar, dass etwas nicht stimmte. Und zwar ganz gewaltig nicht stimmte.

»Wir haben hier ein Problem«, begann Harry und sah erst Kurt an, dann Jillian. »Mr. Conroy hat mich darüber informiert, dass er beabsichtigt, eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung einzureichen. Er hat einen Anwalt mit seiner Vertretung beauftragt und ist hier, um einen Vergleich vorzuschlagen, der uns allen ein Gerichtsverfahren ersparen würde.« Harry schluckte, und seine Miene verfinsterte sich noch mehr.

Plötzlich kam es Jillian vor, als befände sie sich auf einem anderen Planeten, und das für eine gefühlte Ewigkeit. Jemand hatte ihren Freund sexuell belästigt? »Mein Gott«, stieß sie schließlich fassungslos hervor. »Warum hast du mir nichts davon erzählt, Kurt? Wer könnte dir denn so etwas antun?«

Endlich schaute Kurt ihr in die Augen und antwortete süffisant lächelnd: »Sehr witzig, Jillian. Wirklich sehr witzig.«

Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. »Was geht hier vor?« Fragend sah sie zwischen Kurt und Harry hin und her.

Harry räusperte sich. Ihm war deutlich anzumerken, wie unangenehm ihm das war. »Mister Conroy behauptet, dass du die Schuldige bist, Jillian.«

»Was?«, rief sie und sprang spontan vom Stuhl auf. »Was zum Teufel …?« Sie starrte Kurt an. »Hast du den Verstand verloren?«

»Bitte, Jillian, setz dich wieder«, forderte Harry sie auf und wandte sich gleich darauf an Kurt. »Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei, Kurt! Ich werde mich später wieder bei ihnen melden.«

Ohne ein Wort zu sagen oder sich noch einmal umzuschauen, stand Kurt auf und verließ das Büro des Geschäftsführers, wobei er die Tür leise hinter sich zuzog.

Jillian sah Harry an. »Das soll wohl ein schlechter Witz sein?«

»Ich wünschte, es wäre so, und kann es kaum erwarten, deine Version der Geschichte zu hören, Jill.«

Fassungslos lachte sie kurz auf. »Meine Version? Harry, ich dachte, ich hätte einen Freund! Seit ein paar Monaten treffen Kurt und ich uns auch außerhalb der Arbeit! Alles absolut in beiderseitigem Einverständnis, und es ist auch erst seit sehr kurzer Zeit …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… ernster geworden! Er war hinter mir her! Und glaube mir, unsere private Beziehung hatte nichts mit dem Job zu tun! Schon lange, bevor ich zum ersten Mal mit ihm ausgegangen bin, ist er befördert worden.«

»Du hast also heimliche Dates mit ihm gehabt?«

»Ich würde den Begriff ›diskret‹ bevorzugen. Vor Jahren, als die Firma noch in den Kinderschuhen steckte, habe ich selbst der Personalabteilung geholfen, die Konzernrichtlinien hinsichtlich Beziehungen am Arbeitsplatz festzulegen. Es ist kein Problem, wenn Leute aus der Firma sich miteinander verabreden oder heiraten, wenn sie nicht in derselben Abteilung beschäftigt sind. Nach diesen Vorschriften hätte einer von uns sich versetzen lassen müssen, und das hätte offensichtlich Kurt sein müssen, da er mir unterstellt ist. Allerdings sind seine Erfahrungen auf PR beschränkt, und meine Abteilung ist nun mal die einzige, in die er hineinpasst. Wir haben gut zusammengearbeitet! Jedenfalls habe ich das angenommen …«

Harry schüttelte den Kopf. »Du warst entscheidend daran beteiligt, diese Leitlinien zu bestimmen, Jillian. Und falls ich mich recht entsinne, war es ursprünglich sogar deine Idee.«

Sie rutschte auf ihrem Stuhl bis zur Kante vor. »Ja, doch das primäre Ziel war nicht, der Gefahr von sexueller Belästigung vorzubeugen! Sexuelle Belästigung geschieht niemals in beiderseitigem Einverständnis und ist auch nicht mit einem Date zu verwechseln. Sexuelle Belästigung ist immer eine Art von Erpressung. Wir – also das Team der Personalabteilung und ich – wollten Beschwerden der Angestellten wegen Begünstigung bei Beförderungen in den Abteilungen vorbauen. Deshalb war es keine gute Idee, Beziehungen innerhalb einer Abteilung zu dulden. Abgesehen davon, haben wir auch Richtlinien formuliert, die besagen, dass Angestellte nicht zu spät kommen sollen, keine unangemessene Kleidung tragen und nicht auf dem Parkplatz des Hauptgeschäftsführers parken dürfen!«

Damit konnte sie Harry ein Lächeln entlocken, aber das hielt nicht lange an.

»Ich dachte, mit der Zeit und bei entsprechender Förderung könnte Kurt irgendwann mal ein guter Nachfolger für mich sein. Und bevor du fragst, darauf bin ich nicht gekommen, weil ich ihn mag, sondern weil es niemanden gibt, der qualifizierter wäre. Ich weiß doch, wie ungern du außerhalb des Konzerns Leute suchst, um bestimmte Positionen zu besetzen, wenn intern eine Chance für unsere Angestellten besteht.« Schlagartig wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Jillian schwieg, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und starrte mit leerem Blick vor sich hin.

»Na, so ein Zufall!« Harry schob ihr eine Mappe hin. »Auch Kurt sieht sich als dein Nachfolger. Schau dir das an!«

Als Jillian den Ordner aufschlug und die Sammlung von Memos, E-Mails, ausgedruckten SMS und allerlei Notizen vor Augen hatte, zitterten ihr wirklich leicht die Hände. Die erste E-Mail, die sie las, kam von ihr und lautete: Wie es mir geht? Ich könnte eine Schultermassage gebrauchen! »Harry, das hat nichts mit einer Beziehung zu tun! Nach einer extrem strapaziösen Sitzung hatte er mir gemailt und sich erkundigt, wie ich mich fühle! Richtig …« Sie prüfte das Datum und schüttelte den Kopf. »Zu der Zeit hatte ich noch keinerlei privaten Kontakt mit ihm!« Sie würde sich durch Monate alter E-Mails graben müssen. Monate gelöschter E-Mails. Monate belangloser, alltäglicher Nachrichten.

Auf einer Seite mit dem SMS-Austausch zwischen ihnen hatte Kurt eine Nachricht von ihrem Handy gelb markiert: Ich vermisse dich! »Aber das hat doch absolut nichts zu bedeuten«, verteidigte sie sich und drehte das Papier zu Harry um. »Ich müsste in meinem Kalender nachschauen, doch ich bin mir sicher, dass ich da nicht in der Stadt war. Und es stimmt. Ich hatte ihn vermisst!« In derselben Sekunde ging ihr auf, was er getan hatte. Er hatte ihr eine Falle gestellt.

»Oh Gott«, murmelte sie. »Lockere Nachrichten zwischen zwei Menschen, die für dieselbe Firma arbeiten. Warum habe ich das nicht geahnt? Wie konnte ich mich so in ihm täuschen?«

Sie warf noch einen kurzen Blick auf ein paar weitere Blätter mit ähnlich kurzen liebevollen Bemerkungen, wie sie jede Frau dem Mann in ihrem Leben geschickt haben könnte, und es gab keine Möglichkeit zu beweisen, ob sie während der Bürozeit oder zu einem anderen Zeitpunkt verfasst worden waren. Aus ihrer Sicht waren es harmlose romantische Gesten, die alles andere als bedrohlich wirkten. Allerdings war nichts dabei, das von Kurt stammte.

Er war der Verführer; doch höchstwahrscheinlich hatte er ihr immer nur verbal geantwortet … und damit keine Spuren hinterlassen.

»Harry, er hat mit mir geflirtet und mir verführerische Dinge erzählt, aber anders als ich hat er nichts davon schriftlich getan, sodass es nichts zum Ausdrucken gibt! Ich hatte nie Angst, ihm eine E-Mail oder solche Nachrichten zu schicken. Ich habe ihm vertraut.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Siehst du, wie dünn diese Mappe ist, Harry? Man sollte doch meinen, dass sich bei einer Liebesbeziehung, die sich über Monate hinweg angebahnt hat, viel mehr angesammelt haben müsste, denkst du nicht? Im Büro allerdings waren wir immer sehr professionell. Ich muss meine E-Mail- und SMS-Ordner durchsehen; bestimmt finde ich noch, was ich brauche, um zeigen zu können, dass er mit mir geflirtet hat und sexy Sachen gesagt hat. Und ich habe darauf geantwortet, weil ich angenommen hatte, wir wären ein Paar!«

»Du wirst dich doch sicher auch so noch an etwas besonders Aussagekräftiges erinnern, oder?« Fragend zog Harry eine buschige grau melierte Augenbraue hoch.

»Nun, da wäre der Geschäftsführer eines Juweliergeschäfts, der wahrscheinlich gern bezeugen würde, dass Kurt so zuvorkommend und romantisch war, wie man nur sein kann, als er mich eines Abends nach dem Essen überredet hatte, Ringe mit ihm anzuschauen. Doch das wäre ja nicht schwarz auf weiß gedruckt, richtig?« Sie lachte unglücklich. »Wir hatten vereinbart, unsere Beziehung geheim zu halten, bis einer von uns eine Position in der Firma gefunden hätte, in die wir hätten wechseln können. Dabei war ich von uns beiden die Kandidatin, die aller Voraussicht nach am ehesten mit einer Beförderung rechnen konnte, obwohl Kurt auf der Karriereleiter unter mir steht. Du stellst mir jetzt schon seit einem Jahr die Position als Marketingleiterin in Aussicht, und ich hatte Kurt gewarnt, dass er gegebenenfalls nicht so weit sein könnte, die Leitung der Unternehmenskommunikation zu übernehmen. Besser gesagt, dass du möglicherweise nicht bereit sein könntest, ihm den Führungsposten anzuvertrauen. Dazu hat er nur zu mir gemeint, ihm sei unsere Beziehung viel wichtiger als seine nächste Beförderung.« Sie senkte den Blick und kämpfte mit den Tränen. »Ich kann es einfach nicht fassen.« Sie sah ihn wieder an. »Ich habe ihm geglaubt, Harry!«

»Er hat auch Aussagen von Kollegen, die bestätigen, dass im Büro unangemessene Berührungen stattgefunden hätten. Und … und er hat Protokoll geführt. Ein sehr detailliertes Protokoll der Ereignisse.«

Wenn sie an die letzten Monate zurückdachte, musste Jillian zugeben, dass er eine Menge Leute bezaubert hatte. Sämtliche Frauen in der Firma hatten eine Schwäche für ihn. Er war witzig und reizend und ach so hilfsbereit! Jillian war sich sicher, dass sie sich im Büro korrekt verhalten hatte, da ihr immer sehr bewusst gewesen war, wie notwendig es war, professionell zu bleiben. Aber hatte sie ihm mal liebevoll auf die Schulter geklopft? Kurz über den Rücken gestreichelt? Ihn angelächelt? Kurt war zwei Jahre jünger als sie, attraktiv, sexy und intelligent. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie intelligent! Um eine derart vielschichtige Geschichte einzufädeln, musste man planen können und Köpfchen haben. Diese Fähigkeiten hätte er mal lieber für seine Arbeit einsetzen sollen!

Oh, wie sehr sie sich wünschte, sie könnte die Augen noch etwas länger vor der Realität verschließen, nur noch ein bisschen. Da Tränen in ihr aufstiegen, biss sie sich auf die Unterlippe, damit ihr Kinn nicht anfing zu zittern. »Steht in seinem Protokoll auch, dass er mich ein Dutzend Mal fragen musste, ob ich mich nach der Arbeit mal auf einen Drink mit ihm treffe? Etwas völlig Normales unter Kollegen. Oder was ist mit dem Abend vor ein paar Tagen, an dem er mir ein Bad eingelassen hat und …«

Harry unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Stopp. Ich bin kein Idiot, und ich bin nicht sauer auf dich. Mir ist klar, was hier läuft. Du warst von Anfang an mit an Bord, Jill. Du hast geholfen, die Firma aufzubauen. Ich weiß, dass du so etwas nicht tun würdest. Doch wenn du nicht einen überzeugenden Gegenbeweis hast, haben wir hier ein Problem. Und halte dir bitte eins vor Augen: Hätte er von Anfang an eine solche Beschuldigung geplant, wäre es gar nicht nötig gewesen, mit seiner Chefin wirklich anzubandeln. Auch ohne deine Kooperation hätte er dich als sein Opfer ins Visier nehmen können.«

»Aber warum?«, stieß sie verzweifelt hervor.

»Keine Ahnung«, antwortete Harry ernst. »Vielleicht kann eine Untersuchung das aufdecken.«

Jillian presste die Lippen zusammen, um nicht loszuheulen. Noch nie hatte sie vor Harry geweint. Sie war seine rechte Hand, seine Vertraute, sein Schützling. Seit sie bei ihm und der brandneuen Firma angefangen hatte, war eins der Dinge, auf die sie am meisten stolz war, die Tatsache, dass sie vor nichts und niemandem zurückschreckte. Sie produzierten Software, die in der Vermögensverwaltung zum Einsatz kam – alles, von individuell angepassten Buchhaltungssystemen für Firmen bis hin zu Software für die Verwaltung der heimischen Finanzen. Einige ihrer Kunden waren Großkonzerne, die dem Unternehmen eine Menge Geld und viele Herausforderungen einbrachten. Allerdings ließ sich Jillian nie aus der Ruhe bringen und begegnete allem mit Mut und Einfallsreichtum. In ihrem Job konnten Katastrophen passieren, wie zum Beispiel eine Software, die nicht funktionierte, oder die Gefahr, einen Großkunden an die Konkurrenz zu verlieren. In der Öffentlichkeitsarbeit war es Jillians Aufgabe, stets für ein positives Image der Firma zu sorgen. Hin und wieder hatte es harte Zeiten gegeben, in denen die Zukunft des Unternehmens an einem seidenen Faden hing, aber auch da hatte Jillian nicht geweint. Sie hatte gekämpft!

Doch als Harry ihr jetzt sagte, dass er nach wie vor an sie glaubte, hätte sie beinahe die Beherrschung verloren. In dem Moment hätte sie tatsächlich am liebsten einfach geheult. Sie setzte sich gerade. »Was will er?«, fragte sie leise.

»Irgendeine Vereinbarung. Und deinen Rücktritt.«

Sie hob die Mappe mit dem belastenden Beweismaterial hoch. »Ist so ein Zeug überhaupt zulässig?«

»Beim Zivilgericht sehr wahrscheinlich ja. Für die Zeitungen auf jeden Fall.«

»Harry, ich habe gedacht, dass ihm etwas an mir liegt. Vorher hat er mich extrem lange angebaggert! Sollen wir ihn etwa damit durchkommen lassen?«

Harry beugte sich vor und faltete auf dem Schreibtisch die Hände. »Ich würde nichts lieber tun als kämpfen, Jill. In zehn Jahren hast du mir nicht den geringsten Hinweis geliefert, dass es dir an Professionalität, Loyalität und Ehrlichkeit mangeln könnte. Bislang hatte ich noch keine Angestellten, die länger und härter gearbeitet oder mehr von ihrem Privatleben geopfert hätten. Du gehörst zu meiner Familie! Solltest du eine Seite besitzen, die dazu fähig wäre, einen Mitarbeiter auszunutzen, habe ich nie etwas davon bemerkt. Entweder bin ich nicht in der Lage, den Charakter eines Menschen richtig einzuschätzen, oder dieser kleine Mistkerl hat uns alle getäuscht. Und falls ich tatsächlich über eine so schlechte Menschenkenntnis verfügen sollte, habe ich es dennoch geschafft, ein erfolgreiches Softwareunternehmen aufzubauen. Also, Fakt ist Folgendes: Wie es scheint, hat er sich gut vorbereitet. Wir hatten auch früher schon mit ähnlichen Vorfällen zu tun und konnten die Sache stets intern regeln. Die Personalabteilung und unsere Anwälte werden sich mit seiner Beschwerde und den Beweisen befassen und sich mit ihm zusammensetzen. Wenn sie zu dem Schluss gelangen, dass es sich potenziell nachteilig auswirken könnte, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, damit dir und der Firma ein Gerichtsprozess erspart bleibt. Denk bitte daran, dass wir zweitausendfünfhundert Angestellte haben, die nicht gezwungen sein sollten, das Risiko mit uns zu tragen. Es würde mich zwar maßlos ärgern, trotzdem könnte es sein, dass wir gezwungen sind, den Schaden zu begrenzen.«

»Und das bedeutet?«

»Im Moment möchte ich, dass du dir den Rest der Woche freinimmst. Du sollst aber in dem Wissen nach Hause gehen, dass ich alles machen werde, um dich und das Unternehmen in dieser Schlammschlacht zu schützen. Falls ich gezwungen sein sollte, ein Opfer zu bringen, Jill, werde ich dich nicht hängen lassen. Ich habe nicht vor, dich den Haien zum Fraß vorzuwerfen. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass bei jeglicher Einigung eine Vertraulichkeitsvereinbarung Priorität hat, sodass deine Zukunftsaussichten durch diesen Mist nicht beeinträchtigt sein werden. Die Hälfte meiner Konkurrenten ist doch eh schon seit fünf Jahren hinter dir her.«

»Aber ich habe meine Entscheidung vor langer Zeit getroffen und BSS gewählt.«

»Das weiß ich. Besorge dir einen Anwalt, Jill! Nur für den Fall, dass du einen brauchst. Steh das nicht alleine durch und verlass dich nicht auf mich, wenn ich für das Wohl einer ganzen Firma verantwortlich werde.«

»Wirst du ihm einen Haufen Geld zahlen?«

»Nicht, falls ich es vermeiden kann.«

Sie lachte kläglich und strich sich mit der Hand über den Mund. »Du hast mich reich gemacht. Es wäre klüger von Kurt gewesen, mich zu heiraten. So hervorragende Arbeit hat er in der Abteilung nicht geleistet. Er kam zurecht, aber er hatte noch eine Menge zu lernen. Bei dem Handel wirst du den Kürzeren ziehen.«

»Selbst wenn er gewinnt, er wird auf keinen Fall hierbleiben«, teilte Harry ihr vertraulich mit. »Wir sind für ihn nur ein Sprungbrett. Ich wette, er wird mit seinem Titel angeben, die Lorbeeren einheimsen für etwas, das er nicht gemacht hat, und sich dann einen besseren Job bei Microsoft oder Intel an Land ziehen. Und dort wird er dann prompt auf der Nase landen.«

»Es sei denn, er findet eine Frau, die er verführen kann«, erwiderte sie leise.

»Ich weiß, dass du das jetzt nicht siehst, aber du wirst die Sache überleben. Du bist klug, du bist gut, und du wirst auf die Füße fallen. Versuche, Geduld zu haben, während wir daran arbeiten. Lass dich nicht unterkriegen!«

Und lass dir von ihm das Herz nicht brechen, fügte sie im Stillen hinzu.

»Nimm dir erst einmal eine Woche! Glaub mir, wenn es hier einen Ausweg gibt, werden wir ihn einschlagen. Ich möchte nur, dass du dich für den Fall der Fälle auf das Schlimmste gefasst machst. Und es versteht sich ja von selbst, dass du mit niemandem darüber reden darfst, solange das Verfahren in der Schwebe ist.« Harry stand auf. Die Besprechung war beendet. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bedaure, dass es dazu gekommen ist, und wünschte, du hättest mir vor langer Zeit von dieser Beziehung erzählt. Es ist keine so große Sache, mit jemandem anzubandeln. Wir hätten das irgendwie regeln können. Es wäre nicht die erste Büroromanze gewesen und wird wohl kaum die letzte sein. Doch weil du aus beruflichen Gründen nicht offen damit umgegangen bist, hast du ihm erst die Gelegenheit geboten.«

»Ich wollte dich wegen der Sache mit mir und Kurt nicht in Verlegenheit bringen.«

Als sie die Hand ihres Mentors ergriff, hielt er sie fest. »Das passt so gar nicht zu dir. Meine größte Sorge war immer, dass du kein Privatleben mehr hast. Dieser Job hat alles von dir gefordert und mehr! Was hat dich an ihm gereizt, Jill?«, fragte Harry sanft. »Wie hat er dich dazu gebracht, dich auf solche Risiken einzulassen?«

Sie lachte trocken. Kurt hatte Fehler, die offensichtlich waren, allerdings hatte sie darüber hinweggesehen, weil halt niemand perfekt ist. Er war nett und rücksichtsvoll, auch wenn er nicht der Hellste war. Hätte er sie nicht umgarnt, würde sie ihn vielleicht nicht einmal wahrgenommen haben! Kläglich schüttelte sie den Kopf. Hatte es daran gelegen, dass er der einzige Mann war, für den sie überhaupt noch Zeit hatte? Kein Wunder, dass Büroromanzen so verbreitet waren. Sie waren einfach praktisch! »Du wirst es nicht glauben, Harry, aber er musste wirklich sehr viel Zeit investieren, um mich so weit zu bringen, es mal mit ihm zu versuchen. Und vielleicht kam es auch nur deswegen dazu, da er unermüdlich blieb und ich einsam war. Sollte er diese Schlacht gewinnen, wirst du einen lausigen Leiter für die Unternehmenskommunikation bekommen. Er kann sich kaum alleine die Schuhe zubinden oder ohne Anweisung einen Anruf tätigen. Früher oder später wirst du ihn feuern müssen.«

»Ich bin überzeugt davon, dass er das alles sehr gut weiß«, sagte Harry.

»Gott, es tut mir so leid. Harry, es tut mir leid. Ich bin eine solche Idiotin!«

Wider besseres Wissen versuchte Jillian, Kontakt mit Kurt aufzunehmen. Er ging weder an sein Handy, noch öffnete er die Tür. Nachdem sie etwa vierzehn Nachrichten in einem kaum noch beherrschten Tonfall hinterlassen hatte, war ihr klar, dass sie ihre Lage damit nur verschlimmerte. War seine Intrige etwa nicht glasklar durchschaubar? Von ihrer Hysterie würde er nur profitieren! Und sie würde nur noch schuldiger aussehen! Also zwang sie sich, damit aufzuhören.

Jillian nahm sich einen Rechtsanwalt, der sich mit Harry, dem Leiter der Personalabteilung sowie dem Justiziar des Unternehmens in Verbindung setzte. Sie stellte ihm ein Back-up ihrer persönlichen Festplatte sowie der ihres Firmencomputers zur Verfügung, obendrein ihr Mobiltelefon und den Inhalt ihres Schreibtischs. Aber da sie nun mal nicht vorgehabt hatte, einen Schwindel zu inszenieren, gab es einfach keine Beweise gegen Kurt. Ihr Rechtsbeistand sollte jedoch zumindest in der Lage sein, die Untersuchung firmenintern zu halten und dafür zu sorgen, dass das Ganze nicht vor die Equal Employment Opportunity Commission oder das Zivilgericht kam.

Aus einer Woche wurden zwei, und Jillian stand kurz davor, aus der Haut zu fahren. Sie hatte sich in ihrem Haus in San José versteckt, ohne mehr machen zu können, als auf ihrem neuen Laptop im Internet zu surfen. Ihr fiel die Decke auf den Kopf.

Endlich rief Harry an.

»Es sieht ganz gut aus für unsere Seite«, verkündete er. »Was dich mit Abstand am meisten belasten dürfte, sind die Aussagen von zwei Angestellten, die glauben, Zeuge einer sexuellen Belästigung gewesen zu sein. Und fairerweise muss man sagen, dass sie, wenn er sie geschickt genug manipuliert hat, vielleicht wirklich denken, das beobachtet zu haben.«

»Ja klar«, bemerkte sie ironisch. In der Abteilung Unternehmenskommunikation gab es nur fünfzehn Angestellte, und sie wusste genau, wer die beiden Frauen waren. Beide waren gut fünfzehn Jahre älter als Jillian und neigten dazu, dümmlich mit den Wimpern zu klimpern, sobald Kurt in ihrer Nähe auftauchte.

»Es wäre mir lieb, Jillian, wenn du dich aus der ganzen Sache zurückziehen würdest. Anstatt zu kündigen, möchte ich, dass du dich freistellen lässt. Mindestens für drei Monate. Die Lücke, die du hinterlässt, werde ich anderweitig füllen. Ich habe vor, einen externen Berater ins Spiel zu bringen. Kurt wird seine Aktienoptionen erhalten, und wie nicht anders zu erwarten, hat er der Vertraulichkeitsklausel bereits zugestimmt.«

»Wie nicht anders zu erwarten?«

Harry lachte. »Er ist ebenso wenig daran interessiert, dass ihm seine Beschwerde gegen seine Vorgesetzte nachhängt, wie du nicht davon verfolgt werden willst. Ich sag dir, den sind wir bald los. Und dabei bin ich noch längst nicht damit fertig, seine Vergangenheit genau zu durchleuchten.« Harry senkte die Stimme und fragte: »Du hast ihm nie erzählt, was du wert bist, stimmt’s?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie aufrichtig. »Ich glaube nicht. Normalerweise rede ich nicht darüber. Wieso?«

»Weil er sich niemals so schnell zufriedengegeben hätte, wenn du es getan hättest. Er kriegt ein ganz nettes Aktienpäckchen, aber nichts im Vergleich zu dem, was du in den zehn Jahren verdient hast. Er hätte sich mal die Zeit nehmen sollen, alte Emissionsprospekte zu lesen oder heimlich einen Blick in dein Portfolio zu werfen.«

Jillian hatte eine kluge Finanzberaterin, die sich um ihr Geld kümmerte, seitdem sie ihre erste bescheidene Prämie bekommen hatte. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass es reichte, sich einem Unternehmen vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche zu verschreiben. Es ergab keinen Sinn, an Optionen und Aktien zu kleben, also hatte Jillian ihr Optionsrecht ausgeübt und ihre Aktien verkauft, um den Gewinn anderweitig zu investieren. Während sie bei BSS zunehmend mehr Geld verdiente, wuchs ihr Kontostand durch die klugen Investitionen zusätzlich weiter an.

Aber Geld hatte Jillian nie so sehr interessiert wie ihre Arbeit oder die hohe Meinung, die Harry von ihr hatte, und das Vertrauen, das er in sie setzte.

»Was soll ich denn nur drei Monate lang machen?«, rief sie.

»Keine Ahnung. Gönn dir eine kleine Verschnaufpause! Geld hast du genug. Unternimm eine Reise oder besuche irgendwelche Kurse. Was auch immer. Schalte ab und lass die Wogen sich glätten! Nimm dir Zeit, dir zu überlegen, was du in Zukunft tun willst! Überstürze nichts! Ich weiß, du bist gerne spontan! Versuch mal, zu lernen, wie man entspannt und das Leben genießt. Tank wieder Kraft. Ich würde die Prognose wagen, dass er in ein paar Monaten hier raus ist, und in dieser Vereinbarung steht nichts, was dich daran hindern würde, wieder zurückzukommen, falls du Lust dazu hast. Doch es gibt auch nichts, was dich an einer Veränderung hindern könnte. Du hast dein Leben wieder in der Hand. Denk mal darüber nach!«

Darüber hatte sie längst nachgedacht. Und es jagte ihr eine wahnsinnige Angst ein. Sie sehnte sich nach diesen Tagen, an denen sie bis vier Uhr morgens gearbeitet und sich mit kalter Pizza und Red Bull über Wasser gehalten hatte, während sie an einer Kapitalerhöhung arbeitete oder eine Vorstandssitzung vorbereitete, in der eine wichtige Abstimmung stattfand. Sie liebte die Deadlines, die Hektik vor den Vierteljahresberichten, wenn es darum ging, die Profite des Unternehmens noch einmal anzukurbeln, die kalte Furcht und Aufregung vor den Wirtschaftsprüfungen und die Meetings der Führungskräfte, wenn der Emissionsprospekt erstellt wurde. Jillian war der PR-Guru, die dem Aufsichtsrat, der Börsenaufsichtsbehörde, den Brokern und der Öffentlichkeit die Rentabilität des Unternehmens darlegte. Es war Jillian, die Harrys Vision und harte Arbeit zusammenfasste und mit ihm über die Ziellinie trug.

Sie wusste nicht recht, wie sie abschalten sollte, war sich allerdings ziemlich sicher, dass sie das auch absolut nicht wollte.

Trotz Harrys Anweisung Diskretion zu bewahren – einer Person vertraute Jillian sich in ihrer momentanen Notlage an: ihrer Schwester und besten Freundin Kelly, die in San Francisco als Souschefin in einem Fünfsternerestaurant arbeitete. Sie sahen sich nur selten, telefonierten jedoch täglich miteinander und schrieben sich regelmäßig E-Mails. Der größte Trost, den Kellys heimliche »Mitwisserschaft« für Jillian enthielt, war der, dass Kelly Kurt umbringen wollte – zumindest metaphorisch.

»Kurt soll es bloß nicht wagen, in meinem Restaurant mal essen zu wollen«, schimpfte Kelly hasserfüllt.

»Ich bin sicher, dass er sich davor hüten wird«, erwiderte Jillian. »Er hat ja auch sonst an alles gedacht.«

»Nur so viel … Ich weiß, wie man es anstellt, damit es nach einem Unfall aussieht …«

»Schschsch. Nach allem, was ich mit ihm erlebt habe, muss ich damit rechnen, dass er mein Telefon abhört!« Sie holte Luft. »Und nachdem dir nun ebenfalls klar ist, dass das wirklich möglich sein könnte, wirst du ihn leben lassen müssen.«

»Mist! Er ist ein Schwein. Ich habe ihn nie gemocht. Hatte ich dir das nicht gesagt?«

»Nein, du hast ihn gemocht! Dich hat er genauso eingewickelt, womit wir beide gleich dumm wären. Ach Gott, was war nur mit mir los? Ich meine, ich bin kein Einstein, aber so naiv war ich noch nie! Offen gestanden, ich hatte ihn einfach nicht für klug genug gehalten, um so etwas abzuziehen!«

»Du bist impulsiv. Das warst du schon immer. Du siehst etwas, das willst du haben, und dann tust du alles dafür.«

»So impulsiv war ich bei ihm gar nicht«, wandte Jillian ein. »Er hat sich lange um mich bemüht, bevor ich … Ach, vergiss es! Harry hat recht. Selbst wenn ich mich wehren und gewinnen würde, es würde publik, und dann hingen mir seine Beschuldigungen noch lange an!«

»Was mich dabei am meisten wundert – wie konnte er alle so täuschen und gleichzeitig in der PR ein solcher Blindgänger sein? Ist es nicht das, was gute PR ausmacht? Zu wissen, wie man die Dinge darstellt, sie verkaufen und Menschen davon überzeugen können, dass sie etwas wollen, von dem sie vorher gar nicht gewusst haben, dass sie es wollen?«

»Du hast es auf den Punkt gebracht«, bestätigte Jillian müde. »Die ganze Energie hätte er mal in seinen Job stecken sollen.«

»Also … du hast geholfen, das kleine Imperium BSS aufzubauen«, fuhr Kelly fort. »Und nun ist es anders gekommen, als du es dir gewünscht hast. Aber du hast massenhaft Geld dabei verdient, und dein Geld hat wiederum massenhaft weiteres Geld verdient. Jede Menge Software- und Dotcom-Unternehmen haben den Geist aufgegeben, aber deins hat sich hervorragend gehalten. Du müsstest doch in der Lage sein, jeden Job zu kriegen, den du haben möchtest! Lass uns mal einen Augenblick nach vorne schauen. Was würdest du spontan am liebsten tun?«

»Ich werde Harrys Rat folgen und mir erst einmal eine Weile freinehmen. Dann denke ich über den nächsten Job nach.«

»Das überrascht mich. Normalerweise würde meine kleine Schwester die Sache mit Begeisterung angehen! Trotz Kurts Anstrengungen, dich fertigzumachen, ist dein Ruf Gold wert. Wenn jemand mit Harry spricht und ihn um eine Empfehlung bittet, wird er dich in den höchsten Tönen loben! Du wirst nahezu überall anfangen können …«

Jillians Stimme klang so leise, dass Kelly sie kaum verstand. »Aber ich fühle mich noch immer so verletzt.«

Kelly schwieg einen Moment. »Oh Baby …«

»Weißt du, was mich am meisten belastet hatte, während ich mit Kurt zusammen war? Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ihm anscheinend so viel mehr an mir lag als mir an ihm! Stattdessen hat er mir die große Liebe vorgegaukelt und dabei fleißig überlegt, wie er mir so richtig einen reinwürgen kann.«

»Er ist ein Schweinehund …«

»Bislang hatte ich noch keine Probleme mit Vertrauen«, fuhr Jillian sehr leise fort. »Ich hatte immer einen guten Instinkt und konnte einschätzen, wem man nicht vertrauen kann. Das war mir immer schon bei der ersten Begegnung auf Anhieb klar, und ich habe mich selten geirrt. Aber jetzt …«

»Du brauchst einfach ein bisschen Zeit.«

»Jetzt werde ich allerdings keinem Mann mehr trauen. Und wenn doch, würde das schon an ein Wunder grenzen.«

Sie schwiegen beide.

Schließlich sagte Jillian: »Ich fahre eine Weile weg, Kell. Ein Urlaub, ein bisschen Ruhe und Frieden, eine kleine Verschnaufpause.«

»Wohin willst du? Soll ich dir Gesellschaft leisten?«

Jillian musste über das Angebot lächeln. »Ich weiß doch, dass du nicht von der Arbeit wegkommst. Nein, das wird ein Solo-Trip. Bisher habe ich noch keine Ahnung, wohin ich will, aber mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Alles, was ich brauche, ist etwas Zeit, um die ganze Situation mal sacken zu lassen. Zeit zu heilen.«

Kelly seufzte am Telefon. »Im Ernst, er sollte wirklich nicht auf die Idee kommen, in meinem Restaurant essen zu wollen, denn ich will ihn tot sehen. Und ich hoffe, dass er das jetzt auf Band hat!«

1. KAPITEL

Für Jillian war es bereits eine Art Erleichterung, ein paar Taschen zu packen, ihr kleines Haus in San José abzuschließen und einfach losfahren zu können. Es gab wohl kaum etwas, das einer Frau eher das Gefühl vermittelte, um ihr Leben laufen zu müssen, als wenn sie von einem Mann ausgenutzt und betrogen wurde.

Kelly zuliebe legte sie auf ihrer Reise ins Unbekannte einen Zwischenstopp in San Francisco ein, wo sie im Lokal ihrer Schwester zu Abend aß. Es war ungeheuer schwierig, in diesem Fünfsternerestaurant, in dem Kelly die stellvertretende Küchenchefin war, einen Tisch zu ergattern. Leute, die bereit waren, so lange zu warten, standen noch zwei Stunden in der Bar herum, nachdem sie sich beim Maître d’hôtel angemeldet hatten, und das auch nur bei vorheriger Reservierung. Der Chef de cuisine war ein Mann namens Durant, den man nur unter diesem einen Namen kannte und der regional zu Berühmtheit gelangt war. Aber Jillian erhielt sofort einen ausgezeichneten Tisch, der etwas Privatsphäre bot, und wurde aufs Beste mit sämtlichen Spezialitäten verwöhnt, die das Haus zu bieten hatte. Ihre Schwester musste sämtliche Gefälligkeiten eingefordert haben, damit sie das ermöglichen konnte.

Nach dem Essen machte sich Jillian auf den Weg zu Kellys Wohnung, da sie eine Nacht bleiben wollte. Weil Kelly weit nach ein Uhr morgens aus dem Restaurant zurück war, hatten die beiden Schwestern erst bei einem späten gemeinsamen Frühstück Gelegenheit, miteinander zu reden.

»Was hast du nun vor?«, fragte Kelly.

»Da gibt es viele Möglichkeiten«, antwortete Jillian. »Vielleicht fahre ich zum Lake Tahoe oder nach Sun Valley in Idaho, wo ich auch noch nie war. Dabei ist es mir eigentlich nicht so wichtig, irgendein bestimmtes Ziel zu erreichen, als einfach zu fahren. Ich will auf dem Kilometerzähler sehen, wie ich vorwärtskomme und sich die Meilen anhäufen, und symbolisch und in Wirklichkeit die Sache hinter mich bringen. Ich werde in großen, komfortablen, anonymen Hotels und Ferienanlagen wohnen, mich entspannen, gut essen, mir alle Filme anschauen, die ich in den letzten zehn Jahren verpasst habe, und ausgiebig Buchhandlungen durchstöbern. Bevor ich wieder in die Tretmühle zurückkehre, will ich herausfinden, ob ich mich noch daran erinnern kann, wie es war, als ich noch ein Leben hatte.«

»Doch dein Handy hast du natürlich bei dir?«

Jillian lachte. »Ja, das werde ich immer im Auto aufladen, allerdings habe ich nicht vor, Anrufe anzunehmen, außer von dir und Harry.«

»Kannst du mir bitte einen Gefallen tun? Kannst du mir jeden Morgen einfach kurz eine SMS schicken und mir sagen, wo du bist? Und können wir auch miteinander telefonieren, bevor meine Schicht anfängt? Nur, damit ich weiß, dass es dir gut geht.«

Von Gutgehen war Jillian so weit entfernt, dass es geradezu lächerlich war. Sie fühlte sich fast reif fürs Irrenhaus. Ihre Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit waren derart gestört, dass es wahrscheinlich keine brillante Idee war, sich hinters Steuer zu setzen. Aber die Vorstellung, mit dem Flugzeug in irgendeinen Urlaubsort auf Hawaii oder nach Cancún zu fliegen, oder gar auf einem Kreuzfahrtschiff festzuhocken, war derart unattraktiv, dass sie diese Möglichkeiten sofort verworfen hatte. Sie wollte den Boden unter ihren Füßen spüren; sie wollte sich wieder wie sich selbst fühlen. Fast schien es ihr so, als würde sie sich selbst nicht mehr kennen. Allein in ihrem Auto zu sein, kam ihr absolut sinnvoll vor. Dort konnte sie ungestört nachdenken und versuchen, die Dinge wieder in die richtige Perspektive zu rücken.

Nichtsdestotrotz machte sie ein tapferes Gesicht und versprach ihrer Schwester: »Darauf kannst du dich verlassen. Und wenn du anrufst, werde ich rangehen, sofern es eine Handyverbindung gibt.«

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, eilte Kelly zur Arbeit, und Jillian stieg ins Auto und fuhr in östlicher Richtung los. Die Hälfte der Strecke zum Lake Tahoe hatte sie bereits zurückgelegt, da fiel ihr der Urlaub ein, den sie letzten Herbst zusammen mit Kelly und zwei Freundinnen verbracht hatte. Zuerst hatten sie sich Vancouver angeschaut, und auch das wäre im Augenblick eine wunderbare Alternative. Auf dem Rückweg hatten sie jedoch in einem winzig kleinen Ort in den Bergen haltgemacht, an dessen Name sie sich allerdings nicht entsinnen konnte. Dort hatten sie spontan eine Haushaltsauflösung besucht, und das alte Haus, in dem die Veranstaltung stattfand, hatte Erinnerungen an das Haus wachgerufen, in dem sie und Kelly bei ihrer Urgroßmutter aufgewachsen waren. Nostalgische Gefühle hatten sie überwältigt und fast zu Tränen gerührt, obwohl die beiden Häuser eigentlich sehr unterschiedlich waren. Das andere Bild, das nun vor ihrem inneren Auge aufstieg, waren die kleinen Ferienhütten am Fluss, in denen sie im Herbst übernachtet hatten. Es waren hübsche kleine Häuschen, abgeschieden und dennoch komfortabel. Nachts hatten sie bei offenen Fenstern mit den Geräuschen der Natur im Ohr geschlafen – dem Rauschen des Flusses, dem Wind, der durch die riesigen Pinien pfiff, dem Quaken, Krächzen, Schreien und Rufen der wilden Tiere. Das Wasser war eiskalt gewesen, als sie die Füße in den Fluss baumeln ließen und beobachteten, wie die Forellen sprangen und die bunten Herbstblätter aufs Wasser segelten. Es waren zwei wunderschöne Tage gewesen, und sehr beruhigend.

Mit diesen Gedanken im Kopf wendete Jillian den Wagen und brauste gen Norden. Zunächst wollte sie bis ins Napa Valley fahren; das befand sich schon mal in der richtigen Richtung. Diese kleinen Hütten waren nicht mit einem Motel oder Holiday Inn zu vergleichen, wo man um Mitternacht auftauchen und nach einem Zimmer fragen konnte. Besitzer und Betreiber waren ein Mann namens Luke und seine junge Frau, die selbst auf dem Grundstück lebten.

Die zweite Nacht, die sie unterwegs war, verbrachte Jillian in einem kleinen Gasthof am Straßenrand in Windsor, was vermutlich auf halbem Weg zu ihrem Ziel lag. Gleich am nächsten Morgen setzte sie ihren Weg Richtung Norden fort. Leider hatte auch ein Anruf bei Kelly nicht geholfen, den genauen Namen dieses Ortes herauszufinden, doch Jillian wusste ungefähr, wo er sein musste.

Zweihundert Meilen und ein paar falsche Abzweigungen später gelangte Jillian an eine abgelegene Kreuzung in Nordkalifornien, an der sie zwei Männer entdeckte, die ihre Pick-ups etwas mehrwürdig geparkt hatten und sich eindeutig nur die Zeit vertrieben. Jillian hielt neben ihnen an.

»Hallo Jungs«, grüßte sie. »Da hinten irgendwo muss es einen kleinen Ort geben, wo ich mal in einem Restaurant gegessen habe. Jacks Bar, glaube ich. Und dann sind da irgendwo am Fluss ein paar Ferienhäuser, die einem Mann namens …«

Einer der Männer zog sich den Hut vom Kopf und strich sich das dünne Haar auf der sommersprossigen Kopfhaut glatt. »Das ist Luke Riordan; ihm gehören diese Ferienhütten in Virgin River. Luke und Shelby.«

»Ja genau!«, rief sie. »Das ist es! Virgin River! Ich muss die Abzweigung verpasst haben, denn ich habe nirgendwo ein Schild gesehen.«

Der andere Mann grinste. »Da is’ kein Schild. Und groß verfahren ham Se sich auch nich’. Noch ’ne Viertelmeile weiter den Highway 36 rauf, dann müssen Sie links. Aber wenn Sie zu Luke wollen, werden Sie noch mal links abbiegen und anderthalb Meilen den Berg da raufmüssen. Dann geht’s wieder runter, und unten am Berg kommt ’ne Kurve, und die zweite links hat zwar auch kein Schild, doch da liegt ’n umgefallener Mammutbaum am Straßenrand, genau da, wo Se reinmüssen. Das iss ’n echt dicker Bursche. Wahrscheinlich können Sie auch schon einen Blick auf den Fluss erhaschen. Fahren Sie den Weg am Fluss lang zu den Hütten. Is’ nich’ weit.«

Jillian lachte. Wahrscheinlich seit Wochen ihr erstes herzliches Lachen! Jawohl, sie erinnerte sich an den toten Baum, das Rauf und Runter der Straße und das Rundherum. »Jetzt weiß ich es wieder. Den Baumstamm kenne ich. Danke. Vielen, vielen Dank!«

Schon trat sie das Gaspedal durch, diesmal auf dem Weg zu der ersten Abzweigung, anschließend zu dem alten Baum, und sie lachte immer noch, während sie fuhr. Sie lachte darüber, wie anders hier alles war! Ebenso gut hätte sie in ein anderes Land reisen können. Die Menschen hier waren von iPhones, iPads, täglichen Börsenberichten und Vorstandssitzungen genauso weit entfernt wie sie vom Fliegenfischen und Camping. Und jetzt, nachdem sie diesen Plan gefasst hatte und sich von allen Orten auf der Welt ausgerechnet in Virgin River wiederfand, schoss ihr durch den Kopf, dass sie kaum etwas dabeihatte, was für diese Art von Auszeit geeignet wäre. Sie war davon ausgegangen, in einer Hotelanlage wie etwa Sun Valley zu landen, dementsprechend hatte sie ihr legeres Country-Club-Outfit eingepackt – Sachen, die sie sich mal für geschäftliche Veranstaltungen oder Firmenpicknicks gekauft hatte. Dazu gehörten Leinenhosen, zwei modisch-legere Kleider, Wickelröcke, Twinsets und Ähnliches. Flache Schuhe; sehr viele flache Schuhe. Genau ein Paar Turnschuhe von Nike befand sich in ihrem Gepäck und nur zwei Jogginganzüge, beide von Designer-Labels.

Soweit sie sich erinnern konnte, war Virgin River ziemlich rustikal, nicht zu erwähnen kühler. Und Gott, war das feucht hier! Es war Anfang März, und den ganzen Tag lang hatte es immer wieder angefangen zu nieseln. Die Landschaft wirkte ein wenig kahl … abgesehen von dem frischen Grün auf den Bäumen und der üppigen Vegetation überall am Straßenrand.

Matschig war es auch! Ihr hübscher kleiner Lexus Hybrid war vollgespritzt und schmutzig.

Jillian folgte dem Weg am Fluss entlang, und sowie sie das Gelände mit den Ferienhütten erreichte, entdeckte sie Luke auf einem Dach, der damit beschäftigt schien, es ein wenig auszubessern. Als sie auf das Gelände einbog, drehte er sich zu ihr um. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und winkte ihm zu.

Lächelnd kletterte er die Leiter herunter. »Hi«, begrüßte er sie, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er zog ein Tuch aus der Gesäßtasche und wischte sich die Hände ab.

»Kennen Sie mich noch, Luke?«, fragte sie ihn. »Letzten Herbst war ich mit meiner Schwester und meinen Freundinnen hier oben. Wir hatten zwei Tage eine Ihrer Hütten gemietet. Sie hatten uns eingeladen, Sie zu einer Haushaltsauflösung zu begleiten. Das Haus dieser alten Frau.«

Luke grinste. »Natürlich erinnere ich mich an Sie, allerdings fällt mir Ihr Name nicht ein.«

»Oh, Entschuldigung. Ich heiße Jill. Jillian Matlock. Und es tut mir leid, dass ich nicht vorher angerufen habe. Ich dachte einfach, wenn sie noch eine freie Unterkunft hätten …«

»In dieser Jahreszeit stehen die Chancen gut, dass etwas frei sein wird«, erwiderte er grinsend. »Gut für Sie, und für mich ist es eine gute Zeit, Reparaturen vorzunehmen, wenn denn der Regen einmal etwas nachlässt. Ihre Hütte können Sie sich aussuchen. Die Schlüssel hängen innen an der Tür an einem Haken.«

»Danke, das weiß ich noch. Hey, wäre es in Ordnung, wenn ich ein paar Tage bleiben würde?«

»Momentan gibt es keine Jäger, sehr wenige Angler, und die Sommerurlauber lassen sich vor Juni nicht blicken. Von Anfang Juni bis Ende Januar habe ich sehr viel zu tun, aber der Frühlingsanfang ist immer ruhig. Womit wollen Sie sich denn mehrere Tage lang die Zeit hier vertreiben?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mich ausruhen, lange schlafen, die Gegend erkunden … Es ist doch sicher, hier herumzulaufen, oder?«

»Wenn sie sich von den Marihuana-Plantagen fernhalten. Doch die liegen meist sehr versteckt. Die Bären sind noch nicht ganz wieder aufgewacht. Wie sieht’s aus mit Angeln? Angeln Sie?«

»Nicht mehr, seit ich sieben oder acht war.«

»Art wird es Ihnen sicher gern zeigen. Im Schuppen steht noch eine Extra-Angelrute. Art weiß Bescheid. Tatsächlich haben wir wahrscheinlich von allem, was Sie eventuell brauchen könnten, noch eine Ausrüstung, die wir Ihnen zur Verfügung stellen können. Denken Sie aber daran – das Wasser im Fluss steht hoch. In den Bergen schmilzt der Schnee, und es regnet an zwei von drei Tagen. Sagen Sie uns einfach, was sie benötigen.« Er musterte sie von oben bis unten. Sie hatte Jeans, Pumps, eine Seidenbluse und einen Blazer aus Wildleder an. »Hm, Shelby hat ein paar Gummistiefel, die sie Ihnen leihen kann. Diese Schuhe werden im Nu hinüber sein.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Luke.«

»Ich möchte nur, dass Sie Spaß haben und sich wohlfühlen, Jillian.«

Jillian war klar, dass sie sich Sachen zulegen musste, die für Outdoor-Aktivitäten geeignet waren; Kleidung, die für lange Spaziergänge praktisch war, die sie beim Angeln tragen konnte oder wenn sie mit einem Buch unter einem Baum saß.

Gleich am nächsten Tag fuhr sie in den nächstgrößeren Ort und schickte ihrer Schwester vom Parkplatz der Shoppingmall in Eureka eine SMS: Du rätst nie, wo ich gelandet bin! Virgin River! Erinnerst du dich noch an Virgin River? Jillian probierte schon Jeans an, als die Antwort kam. In Kellys SMS stand bloß: Warum? Entspannen, abschalten und nachdenken, lautete Jillians Antwort.

Sie kaufte ein paar feste Stiefel für eventuelle Wanderungen, Jeans, eine Cargohose, Sweatshirts und Jogginghosen ohne Designer-Label, eine Regenjacke und ein Kapuzenshirt, warme Pyjamas und jede Menge Socken. Sie würde einfach in der kalten, feuchten, schönen Natur ausspannen, ohne die Zivilisation dabei ganz aufzugeben. Sie hatte ihren Laptop, ihr iPad, ihr iPhone, einen tragbaren DVD-Player sowie mehrere DVDs dabei, die sie sich anschauen wollte.

Doch das mit dem Ausspannen war leichter gesagt als getan. Jahrelang hatte Jillian davon fantasiert, sich eine Auszeit zu nehmen, eine Pause einzulegen. Aber nachdem sie es einige Jahre bei solchen Fantasien belassen hatte, musste sie sich nun eingestehen, dass sie das eigentlich überhaupt nicht wollte. Sie wollte arbeiten! Etwas leisten! Im Wettbewerb stehen! Sich verausgaben! Gewinnen! Sie blühte auf, wenn sie Erfolg hatte und sie von ihren Mitarbeitern und ihrem Boss Anerkennung bekam.

Jillian hatte gerade ihren Marketingabschluss am College gemacht und ihren MBA – Master of Business – mit Auszeichnung abgeschlossen, als Harry Benedict ihr einen schlecht bezahlten Job in seiner neu gegründeten Firma anbot. Sein Startkapital war begrenzt, doch er brauchte ein paar Leute, mit denen er Schlüsselpositionen besetzen konnte – einen Wirtschaftsprüfer, einen Programmierer und jemanden, der das zielgruppenorientierte Marketing seiner Softwareprodukte übernahm. Jillian konnte die Person für das Marketing sein, falls sie bereit und in der Lage wäre, ein Risiko zu wagen. Harry hatte eine gute Erfolgsbilanz; mehrere Firmen hatte er zu großem Erfolg geführt und sie anschließend alle verkauft. Sein Angebot war eine Chance für sie. Bei ihm konnte sie von der Pike auf lernen, wie sie ein Unternehmen in der Hightechbranche auf die Beine stellte, und professionell damit wachsen.

Kelly hatte recht – Jillian war impulsiv. Sie hatte die Chance ergriffen. Anstatt mit allen Mitteln zu versuchen, den tollsten Job auf Erden an Land zu ziehen, hatte sie sich für den entschieden, der ihr die größte Herausforderung und Aufregung bot. Hinzu kam, dass sie Harry mochte; ihr gefiel seine barsche sachliche Art, das Vertrauen, das er seinen Mitarbeitern entgegenbrachte, und seine Erfahrung. Seine Energie war ansteckend. Sie musste an eine lange Nacht denken, in der sie noch um vier Uhr morgens gearbeitet hatten, da hatte er gesagt: »Wenn es uns keinen Spaß mehr macht, sind wir hier raus, okay?« Sie verließ sich auf ihn, wie er sich auf sie verließ. Und sie vermisste ihn sehr.

Nichts bereitete ihr mehr Spaß, als dabei zu helfen, eine Firma aufzubauen. Sie hatte sich mit der Familie Benedict angefreundet, war in Harrys Softwareentwicklungs- und Produktionsfirma aufgestiegen und hatte tatsächlich dabei geholfen, die Firma von der Neugründung bis zum Börsengang fit zu machen. Als sie mit neunundzwanzig Jahren zur Leiterin der Abteilung Unternehmenskommunikation – mit einigen Mitarbeitern unter sich – ernannt wurde, war sie längst eine von Harrys leitenden Angestellten im engsten Kreis. Über die Jahre hatte sie Prämien und Aktienoptionen bekommen, und ihr Gehalt war mit der wachsenden Verantwortung gestiegen. Zusätzlich hatte sie gut überlegte Investitionen getätigt, was bedeutete, dass sie mittlerweile über ein beachtliches, breit gestreutes Portfolio verfügte.

Während der letzten zehn Jahre waren die einzigen Urlaube, die sie sich wirklich gegönnt hatte, die Reisen gewesen, die sie mit ihrer Schwester und ihren beiden besten Freundinnen von der Highschool unternommen hatte. Sie waren vier Frauen, die in unterschiedlichen Branchen tätig waren, aber sie alle arbeiteten hart, waren ehrgeizig, leistungsorientiert – und Singles. Und jedes Jahr gelang es ihnen, sich eine Woche bis zehn Tage freizunehmen. Außerdem hätte Jillian gar nicht gewusst, was sie mit Freizeit anfangen sollte.

Immer war es harte Arbeit gewesen, mit der die beiden Schwestern es geschafft hatten, ihre großen Träume zu verwirklichen. Von Anfang an war Kelly stärker auf ihren Lebensplan fokussiert gewesen. Nach ihrer Ausbildung in der Gastronomie ging es um eine Stelle als Köchin, dann um Stellen in immer besseren Restaurants, bis sie Souschefin wurde, nur, um irgendwann einmal Küchenchefin in ihrem eigenen Restaurant zu sein. Doch auch Jillian war nie wirklich von ihrem Pfad abgewichen. Nach dem College hatte sie einfach die erste Möglichkeit ergriffen, die sich gut anfühlte. Und für beide Schwestern hatten sich ihre Wege als erfolgreich erwiesen. Kelly war ihrem Ziel deutlich näher gerückt, und Jillian hatte nach zehn guten Jahren bei BSS ein nettes finanzielles Polster angespart.

Nun allerdings verliefen Jillians Tage fürs Erste ziemlich unspektakulär. Sie hatte viel Freude daran, mit Lukes Helfer Art, einem Mann Anfang dreißig, der am Downsyndrom litt, zusammen zu angeln. Dabei redeten sie nicht viel, aber sie konnte sehen, dass Art ebenso viel Vergnügen hatte. Jeden Nachmittag hielt sie ein kleines Nickerchen, dann las sie oder schaute sich bis spät in die Nacht Filme an. Frühmorgens oder sogar noch in der Dämmerung unternahm sie einen Spaziergang am Fluss; sie erkundete das Humboldt County mit dem Wagen und machte sich mit der Landschaft, den Orten und den Menschen vertraut. Menschen, die sehr viel anders waren als die, die im Silicon Valley lebten. Obwohl sie das Angebot zu schätzen wusste, lehnte sie die Einladung zum Abendessen bei Luke und Shelby ab. Sie zog es vor, für sich zu bleiben.

Es fiel ihr schwer, alte Verhaltensmuster und Angewohnheiten zu ändern, die sich im Laufe von zehn Jahren herausgebildet hatten. Ganz als würde sie noch immer so lange arbeiten, kaufte sie sich Fertiggerichte, die sie leicht aufwärmen und schnell essen konnte. Sie genoss es, endlich wieder Zeit zu haben, ein Buch zu lesen, und verschlang ein paar richtige Frauenromane, auch wenn die Liebesszenen ihr nur die Tränen in die Augen trieben.

Einmal am Tag fuhr sie auf eine Anhöhe, wo sie mit ihrem Handy Empfang hatte, um mit ihrer Schwester zu telefonieren.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Kelly. »Hast du schon eine Idee, was du als Nächstes tun willst?«

»Ich habe einige Ideen im Kopf«, antwortete Jillian, auch wenn sie in Wirklichkeit nicht die geringste Ahnung hatte. »Aber ich will noch nicht darüber reden, ich will erst noch etwas länger darüber nachdenken …«

»Und was ist mit deinem armen geschundenen Herzen?«

»Ha! Meinem Herzen geht es prima. Ich hasse ihn und würde ihn am liebsten umbringen

»Gut für dich!«, stimmte Kelly ihr zu.

In Wahrheit war Jillians Herz jedoch in tausend Scherben zerbrochen. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass dieser Mann sie unterstützt, getröstet, verehrt … und sie dann betrogen hatte. Es war sehr lange her, dass sie einen solchen Herzschmerz verspürt hatte. In der Highschool vielleicht? Eventuell auch das letzte Mal im College? Aber selbst nachdem sie bei BSS angefangen hatte, war sie keineswegs zum totalen Workaholic mutiert, sondern hatte durchaus das ein oder andere Date gehabt. Allerdings unterschied sich Kurt von den anderen Männern dadurch, dass er sie regelrecht erobert hatte.

Und es gab noch etwas anderes, womit sie ihre Schwierigkeiten hatte. Sie war sich nämlich gar nicht so sicher, ob sie mehr um ihre in die Brüche gegangene Beziehung trauerte oder um ihren verlorenen Job.

Das sonderbare alte Haus und die Gefühle, die es in ihr weckte, hatten sie ursprünglich veranlasst, Virgin River als Zufluchtsort zu wählen. Komischerweise brauchte sie dann aber drei Tage, die sie mit Angeln, Spaziergängen, Lesen und bloßem Grübeln verbrachte, ehe ihr wieder einfiel, welche Emotionen es in ihr ausgelöst hatte. Sie wollte noch einmal dorthin und sich das Haus anschauen.

Und, oh! Wie hatte es sich in den letzten sechs Monaten verändert! Jetzt war es einfach nur noch schön! Ganz anders als bei ihrem letzten Besuch. Es hatte einen neuen Anstrich erhalten, weiß mit dunkelbraunen Fensterläden und hellbraunen Giebelschnitzereien. Mit den beiden Türmen an der Vorderseite des Gebäudes sah es aus wie ein herrschaftliches Schloss. Die hellbraun und weiß gestrichene Veranda war repariert worden, Türen und Fenster erneuert. Es war erstaunlich gut in Schuss und gut renoviert worden. Das Haus mochte zwar hundert Jahre alt sein, allerdings wirkte es so frisch und neu wie an dem Tag, an dem es fertig gebaut wurde.

Und wenn das Gebäude allein nicht schon umwerfend war, das Gelände, auf dem es stand, war so fantastisch, wie sie es in Erinnerung hatte. Gepflegte Sträucher und Bäume, deren Knospen sprossen; Blumen, die gerade erst aus dem Boden schossen und den Weg und das Haus säumten. Sie konnte Hortensien und Rhododendron neben einigen anderen Büschen ausmachen. In einem Monat würde alles in voller Blüte stehen. Langsam ging sie auf dem Rasen um das Haus herum, ließ alles auf sich einwirken, seufzte und stieß Laute der Verzückung aus. Schließlich stieg sie die Verandastufen hoch und warf einen Blick durchs Fenster nach innen. Wie sie vermutet hatte, war es leer. Hier wohnte niemand.

Es war nicht wirklich wie das Haus, in dem sie und Kelly aufgewachsen waren. Das Heim ihrer Urgroßmutter war sehr viel kleiner gewesen und hatte nur über drei Schlafzimmer verfügt, wovon eins bloß ein winziger Raum unten neben der Küche war, kaum größer als ein großer Schrank. Doch auch dieses Haus war ein altes viktorianisches Schindelhaus gewesen, mit Giebeln, einem großen Garten und zwei Veranden.

Jillian und Kelly waren jetzt seit einigen Jahren auf sich allein gestellt. Sie waren gerade fünf und sechs Jahre alt gewesen, da hatten ihre Eltern einen Unfall gehabt, bei dem ihr Vater starb und ihre Mutter zur Invalidin wurde. Ihre damals bereits betagte Urgroßmutter hatte die beiden Kinder sowie ihre Mutter, die tägliche Pflege brauchte, bei sich aufgenommen. So waren die beiden Mädchen in diesem kleinen Haus, das in einem älteren Viertel von Modesto, Kalifornien, stand, groß geworden. Weil ihre Mutter an den Rollstuhl gefesselt war und sich selbst darin kaum bewegen konnte, schlief sie unten in einem altmodischen Krankenhausbett, während die Mädchen sich oben ein Schlafzimmer teilten und Nana das andere Zimmer bewohnte. Ihre Mutter starb zuerst – damals besuchten die Mädchen noch die Highschool –, und als sie Anfang zwanzig waren, verschied auch ihre Urgroßmutter mit weit über neunzig Jahren.

Während sie sich auf der Gartenveranda umschaute, fiel Jillian wieder ein, dass sie hier das letzte Mal auf dem rostigen Verandastuhl gesessen hatte, in dem die alte Frau, die hier gelebt hatte, gestorben war. Jetzt hockte sie sich auf die Verandastufen, lehnte sich an den Pfosten und ließ den Blick über den riesigen Garten schweifen, der die Größe eines Footballfeldes hatte. Er reichte bis zum Waldrand, und den größten Teil der Fläche nahm ein Gemüsegarten ein, in dem das Unkraut wucherte, das vor der Neubepflanzung im Frühling gejätet werden müsste.

Es war so still hier, dass Jillian sich selbst beim Grübeln zuhören konnte. Und was sie dachte, war: Wie konnte er mich berühren, so, wie er es gemacht hat, und gleichzeitig planen, mir meinen Job zu stehlen, meinen Ruf zu zerstören und mir das Herz zu brechen? Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun? – Und wieder fing sie an zu weinen, was sie sich grundsätzlich nur erlaubte, wenn sie ganz allein war. – Wie konnte er sagen, was er gesagt hat? fragte sie sich. Jillian, heirate mich. Jillian, du bist das Beste, was mir im Leben je passiert ist. Jillian, ich kann ohne dich nicht leben, und das ist mein voller Ernst. Du bedeutest mir so viel mehr als jeder Job.

Es war die Tatsache, dass er sie vorsätzlich belogen hatte, was sie nicht verstehen konnte. Sicher, auch Jillian benutzte kleine Notlügen. Auch sie war in der Lage, einer dicken Frau zu versichern, dass ihr das leuchtend rote Kleid gut stand, dass sie zu spät kam, weil sie in einen Verkehrsstau geraten war, oder dass sie eine Nachricht gerade erst erhalten hatte. Solche Dinge halt. Doch wie kann man jemanden nackt in den Armen halten und ihm all diese liebevollen Worte zuflüstern, wenn man unterdessen beabsichtigt, ihn den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen? Das war etwas, was sie einem anderen Menschen niemals antun könnte.

Die Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie im Garten herumspazierte und schließlich vor einem großen Geräteschuppen aus Aluminium stoppte. Noch immer schniefend zog sie die nicht verschlossene Doppeltür auf und fand darin einen Aufsitzrasenmäher sowie weitere Gartengeräte der alten Frau. Sie wollte nichts falsch machen, schätzte aber, dass es nicht schaden könnte, mal einen Spaten zur Hand zu nehmen. Also ging sie in dem großen Garten hinter dem Haus an die Arbeit und grub in dem matschigen Beet die Erde um. Jillian wusste, dass die Frau, die hier gewohnt hatte, im Alter von sechsundachtzig Jahren gestorben war. Dennoch hatte sie eine kleine Farm bewirtschaftet, und das wiederum war ganz wie ihre Nana.

Als sie und Kelly noch klein waren, hatte Nana sie im Garten und in der Küche mithelfen lassen. Und obwohl sie selbst keine großartige Schulbildung genossen hatte, war es Nana gewesen, die ihnen das Lesen beibrachte, damit sie ihrer behinderten Mutter abwechselnd vorlesen konnten. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie offiziell auszogen, hatten sie immer ihre Aufgaben in Garten, Küche und Haushalt gehabt. In ihrer Kindheit hatten sie hart arbeiten müssen, doch das war sogar gut gewesen und hatte sie wahrscheinlich darauf vorbereitet, harte Arbeit niemals zu scheuen. Nana hatte immer gesagt: »Gott segnet mich mit Arbeit.« Und damit war Nana wahrhaft gesegnet! Sie wusch und bügelte für andere, verkaufte ihr eingemachtes Gemüse, ihre Chutneys und ihre Soßen, und sie half ihren Nachbarn. Für sich und die beiden Mädchen, die ihren Vater verloren hatten, erhielt sie ein wenig Geld aus der Sozialversicherung. Trotzdem schufteten sie alle bis zum Umfallen und kamen dennoch kaum über die Runden.

Es fehlte Jillian an Arbeit und Liebe, und das machte ihrem Herzen zu schaffen. Weinend grub sie den Garten um, ignorierte die Tränen und wurde immer schmutziger. Wenn sie es mal nicht schaffte, mit dem Spaten ein Unkraut auszubuddeln, kniete sie sich hin und zog es mit den Händen heraus.

Im Schuppen hatte sie Samen und Blumenzwiebeln gesehen, und wenn man all das frische Grün betrachtete, war es offenbar höchste Zeit, sie einzusetzen. Etwa drei Stunden nach ihrem Eintreffen hatte Jillian ein großes Stück des riesigen Gartens umgepflügt – gejätet, umgegraben und sogar ein paar der alten Knollen unbekannter Sorte, die in der Scheune lagerten, in den Boden gepflanzt. Instinktiv kniete sie sich hin und nahm etwas Erde in die Hände, um daran zu riechen. Ihre Nase war zwar ein wenig verstopft, doch Chemikalien konnte sie keine ausmachen. Auch im Schuppen hatte sie keine Pestizide entdeckt; daher nahm sie an, dass die alte Frau alles ökologisch angebaut hatte. Sie fuhr fort, zu graben und zu jäten. Und die ganze Zeit weinte sie leise vor sich hin, stille, schmerzvolle Tränen, die jedoch eine reinigende Wirkung zu haben schienen.

»Ähm, Verzeihung«, hörte sie eine Männerstimme hinter sich.

Sie hockte auf den Knien und hatte die Arme bis zum Ellbogen mit Matsch beschmiert. Schwer atmend wischte sie sich ungeduldig die Tränen von den Wangen. Als sie hochschaute, sah sie einen sehr großen Mann vor sich, der ihr ein wenig bekannt vorkam, allerdings konnte sie ihn nicht einordnen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

»Hm, ja. Ich hatte nur gerade, ähm, an den Garten meiner Urgroßmutter denken müssen und … also, ich schätze, ich bin hier ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen.« Sie erhob sich und rieb an ihren Knien herum, aber dadurch verteilte sie den Schmutz nur noch mehr.

Er lächelte sie an. »Das muss ja ein fantastischer Garten gewesen sein. Hope ist jeden Sommer wie eine Wilde hier durch den Garten gewirbelt. Die meisten ihrer Erzeugnisse hat sie verschenkt, und ständig hat sie sich über die wilden Tiere aufgeregt, die ihr das Leben schwer machten. Aber so, wie sie sich da hineingestürzt hat, muss sie die Gartenarbeit geliebt haben.« Er legte den Kopf zur Seite. »Sie vermissen Ihre Großmutter, nicht wahr?«

»Hm?«

»Also nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber Sie scheinen geweint zu haben. Oder so etwas.«

»Oh!« Noch einmal glitt sie mit dem Handrücken über die Augen. »Ja, ich vermisse sie!«

»Mit Ihren schmutzigen Händen hilft Ihnen das nicht weiter«, meinte er und holte ein Taschentuch hervor. »Hier. Kommen Sie doch mal raus aus dem Schlamm! Und putzen Sie sich das Gesicht, bevor der Schmutz noch in Ihre Augen gerät.«

Sie schniefte und griff nach dem weißen Taschentuch. »Gehört das Haus jetzt Ihnen?«, fragte sie und säuberte sich das Gesicht. Staunend bemerkte sie, wie viel Matsch und Erde hinterher an dem Stoff klebten.

Er lachte. »Nee, ich habe nur daran gearbeitet, weiter nichts.« Er wollte ihr die Hand reichen, hielt allerdings in der Bewegung inne und hob eine Augenbraue. Ihre Hand war schlammverkrustet, daher ließ er seine lieber wieder sinken. »Paul Haggerty«, stellte er sich vor. »Bauunternehmer. Hier in der Gegend gibt es eine Menge Häuser, die ich gebaut, renoviert oder restauriert habe.«

»Jillian Matlock«, sagte sie und warf einen Blick auf das, was aus den perfekt manikürten Händen einer Managerin geworden war. Nicht wiederzuerkennen. Rasch zog sie ihre Hand zurück und rieb sich den Schmutz an ihrer Jeans ab. »Wer ist denn nun der Besitzer des Hauses?«, hakte sie nach.

»Der Ort. Hope hat das Haus, das Grundstück und ihr Vermögen dem Ort hinterlassen.«

»Ach ja, richtig! Ich war letztes Jahr hier und auch bei der Haushaltsauflösung dabei. Jemand hatte uns davon erzählt. Was wird denn nun damit geschehen?«

Er schob die Hände in die Taschen, wippte auf die Fersen und schaute gen Himmel. »Darüber ist schon viel geredet worden. Sie könnten ein Museum daraus machen, ein Bed and Breakfast, ein Gemeindehaus. Sie könnten es auch eine Weile einfach stehen lassen … oder es verkaufen. Aber bei der schlechten Wirtschaftslage wird momentan wahrscheinlich kein guter Preis zu erzielen sein.«

»Dann gehört es also niemandem wirklich?«

»Doch, dem Ort. Der zuständige Ansprechpartner ist Jack Sheridan. Er führt hier die Bar.«

»Also kein neuer Eigentümer?«

»Nö.«

»Meine Güte! Ich würde wahnsinnig gern sehen, was Sie innen verändert haben.«

Er grinste. »Und meine Güte, ich würde es Ihnen wahnsinnig gern zeigen, doch Sie wirken leicht derangiert, wenn ich das so sagen darf!«

Sie blickte an sich hinunter. »Ja, allerdings. Ich habe den Kopf verloren und mich dazu hinreißen lassen, den Garten vom Unkraut zu befreien und umzugraben. Weiß Gott, wozu.«

»Die Haustür ist nicht abgeschlossen«, erklärte Paul. »Allerdings würde ich es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn Sie sich die Schuhe abtreten könnten, bevor Sie hineingehen.«

Sie war geschockt und sah ihn mit runden Augen erstaunt an. »Nicht abgeschlossen?«

»Nee«, antwortete er achselzuckend.

»Dann ist also noch kein Immobilienmakler damit beauftragt?«

»Nicht, dass ich wüsste. Doch ich bin ja auch gerade erst mit der Renovierung fertig geworden. Jack ist derjenige, mit dem Sie sprechen müssen.«

»Ich sag Ihnen was, und das wird Sie glücklich machen. Ich werde nach Hause fahren … ähm, ich wohne momentan in einem Ferienhaus unten am Fluss …«

»Bei den Riordans«, ergänzte er lächelnd.

Junge, dachte sie, hier kennt ja wirklich jeder jeden. »Stimmt. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich morgen früh wiederkommen und das Haus besichtigen. Dann bin ich auch ganz sauber und werde keinen Schmutz in Ihr Haus tragen.«

Er strahlte. »Und dafür bin ich Ihnen aus tiefstem Herzen dankbar. Diese Fußböden habe ich nämlich gestrichen und gewachst.« Errötend fügte er hinzu: »Nun ja, ich habe jemanden damit beauftragt.«

Sie erwiderte sein Lächeln. »Mir ist klar, was in den Aufgabenbereich eines Bauunternehmers fällt. Also erzählen Sie mir doch, was ein Haus wie dieses normalerweise kosten würde?«

»Wer weiß? In Fortuna vielleicht siebenhundertfünfzigtausend. Restauriert eventuell eine Million. Das Haus verfügt über viele Zimmer, allerdings nur über zwei Bäder. Deshalb habe ich zusätzlich noch ein kleines Duschbad eingebaut, sodass es jetzt drei sind. In einer Stadt wie Menlo Park oder San José reden wir von drei Millionen. Das Problem mit den Immobilien ist momentan, dass sie nur das wert sind, was man dafür bekommen kann.«

»Das habe ich auch schon gehört. Also, ich mache mich jetzt auf den Weg.« Sie warf einen Blick auf sein Taschentuch. »Hm, das gebe ich Ihnen lieber gewaschen wieder.«

»Keine Sorge. Ich habe mehrere davon.«

»Ich will jetzt mal duschen und komme dann morgen wieder her, um mir das Haus anzuschauen, wenn Sie sicher sind, dass das erlaubt ist.«

»Das geht schon in Ordnung. Der halbe Ort ist schon durch das Haus gelatscht. Sie sind aber alle sehr nett und achten immer darauf, keine Flecken oder Spuren zu hinterlassen, und das rechne ich ihnen hoch an.«

»Verstehe«, meinte sie lachend.

»Vielleicht komme ich auch mal vorbei, für den Fall, dass Sie irgendwelche Fragen haben. Wann ungefähr planen Sie, hier zu sein?«

Überrascht zog sie eine Augenbraue hoch. »Gegen neun?«

»Das passt mir gut«, erwiderte Paul. »Ich habe nämlich daran gedacht, vorher noch kurz bei Jack einzukehren und mir von Preacher ein paar Eier in die Pfanne hauen zu lassen.«

»Oh ja, ich erinnere mich an ihn. Er ist der Koch! Vielleicht können wir zusammen frühstücken.«

»Sie sind jederzeit willkommen.«

Gleich nach dem Aufstehen am nächsten Morgen schlüpfte Jillian in ihre guten Sachen und zog keine ihrer neuen Jeans oder Sweatshirts an, in denen sie sich in den letzten Tagen am Fluss gelümmelt hatte. Sogar sie musste zugeben, dass der Unterschied – ohne Matsch und Tränen – ziemlich groß war. Sie entschied sich für eine Stoffhose mit Bügelfalte, ein Seidenshirt und Leinenjacke, dazu Schuhe mit flachen Absätzen. Nach allem, was sie über den kleinen Ort wusste, war es nicht nötig, sich in Schale zu werfen, dennoch legte sie auch ein wenig Make-up auf.

Ein Teil von ihr – und zwar ein großer Teil – konnte es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zurückzukehren, wo es genauso dazugehörte, gut auszusehen, wie eine gute Leistung zu erbringen. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Nicht übel. Gar nicht so übel.

Beim Frühstück erklärte ihr Paul, dass es in Hopes Haus noch immer ein paar Dinge gab, die fertiggestellt werden mussten, obwohl sie in den letzten sechs Monaten schon viel geschafft hatten. »Als wir es zum ersten Mal von innen sahen, war es bis unter die Decke mit Nippes und Sammelstücken vollgestopft, doch für sein Alter war es in einem erstaunlich guten Zustand. Es musste gar nicht groß renoviert werden. Eigentlich waren es vor allem Schönheitsreparaturen, allerdings ist das Haus riesig. Ich wünschte, ich hätte Anteile an der Firma, die die Farben herstellt.«

»Warum interessieren Sie sich für das alte Haus?«, fragte Jack, während er ihnen Kaffee nachschenkte. »Haben Sie vor, ein Bed and Breakfast zu eröffnen?«

»Um Himmels willen, nein!«, meinte sie lachend. »Anderen Leuten hinterherzuwischen? Für sie zu kochen? Nee, im Leben nicht! Ich bin einfach nur neugierig, denn ich bin in einem alten Haus wie diesem aufgewachsen, wo es auch einen riesigen Garten gab. Zwar war das Haus sehr viel kleiner, aber es hatte ebenfalls zwei Veranden, einen großen Hof, eine geräumige Küche … Nachdem meine Urgroßmutter gestorben ist, haben meine Schwester und ich es verkauft, da wir beide zu weit entfernt lebten und arbeiteten. Es schien unpraktisch, es zu behalten, ich habe allerdings immer bedauert, dass es nicht mehr da war. In diesem Haus hatte meine Urgroßmutter gewohnt, seit sie als Teenager von Frankreich hergebracht wurde, um einen Mann zu heiraten, dem sie vorher nie begegnet war! Sie war halb Französin, halb Russin, und damals wurde das so gehandhabt. Anfangs hat sie mit ihrem Mann, der schon lange vor meiner Geburt gestorben ist, dort gelebt. Es war das einzige Heim, das sie in diesem Land gefunden hatte, und sie hat es gehegt und gepflegt.«

Sie plauderten noch ein paar Minuten weiter, und nachdem es Zeit wurde aufzubrechen, beschloss Jack, sie zu begleiten. Seit gut einer Woche hatte er das Haus nicht mehr besichtigt.

Obwohl es schon von außen ungeheuer groß wirkte, war Jillian nicht auf die Ausmaße im Inneren vorbereitet. Das Haus war einfach riesig und wunderschön. Tatsächlich war es das zweite Mal, dass sie das Gebäude betrat, doch zum ersten Mal sah sie es ohne Möbel und Menschenmassen.

Hinter der Haustür lag der Empfangsraum. Dahinter befand sich das Esszimmer, während links davon eine Treppe nach oben führte. Noch weiter links neben dem Treppenaufgang schloss sich ein Wohnzimmer an. Die Wände waren hellgelb gestrichen und weiß abgesetzt. Im ersten Stock gab es drei Schlafzimmer, ein großes Bad mit Löwenfußwanne und ein Standwaschbecken sowie einen wintergartenähnlichen Raum, der sich über die ganze Breite des Hauses oberhalb der Gartenveranda erstreckte. Zwei weitere Schlafzimmer waren im zweiten Stock untergebracht, außerdem entdeckte Jillian dort noch ein mittelgroßes Bad und das, was heute als Loft bezeichnet wurde, nämlich einen großen offenen Raum oberhalb der Treppe zwischen den beiden Schlafzimmern.

»Hier war früher der Dachboden. Die beiden Räume waren teilweise schon vorhanden, das heißt, man hatte die Wände gemauert und es dann dabei belassen. Doch es war nicht viel Arbeit, sie fertigzustellen«, erklärte Paul. Hier waren die Schlafzimmer um Fenstersitze in den beiden Türmen erweitert worden. Und von dort aus führte eine metallene Wendeltreppe aufs Dach und weiter hinauf auf eine erhöhte Plattform mit Balustrade, dem sogenannten »Witwen-Ausguck«. Auf diesen Witwen-Ausguck gelangte man durch eine Tür, die leicht zu öffnen war und nicht abgeschlossen wurde. Es war eine große Plattform, etwa vier Meter lang, jedoch nur halb so breit.

»Ein Witwen-Ausguck im Wald?«, fragte Jillian. »Wurden die nicht für Seefahrerfrauen gebaut, damit sie von dort aus auf dem Meer nach ihren Männern Ausschau halten konnten?«

»Ich weiß nicht, wo Hopes Mann, der alte Percival, herkam. Aber ich würde wetten, dass dort das Meer nicht weit entfernt war. Das ist das Haus eines Seekapitäns, komplett mit Witwen-Ausguck. Und die Aussicht von hier ist umwerfend.«

In der Tat, Jillian konnte über die Baumspitzen hinweg das ganze Tal überblicken, vor ihr erstreckten sich die Weinberge. In weiter Ferne war im Westen ein Nebel zu erkennen, der wahrscheinlich aus dem Meer aufstieg; von der anderen Seite des Hauses aus sah sie zwei Farmen, mehrere Straßen und einen Teil von Virgin River. »Wie viel von diesem ganzen Land hat sie eigentlich einmal besessen?«, fragte sie.

»Der meiste Grund und Boden im Ort hat einmal Percival gehört, doch nach seinem Tod hat Hope fast alles verkauft und nur etwa vier Hektar noch behalten«, antwortete Jack. »Sie hat erzählt, dass sie in jüngeren Jahren ein paar Gemüsefelder hatte, die so groß waren, dass sie sich mit Fug und Recht als Farmerin bezeichnen konnte. Als ich hierherzog, war Hope bereits über achtzig, trotzdem hat sie das große Beet hinter dem Haus immer selbst bestellt.«

Jillian schaute nach unten, wo sie die große Fläche hinter dem Haus betrachtete, die fast komplett von dem Gemüsegarten eingenommen wurde. Am Rand verlief ein dichtes Waldstück, das teilweise aus Pinien bestand, aber auch aus Fichten, Hemlocktannen, Ahorn und Zedern sowie aus vielen dicken Büschen und Farnen. Dieser lange, dichte Baumbestand trennte den Garten hinter dem Haus von einer weiteren großen Wiese, die leicht in einen zweiten riesigen Garten zu verwandeln wäre. Aber es gab keinen erkennbaren Zugang dorthin, außer durch die Bäume. Ein Pfad oder Weg schien jedoch nicht zu existieren.

»Wie kommt man denn dorthin?«, wollte Jillian wissen und zeigte Jack, was sie meinte. »Die große Wiese dort hinter den Bäumen?«

Autor

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Miniserien

Virgin River